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Neunzehntes Kapitel.

Während sich dies in Salvanches ereignete, hatte sich Herr von Seigneulles nach und nach von den Folgen der so unüberlegt angesetzten vierzig Blutegel erholt. Sobald er wieder hergestellt war, fuhr er mit dem nächsten Zuge nach Paris wo er ohne weiteren Unfall bei sinkender Nacht ankam. Er stieg in einem altmodischen, stillen Hotel ab, in dem er schon unter der Restauration eingekehrt war.

Am anderen Morgen machte er sich, in seinen langen Ueberzieher gehüllt, in weißer Halsbinde, seinen breitrandigen Hut auf dem Kopf, in feierlichem Schritte auf den Weg nach der Erziehungsanstalt, in die sich Helene Laheyrard geflüchtet hatte. Die Pension der Frau Le Mancel lag in jenem einsamen Teil der Rue de Vaugirard, die an den Boulevard Montparnasse grenzt. Der Chevalier war noch keine dreißig Schritte an den langen Gartenmauern dieses unbelebten Stadtteiles entlang gegangen, als er plötzlich mit den Zeichen einer großen Ueberraschung stehen blieb. Er hielt sich schützend die Hand vor die Augen, stieß einen kräftigen Fluch aus, und beobachtete einen früh aufgestandenen Spaziergänger, dessen Gesicht von dem aufgeschlagenen Rockkragen halb versteckt wurde, und der kein anderer war als Gérard. Der junge Mann betrachtete, an eine Mauer gelehnt, trübselig einen großen grün angestrichenen Thorweg, über dem zu lesen war: »Erziehungsanstalt von Frau Le Mancel. Gegründet 1838.« Hinter dem Thore in dem Hofe, der vor dem Hause lag, schüttelten zwei große Platanen ihre halbentlaubten Aeste, zwischen denen hindurch man ein großes Gebäude bemerkte, dessen Fenster geschlossen waren.

»Zum Kuckuck! Junge,« rief der Chevalier und schüttelte den in seine Betrachtungen versunkenen Träumer kräftig bei der Schulter, »ich muß dich also immer da antreffen, wo du nicht sein solltest!« Gérard fuhr zusammen, als el Herrn von Seigneulles erkannte, gewann aber schnell seine Fassung wieder:

»Vater...« begann er.

»Was, zum Kuckuck, hast du hier zu thun?« fragte der Chevalier gebieterisch.

»Mein Unrecht gut zu machen!«

»Hast du dieses Fräulein wiedergesehen?«

»Nein,« entgegnete Gérard kläglich, »während der ersten acht Tage meines Aufenthaltes hier war sie krank und ich konnte sie deshalb nicht sehen; jetzt, wo sie wieder hergestellt ist, verwehrt man mir den Zutritt!«

»Und hat sehr recht damit; deine Beharrlichkeit ist hier nicht am Platz... Es ist an mir, Fräulein Laheyrard zu besuchen,« antwortete Herr von Seigneulles und ergriff den Klopfer an dem grünen Thore.

»Erlaube mir, mit dir hineinzugehen,« flüsterte Gérard mit flehender Stimme.

»Ganz gewiß nicht!«

Die Thüre war schon halb geöffnet, da ergriff Gérard seinen Vater am Arm und bat:

»Du wirst Helene sehen, Vater, sei gut gegen sie, stürze mich nicht in Verzweiflung!«

»Alle Wetter! Willst du mir Anstandslehren geben?... Kümmere dich um deine Sachen und geh nach Hause!« Der Chevalier sprach genau so, als ob sie nicht sechzig Meilen von Juvigny entfernt gewesen wären. Nachdem er einen Augenblick gezögert hatte, fügte er hinzu: »Oder warte lieber hier auf mich!«

Herr von Seigneulles trat in den Hof und die schwere Thüre siel wieder ins Schloß.

