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Vierzehntes Kapitel.

Alle Gäste waren so munter, daß Marius' Mißgeschick fast unbemerkt blieb. Man hatte den Kaffee herumgereicht, und die Köpfe begannen sich zu erhitzen. Die Damen erhoben sich und zerstreuten sich auf der Wiese; bald saßen nur noch hartgesottene Jäger um die Tafel, die ihre Pfeifen rauchten und sich ihre Erlebnisse mit jener lauten Mitteilsamkeit, welche die Folge eines guten Frühstückes zu sein pflegt, in die Ohren schrieen. Ein jeder fühlte den Einfluß der guten Bewirtung. Junge Leute hatten einen Tanz auf der Wiese veranstaltet; sogar Frau Grandfief, die zuerst nachdenklich geblieben war, schien plötzlich aufzutauen. Ihre Strenge verlor sich allmählich, ihre schmalen Lippen lächelten und in ihren Augen glänzte eine milde Heiterkeit. Sie war es auch, die die einzige Belustigung vorschlug, welche all diesen heißen Köpfen, all diesen ungeduldigen Füßen zusagen konnte. »Wir wollen ›das Thor des heiligen Nikolaus‹ spielen und auf diese Weise irgendwohin spazieren gehen; wir wollen ein Ziel wählen.«

Das »Thor des heiligen Nikolaus« ist ein in Lothringen allgemein bekanntes Spiel. Die Spieler reichen sich die Hände und bilden eine Kette, an der ein jeder Ring von einem Herrn und einer Dame gebildet wird; die beiden Anführer, die an der Spitze stehen, reichen sich die Hände und halten dieselben so über den Kopf, daß sie eine Art kleinen Bogen bilden. – »Ist das Thor des heiligen Nikolaus offen?« ruft die übrige Gesellschaft im Chor, und auf die bejahende Antwort schlüpft die ganze Reihe rasch hintereinander, Rundgesänge singend, durch diesen schnell hergestellten Bogen. Die jungen Leute am äußersten Ende kommen so an die Spitze und bilden nun ihrerseits einen Bogen, und so schlängelt sich der lange Zug weiter, solange er Raum vor sich hat.

Der Vorschlag der Frau Hüttenbesitzerin wurde mit Begeisterung angenommen; man begann zu beraten, wohin man gehen wolle. Die einen nannten die »Buche der Jungfrau«, die anderen die »Klause des heiligen Rochus«.

»Nein,« sagte Frau Grandfief in befehlendem Ton, »wir gehen zum Höllengrund, der Weg ist viel hübscher.«

Man reichte sich die Hände, die Rundgesänge wurden angestimmt, und die lange Reihe setzte sich in Bewegung.

Es war ein reizender Anblick, wie diese behende, geschmeidige Kette sich entrollte und den Windungen des Weges folgte. Die Arme bewegten, die Füße tummelten sich, die fliegenden Gewänder streiften leicht die Farnkräuter am Wege, fröhliches Lachen erklang ... Bald war der ganze Zug im Gebüsch verschwunden.

Die Mittagsstunden entflohen ... Unter den Buchen im Höllengrund, neben der murmelnden Quelle hatten sich Gérard und Helene wie gewöhnlich getroffen.

Das junge Mädchen hatte wohl Leinwand und Pinsel mitgebracht, berührte sie aber kaum; sie folgte mit trübem Blick den ersten fallenden Blättern, die in leichtem Wirbel in den Bach hinabglitten.

»Sie sind bekümmert,« sagte Gérard zu ihr, »woran denken Sie?«

»An uns,« antwortete sie ernst.

»Und das macht Sie traurig! Sind wir denn nicht glücklich?«

»Werden mir es noch lange sein? Ich habe ein Vorgefühl, daß man uns verdächtigt und ausspioniert. Als mir uns das letzte Mal getrennt hatten, begegnete ich dieser Nähterin, der kleinen Regina, und an der Art, wie sie mir ins Gesicht starrte, merkte ich, daß sie etwas ahnt.«

»Bedauern Sie, gekommen zu sein? ...«

»Nein,« antwortete sie lebhaft; »wenn ich Angst habe, so habe ich sie nicht für mich ... Ich denke an meinen guten Vater, dessen Stellung erschüttert wäre, wenn unsere Zusammenkünfte entdeckt würden und ein Skandal daraus entstände.

»Sie haben recht,« seufzte Gérard, »und ich bin ein Egoist.« – Auch er war nachdenklich geworden, »Die Sache kann so nicht weiter gehen,« sagte er auf einmal leidenschaftlich; »ich liebe Sie, ich bin Herr meiner selbst, und ich werde meinen Vater zur Vernunft bringen ...«

Helene machte große Augen; ihr halb ungläubiger, halb verwunderter Blick schien zu fragen, wie er dies denn anfangen wolle.

