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Die todte Frau redet.

Die Beamten des Criminalgerichts waren durch das große Portal in das Schloß eingetreten.

Sie befanden sich in einer weiten hohen Vorhalle, deren Decke gewölbt und mit Frescobildern geziert war; hohe Pfeiler trugen sie. Durch breite, hohe Bogenfenster warfen die Strahlen der sinkenden Abendsonne auf Alles einen zaubervollen goldenen Schein.

Die tiefste Stille herrschte auch in dem Innern des Schlosses. Man nahm keine Bewegung, keinen Laut wahr.

Man war ja in dem Hause des Todes. Aber war denn nur noch der Tod hier?

Rechts und links von der Halle führten lange Gänge in das Schloß hinein. In ihnen war schon das Halbdunkel des anbrechenden Abends.

Eine doppelte, breite Marmortreppe führte in die oberen Theile des Hauses.

Die Beamten mußten die Bewohner des Hauses finden. Es waren deren nur wenige, wie sie wußten; aber wo waren diese wenigen? Waren sie nicht mehr da? Hatten sie die Leiche ganz allein in dem weiten Gebäude gelassen? War auch die Leiche fort und stand das Haus völlig leer?

»Sehen Sie,« sagte der Assessor zu seinen beiden Beamten, »hier unten rechts und links in den Gängen nach, ob Sie Niemanden treffen, ich werde nach oben gehen.«

Der Actuar und der Executor gingen unten rechts und links in die langen Gänge, der Assessor stieg die breite Marmortreppe hinauf. Er kam in einen weiten Corridor; die letzten Strahlen der Abendsonne fielen voll hinein und erhellten ihn.

An der Mündung der Treppe war der Assessor stehen geblieben. »Wohin weiter?« fragte er sich in der Todtenstille, die um ihn her herrschte. Zu beiden Seiten des Corridors waren Thüren. Er machte einige Schritte in den Corridor hinein. Wohne hier oben Jemand, meinte er, so müsse er gehört werden, und eine Thür werde sich öffnen.

Seine Schritte hallten in dem weiten Gange wieder; eine Thür öffnete sich nicht. Er ging weiter und sah nach den Thüren; sie waren verschlossen. Tiefe Stille herrschte überall. Sollte er rufen? Er war in dem Hause des Todes. Sollte er die Todtenruhe stören? Er ging weiter. Endlich, dachte er, müsse sich ja doch wohl eine Thür öffnen.

Es öffnete sich aber keine. Dagegen kam er an eine Thür, die schon weit offen stand. Er trat näher an sie und horchte, er hörte nichts. Er trat auf die Schwelle und blickte in das Innere eines elegant eingerichteten Gemachs. Aber es war Niemand darin, und keine Spur zeigte, daß es bewohnt gewesen war.

Er trat hinein. Eine Seitenthür stand ebenfalls offen und durch sie blickte er in eine lange Reihe aneinander liegender, geöffneter Gemächer. In allen war schon das Halbdunkel des Abends, aber aus dem letzten schoß ihm eine blendende Helle entgegen.

Was war dort?

Leben und Bewegung war in keinem der Gemächer, auch nicht in dem hellerleuchteten.

Der Assessor ging weiter; hatte er doch das Recht dazu, ja die Verpflichtung.

Er kam dem letzten Zimmer näher, aus dem Licht hervordrang. Die Thür des Zimmers stand weit offen, wie die andern, durch die er gegangen war. Er trat in die Thür und befand sich plötzlich in dem Gemache des Todes.

Es war ein weites, hohes Gemach. Die Wände darin waren mit schwarzen Decken verhüllt, die Fenster dicht und schwarz verhangen. Hunderte von Wachslichtern verbreiteten die Helle des Tages. In der Mitte stand ein offener, schwarzer Sarg, umgeben von hohen Wachskerzen.

In dem Sarge lag die Leiche einer schönen jungen Frau. Sie lag da in einem Gewande von weißer Seide, auf Kissen von weißer Seide. Kein anderer Schmuck umgab sie – keine Blume. Sie war erhaben, sie war wunderbar schön in dieser Einfachheit des Sarges.

Zu den Füßen der Leiche kniete ein alter Geistlicher im weißen Kirchentalar, mit schneeweißen Haaren, still betend.

Am Haupte der Todten lag an der Erde auf seinen Knieen ein junger Mann in tiefer Trauer. Sein Gesicht war bleich wie das Antlitz der Todten. Aber die Todte lag da mit dem stillen Antlitze des Todes, der ja allen Leiden und Leidenschaften ein Ende macht, der auch alle ihre Leiden abgeschlossen hatte. In dem Gesichte des Lebenden wühlten Gram und Schmerz, Bitterkeit, Vorwürfe, Leidenschaft. Und worüber die Bitterkeit? Gegen wen die Vorwürfe?

