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Oheim und Neffe.

Von den übrigen Bewohnern des Schlosses hatte kein einziger nur eine Ahnung, daß man über die Person des Herrn irgend einen Zweifel haben könne.

Schon am Morgen nach der Ankunft der Herrschaft waren indeß der Rentmeister und die alte Amme wieder heimlich beisammen.

»Herr Rentmeister, er ist nicht der Freiherr Carl; ich bleibe dabei.«

»Hm, Rose, hat Sie etwas Neues entdeckt?«

»Ich halte mich immer an das Grübchen und die Narbe. Sie konnten nicht verwachsen.«

»Bedenklich ist die Sache, Rose.«

»Ja, und ich habe noch mehr. Ich traf ihn heute früh, wie er im Corridor umherging und etwas zu suchen schien, ich dachte, es sei die Thür zu dem Zimmer seiner Gemahlin und wollte sie ihm zeigen. Aber das war es nicht. Er wollte seine Frau so früh nicht stören, sagte er. Nebenbei, Herr Rentmeister, das muß ein sonderbares Verhältniß zwischen dem Herrn und der gnädigen Frau sein. Er ist auch bis jetzt noch nicht bei ihr gewesen, und sie hat sich mit keinem Worte nach ihm erkundigt. Sie hat überhaupt noch fast kein Wort gesprochen und sich noch nicht in der Stube umgesehen und noch nicht aus dem Fenster geblickt und sie sieht doch gerade in den schönen Park hinein und über den Wald weg, und die Sonne schien schon früh so freundlich, und die Vögel sangen im Park, in den Bosketts, im Walde. Sie sah und hörte nichts, sie saß nur immer still vor sich hin mit dem weißen, traurigen Gesichte, und es war, als wenn sie jeden Augenblick vor Jammer und Unglück weinen müsse, und als wenn sie es doch vor schwerer innerlicher Herzensangst nicht könne. Und auch er, da ich ihn in dem Corridor traf, sah so unglücklich und so sorgenvoll aus. Er that mir leid. Er konnte ja doch der Freiherr Carl sein. Und ich wollte auch wissen, ob er es war. Und so sprach ich weiter mit ihm, und nun hören Sie, was ich Ihnen erzählen wollte.«

»Euer Gnaden haben mich gleich wieder erkannt?« fragte ich ihn.

»Ja, Rose,« sagte er, »Dein Bild stand noch lebhaft in meiner Erinnerung.«

»Dann werden Euer Gnaden sich auch noch der Thür erinnern, vor der wir hier gerade stehen.«

Er sah sich um.

»In der That, nein,« sagte er.

Er sagte es gleichgültig genug, aber ich sah ihm doch an, daß er verlegen war.

»Es ist die Thür zu Ihrem früheren Zimmer,« sagte ich, »das Sie als Junker Carl bewohnten. Wollen Sie nicht einmal wieder hineintreten?«

Er machte keine Bewegung dazu. Aber ich hatte die Thür schon aufgemacht, und so mußte er mit mir hineingehen.«

»Erinnern Sie sich noch?« fragte ich ihn.

»Nur noch dunkel. Es schwebt mir so vor, als sei ich schon hier gewesen. Es ist lange her, und ich bin seitdem so viel und so weit in der Welt umhergekommen.«

«Ja, ja, Euer Gnaden. Aber dieses alten Schrankes müssen Sie sich noch erinnern.«

Ich zeigte auf den alten, großen, braunen Wandschrank, der in der Stube steht, und der auch schon damals darin stand; er sah ihn an.

»Es ist mir so,« sagte er.

»O gnädiger Herr, dann müssen Sie auch noch wissen, wie Sie mich hier so oft erschreckt haben. Wenn ich in das Zimmer kam, und Sie hatten mich kommen hören, dann hatten Sie sich in dem Schranke versteckt, und wenn ich Sie nun suchte, dann kamen Sie auf einmal daraus hervorgesprungen und wollten sich todtlachen; aber ich konnte mich vor Schreck kaum auf den Füßen halten.«

Er hatte mir sehr aufmerksam zugehört und er sagte dann: »Ja, ja!« als wenn er sich wirklich erinnerte; aber ich merkte es ihm deutlich an, daß er nur so that.

Da mußte ich meiner Sache noch gewisser werden und ich kam nun mit der Narbe heraus.