»Ich werde ihn noch einmal bestürmen,« fuhr Gérard fort, »und wenn er unbeugsam bleibt, werde ich ihm drohen, das Haus zu verlassen.«

Das junge Mädchen schüttelte den Kopf, ein Lächeln spielte um ihre Lippen.

»So wie Sie mir ihn geschildert haben, wird er Sie ruhig gehen lassen, – und dann?«

»Dann werde ich warten, bis ich fünfundzwanzig Jahre alt bin und ihm dann die gerichtliche Anfrage zukommen lassen.«

Helenens Brauen zogen sich zusammen.

»In diesem Fall werde ich zurücktreten,« antwortete sie stolz, »ich werde mich nie in eine Familie eindrängen, deren Haupt mich abgewiesen hat.«

Gérard war entmutigt; er vermochte kaum zu sprechen, so schnürte ihm der Kummer die Kehle zusammen. Helene bemerkte es und ward gerührt; sie bemühte sich, heiter zu scheinen, reichte ihm die Hand und sagte: »Bah! wir wollen an nichts Trauriges mehr denken ... Warum sollen wir unseren Nachmittag damit verlieren, daß wir uns quälen? Sehen Sie, wie die Schlucht immer schöner wird, je mehr sich die Sonne neigt ... Es ist so gut hier; ich möchte diese Landschaft ganz in mich aufnehmen, um sie niemals wieder zu vergessen!«

Ihre Augen schweiften langsam über die bewaldeten Abhänge, auf die der Schatten immer dichter herabsank, über die Brombeersträucher voll Früchten und über die Wiesen, auf denen schon die Herbstzeitlose blühte. Während all dieser Zeit war ihre Hand in der Gérards geblieben; sie saßen schweigend nebeneinander, und über der ganzen Gegend ringsum lag die sanfte Ruhe der letzten schönen Tage, Helene und Gérard fühlten sich von jener unbestimmten Sehnsucht ergriffen, die der Herbst so leicht auch in gestählteren Herzen erregt. Sie hielten sich fest bei den Händen und tauschten lange, zärtliche Blicke aus. Nur abgerissener, undeutlicher Gesang und lautes Lachen, das weit aus der Ferne herübertönte, störte den Frieden ihrer Einsamkeit; aber in dieser Jahreszeit, während der Ferien, waren diese fröhlichen Klänge in den Wäldern etwas so Natürliches, daß die beiden Liebenden ihrer nicht achteten. Der Wald ringsumher lag schweigend und in dieser Stille ließ ein Rotkehlchen sein zärtliches Liedchen gedämpft erklingen. Gérard fühlte sich von den braunen Augen Helenens wie von einem Magnet angezogen; schon neigte sich sein Haupt zu dem des Mädchens hin, schon war er im Begriff, den ersten Kuß auf die klaren, unwiderstehlich anziehenden Sterne zu drücken, als laute Stimmen ertönten, die diesen Kuß auf den überraschten Lippen zurückhielten ..., und sich plötzlich die lange Kette des »Sankt Nikolaus-Thores«, Frau Grandfief an der Spitze, stürmisch von einem Abhang in die Schlucht herabwälzte. Das wirkte wie ein Blitzstrahl. Die überraschten jungen Leute waren sich noch gar nicht klar darüber, was geschah, als sich schon die ganze fröhliche Gesellschaft am Bach zerstreute. Auf Gesang und Gelächter folgte plötzlich eine feierliche Stille; man hatte die beiden Liebenden erkannt. Helene hatte sich, rot vor Verlegenheit, über ihre Skizze gebeugt; Gérard hatte sich erhoben und stand bleich, mit zusammengepreßten Lippen, neben ihr. Die Ankommenden, die in der Mehrzahl auf eine solche Begegnung nicht gefaßt waren, schienen ebenso verlegen zu sein wie die Ueberraschten; Frau Grandfief allein verlor ihre Kaltblütigkeit nicht. Sie ging an dem unglücklichen Gérard vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen; dann wandte sich die unbarmherzige Dame mit spöttisch höflicher Miene an Helene und sagte: »Wir stören Sie, Fräulein,« Sie warf einen Blick auf die kaum bemalte Leinwand und fuhr fort: »Es ist sehr hübsch, was Sie hier machen ...«

Ohne sich weiter um Helenens Lage zu kümmern, sagte sie zu ihren Begleitern: »Wir wollen unseren Spaziergang fortsetzen und Fräulein Laheyrard ihren Beschäftigungen überlassen!«