Er hatte mit der einen Hand die Hand der Todten gefaßt, mit der anderen hielt er ein Kind, einen blühenden Knaben von anderthalb Jahren. Das Kind sah lächelnd in die hellen Lichter, auf den schwarzen Sarg, auf das weiße Antlitz und das weiße Kleid der Leiche.

Der Assessor war leise in die Thür getreten. Niemand hatte seinen Schritt vernommen, Niemand ahnte seine Anwesenheit. Der alte Geistliche verharrte in seinem stillen Gebete. Der junge Mann blickte mit seinem Gesichte voll Schmerz und Zorn stumm in das Antlitz der Todten. Der Knabe lächelte so freundlich.

Der Criminalbeamte stand ohne Entschluß.

Sollte er diese Todtenwache stören, die eine heilige war trotz alledem? Sollte er, geräuschlos und unbemerkt, wie er gekommen war, sich wieder entfernen?

Er mußte bleiben.

Der junge Mann am Haupte des Sarges erhob sich. Er bewegte seine Lippen und sprach leise zu der Todten; aber in der Stille des Leichengemachs war jedes Wort seines Schmerzes, seines Vorwurfs zu verstehen.

»Arme Unglückliche! O, Du warst doch edel! Und ich konnte Dir nicht verzeihen! Ich mußte Dein Mörder werden! Und ich will Verzeihung jetzt von Dir? Ja, ja, Knabe –«

Er ließ die Hand der Todten los, die er noch gefaßt hatte, hob mit beiden Händen das blühende Kind an seiner Seite empor und hielt es über der Todten.

»Knabe, bitte, bete Du für mich, zu ihr, der verziehen ist, zu ihm, der ihr verziehen hat! Und Du, Emma, Emma, erhöre ihn, höre die Stimme Deines Kindes, daß Du mich aufnimmst, wenn ich zu Dir komme. Ich komme bald, bald! Was ist mir das Leben hier? Dann bist Du wieder mein, ganz mein!«

Er kniete noch einmal an der Leiche nieder, nahm die beiden Hände derselben und drückte einen Kuß auf die Lippen der Todten.

»Und jetzt bist Du wieder mein!« sagte er dann mit leiserer Stimme und mit festem Glauben.

Noch einen Blick auf die Leiche werfend, nahm er das Kind wieder auf und wollte mit ihm das Zimmer verlassen, da stand er vor dem Beamten des Criminalgerichts.

Der blasse junge Mann mit dem Kinde auf dem Arm blickte stolz und finster auf den Fremden, den er so unerwartet in seinem Hause, in dem Gemache des Todes sah.

»Mein Herr, wer sind Sie?« fragte er streng.

»Criminalrichter!« antwortete der Assessor ruhig. »Und in Ihnen, mein Herr,« fuhr er fort, »habe ich die Ehre, den Besitzer des Hauses, den Freiherrn von Falkenburg zu sehen?«

Der Freiherr zuckte heftig auf.

»Verlassen wir diese Stätte,« erwiderte er dem Assessor. »Folgen Sie mir.

Er trat aus dem Leichengemach und verschloß dessen Thür.

»Ich bin der Freiherr von Falkenburg,« sagte er dann. »Was ist Ihr Begehr hier, mein Herr?«

Auch er sprach ruhig, doch blieb er finster und stolz.

Der Assessor hatte klar und vollkommen erkannt, wie jetzt seine Stellung, welches seine Aufgabe sei. Er erkannte es auf einmal, da er sich dem Freiherrn als Criminalrichter nannte. Er konnte nun nicht mehr zurück; «er mußte vielmehr mit der ganzen, vollen Energie weiter gehen, die sein Amt von ihm forderte.

»Herr Baron,« antwortete der Assessor dem Freiherrn auf dessen Frage, »dem Criminalgerichte ist die Anzeige zugekommen, daß Ihre Frau Gemahlin gestorben sei, und daß hier ein Giftmord vorliege. Ich bin beauftragt, die Richtigkeit dieser Anzeige zu untersuchen.«

Der Freiherr zeigte nicht die geringste Ueberraschung. Er blieb ruhig und finster, wie er war.

»Darf ich fragen,« sagte er, »von wem die Anzeige herrührt?«

»Sie ist anonym. Ich habe keinen Grund, es Ihnen zu verschweigen.«

»Und auf Grund einer anonymen Anzeige dürfen Sie hier inquiriren?«

»Unter dem Hinzutreten weiterer unterstützender Gründe, ja.«

»Und diese weiteren Gründe wären?«

»Ich bin nicht berechtigt, sie Ihnen jetzt schon mitzuteilen.«

Der Freiherr sann ein paar Sekunden lang nach.

