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II. Die wissenschaftlichen Bestrebungen der Franziskaner

Es kann nichts anderes, als ein kurzer Überblick über ein bis jetzt noch allzuwenig durchforschtes Gebiet sein, was im folgenden gegeben wird, ein schwacher Versuch, gemeinschaftliche Eigentümlichkeiten in den Anschauungen der großen Franziskanergelehrten aufzufinden und ihre besondere Bedeutung für die fernere Entwicklung der Wissenschaft zu betonen.

Dem feurigen Stifter des Ordens selbst hatte jeder Sinn für die dialektische Behandlung dogmatischer Fragen gefehlt. Für ihn existierte das Problem, das seit einem Jahrhundert alle gebildeten Geister bewegte, nicht. Selbst der Versuch, die göttlichen Offenbarungen des Christentums in Einklang zu setzen mit den Forderungen menschlichen Verstandes, lag ihm ferne. Er lebte mit sich einig in der reinen Anschauung des Göttlichen und fand die volle Befriedigung in dem einen herrschenden Gefühl der Liebe – das Ideal des »vir contemplativus«, des die Welt und sich selbst vergessenden Mystikers. Unter den ungebildeten Leuten aus dem Volke, die nichts von Syllogismen und Distinktionen wußten, suchte er seine Schüler und wünschte, daß die fratres minores ungelehrt seien und blieben und sich an der göttlichen Liebe allein genügen ließen. Doch konnte das eben nichts anderes als ein frommer Wunsch bleiben. Es ging damit, wie bereits oben hervorgehoben wurde, wie mit dem Ideale vollkommener Armut. Schon bei seinen Lebzeiten traten viele gelehrte Leute in den Orden ein – um nur zwei zu nennen: Alexander von Hales und Antonius von Padua. Dann nahm die Sache ihren notwendigen Verlauf: der Minoritenorden durfte neben dem der Dominikaner, der von Anfang an als Verteidiger des Dogmas die Verpflichtung zu einem Wirken durch Gelehrsamkeit übernommen hatte, nicht zurückbleiben, und stand auch fortan die Mehrzahl der Franziskaner nicht auf der Durchschnittshöhe der geistigen Bildung der Predigermönche, so wetteiferten doch die hervorragenden Lehrer beider Orden an tiefem und umfänglichem Wissen miteinander. Die bald eintretende Spannung zwischen ihnen mag besonders durch den Hochmut, mit dem die gelehrten Inquisitoren auf die ungebildeteren Minoriten herabschauten, verstärkt worden sein, und es gereichte den letzteren zur besonderen Genugtuung, wenn einer der ihren, wie jener Hugo von Bareola über den Gegner Petrus von Apulien den Sieg davongetragen hatte. In seinem Selbstbewußtsein äußerte sich Hugo später: »Diese guten Leute rühmen sich immer ihrer Wissenschaft und behaupten, daß nur in ihrem Orden der Quell der Weisheit gefunden wird. Diesmal, Gott sei Dank, können sie nicht sagen, sie hätten es mit Idioten zu tun gehabt« Salimbene S. 108.. Mit den Dominikanern bemächtigten sich bald die Franziskaner eines Lehrstuhls an der Universität zu Paris, freilich nicht, ohne daß diese den Eindringlichen den heftigsten Widerstand entgegengesetzt hätte. Die Predigermönche hatten einen günstigen Augenblick, als gerade die hohe Schule der Gelehrsamkeit in ihren Rechten verletzt worden war und Magister und Scholaren ausgezogen waren, benutzt, sich einzudrängen und behaupteten sich, ebenso wie die Franziskaner, die ihnen bald folgten, gegen alle Anfeindungen. 1251 und in den folgenden Jahren kam der Kampf zu öffentlichem Ausbruch. Wilhelm von St. Amour publizierte 1254 seine Schrift ›de periculis novissimorum temporum‹, und Innocenz IV. neigte sich auf die Seite der Gegner. Aber sein Nachfolger Alexander IV. entschied zugunsten der Bettelmönche, – und fortan wurden diese die Führer der theologischen Wissenschaft.

