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Elftes Kapitel.

Herr von Seigneulles verließ den Abbé ungestüm und ging nach Hause. Dort angekommen, zog er sich in sein Zimmer zurück; weniger um seinen Zorn verrauschen zu lassen, als um über die dem Schuldigen zugedachte Strafpredigt nachzudenken, trat er ans Fenster und sah hinaus. Das Fenster ging auf die Gärten, und Herr von Seigneulles bemerkte im Nachbargarten in dem Buchengang ein junges Mädchen in der vollen Blüte seiner achtzehnjährigen Schönheit. An den blonden frei herabfallenden Locken erkannte er Fräulein Laheyrard. »Dies ist also das gefährliche Geschöpf, das Gérard berückt hat,« dachte er. Helene ging in dem mit Buchs eingefaßten Wege auf und ab, bald neigte sie das Haupt, um den Duft einer Rose einzuatmen, bald bückte sie sich, um Reseda zu pflücken. Trotz seines Zornes unterlag der alte Herr dem Zauber dieser Anmut und Schönheit. Er verfolgte mit dem Blick die geschmeidigen Bewegungen des jungen Mädchens; er sah, wie sie sich umdrehte und Herrn Laheyrard entgegenlief, der, in ein Buch vertieft, den Weg herunterkam. Mit einer schelmischen Bewegung hatte sie sich des Buches bemächtigt, das die Aufmerksamkeit des alten Gelehrten fesselte, und es in ihrer Tasche verschwinden lassen. Dann gab sie ihrem Vater, die Hände auf seine Schultern gestützt, einen tüchtigen Kuß auf jede Wange, hing sich an seinen Arm und ging fröhlich an seiner Seite; bald zeigte sie ihm Blumen, die er bewundern mußte, bald zauberte sie durch ihr lebhaftes Geplauder ein friedliches Lächeln auf das ernste Gesicht des Greises. Vater und Tochter schienen sich leidenschaftlich zu lieben; schon an der Art, wie sie sich führten, konnte man eine innige, zärtliche Zuneigung herausfühlen. Diese Liebkosungen, diese schöne Vertraulichkeit entlockten Herrn von Seigneulles einen Seufzer. Er war in dieser Beziehung gar nicht verwöhnt, da er von jeher mehr Furcht als Liebe eingeflößt hatte. Er konnte nicht umhin, den Vater um die Zärtlichkeit zu beneiden, mit der ihn seine Tochter überhäufte. Ach, wenn er eine liebevolle, zärtliche Schwiegertochter nach seiner Wahl gehabt hatte, wie hätte auch er sie verwöhnen und verhätscheln wollen. Der Anblick dieser kindlichen Anhänglichkeit schlug längst verklungene Saiten in seinem Herzen an; aber der Chevalier wollte sich nicht erweichen lassen, deshalb schloß er rasch das Fenster In demselben Augenblick trat Gérard ein wenig blaß, aber in guter Haltung, ein.

»So, da kommt endlich mein Herr Sohn!« rief Herr von Seigneulles, dessen Zorn wieder aufs neue entbrannte. »Ich habe ja schöne Sachen gehört! ... Habe die Güte, mir dein Benehmen gegen Frau Grandfief und diesen unpassenden Bruch, den ich durchaus nicht erwartet habe, zu erklären.«

»Ich beabsichtigte, dich selbst davon zu benachrichtigen und bedaure, daß man mir zuvorgekommen ist,« sagte Gérard und senkte die Augen unter dem zornig erregten Blicke seines Vaters. »Ich habe meine Besuche in Salvanches eingestellt, weil ich Fräulein Grandfief nicht liebe.«

»So! ... Und weil dein Herz anderweitig vergeben ist, nicht wahr? Ich weiß im voraus alle die Dummheiten, die du jetzt vorbringen willst; aber warum bist du mit dieser Grille im Kopf zuerst heuchlerisch nach Salvanches gegangen, auf die Gefahr hin, mich bei einer achtbaren Familie eine lächerliche Rolle spielen zu lassen?«