»Wohlan,« sagte er dann, »Sie werden mit meiner Vernehmung beginnen wollen?«

»Ich wünschte es.«

»So haben Sie die Güte, mir in meine Zimmer zu folgen.«

»Ich bitte, hier mein Verhör abhalten zu dürfen,« sagte der Assessor.

»Hier? In der Nähe der Todten?«

»Gerade in der Nähe der Todten. Ich werde zudem die Leiche besichtigen müssen.«

Den Freiherrn ergriff es, wie ein Schauder. Er kam aus seiner Ruhe.

»Wie, mein Herr? Zu welchem Zweck?« rief er.

»Um zu ermitteln, ob sich Spuren der Vergiftung an dem Körper finden.«

»An dem Körper? Mein Herr – Sie wollen die todte Frau –«

Er sprach den Gedanken, der ihn erfüllte, nicht aus; er mußte ihm ein zu entsetzlicher sein.

»Es ist meine Pflicht,« sagte der Assessor.

»Das ist eine empörende Pflicht, mein Herr!«

»Eine schwere, wenigstens, Herr Baron. Aber der Criminalrichter hat so viele schwere und traurige Pflichten, denen er sich nicht entziehen kann, die er erfüllen muß, damit in der Welt das herrsche, was herrschen muß, Recht und Gerechtigkeit.«

Der Freiherr erwiderte nichts weiter. Er war wieder vollkommen ruhig geworden.

»Ich unterwerfe mich,« sagte er. »Richten Sie sich hier ein. Ich entferne mich auf wenige Minuten, um mein Kind seiner Wärterin zu übergeben. Sie erlauben es?«

»Bitte.«

Der Freiherr entfernte sich mit dem Kinde.

Der Assessor wollte gleichfalls das Zimmer verlassen, um seinen Actuar herbeizurufen, der ihm bei den Verhören das Protokoll führen mußte. Ein Diener erschien mit Lichtern, die er in dem Zimmer aufstellte. Es war fast völlig dunkel geworden.

Der Diener war ein alter Mann mit weißen Haaren.

Er hatte etwas Würdiges in seinem Aeußern; er schien mehr, als ein gewöhnlicher Diener zu sein. Der Assessor glaubte zu sehen, daß er zitterte; es fiel ihm auf. Er mußte an den alten Diener denken, den nach der Erzählung des Pfarrers der Freiherr vor einem Vierteljahre aus der Fremde mitgebracht hatte, und der mehr der Vertraute, als der Diener in der Familie sein solle.

»Sie heißen Theodor?« fragte er ihn.

Der alte Mann zitterte auf einmal heftig. Er warf einen forschenden Blick des Mißtrauens, der Angst auf den Assessor; aber dann schlug er die Augen wieder zu Boden.

»Ja,« konnte er nur mit halblauter Stimme sagen.

Der Assessor fragte ihn nicht weiter. Er hatte einmal dem Freiherrn versprochen, mit dessen Vernehmung anzufangen.

»Aber,« mußte er zu sich sagen, »der Mann erschrak darüber, daß ich von ihm wußte; er muß eine Vergangenheit hinter sich haben, die er verbergen will. Und er ist der Vertraute der Herrschaft! Des Freiherrn? Oder war er es der Verstorbenen?«

»Sahen Sie zwei Fremde im Schlosse?« sagte er zu dem alten Diener.

»Unten in der Halle.«

»Seien Sie so gütig, sie hierher zu schicken.«

Der alte Diener ging.

Der Assessor sah sich in dem Zimmer um. Es war das einfache und doch geschmackvoll elegante Wohnzimmer einer Dame. Die Freifrau selbst mußte hier gewohnt haben.

In dem größeren Salon nebenan lag ihre Leiche.

Der Actuar des Assessors erschien in dem Zimmer; der Gerichtsdiener blieb vor der Thür im Corridor.

»Sie haben nichts bemerkt?« fragte der Assessor den Actuar.

»Gar nichts; das ganze Schloß ist wie ausgestorben. Wir begegneten unten und oben nur einem Menschen, dem alten Diener, der mich hierher geführt hat.«

Der Freiherr trat wieder in das Zimmer. Er war unverändert, ruhig, kalt.

»Ich stehe zu Ihrer Verfügung,« sagte er zu dem Assessor.

Der Assessor begann das Verhör mit ihm. Es konnte sich nur über die letzten Lebensumstände und den Tod der Freifrau verbreiten.

»Wann ist Ihre Frau Gemahlin gestorben?«

»Am vorgestrigen Abende,« lautete die Antwort.