Wir standen an dem Fenster der Stube. Es geht nach dem Schloßgarten hin, und gerade unter ihm ist die offene Laube mit dem steinernen Tisch davor. Dicht bei dem Tische war er, als ich im Garten mit ihm spielte, hingefallen und hatte sich das Kinn aufgerissen. Er war zwar damals ein Kind von drei Jahren gewesen; aber ich hatte ihm nachher hundert- und hundertmal die Geschichte erzählt, und wie er geblutet, und wie ich in Todesangst gewesen, und wie er krank gelegen, und ich mich nicht hatte beruhigen können, und er nur an mich gedacht und nur mich zu trösten gesucht hatte. Ich hatte es ihm zuletzt noch am Tage vor der Abreise der Herrschaft erzählt, an derselben Stelle neben dem steinernen Tische, an welcher es geschehen war; er konnte es also nicht vergessen haben. Ich zeigte ihm den Tisch durch das Fenster.

»Den Tisch werden Euer Gnaden gewiß wieder erkennen.«

Er kannte ihn nicht.

»Gerade neben dem Tische passirte Euer Gnaden einmal ein großes Unglück.«

»So?« sagte er.

Er hatte schon wieder angefangen, verlegen zu werden.

»Euer Gnaden erinnern sich also nicht?«

»In der That nicht«

»Dort war es ja, wo Sie so schrecklich fielen. Auf einmal lagen Sie da, mit dem Gesichte auf der Erde, auf den Steinen. Ein scharfer Kieselstein hatte Ihnen das Kinn zerschnitten. Sie hatten früher ein so hübsches Grübchen darin; seitdem war eine große, breite Narbe da. Ich wundere mich nur, daß man nichts mehr davon sieht.«

Sein blasses Gesicht war blutroth geworden. Um es mir zu verbergen, trat er vor den Spiegel und besah sich darin.

»Ich wundere mich selbst darüber,« sagte er. »Man sieht nichts mehr.«

Aber er konnte kaum die Worte herausbringen, so zitterte er.

»Und nun, Herr Rentmeister?« fragte die alte Amme.

Der Rentmeister war nachdenklich geworden.

»Narbe und Grübchen konnten verwachsen, Rose, wie ich schon gestern sagte.«

»Aber er konnte nicht Alles vergessen. Er war sieben Jahre alt und damals wußte er es noch, als wenn es am Tage vorher geschehen wäre.«

»Er ist seitdem viel und weit in der Welt herumgewesen, Rose, wie er selber sagte. Und kannte er nicht noch unsere Namen, den Ihrigen, den meinigen, den des Kaplans?«

»Die konnte er von anderen Leuten gehört haben; aber jene Sachen konnten Andere ihm nicht erzählen.«

»Und von wem sollte er die Namen gehört haben?«

»Das weiß Gott. Darüber wollen mir die Gedanken nicht aus dem Kopfe, und es sind schreckliche Gedanken.«

»Zum Beispiel, Rose?«

»Ich mag es nicht aussprechen.«

»Rose, Rose, wie ein Mörder sieht er nicht aus.«

»Ich weiß es nicht; ich habe noch keinen Mörder gesehen.«

»Und auch nicht wie ein Fälscher –«

Mit dem Worte war plötzlich in dem alten Manne ein Gedanke aufgestiegen.

»Halt, Rose, da werden wir Licht bekommen.«

»Was haben Sie vor, Herr Rentmeister?«

»Sie wird es erfahren; wir werden klar sehen. Wir müssen es.«

Der Rentmeister ging. Der Gedanke, der ihn ergriffen hatte, erfüllte ihn ganz. –

Vierzehn Tage später waren die beiden alten Leute wieder beisammen.

»Rose, ich habe Antwort von dem Bankierhause in Frankfurt.«

»Und er ist kein Fälscher, Herr Rentmeister?«

»Höre Sie mir zu, Rose.« –

 

Der Rentmeister hatte gedacht: ist er nicht der Freiherr, so muß zu allererst seine Handschrift ihn verrathen. Er hatte ihn gleich am Tage nach jener Unterredung mit der alten Rose etwas unterschreiben lassen und die Unterschrift mit der unter der Vollmacht verglichen, die der Freiherr vor drei Jahren nach dem Tode seines Vaters in einer kleinen französischen Stadt ausgestellt hatte. Die Namen kamen ihm ganz anders vor, auf dem einen wie auf dem anderen Papiere. Er erschrak, aber er hatte eben nur die beiden Namensunterschriften vor sich, keine weitere Schrift; da war die Vergleichung leicht trüglich. Er mußte Gewißheit haben. Er erinnerte sich, sehr bald nach dem Tode des alten Freiherrn Max von dem Frankfurter Bankierhause eine Nachricht erhalten zu haben, nach welcher der Freiherr Carl einen ausführlichen Brief über die Forstverwaltung seiner Güter an das Haus geschrieben hatte. Er schrieb an das Haus um Zusendung des Briefes, dessen Einsicht wünschenswerth sei. Unterdeß veranlaßte er den Herrn, über irgend etwas eine Schrift aufzusetzen.

So eben hatte er den Brief von Frankfurt erhalten.