Er hatte eine Karte bei sich, auf die er in seiner derben Handschrift die Worte geschrieben hatte: »Der Baron von Seigneulles wünscht eine Unterredung mit Fräulein Laheyrard.« Er schickte diese Botschaft dem jungen Mädchen durch den Portier und wurde eine Viertelstunde später in ein kleines Zimmer geführt, in dem Helene arbeitete. Ein volles Bücherbrett, einige Strohstühle, ein Tisch, auf dem in einem Wasserglase eine späte Rose blühte, das war die ganze Einrichtung des Gemaches, das der Chevalier nun feierlich mit erhobenem Haupte, weißer Halsbinde, finsteren Brauen und geziert zusammengezogenem Munde betrat.

Helene, noch ganz verwirrt von der Ankündigung dieses unerwarteten Besuches, stand neben dem Tische. Ihr schönes lockiges Haar, dessen ungebundenes Herabwallen Herrn von Seigneulles so unangenehm berührt hatte, war mit einem blauen Bande aufgebunden und umrahmte bescheiden das blasse Gesichtchen.

»Fräulein,« begann der Chevalier rasch, »ich bin der Herr von Seigneulles.« – Helene verbeugte sich. – »Ich bin noch nie der Erfüllung einer Pflicht aus dem Wege gegangen,« fuhr er fort, »und obwohl das erste Unrecht in dieser unglücklichen Angelegenheit auf Ihrer Seite liegt...«

»Herr Baron,« unterbrach sie ihn lebhaft, »Sie sind grausam!... Ich habe mich selbst genug bestraft, als ich alle, die ich liebe, verließ, und Sie sollten mir Vorwürfe, selbst wenn ich sie verdient hätte, ersparen.«

Der Chevalier machte eine Bewegung der Ueberraschung. Wider Willen fühlte er sich von Helenens lieblicher Stimme ergriffen, und der harte Sinn dieses unbeugsamen Herzens wurde auf eine ihm selbst unbegreifliche Weise erweicht. Er erhob den Blick und konnte nicht umhin, die würdige, einfache Haltung des jungen Mädchens zu bewundern. Er hatte sich auf ein leichtsinniges Geschöpf, auf Beschuldigungen und Thränenströme gefaßt gemacht und nun versetzte ihn das stolze und doch ergebene Wesen Helenens in Erstaunen. »Hören Sie mich zu Ende,« begann er wieder, »Sie haben mich mißverstanden. Ihr persönliches Betragen geht mich nichts an, aber ich habe die Verpflichtung, mich um das meines Sohnes zu kümmern und seine Dummheiten gut zu machen. Ich bin Edelmann und halte auf die Ehre meines Hauses.«

»Ich bitte um Verzeihung,« sagte Helene, »ich verstehe Sie immer noch nicht.«

»So will ich mich deutlicher erklären,« entgegnete der Chevalier, ungeduldig über den Mangel an Scharfsinn, den Fräulein Laheyrard an den Tag legte, und da er in zarten Uebergängen kein Meister war, fügte er brummig hinzu: »Mein Sohn hat Ihnen Schaden zugefügt, und wir schulden Ihnen einen Ersatz dafür.«

»Einen Ersatz!« wiederholte Helene und sah ihn verwundert an.

»Ja,« fuhr er fort, »so schwer auch das Opfer sein mag, wir haben die Gewohnheit, unsere Schulden zu bezahlen ohne zu markten.«

Diesmal fürchtete das junge Mädchen, verstanden zu haben, sie glaubte, Herr von Seigneulles habe es sich in den Kopf gesetzt, ihr eine Geldentschädigung für ihre Abreise von Juvigny anzubieten. Ihre Wangen röteten sich und mit der ihr eigenen Lebhaftigkeit sagte sie entrüstet: »Habe ich recht gehört? Was wollen Sie mit den Worten ›Schulden‹ und ›Bezahlen‹ sagen? Sind Sie vielleicht gekommen, um mir einen Handel vorzuschlagen?...«