»War sie vorher krank gewesen?«

»Krank? Nur kurze Zeit.«

»Seit wann?«

»Sie war lange leidend; sie zehrte ab. Erst am Tage ihres Todes fühlte sie sich besonders unwohl.«

»Wurde sie von einem Arzte behandelt?«

»Nein.«

»Auch nicht an jenem letzten Tage?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Es war nicht ihr Wunsch.«

»Und war es auch nicht der Ihrige?«

»Der meinige? –«

Er hatte bisher auf alle Fragen, wenn auch kalt und einsilbig genug, doch ohne Zögern geantwortet. Bei der letzten Frage schien er sich auf die Antwort besinnen zu müssen.

»Ich meinte das,« wiederholte auch der Assessor.

»Ich hatte keine Ahnung davon, daß es so schlimm mit ihr stehe,« antwortete der Freiherr.

»Es konnte Ihnen entgehen?«

»Es war mir entgangen.«

»Sahen Sie Ihre Gemahlin nicht regelmäßig?«

Es war eine Frage, die dem Freiherrn zeigte, daß der Inquirent in irgend einer Weise von von den eigenthümlichen Verhältnissen des Schlosses Falkenburg unterrichtet war. Wie viel mochte er davon wissen? Der alte Diener Theodor war vorhin bei ähnlicher Gelegenheit heftig erschrocken. Der Freiherr stutzte wenigstens; er schien sich von Neuem zu besinnen.

»Wir sahen uns sogar nur selten,« sagte er dann bestimmt, wie in Folge eines überlegten, festen Entschlusses.

»Darf ich nach dem Grunde fragen?« fuhr der Assessor fort.«

»Gehört die Frage zur Sache?« erwiderte der Freiherr.

Der Assessor bestand nicht auf einer Antwort.

»Wir sind hier in den Zimmern Ihrer Frau Gemahlin?« fragte er weiter.

»Ja,« war die Antwort.

»Und wo liegen Ihre Zimmer?«

»Eine Etage höher.«

»Wann sahen Sie Ihre Frau Gemahlin zum letzten Male vor Ihrem Tode?«

»Ich war in ihren letzten Stunden bei ihr. Sie starb in meinen Armen.«

Er schien die Worte mit einigem Gefühl zu sprechen. Hatten sie die Erinnerung an die letzten Augenblicke der Verstorbenen in ihm wachgerufen? Hatte die Erinnerung ihn ergriffen? Wofür war dies ein Zeugniß?

»In welcher Stunde starb Ihre Frau Gemahlin?« fuhr der Assessor in seinem Verhöre fort.

»Vorgestern Abend, bald nach sieben Uhr.«

»Von welcher Stunde an waren Sie bei ihr gewesen?«

»Von fünf Uhr an.«

»Also etwas über zwei Stunden?«

»Etwas über zwei Stunden.«

Der Freiherr war wieder kalt und einsilbig wie zuvor.

Der Assessor fragte weiter.

»Was war die Veranlassung, daß Sie zu ihr gegangen waren?«

»Sie hatte mich rufen lassen.«

»Durch wen?«

»Durch ihren Kammerdiener.«

»Sein Name?«

»Theodor.«

»Warum ließ Ihre Frau Gemahlin Sie rufen?«

»Sie fühle sich ungewöhnlich unwohl; sie wünsche mich zu sprechen.«

»Setzte der Diener nichts hinzu?«

»Es mag sein – ich besinne mich nicht.«

»Gingen Sie sogleich hin?«

»Auf der Stelle.«

»Wie fanden Sie sie?«.

»Sie war sehr schwach und sah sehr bleich aus.«

»Was sprach sie zu Ihnen?«

»Mein Herr, was Ehegatten in den letzten Stunden einander zu sagen haben, das wird, auch dem Criminalrichter gegenüber ein Geheimniß bleiben dürfen.«

Er sagte es kalt wie vorher, aber stolzer.

»Sprach sie von ihrem nahen Tode?« fragte der Assessor.

»Sie sagte mir, sie fühle, daß sie sterben müsse.«

»Und Sie ließen dennoch keinen Arzt herbeirufen?«

»Nein.«

»Trotzdem, daß auch Sie selbst sie sehr schwach und leidend gefunden hatten?«

»Sie verbot es; kein Arzt werde ihr helfen, ehe ein solcher da sein könne, werde sie todt sein. – So war es. Der nächste Arzt wohnt zwei Meilen von hier entfernt, er konnte kaum in drei Stunden herbeigeholt werden. Zwei Stunden nach jenen Worten war sie todt.«

Der Freiherr sprach das so ruhig und kalt. Den Assessor wollte ein Grausen überlaufen.

»Konnten Sie die Stunde des Todes vorher wissen?« fragte er.

Der Freiherr antwortete nicht. Der Assessor bestand auch diesmal auf keiner Antwort.

»Von welchen Symptomen war ihr Kranksein begleitet?« fragte er.