Der erste bedeutende Franziskaner, dessen Lehre Bonaventura und Thomas von Aquino gelauscht haben, war Alexander von Hales, der doctor irrefragibilis, welcher nach Peter von Poitiers der nächste Kommentator von des Petrus Lombardus vier Büchern der Sentenzen wurde, – dieses Grundsteins der ganzen scholastischen Gelehrsamkeit des 13. Jahrhunderts. Nun läßt sich innerhalb der Franziskanerwissenschaft eine ältere und jüngere Richtung unterscheiden. Die erstere, im 13. Jahrhundert durch Bonaventura vertreten, entwickelt, durch die Gefühlsmacht des Franziskus gehoben, mit Hilfe der Platonischen Ideenlehre die älteren mystischen Anschauungen zu einem vollkommneren System, die jüngere im Anfang des 14. Jahrhunderts durch Duns Scotus eingeleitet, in Wilhelm von Occam gipfelnd, tritt als Skeptizismus und neuer Nominalismus der realistischen Scholastik entgegen. Beide finden sich gleichsam vorgebildet in Franziskus selbst: die mystische in seinem Gefühlsleben, die skeptische in seiner ihrem eigentlichen Gehalte nach antikatholischen Anschauung von der freien Berechtigung individueller religiöser Überzeugung gegenüber der kirchlichen Autorität. Denn es muß hier wiederum hervorgehoben werden, daß der in der Bestätigung des Minoritenordens zwischen der Kirche und den Waldensern vollzogene Kompromiß die Verbindung zweier heterogener Elemente war. Franz selbst ist sich dessen gar nicht bewußt geworden, die mildere Partei seiner Nachfolger akkommodierte sich selbst im Abfall von der strengeren Regel den geheimen Forderungen kirchlicher Hierarchie, die Spiritualen aber, je strenger sie an den eigentlichen Intentionen des Stifters festhielten, mußten mit der Verstandeskritik derselben zur offenen Opposition gegen die Kirche gelangen. Die Päpste gerieten notwendig gegenüber diesen zwei Folgerungen, die aus der Religion des Franz gezogen wurden, in eine schwierige Situation. Da Franz einmal, wie er war, heilig gesprochen worden, mußte der strengeren Auffassung seiner Anschauungen ebensogut wie der milden die Berechtigung zugestanden werden, und doch wollte dieselbe sich nicht dem kirchlichen Dogma anbequemen. Ein ungewisses Schwanken, was zu tun sei, macht sich in den Bullen Nikolaus' III. wie Johannes' XXII. deutlich bemerkbar. Man gibt der einen Partei Recht und dann wiederum der anderen Recht, behält aber die volle Sympathie doch für die gut katholischen ›fratres de communitate‹. Der Konflikt spitzt sich im Laufe des 13. Jahrhunderts zu, Bonaventura nimmt eine vermittelnde Stellung ein. Während er in der Praxis den Spiritualen Recht gibt, vertritt er als Theoretiker doch den strenggläubigen Standpunkt der fratres de communitate. Im Anfang des 13. Jahrhunderts, als es in Avignon zu offenem Kampfe kommt, zieht die Zelantenpartei die bis dahin kaum geahnte letzte Konsequenz ihrer Lehrmeinung: die Opposition gegen Papsttum und Hierarchie und wird sich derselben in den Schriften Wilhelms von Occam, des venerabilis inceptor, bewußt, der anfangs Lehrer in Paris, später seit 1328 am Hofe des gastfreundlichen Ludwig von Bayern sich aufhielt.

Dieser Bruch mit dem Papsttum wird zugleich der Bruch mit der Scholastik, denn waren schon die alten Nominalisten, gleich der erste: Roscellin, in Opposition zur Rechtgläubigkeit getreten, so stürzt, wie Lange in seiner Geschichte des Materialismus betont hat, die analytische Denkweise Occams die Hierarchie der Begriffswelt. Er bahnt, ein Revolutionär in der Mönchskutte, die neue Weltanschauung der Baco von Verulam, Hobbes und Locke an. Der gesunde Menschenverstand erhob sich über die spitzfindigen Grübeleien, die vergeblich das Wissen und den Glauben zu vereinen suchten. Mit der Herrschaft der Realität der allgemeinen Ideen, zu deren Verherrlichung Thomas von Aquino sein gewaltiges Gebäude der ›summa totius theologiae‹ errichtet, war es vorbei, mochten auch inferiore Nachbeter von dessen imposanter geschlossener Weisheit mit kraftlosem Arme sie zu verteidigen suchen. Die sinnlichen Einzeldinge waren für Occam das einzig Substantielle, die allgemeinen Ideen nichts als zusammenfassende Ausdrücke für dieselben. Mit diesem Grundzuge seiner Denkweise hängt es innig zusammen, daß er den Bund der Philosophie mit der Theologie für eine Unmöglichkeit halten mußte, daß er die Religion auf das Gebiet der Praxis zu verlegen wagte Vgl. die Quaestiones super libros IV Sententiarum Centiloquium theol. Lyon 1495..