»Wie, wie?« brummte Herr von Seigneulles vor sich hin. Diese letzten Worte hatten sein ganzes Mißtrauen wieder wachgerufen. Er bewahrte den Parisern gegenüber stets das Mißtrauen des Kleinstädters, der immer fürchtet, angeführt zu werden. Die argwöhnische und kleinliche Natur des Lothringers gewann wieder die Oberhand in ihm. Er glaubte, er habe es mit einer jener schlauen Personen zu thun, die nur Lärm schlagen, um sich ihren Widerstand teurer abkaufen zu lassen, und beschloß, Helene auf die Probe zu stellen. Er suchte mit seinen kleinen grauen Augen in Helenens offenem Antlitz zu lesen.

»Und wenn dies der Fall wäre?« fragte er zuversichtlich.

»Das wäre für mich die schrecklichste Strafe.«

»So lehnen Sie meine Anerbietungen ab, welche es auch sein mögen?«

»Ja, gewiß!« rief Helene leidenschaftlich. »Es scheint, daß Sie mich sehr falsch beurteilen! Ich bin zwar nicht von Adel, aber mein Herz schlägt deshalb nicht weniger hoch als das Ihre ... Kein Wort mehr, Herr von Seigneulles, haben Sie die Güte, sich zu entfernen.« Sie machte einige Schritte auf die Thüre zu. Der Chevalier, zwar sehr verlegen, aber innerlich entzückt, betrachtete sie mit steigendem Wohlwollen.

»Aber, zum Kuckuck!« sagte er, »Sie können mich doch nicht verhindern, die Kränkungen, die mein Sohn Ihnen zugefügt hat, wieder gut zu machen?«

»Man kränkt die Menschen nicht dadurch, daß man sie liebt,« antwortete sie mit trübem Lächeln, »und das Unrecht, von dem Sie reden, ist nur ein eingebildetes.«

»Eingebildet? Doch wohl nicht ganz, da es Sie gezwungen hat, Juvigny zu verlassen.«

»Meine Abreise war längst geplant, ich habe sie nur um einige Wochen beschleunigt.«

»Aber, als Sie abreisten, waren Sie ... kompromittiert.«

»In den Augen einiger Leute, die mich hassen, mag das sein; aber in meinen eigenen und den Augen meiner Freunde keineswegs ... Und warum auch? Weil ich jemanden ehrlich geliebt, mich entfernt habe, um nicht die Veranlassung zu Uneinigkeiten in der Familie dessen zu sein, den ich liebte, darum sollte ich kompromittiert sein? Nein, Herr Baron, mein Gewissen ist ruhig und meine Ehre ist unversehrt!«

»Ich bitte um Vergebung, Ihre Freunde in Juvigny denken aber anders.«

»Und was kann man denn anderes denken?« rief Helene erstaunt aus.

»Man behauptet,« begann er ... aber die Sache war nicht so leicht zu erklären; er hielt inne und betrachtete sich einen Augenblick das reizende Antlitz des jungen Mädchens, die kluge Stirne, die klaren, ehrlichen Augen, den geistvollen Mund, der aussah, als ob nie eine Lüge über seine reinen und entschlossenen Lippen gekommen sei. Der arme Chevalier wurde immer verlegener. »Verzeihen Sie,« fuhr er mit möglichst sanfter Stimme fort, »wenn ich diesen zarten Gegenstand berühre, aber ich bin hieher gekommen, um offen zu reden. Man ist in Juvigny überzeugt – ich erröte es auszusprechen –, daß Gérard sich nicht gescheut habe, Sie ernstlich zu kompromittieren, und daß Sie nur die Stadt verlassen haben, um einen Fehltritt zu verbergen ...«