»Sie hatte die Auszehrung.«

»Und ihr Tod?«

»War entsprechend. Sie starb leicht, wie sie allmählich immer mehr und mehr dahin geschwunden war. Ein schwacher, leiser Athemzug schied sie vom Leben.«

»War außer Ihnen noch Jemand bei ihrem Tode zugegen?«

»Der Schloßkaplan. Sie hatte ihm gebeichtet, und er hatte ihr die letzte Oelung gegeben. Erst dann hatte sie mich rufen lassen. Der Kaplan war noch da, als ich kam. Sie wünschte dann, allein mit mir zu sprechen. Er mußte in das Nebenzimmer treten. Als sie ihren letzten Augenblick herannahen fühlte, mußte er wieder eintreten, um an ihrem Bett zu beten. Unter seinen Gebeten entschlummerte sie.«

Der Freiherr machte eine Pause, dann setzte er von selbst hinzu:

»Außer ihm war ihr Kammerdiener Theodor da. Er war bei dem Geistlichen im Nebenzimmer gewesen und trat mit ihm ein. Der Diener verehrte sie; sie war ihm zugethan. So durfte er bei ihrem Tode zugegen sein.«

Der Assessor hatte noch einige Fragen.

»Wann hatten Sie die Verstorbene zuletzt vor ihrem Todestage gesehen?«

»Am zweiten Tage vorher.«

»In welcher Veranlassung?«

»Wir hatten zu sprechen. Die weitere Antwort werden Sie mir erlassen«

»Wie hatten Sie damals ihren Gesundheitszustand gefunden?«

»Sie war leidend; wie sie es immer war.«

»Welche Menschen bildeten die Umgebung der Verstorbenen?«

»Ihr Kammerdiener und meine alte Amme, die ihre Kammerfrau war. Oft war der alte Schloßkaplan bei ihr.«

»Wer kam noch in ihre Zimmer?«

»Sonst Niemand. Sie wollte keinen Menschen sehen.«

»War in der letzten Zeit kein außergewöhnlicher Besuch bei ihr?«

»Nein.«

Der Assessor kam zum Schluß seiner Vernehmung.

»Es ist behauptet worden, Ihre Frau Gemahlin ist vergiftet!«

»Sie hatten bereits die Güte, es mir mitzutheilen.«

»Sie haben keinen Grund, an einen Tod durch Gift zu glauben?«

»Nein.«

»Haben Sie eine Erklärung, wie jenes Gerücht entstanden sei?«

»Nein.«

Der Assessor verbeugte sich, zum Zeichen, daß er mit seinen Fragen zu Ende sei. Der Freiherr verließ schweigend das Zimmer.

»Ist der Mann ein Verbrecher?« mußte sich der Assessor fragen. »Ist hier überhaupt ein Mord verübt, oder nur ein ungewöhnlicher Todesfall eingetreten?«

Er hatte keine Antwort weder auf die eine Frage noch auf die anderen. Auch ein älterer, geübterer und erfahrnerer Inquirent hätte schwerlich tiefer in das Innere jenes kalten, einsilbigen, verschlossenen Mannes eindringen, klarer darin zu sehen vermocht.

Aber durfte er jetzt noch mit seinen Nachforschungen fortfahren? Nachdem er den Gatten der Verstorbenen, den Herrn des Hauses vernommen hatte, und durch dessen Aussage jedes Vorhandensein eines Verbrechens entschieden zurückgewiesen war, sprach da nicht jedes weitere Nachforschen nach einem Verbrechen einen Verdacht gegen den Freiherrn aus? War es nicht geradezu ein Inquiriren gegen diesen? Und was berechtigte ihn dazu? Welchen Verdacht hatte der Freiherr gegen sich erregt?

Der Assessor ging, mit sich berathend, in dem Zimmer umher. Er mußte schnell einen Entschluß fassen. Er ging an der Thür auf und nieder, hinter welcher die Verstorbene lag.

»Wenn die Todten reden könnten!«

Wie mancher Inquirent hat es vergebens geseufzt!

Aber reden sie nicht doch manchmal?

Der Assessor öffnete wie unwillkürlich die Thür. Die blendende Tageshelle der Hunderte von Wachslichtern drang ihm entgegen.

Er blieb an her Schwelle der Thür stehen und sah sinnend in das helle Gemach hinein. In dem Glanze der Lichter schlief die Todte den ewigen Schlaf.

Der Geistliche kniete in seinem stillen Gebete zu ihren Füßen. Keine Bewegung, kein Laut war in dem Gemache.

Durfte der Assessor, der Fremde, der Criminalrichter, hineintreten? Durfte er die Ruhe der Todten stören?