»Und er ist kein Fälscher, Rose,« rief er aus, indem er der alten Amme die beiden Schriftstücke vorlegte, die in der That einander glichen.

»Ich verstehe zwar nicht viel vom Schreiben,« meinte die Alte; »aber da sieht mir das Eine ganz aus wie das Andere.«

»Und ich verstehe mich auf Schreiben,« sagte der Rentmeister, »und ich versichere Sie, Rose, daß wirklich das Eine wie das Andere ist. Es sind allerdings noch einige Unähnlichkeiten da, aber sie sind unbedeutend, und in drei Jahren verändert sich die Handschrift eines jeden Menschen etwas.«

»Mir ist ein schwerer Stein vom Herzen gefallen,« sagte der Rentmeister.

Und die Amme nickte zustimmend mit dem Kopfe, ihr war es leichter ums Herz geworden, und sie mußte es sich noch leichter machen.

»Er trägt ja auch den Siegelring, den der selige Herr immer am Finger trug, und der auf den Sohn forterben mußte. Und auch die Uhr und die Kette, die er trägt, habe ich wiedererkannt. Die selige gnädige Frau schenkte sie dem jungen Herrn kurz vor ihrem Tode. Vor allem aber, Herr Rentmeister, halte ich mich an das Kind, den kleinen Emil. Der kleine Junker sieht ganz aus, wie der Herr, als er in demselben Alter war. Da sind die nämlichen Augen; da ist die Nase; da ist auch das Grübchen im Kinn. Wenn ich den Junker Emil ansehe, so meine ich, ich sehe den Junker Carl wieder. Freilich, freilich, wenn ich dann nachher den Herrn mir wieder ansehen muß –! Aber es ist doch nun einmal das Kind des Herrn. Und,« schloß die alte Frau, »es ist gut, Herr Rentmeister, daß wir nun aus den Zweifeln über den Herrn heraus sind. Der arme Herr trägt doch so schwer, und nun kann man rechtschaffen Mitleid mit ihm haben, mit ihm und mit der gnädigen Frau.«

»Sie leben noch immer so zusammen?« fragte der Rentmeister.

»Zusammen, Herr Rentmeister? Daß sich Gott erbarm! Sie sehen sich ja nicht, sie sprechen nicht mit einander. Als ich zum ersten Male zu ihr kam, sah sie schrecklich verweint aus. Er sitzt oben und brütet still vor sich hin. Etwas haben sie mit einander, etwas ist da vorgefallen. Was es nur ist?«

 

Wieder waren mehrere Wochen vergangen. Die alte Rose saß unruhig wartend in ihrem Stübchen. Es war schon später Abend. Der Rentmeister hatte ihr am Nachmittag gesagt, daß er ihr etwas mitzutheilen habe, daß er am Abend zu ihr kommen werde. Er war dabei so geheimnißvoll gewesen und hatte so besorgt ausgesehen; sie wartete auf ihn. Was hatte er ihr zu sagen? Er kam, man sah ihm sogleich an, daß er etwas auf dem Herzen hatte.

»Rose, erinnert Sie sich noch des Abends, da die Herrschaft ankam?«

»Wie werde ich in meinem Leben den Abend vergessen, Herr Rentmeister?«

»Sie sprach damals von denen im Oesterreichischen.«

»Was ist es mit ihnen?«

»Der alte Freiherr Oswald ist hier.«

Die alte Frau erschrak. »Im Schlosse?« rief sie.

»Wie wird er sich im Schlosse sehen lassen? Er ist in der Nähe; er hält sich verborgen und erkundigt sich insgeheim nach der Herrschaft.«

»Was mag er wollen?« fragte die alte Rose, die plötzlich sehr unruhig geworden war.

»Das wollte ich von Ihr wissen, Rose,« sagte der Rentmeister. »Sie kennt die alten Geschichten des Hauses besser als ich. Sie war die Vertraute der verstorbenen Freifrau, die so viel leiden und so jung und plötzlich sterben mußte.«

»Ja,« sagte die alte Amme, »sie war eine recht arme und unglückliche Frau.« Weiter sagte sie nichts. Sie verfiel in tiefes Nachdenken.

»Und Sie weiß nicht, was der Freiherr will?« fragte der Rentmeister.

»Gutes will der schlechte Mensch nicht,« antwortete sie. »Dazu ist ihm selbst zu viel Böses hier geschehen!«

»Ob wir dem Herrn Mittheilung von ihm machen?« fragte der Rentmeister.

Die alte Frau schüttelte den Kopf.

»Er weiß von den alten Geschichten nichts.«

»Eben darum, Rose.«

»Nein, nein!« rief sie heftig.