Während er sprach, schienen sich Helenens Augen übermäßig zu vergrößern; erst errötete sie, dann wurde sie plötzlich sehr bleich, ihre Kehle schnürte sich zusammen, und ihre blassen Lippen zitterten. Da sie kein Wort hervorbringen konnte, bat sie den Chevalier durch eine Bewegung innezuhalten: dann setzte sie sich mit verstörtem Gesicht und starren Blicken an den Tisch. – »Ich? ... Ich?« flüsterte sie. Herr von Seigneulles betrachtete sie unruhig und fing an zu bereuen, daß er so hart zu ihr gesprochen hatte. Angesichts der Barrikaden anno 1830 hatte sich der alte Gardeoffizier entschieden wohler gefühlt, als jetzt allein mit diesem gebrochenen jungen Mädchen und ihrem stummen Jammer. In dem Ausruf Helenens hatte eine solche Aufrichtigkeit gelegen, aus all ihren Zügen sprach eine solche Rechtschaffenheit, daß der Chevalier sich schämte, den Klatschereien Juvignys so leicht geglaubt zu haben.

»Fräulein,« wagte er schüchtern zu sagen.

Helene schreckte zusammen. – »Ach Vater, armer Vater!« rief sie aus. – Bei dem Gedanken an die Verzweiflung Herrn Laheyrards, wenn er diese Verleumdung erfuhr, brach sich der Schmerz, den sie hatte unterdrücken wollen, mächtig Bahn. Ihre Brust hob sich, ihre Augen wurden feucht, und sie brach in Schluchzen aus. Es war wie ein ungezügelter Kinderschmerz, eine Thränenflut, die nicht enden zu wollen schien. Herr von Seigneulles war von dem Anblick ihrer Verzweiflung aufs tiefste erschüttert. Er erinnerte sich des Nachmittags, wo er Zeuge der Zärtlichkeit zwischen Vater und Tochter gewesen, und dachte daran, wie rührend ihm diese Liebe erschienen war, und er verstand, welche schmerzliche Angst sich in dem Schrei Helenens Luft gemacht hatte. »Ihr erster Gedanke galt ihrem Vater,« sagte der Chevalier zu sich selbst, »ich habe sie entschieden falsch beurteilt.« Er näherte sich ihr mit reuevoller Miene. In demselben Augenblick fiel das hübsche, blonde Haupt Helenens von dem übergroßen Kummer gebeugt nach hinten, und Herr von Seigneulles fürchtete eine Ohnmacht. Ganz fassungs- und ratlos kniete der unbeugsame Chevalier vor dem jungen Mädchen nieder, und plötzlich neigte er sein graues Haupt und drückte mit der zärtlichsten Sorge, die nur ein Vater für sein krankes Kind haben kann, einen Kuß auf die Hand von Fräulein Laheyrard.

»Verzeihung!« sagte sie unter Thränen, »es hat mich übermannt ... Der Schlag war so heftig und so unerwartet! Ich dachte gleich daran, wie weh diese Bosheit meinem Vater thun würde ... Ich bin wohl sehr leichtsinnig gewesen, daß man so etwas hat denken können? Ich bitte Sie, glauben Sie nicht, daß ich mich hätte so vergessen können. Die Liebe Ihres Sohnes für mich war immer ebenso zärtlich wie achtungsvoll, ich schwöre es Ihnen, und er selbst wird es bestätigen ... Warum hat er es Ihnen denn nicht schon gesagt?«

»Warum?« murmelte der Chevalier verlegen, »Nun ja doch, weil ich ihn nicht habe sprechen lassen, sondern gleich in Harnisch geraten und abgereist bin!... Aber,« fuhr er feierlich fort, »seine Versicherung ist unnötig, ich glaube Ihnen, Fräulein, und lege Ihnen meine demütigsten Entschuldigungen zu Füßen.«

Helene trocknete ihre feuchten Augen und bemerkte nun plötzlich, daß der Chevalier, ein Knie auf der Erde, vor ihr lag, sie streckte ihm die Hand hin, um ihn zum Aufstehen zu nötigen.