Er trat leise hinein; sein Schritt war unhörbar. Er war an einer heiligen Stelle, in einer heiligen Stille. Die eine wollte er nicht entweihen, die andere nicht stören. Was er wollte, wußte er selbst nicht. Ein unbestimmter Drang hatte ihn hineingeführt.

Er stand an dem Sarge und sah auf die Leiche.

Es gibt keine heiligere Ruhe, keine edlere Schönheit, als die des Todes.

Die todte Frau, vor der der Criminalrichter stand, lag so wunderschön da, in dem schwarzen Sarge, in dem weißen Kleide, ohne jeglichen anderen Schmuck, als den der erhabensten Schönheit, die über das feine, blasse, entseelte Gesicht ausgegossen war. Der Assessor stand lange schweigend, wie in stiller, und doch beklommener Bewunderung da.

Aber sprach da nicht auf einmal die Todte?

Der Assessor blickte schärfer in die edlen Züge des blassen Gesichts. Er wurde unruhig. Er sah etwas, was ihm entgangen war. Die Todte lag in der Schönheit und Stille des Todes, aber sie lag nicht in der Ruhe und in dem Frieden des Todes da.

Ihre Lippen waren vom Krampf zusammengepreßt; über die Stirn und um die Augen zog sich ein heftiger Schmerz. Sie war dennoch auch so schön geblieben.

In dem Krampfe und dem Schmerze war sie gestorben.

Und der Freiherr hatte gesagt, sie sei leicht und leise entschlummert?

»Ist hier nicht doch ein Verbrechen verübt?« mußte sich der Assessor fragen.

Er erhielt eine Antwort auf seine Frage, die er sich nur in seinem tiefsten Innern vorgelegt hatte.

»Ja,« sprach eine Stimme neben ihm, »hier ist ein Verbrechen verübt – ein Mord!«

Der Assessor wandte sich zur Seite.

Der Schloßkaplan hatte sich erhoben. Der alte Mann stand gebeugt da, tiefen Schmerz im Gesichte, das schmerzvolle Gesicht zu der Todten gewandt. Hatte der Schmerz um die Todte ihm jene Worte entpreßt? Oder hatte sein Gewissen aus ihm gesprochen, sein wahres, menschliches, christliches Gewissen, das nicht reden sollte gegenüber dem geistlichen Gewissen des Beichtvaters?

Der Assessor wollte eine Frage an ihn richten, doch der alte Geistliche kam ihm zuvor. Er hatte sich höher aufgerichtet. Er war nicht mehr der gebeugte Mann des Schmerzes. Der unantastbare Diener Gottes stand da.

»Sie wollen mich befragen?« sagte er ruhig und würdevoll zu dem Assessor. »Sie wollen mich verhören, wie die Anderen! Sie würden es vergeblich versuchen. Ich bin hier Beichtvater und als solcher nur Gott verantwortlich. So schützen mich auch Ihre Gesetze. Sie vernehmen von mir kein Wort weiter.«

Er kehrte zurück zu dem Fuß des Sarges und kniete wieder nieder. Wieder verharrte er in seinen Gebeten.

»Er hat Recht!« mußte sich der Assessor sagen. »Er hat auch das Gesetz für sich. Jeder Versuch wäre vergeblich.«

Aber er hatte dennoch ein Zeugniß gewonnen, freilich auch nur für sein menschliches Gewissen, nicht für sein juristisches; aber wie oft tritt in dem Menschen das eine Gewissen für das andere ein!

Er verließ das Leichengemach und verschloß die Thür des Zimmers.

»Führen Sie die alte Amme hierher,« befahl er dem Gerichtsdiener, der draußen im Corridor seiner Befehle harrte.

Er mochte seine richtigen Gründe haben, jetzt zuerst die Amme zu vernehmen. Sie mußte am meisten wissen; Frauen sind am leichtesten zum Reden zu bewegen.

Die alte Frau erschien; sie war sehr befangen. Wenn das Criminalgericht plötzlich in dem Hause des Todes erscheint, so ergreift alle Bewohner des Hauses ein unheimliches, schreckhaftes Gefühl.

»Sie waren die Kammerfrau der verstorbenen Freifrau?« fragte der Assessor sie.