An Bedeutung ihm nicht vergleichbar, hat doch Duns Scotus, der doctor subtilis, der in Oxford, Paris und Köln gelehrt hat und 1208 gestorben ist, etwas von dem Geiste des Occam. Auch er hat die Unvereinbarkeit der Verstandeserkenntnis mit der göttlichen Offenbarung erkannt, aber auf andere Weise den Ausweg zu finden geglaubt, innerhalb der Grenzen, welche der kirchliche Glaube gebot Vgl. die Quaestiones in libros IV Sent. in den Opera (Wadding, Lyon 1639).. Sah er auf der einen Seite in den Offenbarungen Gottes einen willkürlichen Akt desselben, so ließ er auf der anderen den Menschen ursprünglich frei sein, was ihm von seinen Gegnern den Vorwurf des Pelagianismus zuzog. Statt wie Occam die Wirklichkeit der Universalia selbst zu leugnen, hielt er am Realismus fest, fand aber in seiner Spitzfindigkeit eine neue, geklügelte Auffassung für das Verhältnis der Einzeldinge zu den allgemeinen Ideen, indem er das Allgemeine sowohl der Möglichkeit, als der Wirklichkeit nach in den Objekten gegründet sein ließ. Das Allgemeine wie das Einzelne löste sich ihm schließlich in ein Gemeinsames: die Realität auf, – welche Ansicht doch als ein gewissermaßen verhehlter Nominalismus von derjenigen Occams nicht allzu weit entfernt ist. Seine Tendenz richtete sich direkt gegen Thomas von Aquino, und dessen Anhänger haben den Fehdehandschuh aufgenommen. In den unfruchtbaren Streitigkeiten der Thomisten und Scotisten werden die letzten Kräfte der Scholastik aufgebraucht.

Früher aber noch als Duns Scotus und Wilhelm von Occam hat ein großer Denker, der die Franziskanerkutte trug, aber mit seinem Orden zerfallen ist, von einsamer Höhe hingewiesen auf eine Art der Naturerforschung, die seinen Zeitgenossen das Hirngespinst eines Wahnsinnigen schien: Roger Bacon. Er hat Geheimnisse in der Natur geahnt, die man erst in diesen zwei letzten Jahrhunderten belauscht und der Menschheit zu Nutzen verwertet hat. Er, der erste, hat im Drange nach der Erkenntnis den Weg des Heiles in der experimentellen Beobachtung erkannt. Unverstanden, in bitterem Kampfe ist er zugrunde gegangen. Ein Franziskaner, ja! ist Roger Bacon gewesen – was er aber gewesen, dankt er wohl nur zum kleinen Teil den Franziskanern Vgl. das Opus maius. Ausgabe von 1733, London. – Opera. Brewer. London 1859..

So wichtig die Betrachtung dieser oppositionellen Franziskanerphilosophie für die Geschichte des modernen menschlichen Denkens ist, so wenig Bedeutung hat sie doch für die Geschichte der modernen Kunst. Es möge genügen, nur kurz noch auf die merkwürdige Tatsache hinzuweisen, daß der Anstoß, den Franz indirekt zur Entwicklung einer neuen philosophischen Weltanschauung gegeben, zu gleicher Zeit in Wirkung tritt, wie der Anstoß, den die Entwicklung einer neuen künstlerischen Weltanschauung ihm verdankt. Zu derselben Zeit fast, in welcher Occam seine ›quaestiones super libros quattuor Sententiarum‹ und sein ›centiloquium‹ schreibt, malt Giotto seine Fresken in den italienischen Franziskanerkirchen. Ist es zu kühn, ein Gemeinsames in den Bestrebungen der beiden großen Neuerer zu sehen? Äußert sich nicht in beiden der gesunde Menschenverstand gegenüber der alten Beschränktheit des Formelwesens? Suchen sie nicht beide ihr Heil in dem sinnlichen Erfassen der konkreten Einzeldinge der Außenwelt? Sind sie nicht beide Naturalisten im guten Sinne des Wortes? Ich meine: eine und dieselbe Kraft hat den Künstler und den Denker hervorgerufen; die wunderbare, in Franziskus am stärksten pulsierende Kraft jener Zeit, die man am kürzesten die Kraft des individuellen Gefühles nennen darf. Ihre erste Wirkung ist, daß das Individuum sich als solches Gott, der Natur und dem Menschen gegenüber bewußt wird, die zweite, daß es dieses Bewußtsein in seinem Denken subjektiv der Außenwelt gegenüber geltend macht. Indem es die Dinge so auffaßt, wie sie ihm erscheinen, werden sie ihm zur Realität und verflüchtigt sich das Allgemeine der Gattung zu einem Begriff, der nur als Norm des individuellen Denkens Wirklichkeit erhält. Eben diese neue Weltanschauung hat im Denker Occam, wie im Maler Giotto sich zuerst offenbart! Während sie aber bei jenem zunächst das Alte zerstörend und negierend auftritt, erscheint sie bei diesem positiv schöpferisch.