»Sie haben nicht nötig, sich zu entschuldigen, Herr von Seigneulles, ich muß Sie um Vergebung bitten, daß ich so unbedacht Ihre Ruhe gestört und die Erfüllung Ihrer Wünsche verhindert habe.«

Der Chevalier machte eine großartige abwehrende Gebärde.

»Man muß nachsichtig gegen mich sein,« fuhr sie fort und richtete ihre großen Augen auf ihn, »ich bin so schlecht erzogen worden! Als ich nach Juvigny kam, bildete ich mir ein, es sei mir alles erlaubt – meine Mutter beschäftigte sich so wenig mit mir –, und mein Vater,« setzte sie mit mattem Lächeln hinzu, »war nicht streng wie viele andere ... Er hat mich furchtbar verwöhnt!«

»Und Sie liebten ihn auch dafür!« seufzte Herr von Seigneulles.

»O ja, und es ist mein täglicher Kummer, daß ich ihn nicht mehr wie sonst umarmen kann.«

»Geduld! Nach Ihrer Rückkehr werden Sie sich für die Entbehrung schadlos halten.« Helene schüttelte traurig den Kopf.

»Ich werde nie mehr nach Juvigny zurückgehen,« sagte sie mit fester Stimme.

»Das wollen mir sehen!« rief der Chevalier. »Ich werde Sie schon dazu zwingen.«

»Sie, Herr von Seigneulles?« – Sie sah ihn höchlich verwundert an.

»Ich, gewiß ... Bilden Sie sich denn ein, ich habe mich acht Stunden lang auf dieser niederträchtigen Eisenbahn herumschütteln lassen, bloß um Sie zum Weinen zu bringen? Begreifen Sie denn nicht, warum ich hier bin?«

Helenens Gesicht begann sich aufzuhellen, und die Verwunderung wich einer Empfindung, die nichts Schmerzliches mehr an sich hatte. »Aber, ich glaube ...« stotterte sie, »ich weiß nicht ...«

»Lieben Sie meinen Sohn nicht mehr?«

Sie errötete und ihre Lippen bewegten sich, ohne ein Wort hervorzubringen. – »Antworten Sie mir nicht!« rief der ungestüme Chevalier, »warten Sie, bis ich wiederkomme!«

Er stürzte aus dem Zimmer, sprang vier Stufen auf einmal die Treppe hinab und suchte Gérard auf, der allen Qualen der Erwartung zur Beute, auf der Straße fast verzweifelte, »Folge mir!« befahl Herr von Seigneulles.

Der junge Mann und sein Vater stiegen langsam die Treppe hinauf, zur großen Verwunderung der Schülerinnen von Frau Le Mancel. Als sie in dem kleinen Zimmer angelangt waren, wo Helene sich zitternd fragte, ob sie nicht geträumt habe, verbeugte sich der Chevalier ehrfurchtsvoll vor ihr und sagte: »Fräulein Laheyrard, ich habe die Ehre, Sie für meinen Sohn, Gérard von Seigneulles, um Ihre Hand zu bitten,« Dann wandte er sich an Gérard und sagte: »Vorwärts, mein Sohn, küsse deiner Braut die Hand!«

Ein doppelter Freudenschrei ertönte in dem kleinen Zimmerchen. Gérard hatte sich auf Helenens Hand gestürzt und bedeckte sie mit Küssen. Die Sonne sogar freute sich mit ihnen; sie hatte die Oktobernebel zerteilt und sandte einen ihrer lichtesten Strahlen durch die Gardine und ließ ihn um die blonden Locken des jungen Mädchens, über den voll entfalteten Kelch der Rose und über Gérards, vor der Geliebten gebeugtes Haupt spielen. In einer Ecke stand der strenge Chevalier und betrachtete diese Liebesscene und lauschte dem zärtlichen Geflüster, bis er plötzlich eine ganz eigentümliche Heiserkeit fühlte ... Er sah den Augenblick kommen, wo ihm die Thränen in die Augen treten würden, und schämte sich dieser übermächtigen Bewegung und versuchte dieselbe mit einem Fluch zu unterdrücken. »Donnerwetter!« brummte er.