»Ich bediente sie.«

»Waren Sie auch in den letzten Tagen ihres Lebens um sie?«

»Ich war fast immer bei ihr. Ich hatte zugleich die Pflege ihres Kindes, und sie ließ das Kind nicht von sich.«

»War sie lange Zeit krank?«

»Sie kam schon vor drei Monaten leidend hier an. So blieb sie; oder eigentlich, es wurde immer schlimmer mit ihr.«

»Woran litt sie?«

»Sie hatte die Auszehrung Ein trockener Husten verließ sie nicht. Sie wurde täglich magerer; ihre Kräfte schwanden sichtlich.«

»Traten in den letzten Tagen keine besondern Umstände in ihrer Krankheit ein?«

»Sie wurde nur hinfälliger.«

»Waren Sie bei ihrem Tode zugegen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Sie starb des Abends. Sie hatte am Morgen schon gesagt, sie werde den Tag nicht überleben. Sie war sehr schwach. Ich mußte den ganzen Tag mit dem Kinde hier in diesem Zimmer um sie sein. Hier starb sie auch. Als der Abend kam, wurde sie unruhiger, und ich mußte den Kaplan zu ihr rufen. Sie beichtete und erhielt die letzte Oelung. Ich hatte unterdeß mit dem Kinde das Zimmer verlassen müssen. Als sie fertig war, mußte ich mit demselben wieder zu ihr kommen. Sie nahm Abschied von ihm und mir und weinte bitterlich.«

Auch die alte Amme mußte bitterlich weinen. Sie machte eine Pause.

Der Assessor wurde aufmerksamer, Sie war in ihrer Befangenheit zugleich ängstlich auf ihrer Hut gewesen und hatte langsam gesprochen, als wenn sie jedes Wort vorher genau überlege. Sie weiß etwas, sie fürchtet, sich zu verrathen, hatte der Assessor daraus geschlossen. Sie wird offener werden, dachte und hoffte er, als er ihre Thränen sah.

Sie fuhr fort:

»Dann mußte ich den Kammerdiener, den Herrn Theodor, zu ihr rufen. Sie trug ihm auf, den Herrn zu ihr zu bitten, ihre letzte Stunde sei gekommen; sie wünsche ihn noch einmal zu sprechen. Der Herr kam, und ich mußte wieder mit dem Kinde das Zimmer verlassen. Ich ging in das Nebenzimmer dort; darin war auch der Kaplan. Der Herr blieb an zwei Stunden bei der Sterbenden. Es war schon spät, als er zu uns in das Nebenzimmer kam, um uns in das Sterbezimmer zu rufen. Sie wollte noch einmal das Kind sehen. Der Kaplan mußte mitkommen. Sie athmete nur noch schwach und konnte sich nicht mehr bewegen und nicht mehr sprechen. Ich mußte das Kind an ihr Herz legen, sein Stirnchen an ihre Lippen bringen. Ich errieth ihr Verlangen aus ihren Augen, die noch nicht starr waren. Sie wollte die Stirn des Kindes noch küssen und hatte gerade noch genug Kraft dazu. Dann bat sie leise, kaum hörbar, daß der Kaplan das Kind noch an ihrem Herzen segnen solle. Er that es, hierauf mußte ich mit dem Kinde mich entfernen, und der Herr und der Kaplan blieben bei ihr. Eine Viertelstunde nachher war sie todt.«

Die Amme endete ihre Mittheilung. Sie war nicht offener geworden. Der Assessor hatte sich in seiner Hoffnung getäuscht. Vielleicht erreichte er durch Fragen noch etwas, indem er sie vermuthen ließ, daß er von Umständen, die sie tief verborgen glauben mußte, schon unterrichtet sei. Er verfolgte zugleich einen weiteren Zweck dadurch. Er mußte freilich äußerst vorsichtig sein.

»Sie sind schon lange hier im Schlosse?« fragte er sie.

»Seit vielen Jahren.«

»Sie waren die Amme des Freiherrn?«

»Ich war seine Amme.«

»Der Freiherr ist seit einem Vierteljahre wieder hier?«

»Es etwas über ein Vierteljahr.«

»Wie lange hatten Sie ihn vorher nicht gesehen?« »Seit fünfundzwanzig Jahren nicht,« antwortete sie zögernd. Der Assessor that, als bemerke er es nicht.

»Also seit seiner frühesten Kindheit nicht,« sagte er.

»Er war damals sieben Jahre alt.«

»Kannten Sie ihn gleich wieder?«

»Er erkannte mich sogleich.«

»Sie also ihn nicht?«

Die Frage war an sich unverfänglich; sie war verfänglich, wenn sie etwas Verdächtiges berührte. Die Amme wurde verlegen und hatte nicht sogleich eine Antwort.

»Sie erkannten ihn also nicht wieder?« fragte der Assessor.

Sie hätte wiederum nur einfach nein antworten dürfen. Wen man zuletzt als ein Kind von kaum sieben Jahren gesehen hat, den erkennt man nach fünfundzwanzig Jahren nicht sofort wieder. Sie zögerte abermals mit der Antwort und schlug die Augen zu Boden.

»Es war doch wohl zu lange her,« sagte sie dann langsam.

Eine Antwort lag darin für den Assessor, aber sie brachte ihn nicht weiter; sie enthielt nur eine vage Unterstützung eines vagen Verdachts. Das war vor der Hand zu wenig, um den Gegenstand weiter zu verfolgen. Er fragte Anderes.

