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Zehntes Kapitel.

Als Gérard nach Hause kam, erfuhr er von Marien, daß der Chevalier sich soeben nach Groß-Allard begeben habe. Herr von Seigneulles besaß, zwei Meilen von Juvigny entfernt, inmitten der Wälder des großen Jura, eine schöne Meierei, für die er Sorge trug und die er liebte wie seinen Augapfel. Er hielt sich oft ganze Wochen dort auf und wohnte in einem kaum eingerichteten, ärmlichen Zimmer, aß mit den Taglöhnern und verschmähte es nicht, selbst den Pflug zu lenken oder den Dreschflegel zu schwingen. Diesmal war er hingegangen, um das Dreschen seines Getreides zu beaufsichtigen und wollte acht Tage dort bleiben. Als Gérard diese Nachricht erhielt, fühlte er eine wesentliche Erleichterung. Der Bruch mit der Familie Grandfief hatte seinen Mut erschöpft, und er war glücklich über den Aufschub von einer Woche, dessen er sich erfreuen durfte, ehe er dem Anprall des väterlichen Zornes standhalten mußte. Sobald er gespeist hatte, begab er sich zu Helenen, die er allein im Atelier fand.

Sie drückte, noch ergriffen von dem Besuch Frank Finoëls, schweigend Gérards Hand.

»Ich bin sofort nach Salvanches gegangen,« begann er, »und habe dort gesprochen, wie ich mußte. Jetzt ist die Sachlage ganz klar, und ich setze keinen Fuß mehr in dies Haus. Mein Herz ist frei, Helene, und gehört ganz Ihnen.«

Sie legte einen Finger auf ihre Lippen.

»Bst!« machte sie lächelnd, »und was haben Sie Ihrem Vater gesagt?«

»Noch nichts,« sagte er ein wenig verlegen, er ist heute abend nach Groß-Allard gegangen; sobald er aber zurück ist, soll er alles erfahren.«

Einen Augenblick schwiegen beide, und eine leichte Wolke glitt über die Stirne des jungen Mädchens.

»Es scheint mir,« begann sie wieder, »als hätten Sie mit dem Ende angefangen; Sie hätten zuerst mit Herrn von Seigneulles sprechen müssen.«

»Machen Sie mir keine Vorwürfe,« bat er so flehend, daß sie entwaffnet war. »Der in Salvanches verlebte Nachmittag hat meine Nerven in einen ganz kläglichen Zustand versetzt ... Spielen Sie mir ein wenig Mozart, um sie zu beruhigen!«

Sie setzte sich ans Klavier und begann eine Sonate zu spielen. Gérard hatte sich neben sie gesetzt und genoß in vollen Zügen das Glück, sie beim Scheine der im Abendwind flackernden Kerzen betrachten zu können. Er verfolgte die Wellenlinien der blonden Locken, die auf das Kleid aus ungebleichter Leinwand herabfielen, die Bewegungen der langen braunen Wimpern, die sich hoben und senkten, das durchgeistigte Profil und das Hin- und Hergleiten der weißen Hände auf den Tasten.

Der Regen rauschte auf die Bäume im Garten hernieder und begleitete in tiefen, besänftigenden Tönen die helleren Klänge des Klaviers. Nur die Ecke, in der sie saßen, war erleuchtet; der übrige Teil des Ateliers war in geheimnisvolle Dämmerung gehüllt, die ihr vertrauliches, inniges Alleinsein noch anziehender machte. So verbrachten sie zwei schöne Stunden, fast ohne miteinander zu sprechen. Sie lauschten dem Gesange, den die junge Liebe in ihren Herzen anstimmte, und dieser magische innere Gesang vermischte sich so schön mit der süßen Musik Mozarts, daß er genügte, sie zu beschäftigen. Diese Liebe, die sich ihm so wunderbar erschlossen hatte, gewährte Gérard ein immer neues Entzücken. Er hatte so lange der Zärtlichkeit entbehren müssen und war so lange von unbestimmtem Sehnen und Verlangen erfüllt gewesen! Jetzt hatte sich die Leidenschaft seiner ganz bemächtigt und hielt Körper und Geist, Kopf und Herz ganz in ihrer Gewalt.

Er befand sich in stürmischer Gärung und glich dem neuen Most in der Bütte, der mehr Schaum als Gehalt, mehr Trieb als Stärke hat.

Er liebte Helene mit dem ganzen Feuer seiner dreiundzwanzig Jahre und bewunderte alles an ihr: die eigenwillig herabwallenden Goldhaare und den schalkhaften, schwärmerischen Geist, die gewinnende Anmut ihres Wesens und die zarten Wellenlinien ihres Halses, das Lächeln der leichtgeschürzten Lippen, den tiefen Zauber ihrer braunen Augen und die Güte ihres Herzens.