»Um Vergebung, Vater, als ich dir zu Frau Grandfief folgte, war mein Herz noch frei; ich habe geglaubt, ehrlich zu handeln, als ich mich dort lossagte, sobald ich eine andere liebte.«

»Ja, eine Intrigantin, der du wie ein Gimpel auf den Leim gegangen bist! ... Was gedenkst du nun zu thun?«

»Fräulein Laheyrard zu heiraten, sobald ich deine Einwilligung erlangt haben werde.«

»Weiter nichts! ... Und wenn ich sie verweigere?«

»So werde ich warten.«

»Du wirst warten ... was?« schrie Herr von Seigneulles wütend, »wohl bis du fünfundzwanzig Jahre alt bist und die gesetzliche Aufforderung an mich ergehen lassen kannst? ... Aber träume ich denn? Es gibt also keine Religion, keine Familie, keine Ehrfurcht mehr? ... Dies mir zu bieten! Hast du den Kopf verloren, oder hat dich die republikanische Sittenverderbnis so sehr vergiftet, daß sie dir die Achtung vor dir selbst und vor anderen ganz geraubt hat?«

Gérard wagte zum erstenmal seinem Vater voll ins Gesicht zu blicken und sagte mit fester Stimme:

»Ich sagte, ich würde warten, Vater, weil ich weiß, daß du gerecht bist ... Wenn du meine Geduld und meine ehrerbietige Beharrlichkeit siehst, wirst du auch erkennen, daß es sich um eine ernste Neigung handelt, und wirst nicht zwei Herzen unglücklich machen wollen, die nichts so sehr wünschen, als dich lieben zu dürfen ...«

»Romanhafte Redensarten, alles das! Nein, du wirst meine Geduld nicht auf die Probe stellen und mich nicht bewegen, meine Einwilligung zu einer so thörichten Heirat zu geben. Wenn dir meine Art und Weise nicht gefällt, so wirst du mein Haus sofort verlassen; ich werde dir dein Pflichtteil ausbezahlen, und du kannst ferne von mir leben wie der verlorene Sohn ...«

Mitten in seiner feierlichen Rede brach der Chevalier ab. Das Naturell des Grundbesitzers und die Klugheit des Lothringers gewannen wieder die Oberhand. Er fürchtete, beim Worte genommen zu werden und die Demütigung zu haben, seinem Sohn Rechnung ablegen zu müssen. »Sapperment!« rief er, »wenn du diesen äußersten Schritt thätest, würdest du meinen feierlichen Fluch mit dir nehmen!«

Gérard war sehr blaß geworden und preßte die Lippen zusammen.

»Ich gebe dir einen Monat Zeit zur Ueberlegung,« beeilte sich der Chevalier hinzuzufügen, »da ich aber den Skandal nicht liebe, wirst du deine Betrachtungen wo anders als in Juvigny anstellen. Er öffnete heftig das Fenster und rief hinaus: »Baptist, spanne Bruno an den kleinen Wagen!« Dann wandte er sich wieder zu seinem Sohn: »Baptist wird dich sofort nach Groß-Allard fahren. Du wirst mir das Vergnügen machen, einige Wochen dort zuzubringen; das wird dir die Gedanken ein wenig auffrischen!«

Schon bei dem Gedanken, abreisen zu müssen, ohne Helene, die ihn erwartete, gesehen zu haben, fühlte Gérard eine heftige Neigung zur Empörung; seine Augen funkelten von Thränen und entrüsteten Blitzen, aber er hatte nicht umsonst sechs Jahre bei den Jesuiten in Metz verlebt. Er hatte dort eine mit geheimen Vorbehalten und stillschweigenden Uebereinkünften getränkte Luft eingeatmet und sich unwillkürlich eine Fügsamkeit angeeignet, an der das Herz weniger Anteil hatte, als der Körper.