»Hat die Verstorbene in der letzten Zeit keinen fremden Besuch empfangen?«

»Sie hat hier niemals einen fremden Menschen gesehen.«

»Wer war gewöhnlich um sie?«

»Der Herr Theodor und ich.«

»Sonst Niemand?«

»Auch der Kaplan mußte öfters zu ihr kommen.«

»Und weiter?«

»Weiter sah sie keinen Menschen.«

»Aber ihr Gemahl, der Freiherr?«

Die Amme wurde roth. »Sie sahen sich selten,« sagte sie wieder zögernd.

»Und warum? Zumal bei dem leidenden Zustande der Frau?«

»Ich weiß es nicht«

Die alte Frau blieb fortwährend bei jedem ihrer Worte auf ihrer Hut. Der Assessor mußte auf ihre weitere Vernehmung verzichten, wenn er nicht einen Verdacht aussprechen wollte, den er für jetzt noch nicht zeigen durfte.

Für jetzt? Er mußte ihn also vorher näher begründen, bestärken, konkreter gestalten! Wie sollte, wie konnte er das noch? Auf die Amme hatte er gerechnet, gerade auf sie. Der Rentmeister war noch da; aber hatte nicht schon sein Freund, der Pfarrer, ihm gesagt, daß der alte Diener des Hauses der stummste sein werde? Und sonst war Niemand, von dem er noch Auskunft erwarten konnte.

Der Assessor verhehlte sich seine Lage nicht; es überlief ihn etwas heiß. Auch dem Inquirenten, nicht bloß seinem Inquisiten, kann manchmal ein leiser Angstschweiß auf die Stirn treten. Was nun weiter? Der Inquisit erwartet es mit Schrecken, der Inquirent sucht oft mit Sorgen danach.

Ein Zufall hilft dann wohl, der freilich, wie am Ende jeder Zufall, nur ein natürliches Glied in der Kette der gegebenen Thatsachen ist.

Die Thür des Zimmers, in welchem der Assessor seine Verhöre vornahm, öffnete sich. Der Gerichtsdiener, der draußen im Gange auf seine Befehle wartete, trat ein.

»Herr Assessor, ein Herr wünscht dringend, Sie zu sprechen.«

»Wer ist der Herr?«

»Er wird sich Ihnen nennen.«

»Führen Sie ihn herein.«

»Er läßt Sie bitten, zu ihm heraus zu kommen.«

Der Assessor besann sich kurz und folgte dem Gerichtsdiener in den Corridor. Ein ältlicher Herr von vornehmer Haltung stand dort. Er trat mit einem raschen, sichern Wesen auf den Assessor zu.

»Sie sind der Herr Assessor?«

»Ja.«

»Ich habe dringend mit Ihnen zu sprechen – in der Angelegenheit, die Sie hierher geführt hat.«

»Ihr Name, mein Herr?«

»Sie werden ihn nachher erfahren, wenn es auf ihn ankommt, wenn das, was ich Ihnen mitzutheilen habe, Ihnen erheblich genug erscheint, um wissen zu müssen, wer es Ihnen mitgetheilt hat.«

»Ich bitte, mir zu folgen,« sagte der Assessor. Er wollte den Fremden in das Zimmer führen, aus dem er kam.

»Nicht doch, wenn ich bitten darf,« sagte der Fremde. »In dem Sterbezimmer – meine Anwesenheit könnte verletzen.«

»Sie sind bekannt im Schlosse?« fragte der Assessor.

«Ja.«

»So bitte ich, mir ein anderes Zimmer anzuzeigen, in dem wir uns sprechen können.«

»Haben Sie die Güte, mir zu folgen – aber mit Ihrem Gerichtsschreiber, seine Anwesenheit wird nöthig sein.«

Der Assessor kehrte in das Zimmer zurück und war nach einem Augenblicke mit dem Actuar wieder da. Die Amme war zurückgeblieben.

Der Fremde ging schweigend zu der Treppe, die nach unten in das Haus führte. Der Assessor und der Actuar folgten ihm, hinter drein ging der Gerichtsdiener. Sie gingen die Treppe hinunter, durch die große Halle, durch das Portal des Schlosses.

»Wohin wird er uns führen?« fragte sich der Assessor. »Was mag er von uns wollen?«

Er machte draußen am Portale Halt. »Wohin führen Sie uns, mein Herr?«

»In die Rentstube. Sie können dort besser inquiriren als im Schlosse. Der Rentmeister muß sie Ihnen öffnen. Der Inquirent ist Herr, wohin er kommt.«

Am Ende des Schloßplatzes, seitab vom Schlosse, lag die Rentmeisterei. Dahin führte der Fremde schweigend die Beamten.



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