Ludwig Thoma
Der Münchner im Himmel
Ludwig Thoma

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Der Befähigungsnachweis

Ich kann mich nicht enthalten, einiges über das Bürgerliche Gesetzbuch zu schreiben. Man verliert die Achtung seiner Mitmenschen, wenn man es unterläßt. Es gehört einmal zum guten Ton, einige ergänzende oder erläuternde Bemerkungen über das Bürgerliche Recht in seiner neuen Gestaltung zu machen, und niemand sollte sich dem widersetzen.

Es ist nicht gut, gegen den Strom zu schwimmen. Wirklich nicht.

Ich kann dies um so bestimmter versichern, als ich selbst durch eine traurige Erfahrung belehrt wurde. Bis vor einer Woche verkehrte ich tagtäglich im Caféhause mit einem Dutzend Juristen. Es waren lauter sehr nette Leute, sehr berufsfreudig und strebsam. Sie hatten für nichts Interesse als für die Gerechtigkeitspflege, und jeder bemühte sich an der Hand von Beispielen, Fällen und Entscheidungen zu beweisen, daß er der Gescheitere sei.

Ich dachte mir oft: »Siehst du, so solltest du eigentlich auch sein«, und dann kam ich mir wieder recht gemein vor, wenn ich mit dem Wassermädchen eine Unterhaltung anknüpfte. Aber man legt alte Untugenden nur sehr schwer ab. Meine Tischgenossen machten sich übrigens, wie mir schien, nichts daraus, und so fühlte ich keinen zwingenden Grund nach Besserung in mir.

Da erschien eines Tages in einer der gelesensten Zeitungen der Hauptstadt ein Artikel, welcher die Überschrift trug: »Über die rechtliche Stellung der Latrinenreiniger nach Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches von Dr. jur. Alois Lämmermeier«. Ich kann mich dunkel erinnern, daß über dem Artikel eine römische I stand, was in mir den Verdacht erregte, daß noch einige Fortsetzungen kommen würden. Gelesen habe ich die Abhandlung nicht. Ich interessiere mich für den Gegenstand derselben nur so weit dies unbedingt notwendig ist, und zudem, wenn Lämmermeier über die Sache selbst etwas Neues vorzubringen wußte, konnte er das auch mündlich tun.

Meine Tischgenossen dachten anders. Der Artikel schlug unter ihnen wie eine Bombe ein. Man gratulierte dem Verfasser zu der erschöpfenden, geistvollen Behandlung dieses Themas und prophezeite ihm eine bedeutende Zukunft, da er so rasch und gründlich seine Fähigkeit zur Erlernung der neuen Gesetze bewiesen hatte.

Von dem Tage an ließ sich an unserem Tische eine wesentliche Änderung bemerken. Man hörte nur selten eine rechtliche Frage besprechen; die meisten saßen schweigend da, und in allen Gesichtern war ein nachdenklicher Zug zu bemerken. Ich sah, wie Kollega Meyerle eine geschlagene Stunde lang den glücklichen Literaten Dr. Lämmermeier mit weit geöffneten Augen betrachtete, und wie Dr. Pius Deiglmaier länger als eine Viertelstunde mit einem Schokoladekrapfen zwischen den Zähnen dasaß und vollständig vergessen hatte, daß er ursprünglich ein Stück herunterbeißen wollte.

Die folgenden Wochen brachten mir die Erklärung dieses sonderbaren Benehmens. In den größeren Tagesblättern erschienen nämlich in kurzer Folge rechtsgelehrte Aufsätze, welche sämtlich von den Tischgenossen verfertigt waren. Alle diese Artikel zeigten das löbliche Bestreben ihrer Verfasser, das Laienvolk würdig auf die Ankunft des neuen Gesetzes vorzubereiten und ihm zu zeigen, was es nach derselben noch erwarten dürfe. Dr. Meyerle schrieb »Über die Verdichtung der Gewohnheit zum Rechte mit besonderer Beziehung auf die Kaffeefünferl«.

Zwei Tage später drückte mir Kollege Bierdimpfl die Zeitung in die Hand, als ich mich eben auf meinen Platz niederlassen wollte. Eine Spalte war mit Blaustift angemerkt, und ich las: »Gilt das Trinkgeld als zum schändlichen Zwecke gegeben? Ein Beitrag zum Verständnisse des Bürgerlichen Gesetzbuches von Dr. P. Deiglmaier«.

Ich kann nicht sagen, daß mein Ehrgeiz durch diese literarischen Erfolge geweckt wurde. Ich bin von Grund aus gutmütig veranlagt und habe die größte Hochachtung vor gelehrten Abhandlungen. Nur muß niemand verlangen, daß ich sie lese. Ich anerkannte also neidlos die Verdienste meiner Tischgenossen und verlieh meinen Gefühlen rückhaltlosen Ausdruck. Mit um so größerem Staunen bemerkte ich, daß sich das Benehmen der Kollegen mir gegenüber bedenklich änderte. Ich ertrug es einige Wochen schweigend, daß man mich nicht in die gelehrten Gespräche mit verwickelte, daß man meine Fragen grundsätzlich überhörte und überhaupt tat, als wenn ich in der juristischen Welt nicht mehr vorhanden sei.