Sie schlug einen Fußpfad ein, der in den Wald hineinführte, und die ganze Reihe von Damen und jungen Herren folgte ihr, jedoch nicht ohne den beiden Schuldigen boshafte Blicke zugeworfen und sich gegenseitig durch Zeichen auf ihr verstörtes Aussehen aufmerksam gemacht zu haben. Kaum war der Schwarm vom Gehölz verdeckt, so brach das Hohngelächter los und die Unterhaltung kam wieder in Fluß; der Wind trug die grausame Entgegnung Frau Grandfiefs: »Bah, es ist ein Glück für sie; jetzt ist sie kompromittiert und hat einen Grund, ihn zum Heiraten zu zwingen,« bis zu Helenens Ohren.

Nach und nach hörte das Gesträuch auf zu knistern und der Lärm verminderte sich; die Stimmen wurden schwächer und von neuem herrschte tiefe Stille in der Schlucht; man vernahm wieder das helle Rauschen des Baches und das Zwitschern des Rotkehlchens, das, einen Augenblick verscheucht, wieder mutig seinen Gesang aufnahm.

Jetzt erst wagte Gérard Helenen anzublicken, welche, die Stirne in die Hände gepreßt, unbeweglich dasaß. Er erschrak über den tragischen Ausdruck ihres blassen Gesichts und seufzte schmerzlich auf.

»Ach,« flüsterte das junge Mädchen, »ich glaube, ich bin verloren!«

Der junge Mann betrachtete sie mit verstörter Miene und rang die Hände. »Und ich habe Sie zu Grunde gerichtet!« rief er, »diese erbärmliche Frau rächt sich an Ihnen dafür, daß ich ihre Tochter ausgeschlagen habe.«

Er ging am Bache auf und ab, verwünschte Frau Grandfief und stieß unzusammenhangende, wirre Worte aus. »Was soll aus uns werden?« sagte er endlich, »was sollen wir thun? Morgen wird die ganze Stadt alles wissen, und mein Vater wird es mir nie verzeihen.«

Aus all dieser Verwirrung entnahm Helene nur so viel, daß Gérard eine schreckliche Angst vor dem Chevalier hatte, und daß diese Furcht ihm die Fähigkeit zu denken raubte. Sie fühlte, sie müsse Mut haben für zwei, erhob sich und raffte ihr Malgeräte zusammen.

»Scheiden wir,« sagte sie traurig, »gehen Sie auf den Meierhof zurück und halten Sie sich einige Tage ganz ruhig.«

»Mich dort einschließen ohne Nachricht von Ihnen, niemals!« rief Gérard. »Ich würde mich langsam verzehren ... Ich gehe nach Juvigny zurück, um dem Sturme Trotz zu bieten.«

»Ich verbiete es Ihnen!« antwortete Helene in entschiedenem Ton. »Ihre Heftigkeit würde vollends alles verderben. Gehorchen Sie mir, wenn Sie mich lieben. Lassen Sie den Leuten fünf oder sechs Tage Zeit, Sie zu vergessen, bis Marius Ihnen schreibt ... Leben Sie wohl, denken Sie mein.«

Sie drückte Gérard rasch die Hand und entfernte sich in der Richtung nach Juvigny.

»Helene,« rief er trostlos, aber sie hörte ihn nicht mehr, und bald verschwand ihr helles Kleid, das noch für Augenblicke durchs Gebüsch schimmerte, bei einer Biegung des Fußpfades.

Sie kehrte auf dem kürzesten Wege nach Hause zurück, wo sie noch alles in Aufregung über das Mißgeschick von Marius fand. Toni und Benjamin erzählten, wie der Bruder von seinem Frühstück zurückgekommen sei und wie man ihn habe in sein Zimmer tragen müssen; aber Helene war zu unruhig, um dem Geschwätz der Kinder ein aufmerksames Ohr zu leihen. Während des Essens blieb sie schweigsam und wagte kaum Herrn Laheyrard anzublicken, dem man den neuesten Streich seines ältesten Sohnes verheimlicht hatte. Als man vom Tische aufstand, schützte sie Kopfschmerzen vor und flüchtete sich in ihr Zimmer. hier konnte sie ihrem Kummer den Lauf lassen und sich ausweinen. Was sollte sie jetzt thun? Morgen, vielleicht noch heute abend würde sich die Geschichte vom Höllengrund wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreiten, und natürlich würden auch einige mitleidige Seelen nicht verfehlen, Herrn von Seigneulles, vielleicht sogar Herrn Laheyrard davon in Kenntnis zu setzen. Die ohnehin schon schwierige Stellung des Schulrates in Juvigny, würde dann durch diesen Skandal noch mehr erschüttert, vielleicht unhaltbar werden. Ihre Thränen verdoppelten sich bei diesem Gedanken und auch die bösen Worte von Georginens Mutter klangen ihr aufs neue in den Ohren. »Jetzt ist sie kompromittiert und hat einen Grund, ihn zum Heiraten zu zwingen,« hatte Frau Grandfief gesagt. – Die Entrüstung, die sie über diese beleidigende Voraussetzung empfand, belebte ihren gesunkenen Mut wieder aufs neue.