Helene fühlte sich ihrerseits zu ihm hingezogen durch jenen geheimnisvollen Einfluß, der zwei entgegengesetzte Elemente zu einander zieht. Der jungen Pariserin, die in dieser skeptischen, eleganten und oberflächlichen Umgebung aufgewachsen war, gefiel Gérard gerade durch die Eigenschaften, die im Gegensatz zu der Pariser Civilisation stehen; durch seinen festen Glauben, durch sein kindliches Erstaunen und durch jene frische Begeisterung, die dem Geist jenen Reiz verleiht, den der zarte Duft den Früchten gibt, die er umhüllt. Durch eine angeborene Anmut, die er vielleicht dem geheimnisvollen Einfluß des Blutes und der Abstammung verdankte, hatte sich der junge Mann in der spießbürgerlichen Gesellschaft des kleinen Städtchens die ganze Feinheit des Edelmannes, das ganze Zartgefühl eines hochgebildeten Geistes bewahrt. So kam es, daß Helene, sobald sie ihn gesprochen hatte, ihn zu lieben begann, so wie sie lieben konnte, mit der Lebhaftigkeit eines dem ersten Eindruck folgenden Naturells, mit dem Mut eines reinen, glühenden Herzens.

Acht Tage lang genossen sie ein ungetrübtes Glück. Die übrige Welt hatten sie vergessen und schwebten hoch über ihr. Von Liebesglück erfüllt, begingen sie große Unvorsichtigkeiten, die an und für sich ganz unschuldig waren, die aber die Gesellschaft einer kleinen Stadt nicht verzeiht. Sie gingen in Begleitung der beiden Kinder durch die Weinberge hinaus in die Brachen und durchstreiften diese, um ein landschaftliches Motiv zu suchen. Wenn sie dann eine nach Wunsch gelegene Landschaft gefunden hatten, öffnete Helene ihre Farbenschachtel, richtete ihre Leinwand her und begann zu malen, während Gérard ihr vorlas. Frau Laheyrard, die ihre Tochter im Geist schon mit Herrn von Seigneulles verheiratet sah, legte diesen abenteuerlichen Streifzügen kein Hindernis in den Weg.

Sie hatte Helene nie ängstlich bewacht, und die Aussicht auf eine vornehme Heirat schmeichelte ihrer Eitelkeit zu sehr, als daß sie daran gedacht hätte, die Rolle eines Mentors zu spielen. Sie nährte die ehrgeizigsten Hoffnungen und baute auf Grund dieser künftigen Verbindung die schönsten Luftschlösser. Sie war nahe daran, das bißchen Verstand, das sie überhaupt besaß, vollends ganz zu verlieren, und scheute sich durchaus nicht, bei ihren Lieferanten und Nachbarinnen mit gewohnter Zungenfertigkeit sehr deutliche Anspielungen zu machen auf die nicht allzu ferne Zeit, in der Helene sich ›Frau von Seigneulles‹ nennen würde. Die Unvorsichtigkeit der jungen Leute und die Ungeschicklichkeiten Frau Laheyrards wurden mit jener dem Menschengeschlecht überhaupt, und ganz besonders dem in kleinen Städten lebenden Teil desselben, eigenen liebenswürdigen Milde ausgelegt und ausgeschmückt. Schon nach wenigen Tagen gab es kein Haus mehr, in dem man nicht über die Liebschaft Gérards und Helenens gezischelt hätte. Die Neuigkeit machte die Runde in Juvigny, sie schlängelte sich den Hügel hinan, verbreitete sich in den stillen Straßen der oberen Stadt und stieg dann durch die Gärten wieder hinab an das Ufer des Ornain, wo sie sich in den Back- und Waschhäusern wieder verlor. Nur die Beteiligten ahnten nichts von den Gerüchten, welche die Stadt in Aufregung versetzten. Verliebte leben in einer anderen Welt; von ihrer Leidenschaft geht ein leuchtendes Fluidum aus, das sie verrät, aber auch absondert, so daß sie jenem in den Gießbächen der Pyrenäen lebenden Vogel Seelerchen oder Wasseramseln. gleichen, der von Gischt umgeben dahin schwimmt und in den Fluten der Sturzbäche sich so abgeschlossen bewegt, wie der Taucher in seiner Glocke. Helene und Gérard erwachten erst aus ihrer Verzückung, als die Rückkehr des Herrn von Seigneulles angekündigt wurde.

»Mein Vater kommt morgen vormittag zurück,« sagte Gérard eines Abends, »und ich werde sofort mit ihm reden.«

»Ich werde beständig an Sie denken, während Sie ins Verhör genommen werden,« antwortete Helene; – sie versuchte zu lächeln, aber sie zitterte innerlich bei dem Gedanken, daß ihr Schicksal ganz in der Hand des fürchterlichen Chevaliers liege. »Sie besuchen uns dann abends und erzählen mir alles!«

In der That ließ Herr von Seigneulles am anderen Morgen, nach einem einfachen Frühstück in Groß-Allard, Bruno satteln und ritt fröhlich durch die Wälder des Jura nach Hause. Der Chevalier war sehr zufrieden; seine ganze Ernte war in die Scheunen gebracht und gedroschen, sein Grummet stand dicht und die Trauben fingen an sich zu färben und versprachen eine gute Lese. Während er an den Laufgräben entlang ritt, sagte er sich, daß die Liebe zwischen Gérard und Fräulein Grandfief ebensoweit gediehen sein werde, wie seine Weinberge und nahm sich vor, die Hochzeit noch vor Allerheiligen zu feiern. Sobald er Bruno dem Baptist anvertraut hatte, trat er in die Küche, wo ihm Marie zwei Briefe übergab, die der Postbote den Tag vorher gebracht hatte. Der erste war eine sehr lakonische Epistel von Frau Grandfief. Georginens Mutter teilte dem Chevalier trocken mit, daß sie ihm sein Wort zurückgebe und auf eine Verbindung verzichte, für die ihre Tochter und Gérard gleich wenig Neigung hätten.