»Gut,« sagte er sich verbeugend, »ich werde gehorchen.«

»Geh und triff deine Vorbereitungen,« antwortete der unbeugsame Chevalier, »du wirst in einer halben Stunde abreisen!«

Wirklich zog auch eine halbe Stunde später der von dem schweigsamen Baptist kräftig angetriebene Bruno den Wagen im Trab auf dem Wege nach Groß-Allard fort; aber als sie mitten im Walde waren, griff Gérard plötzlich in die Zügel, hielt den Wagen an, sprang heraus und sagte zu dem Diener: »Du fährst nach der Meierei weiter! ich habe in Juvigny zu thun und gehe zurück!«

»Herr Gérard,« rief der erschrockene Baptist, »das kann nicht geschehen! ... Sie werden daran schuld sein, wenn der Herr Baron mich fortjagt.«

»Mein Vater wird nichts davon erfahren, und ich verspreche dir, vor Mitternacht in der Meierei zu sein ... Geh!« rief der junge Mann gebieterisch.

Darauf drehte er sich auf dem Absatz um und vertiefte sich in den Wald, wahrend der väterliche Wagen traurig in der Richtung nach Groß-Allard weiterfuhr. Er verlangte danach, Helene zu sehen, um ihr so gut wie möglich die Ereignisse des Tages mitzuteilen und sie zu versichern, daß nichts imstande sein werde, sein Herz umzustimmen. Er irrte im Dickicht umher, bis der Abend einbrach; als die Dämmerung die Weinberge Juvignys in Dunkel gehüllt hatte, ging er in der Richtung nach Polval hinunter und gelangte durch die Weinberge zu Laheyrards. Ein Licht glänzte durch die Fensterscheiben im Erdgeschoß und flößte ihm wieder Mut ein; dann schlüpfte er verstohlen hinter die Hecke.

Im Atelier, in der Nähe der Lampe, deren schlichter Lichtschirm ihre geröteten Augen und ihr trauriges Antlitz beschattete, saß Helene, die Hände in den Haaren, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Sie war nicht allein; Frau Laheyrard ging im Zimmer auf und ab; ihre lebhaften Bewegungen und der gereizte Ton ihrer Worte deuteten an, daß ihre Nerven durch irgend eine unangenehme Begebenheit sehr erregt worden waren. »Kann man so etwas begreifen?« zürnte sie. »Und mir dies durch den Abbé Volland sagen zu lassen! Als ob ich meine Tochter nicht zu hüten wüßte! Ach, diese dummen Menschen und dieses niederträchtige Nest!«

Mittlerweile erschien Gérard in der Umrahmung der offen gebliebenen Gartenthüre. Helene erstickte einen Schrei der Ueberraschung, während sich die Entrüstung Frau Lahenrards verdoppelte. Mit erkünstelter Würde trat sie auf den jungen Mann zu, der verlegen seine Entschuldigungen stammelte, und sagte: »Herr von Seigneulles, wenn Sie mich künftig besuchen wollen, so werden Sie die Güte haben, wie alle anderen Leute auch durch die Hausthüre zu kommen; es wird aber am besten sein, Sie machen mir das Vergnügen, überhaupt nicht mehr zu kommen. Ich verlange wirklich nicht danach, von Ihrem Vater noch einmal die Beschuldigung zu hören, daß ich Sie in mein Haus gelockt hatte ... Ich freue mich übrigens, Ihnen bei dieser Gelegenheit sagen zu können, daß man in Ihrer Familie denn doch ein bißchen zu eingebildet ist. Woher hat denn Ihr Herr Vater erfahren, daß ich mich Ihrer bemächtigen wolle? Mag er seinen Sohn bewachen, ich werde meine Tochter zu behüten missen. Ich verbiete Helenen, Sie künftig zu empfangen.«

Nachdem er vergeblich versucht hatte, diesen Redestrom zu unterbrechen, öffnete er schon den Mund, um zu antworten; da blickte ihn Helene so bittend und zärtlich an und winkte ihm, er solle sich entfernen. Gérard antwortete auf diesen Befehl mit einem leidenschaftlichen Blick und das war alles. Er verbeugte sich schweigend und stieg die Stufen der Freitreppe hinab, mährend Frau Laheyrard die Glasthüre geräuschvoll hinter ihm schloß.


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