»Nein,« flüsterte ihr empörter Stolz, »ich werde ihnen zeigen, daß ich trotz meiner Unbesonnenheit besser bin, als sie alle ...«

Nach und nach machte sich der Gedanke, in Paris eine Stelle als Lehrerin zu suchen, in ihrem Geist aufs neue geltend.

Der beständige Glückstaumel, der sich ihrer in den letzten vier Wochen bemächtigt, hatte alle Gedanken an die Abreise verdrängt; der Skandal im Höllengrund hatte nun aber jede Hoffnung auf Glück für immer zerstört. Sie gab sich keinen Täuschungen mehr hin und fühlte klar, daß ihre Liebe hoffnungslos war. Gérard würde nie wagen, den Kampf mit seinem Vater aufzunehmen, und wenn er es thäte, würde doch seine Thatkraft an der Halsstarrigkeit des alten Edelmannes erlahmen. Und wer konnte wissen, ob er nicht vielleicht einstens mit einem von den nutzlosen häuslichen Kämpfen ermatteten und verbitterten Herzen dahin gelangte, zu beklagen, daß er Helenen begegnet war und sie geliebt hatte. Nein, tausendmal nein, er sollte nicht dahin kommen, sie zu verwünschen, und die Rolle einer Friedensstörerin widerte sie an. Es war besser, wenn sie verschwand. War sie ferne von Juvigny, so würde sie vergessen und auch bald über den Auftritt im Höllengrund nicht mehr gesprochen werden, und Herr Laheyrard wäre nicht mehr in der Gefahr, seine Stelle zu verlieren. – All diese Gründe wiederholte sie sich, während die sinkende Sonne ihre letzten Strahlen schräg in das Zimmer warf und das Schnarchen des unfreiwilligen Anstifters dieses traurigen Ereignisses durch die Zwischenwand drang. Ihre alte Pensionsvorsteherin in der Rue de Vaugirard, hatte ihr öfters vorgeschlagen, als Zeichenlehrerin bei ihr einzutreten. Helene schrieb ihr in der Eile einige Worte, um ihre Ankunft anzukündigen und sie um Gastfreundschaft zu bitten; dann brachte sie den Brief selbst zur Post.

Als sie zurückkam, war sie ruhiger und weniger unzufrieden mit sich selbst. Mit achtzehn Jahren hat man eine Leidenschaft für Hingebung und Aufopferung. Helene begann auf der Stelle, die Vorbereitungen zu ihrer Abreise zu treffen. Sie leerte alle Laden aus und packte alle die kleinen, ihr liebgewordenen Gegenstände ein: die blühende Brombeerranke, die sie auf dem Balle in Salvanches getragen, die Lieblingsbücher, die sie mit Gérard gelesen, zwei oder drei getrocknete Blumen, die er für sie gepflückt hatte, dann ihre bescheidenen Kleidchen, die so billig und doch stets so geschmackvoll waren. »Ja,« dachte sie, wahrend sie all diese Gegenstände in den verschiedenen Abteilungen des Koffers unterbrachte, »so wird ihm wenigstens, wenn er meiner gedenkt, keine Bitterkeit die sanfte Erinnerung trüben, er wird mich immer wieder sehen, wie ich auf dem Ball von Salvanches war, er wird es nicht bedauern, mich gekannt zu haben und mir in einem Winkel seines Herzens ein freundliches, ungetrübtes Andenken bewahren ... Diese Gewißheit wird mich in der Ferne trösten, wenn ich von meinem Vater und ihm getrennt, unter Fremden leben werde.« – Das Haus lag in tiefer Ruhe; nur von draußen drang noch fernes Wagenrollen und das tiefe Ticktack eines Webestuhles herein. Der Koffer war voll; Helene wischte eine Thräne ab, schloß den Deckel und entkleidete sich mit dem Gedanken, daß dies die letzte Nacht sei, die sie unter dem Dache ihres Vaters zubringe.


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