Der zweite Brief war von unbekannter Hand und trug keine Unterschrift; er lautete folgendermaßen:

»Wohlmeinende Freunde halten es für ihre Pflicht, Herrn von Seigneulles von den häufigen Besuchen seines Sohnes bei Fräulein Laheyrard, die dadurch bloßgestellt wird, in Kenntnis zu setzen. Man weiß, daß die jungen Edelleute heutzutage mit Vorliebe mit jungen Mädchen ohne Vermögen ihr Spiel treiben ... aber das sind Prinzenspiele, die nur denen gefallen, die sie machen. Wenn Herr von Seigneulles nicht ganz verblendet ist, wird er einem Umgang, über den die ganze Stadt empört ist und der eine traurige Meinung von den Sitten der in Frömmigkeit erzogenen Jugend erweckt, ein Ziel setzen.«

Der alte Gardeoffizier stieß einen Fluch aus, der die Fensterscheiben der Küche erzittern machte. »Wo ist mein Sohn?« schrie er. Gérard war nach dem Frühstück verschwunden und Marie hatte geglaubt, er sei dem gnädigen Herrn entgegengegangen ... Ohne weiter auf die wortreichen Erklärungen der alten Dienerin zu achten, rannte der Chevalier, wie er war, in die Wohnung des Abbé Volland. Er fand den Geistlichen unter seinen Buchen, wo er feierlich auf und ab ging und in seinem Brevier las.

»Wissen Sie, was geschehen ist?« begann er, dem Abbé in den Weg tretend.

Dieser betrachtete über seine Brille weg die funkelnden Augen, die vor Zorn ganz spitz gewordene Adlernase, und den in Unordnung geratenen Anzug des Chevaliers, und fragte: »Ist in Groß-Allard Feuer ausgebrochen?«

»Zum Kuckuck! Als ob davon die Rede wäre ... Aus Gérards Heirat wird nichts!«

Der Geistliche wischte seine Brillengläser mit ganz besonderer Sorgfalt aus.

»Das ist noch nicht alles!« fuhr der vor Wut kochende Chevalier fort; »mein Herr Sohn hat sich von den Laheyrards, die ihn angelockt haben, bethören lassen, ist dummerweise in die Tochter, die eine leichtfertige Person ist, vernarrt ...«

Der Abbé schnellte unbemerkbare Stäubchen auf seinem Aermel mit dem Zeigefinger fort.

»Ja,« sagte er seufzend, »ich habe auch schon Wind von dieser ärgerlichen Sache bekommen und beabsichtige, ernstlich mit Frau Laheyrard zu reden; aber man muß behutsam und mit Umsicht handeln, damit jedes Aufsehen vermieden wird.«

»Zum Henker mit der Umsicht!« grollte Herr von Seigneulles, »soll man noch Umstände machen, wenn es sich darum handelt, zwei Abenteurerinnen, die Verwirrung in den Familien stiften, zur Rede zu stellen? ... Wohin soll das noch führen? ... Ach, warum leben wir nicht mehr in der guten alten Zeit, in der man mit einem geheimen Verhaftsbefehl ungehorsame Söhne in einen Turm und leichtfertige Mädchen in ein Kloster stecken konnte! ... Aber ich werde mich und die Meinigen zu verteidigen wissen, und ich werde stehenden Fußes hingehen und diesen Plaudertaschen den Kopf waschen ...«

»Himmlische Güte!« rief der Abbé, »erregen Sie doch kein Aufsehen, lieber Freund! ... Helene ist mein Patchen; lassen Sie mich die Sache zu Ende und das junge Mädchen zur Pflicht zurückführen ... Ich verspreche Ihnen, die Damen noch heute aufzusuchen, sobald ich mit meinem Brevier zu Ende bin.«

Herr von Seigneulles senkte den Kopf. Es war ihm im Grunde genommen nicht unangenehm, daß der Geistliche diesen Schritt auf sich nahm. »Mir auch recht,« sagte er, »Sie werden ohne Zorn sprechen und das wird wohl mehr nützen. Sagen Sie diesen ... Personen deutlich, daß ich ihnen verbiete, Gérard zu empfangen, und daß sie, wenn mein Sohn doch kommen sollte, ihm die Thüre vor der Nase zuschlagen möchten ... Uebrigens will ich den Burschen selbst vornehmen und werde ihm den Mund zu stopfen wissen!«


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