Ist es uns aber so gelungen, den ersten Antrieb zu der neuen Denkrichtung in dem Gefühlsleben des Franz aufzufinden, so werden wir von diesem Gesichtspunkte aus auch dem großen mystischen Franziskanerphilosophen des 13. Jahrhunderts und damit der älteren mystischen Franziskanertheologie gerecht werden können Es existiert eine ziemlich große Literatur über ihn, aus der ich nur die für unsere Zwecke bequem zu benutzenden Bücher herausgreife: Ozanam: Dante et la philosophie catholique. Ital. Übers. Neapel 1841. – Ders.: Italiens Franziskanerdichter. Übers. v. Julius, Münster 1853. S. 108. – W. C. Hollenberg: Studien zu Bonaventura. Berlin 1862. – Es ist jetzt eine neue Ausgabe der Werke in Italien veröffentlicht (Ratio Novae Collect. Opp. S. B. Turin 1874). Ich benutze die Ausgabe: Paris Peltier, die in den sechziger Jahren erschienen.. Johannes Fidanza Bonaventura, 1221 zu Balneoregium geboren und als dreijähriger Knabe durch die Fürbitte des Franz aus einer schweren Krankheit gerettet, hat im 22. Lebensjahre, das Gelübde seiner Mutter zu erfüllen, die Minoritenkutte angezogen und sich fortan der strengsten Askese befleißigt. 1243 bereits ward er von den Oberen nach Paris gesandt, wo er den Unterricht des Alexander von Hales bis 1245 genoß. Zu gleicher Zeit, als Thomas von Aquino die Ehre des doctoratus erfuhr: 1253 erhielt er einen Lehrstuhl der Theologie und 1256 das Generalat des Ordens, für den er in den Kapiteln zu Narbonne 1260, zu Pisa 1263, zu Paris 1266, zu Assisi 1269, zu Pisa 1272 in der tatkräftigsten Weise sorgte. Die ihm 1265 angebotene Würde eines Erzbischofs von York lehnte er demütig ab, wie er überhaupt den Vorschriften des Franz in seinem ganzen Leben durchaus gerecht geworden ist. Zur Zeit des Konzils 1274 ist er, der doctor seraphicus, von seinen Zeitgenossen tief beklagt, in Lyon gestorben.

Bonaventuras Bedeutung liegt nicht in einer, kaum nachweisbaren Anregung, die seine platonisch-dialektische Weltanschauung gegeben hätte, sondern in der praktischen Wirkung, die seine Mystik auf das individuelle Empfinden und damit auf das individuelle Bewußtsein seiner Zeitgenossen hervorgebracht. Mit ihr beschleunigte und verstärkte er die Strömung, die von Franziskus ausgegangen war. Wenn auch nur ein Vermittler, hat er doch als solcher und als Mensch von edelster Vornehmheit einen hervorragenden Einfluß auf die Dichtung und Kunst Italiens gewonnen. Ist doch deren Inhalt jene glühende, göttliche Liebe, die, an der Feuerseele des Franziskus entzündet, dem Dichter ein neues beglückendes Ideal wird, die aus den sinnlichen Banden heraus Dante zu der Schlußerscheinung der ›vita nuova‹ und weiter im himmelanstrebenden Fluge durch Hölle und Fegefeuer zur ewigen Gottesanschauung emporführt. Die Anschauung, die Contemplatio, das ist das Streben, das Endziel jeder mystischen Gottesverehrung. Aus dem Worte schon ließe sich auf das künstlerische Element, das ihr eigen, schließen. So hoch sich schließlich der Mystiker in dem grenzenlosen Gefühl des Einsseins mit Gott über alle Wirklichkeit der Zeit und des Raums erhebt, so ruft er sich doch, um zu solcher Höhe zu gelangen, zuerst die Bilder vor die Seele, in deren Anschauung er die zerstreuten Geisteskräfte zur einheitlichen Tätigkeit sammelt. Das ist die erste Stufe der Erkenntnis Gottes, wie Bonaventura dieselbe in seinem ›Itinerarium mentis in Deum‹ bespricht: als Erkenntnis Gottes aus den Geschöpfen und seinem Sein in der Schöpfung. Die Anschauung, die sich kraft der sensualitas mit der materia beschäftigt Opera Peltier: Bd. XII. S. 31., nun – diese niederste contemplatio ist doch zugleich die des bildenden Künstlers, und die Seelenkräfte, die Bonaventura sich bei ihr äußern läßt, der sensus und die imaginatio sind die maßgebenden Faktoren beim künstlerischen Schaffen. Von der Außenwelt ab aber wendet sich der Mystiker, auf der zweiten Stufe Gott aus seinem eigenen Geiste zu erkennen. Die eigene intelligentia wird das Objekt der durch den spiritus sich vollziehenden Anschauung. Diese Stufe aber kann recht gut wohl zugleich den Standpunkt des denkenden Dichters bezeichnen. Die letzte höchste Erkenntnis Gottes aber wird in der Spekulation über Gott als absolutes Sein und höchstes Gut erreicht. Die mens vertieft sich in die direkte Anschauung des Göttlichen. Und mit dieser Tätigkeit läßt sich wohl keine andere Kunst eher vergleichen, als jene, welche die christliche Phantasie allein von jeher in die himmlischen Sphären verwiesen hat, in welcher die ewige Harmonie mehr als in den anderen Ausdruck hienieden gefunden hat: die Musik. So läßt es sich, ohne daß man darüber selbst zum Mystiker zu werden brauchte, wohl behaupten, daß der Mystiker alle Eigenschaften des Künstlers in sich trägt. Was Wunder, wenn er auf bildende Kunst, Dichtkunst und Musik anregend und bildend gewirkt?