Endlich riß mir aber doch die Geduld und ich stellte Dr. Bierdimpfl zur Rede. Er gab mir die befriedigende Erklärung, daß die Tafelrunde an meinem Charakter nichts Nachteiliges bemerkt habe, daß man aber meine Teilnahmslosigkeit sehr unangenehm empfinde. »Eine kurze Spanne Zeit«, sagte Bierdimpfl, welcher gerne pathetisch spricht, »eine kurze Spanne Zeit nur mehr trennt uns von dem 1. Januar 1900. Und was haben Sie getan, um dem wichtigen Ereignisse den Weg zu ebnen?«

»Ja...«

»Bitte, haben Sie auch nur eine Zeile über das Bürgerliche Gesetzbuch geschrieben und in Druck gegeben? Haben Sie – bitte, unterbrechen Sie mich nicht – haben Sie einen einzigen Paragraphen kommentiert? Haben Sie sich an der Abfassung eines gemeinverständlichen oder eines nicht verständlichen Kommentars beteiligt?«

»Allerdings muß ich...«

»Haben Sie irgendwie dazu beigetragen, daß dieses gewaltige Werk ein Gemeingut der deutschen Nation werde, daß es in die breitesten Schichten des Volkes getragen werde?«

»... Herr Kollega...«

»Bitte, haben Sie einen einzigen Vortrag gehalten? Haben Sie an einem einzigen Abende des Jahres dem Volke Gelegenheit zur Vertiefung in das Gewebe der Rechtsnormen geboten?«

»Herr Kollega...«

»Schweigen Sie! Haben Sie auch nur die Feder naß gemacht, damit der gebildete Nichtjurist in den Stand gesetzt werde, diese Übergangszeit zu ertragen? Haben Sie, frage ich, dem Geschäftsmanne, dem Familienvater, Grundbesitzer und Kapitalisten, den Vormündern, Eltern, Verlobten, Erben, Vermietern und Mietern, Darlehensgebern, Käufern und Verkäufern die Aufgabe erleichtert? Haben Sie?«

»Allerdings nicht, Herr Kollega...«

»Soo? Dann werden Sie aber doch verstehen, daß wir mit Ihnen nicht mehr verkehren können? Leben Sie wohl!«

Ich war niedergeschmettert, vernichtet. Was wollten denn diese Menschen? Man kündigt doch jemandem nicht die Freundschaft, weil er nicht schreibt. Und überhaupt! Wie wenige tun dies! Es fällt doch niemandem ein, zu behaupten, daß jeder Jurist...

In diesem Augenblicke schlug mir jemand auf die Achsel. Ich drehte mich um und sah einen lieben Bekannten, den Vorstand eines hinterwäldlerischen Amtsgerichtes, vor mir.

»Grüß Gott, Doktor, wie geht's Ihnen denn?«

»Ja, grüß Gott, Herr Oberamtsrichter, wie kommen denn Sie nach München?«

»G'schäfts halber, G'schäfts halber. I hab zu mein' Verleger herfahren müssen.«

»Verleger? Was für ein Verleger?«

»Zu mein Verleger halt. Ham S' denn mein Schmarren net g'lesen?«

»Welchen Schmarren?«

»No, mei Broschür!«

»Waas? Sie auch? Da hört sich doch alles auf!«

»Oho! Glauben S' vielleicht, wir in der Provinz ham gar kein Bildungsdrang? Übrigens san S' nur wieder gut, ich tu's g'wiß nimmer. I hätt' die Hand überhaupt von dem G'schäft wegg'lassen, wenn ich net zwungen worden wär'.«

»Gezwungen?«

»No ja, stellen S' Ihnen vor, man fragt Ihnen recht mitleidig nach Ihrer G'sundheit. Ich sag, g'sund bin i, Gott sei Dank! Jaa, nicht bloß g'sund, sondern, aah, überhaupt rüstig, auch geistig rüstig, verstehen Sie geistig? Ich spür nichts, sag ich, ich bin normal. Jaa, normal, was man so unter normal versteht. 'Sind Sie nach sorgfältiger Prüfung und Überlegung zu der Überzeugung gelangt, daß Sie noch frisch genug sind, zweitausenddreihundertfünfundachtzig neue Paragraphen in sich aufzunehmen, zu behalten und zu verarbeiten?' Aha! Merken S' was, Doktor? Hörn S' mich geh'n? No also, was wollen S' denn machen? Ich hab mir denkt, wenn's sein muß, schmier i halt was z'samm. Da haben S' meinen Befähigungsnachweis!«

Der alte Herr drückte mir bei diesen Worten eine Broschüre in die Hand und nahm Abschied. Ich sah ihm eine Weile nach und dann las ich die Inschrift auf dem Titelblatte: »Die Dachtraufe im Lichte des Bürgerlichen Gesetzbuches von Haslinger, k. b. Oberamtsrichter«.

Den selbigen Abend setzte ich mich hin und begann den ersten Band meiner Anmerkungen zu schreiben.


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