Bei diesem Ausruf erhob Helene den Kopf, entzog ihre Hände den Liebkosungen Gérards und wies mit einem raschen Blick auf seinen Vater. Der junge Mann verstand sie, stürzte auf den alten Edelmann zu und umschlang ihn mit seinen Armen. Zum erstenmal vereinte eine wirklich warme und zärtliche Umarmung Herrn von Seigneulles und seinen Sohn...

In Juvigny war die Aufregung groß, als die Neugierigen, die vor dem Gasthaus zur Rose auf und ab schlenderten, um den von der Bahn kommenden Omnibus zu erwarten, eines Morgens Gérard in Begleitung seines Vaters und Helenens aussteigen sahen. Herr von Seigneulles schien zehn Jahre jünger geworden zu sein und richtete sich in seiner ganzen Größe auf, als er Helenen galant den Arm bot: Gérard, dessen strahlendes Gesicht sein Glück verkündete, hielt sich an der anderen Seite des jungen Mädchens. Während sie alle drei langsam in die obere Stadt hinaufstiegen, traten alle Krämer unter die Ladenthüren, um sie vorbeigehen zu sehen. Die achtungsvolle Haltung des Chevaliers und das frohe Antlitz Gérards ließen keinen Zweifel zu über die Art des Abschlusses, den dieses Abenteuer gefunden hatte. Aber wenn auch noch irgend jemand Zweifel gehegt hätte, so würden dieselben von den siegbewußten Mienen, die Frau Laheyrard den Tag nach der Rückkehr ihrer Tochter zur Schau trug, gewiß beseitigt morden sein. Die Frau Schulrätin wurde fast toll vor Eitelkeit; ihre Gesprächigkeit ließ sich nicht mehr eindämmen, sondern erging sich in lärmenden, banalen Mitteilungen. Durch eine in der Gesellschaft kleiner Städte, wo man gerne dem Erfolg huldigt, ziemlich häufige Umstimmung verwandelten sich die gegen Helene angehäuften Beschuldigungen in lauter Lobeserhebungen. Man bewies um die Wette die Unhaltbarkeit der über sie verbreiteten Verleumdungen, und jeder hatte vom ersten Tage an das glückliche Ende von Gérards Liebe vorhergesagt; sogar Magdelinat schmeichelte sich, dazu geholfen zu haben. Da ein Glück nie allein kommt, so besiegte die Nachricht von Helenens Verlobung auch vollends die Bedenken Frau Grandfiefs; sie machte gute Miene zum bösen Spiel und gewahrte Marius die Hand ihrer Tochter, so daß der gute Abbé Volland die Freude hatte, die beiden Paare nacheinander einzusegnen.

Nach dieser Feierlichkeit begann bei Marius der poetische Firnis, der nur an der Oberfläche gesessen hatte, rasch abzuspringen; der spießbürgerliche Untergrund kam wieder zum Vorschein und der Dichter wurde ein biederer Philister, der viermal des Tages speiste, früh zu Bette ging und »sehr gut schlief auch ohne Ruhm«.

Unter den warmen Strahlen, die von Helenens und Gérards Liebe ausgingen, hat sich auch das Haus des Herrn von Seigneulles verändert; alte Häuser, in denen liebende Menschen weilen, verjüngen sich, und Herr von Seigneulles selbst lebte wieder auf. Aber die überraschendste Folge dieser beiden fröhlichen Verbindungen war eine dritte Heirat, die niemand vorausgesehen hatte, die Finoëls. Aus Aerger entschloß sich der Bucklige, die gewandte, kokette Regina Lecomte zur Frau zu nehmen. Seither glückt ihm alles, er ist sehr vergnügt und hat viele Kinder.

 

(Ende.)


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