Der Mystizismus aber mußte mit seiner sinnlichen Neigung zur bildlichen Veranschaulichung der göttlichen Offenbarungen von beidem: dem Übernatürlichen und dem Natürlichen in der christlichen Religion sich Bilder machen. So kam er auf der einen Seite zur Allegorie, auf der anderen zur lebhaften Anschauung des Erdenlebens Christi und seiner Nachfolger. Hatte die ältere Mystik, deren Begründer Dionysius Areopagita war, in ihren hauptsächlichsten Vertretern Richard von St. Victor und Hugo von St. Victor ihr Wesentliches in der biblischen Allegorie gefunden, so tritt bei Bonaventura, oder, falls man die ›meditationes vitae Christi‹, wie nicht mit Unrecht geschieht, diesem abspricht, bei einem ihm nahestehenden Franziskaner, dem in dieser Beziehung Bernhard von Clairvaux bedeutungsvoll vorangegangen war, auch die menschlich natürliche Betrachtungsweise in ihre Rechte. Im Volke durch Franziskus wachgerufen, fand sie mächtige Nahrung namentlich durch jenes vielgelesene Buch Bonaventuras, das wir noch näher kennenlernen werden. Die Dichtkunst zuerst neben der Predigt nahm die Anregung auf und wirkte dann ihrerseits wiederum im Verein mit Bonaventuras Schriften auf die bildende Kunst Hierauf hat auch H. Hettner in seiner erwähnten Studie über die Franziskaner in der Kunstgeschichte besonders aufmerksam gemacht.. Binnen kurzem ward die mystisch-natürliche Kontemplation ein Gemeingut des Volkes, und in jugendlicher Schöne feiert in Poesie und Bildwerken das Neue Testament seine Auferstehung. Neben dem evangelischen Stoff aber erhielt dann auch die Allegorie in einer neuen sinnlicheren, dem Volke verständlicheren Form einen Ehrenplatz in Dichtung und Kunst. Zugleich gewann die Verehrung der Maria, die während des 12. Jahrhunderts immer stärker um sich gegriffen hatte, einen ganz besonderen Aufschwung durch die Franziskaner, der sich namentlich in der Dichtung Jacopones offenbart. Ja man könnte sagen, sie tritt für eine Zeit selbst vor den Kultus Christi in den Vordergrund. Die von Bonaventura behauptete ›unbefleckte Empfängnis‹ ward später Parteisache der Scoristen gegenüber den Thomisten. Größeren Wert aber als die Dogmen hatte für Kunst und Dichtung die fast menschliche Liebe, mit der Franziskus, Bonaventura und andere große Männer des Volkes an der Mutter Gottes hingen.

Im Anschluß an diese zweifache Richtung der Franziskanermystik sollen dann später einerseits die Darstellungen der christlichen Legende, andererseits die allegorischen Darstellungen der jugendlichen italienischen Kunst betrachtet werden, nachdem zunächst noch ein Blick auch auf die Predigt und die Dichtung der Franziskaner geworfen wurde.


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