»Und warum nicht?«

»Warum nicht?« – Sie stockte. »Warum nicht?« rief sie dann noch einmal. »Er ist doch nicht der Freiherr Carl.«

Auch der alte Mann erschrak. »Rose, wie kommt Sie wieder darauf?«

»Er ist es nicht. Er ist ein Fremder, ein –« Sie vollendete nicht.

»Was hat Sie jetzt wieder, Rose?«

»Nichts, nichts.« –

Sie hatte ein Geheimniß. Aber der Rentmeister fragte sie nicht weiter. Er kannte die verschwiegene alte Frau.

Sie sprach von selbst wieder. Sie mußte doch ihrem Herzen etwas Luft machen.

»Aber ein Unglück giebt es hier,« sagte sie. »Ohne ein Unglück kann ein solches Leben kein Ende nehmen. Da sind sie nun seit zwei Monaten hier im Schlosse und sehen sich noch immer nicht und sprechen kein Wort zusammen und fragen nicht einmal Einer nach dem Andern. Sie könnten sterben und verderben, und die Frau erführe es nicht von dem Manne und der Mann nicht von der Frau. Und der Herr spricht mit keinem Menschen und läuft nur immer wie ein wahnsinniger Mann durch die Wälder und über die Felder. Und die Frau hat außer mir und dem alten Kaplan noch kein einziger Mensch im Schlosse gesehen. Sie kommt nicht aus ihrer Stube, als wenn sie alle Woche einmal mit dem Kinde spazieren fährt, und dann ist sie fest und tief verschleiert, wie an dem Abende, da sie ankam, als ob ein Mensch sterben müßte, der sie sieht. Und das Kind? Es ist so schön und so blühend, und die schöne blasse Mutter muß es oft Stunden lang ansehen und ich sehe ihr dann an, wie ihr junges Herz an dem Kinde hängt und wie doch noch Eine Freude, und auch wohl noch Eine Hoffnung ihr in das Herz einzieht. Aber auf einmal kann sie es nicht mehr anblicken, sie wendet plötzlich das erschrockene Gesicht von dem freundlichen Gesichtchen des Kindes ab. Rose, nehmen Sie das Kind fort! ruft sie, und ich muß mit dem Kinde hinausgehen. Und der Herr, wie er die Frau nicht steht, so sieht er das Kind nicht, wie er nach ihr nicht fragt, so fragt er nach ihm nicht. Der liebe Gott mag wissen, was das Alles ist, und der liebe Gott mag sich über sie erbarmen, wenn er sich über sie erbarmen kann.« –

 

»Gutes kann der schlechte Mensch nicht wollen,« hatte die alte Rose gesagt.

Wenige Tage später sollten die beiden alten Leute wenigstens zum Theil erfahren, was der Onkel ihres Herrn, der alte Freiherr Oswald von Falkenburg, wollte.

Kurz zuvor hatte die Amme noch etwas Anderes erfahren, aber das behielt sie für sich.

Sie war die einzige weibliche Bedienung der Freifrau geblieben Sie war auch die einzige Wärterin des Kindes. Außer ihr und dem alten Kammerdiener Theodor kam kein Mensch in die Zimmer der Freifrau, in denen auch das Kind beständig sich aufhielt. Die Herrin hatte die alte Frau liebgewonnen; die Freundlichkeit und das Vertrauen, die sie ihr schenkten, zeigten es. Die Amme durfte immer um sie und das Kind sein. Sie that in deren Gegenwart ihrem stillen Gram keine Gewalt an, und der Gram verließ sie nie. Freilich sprach sie mit der alten Frau nie ein einziges Wort, das auf ihren Kummer, ihre Thränen, ihr Leiden sich hätte beziehen können. Der alte Theodor schien ihr eigentlicher Vertrauter zu sein.

Eines Tages sah Rose diesen aus dem Gemache des Herrn kommen, mit einem Briefe, den er nur von letzterem erhalten haben konnte und den er in das Zimmer der Freifrau trug.

Es fiel der Amme auf, denn es war ihr das erste Zeichen eines Verkehrs zwischen den Ehegatten. Was mochte es bedeuten? Sie war neugierig geworden; aber sie hatte so lange in einem Hause gelebt, in dem sie vor Allem gelernt hatte, die Geheimnisse des Hauses zu ehren. Sie kümmerte sich nicht weiter um den Diener und nicht um den Brief, sondern ging ihrer Beschäftigung nach. Allein diese führte sie nach einer halben Stunde in das Zimmer der Freifrau, und hier erfuhr sie auf einmal unwillkürlich mehr, als sie vielleicht durch absichtliches Horchen und Lauschen zu erfahren hätte hoffen dürfen.

Der Kammerdiener Theodor war noch in dem Zimmer der Herrin. Er saß neben ihr auf einem Stuhle und sprach eifrig mit ihr.

»Ich beschwöre Dich, davon abzustehen,« sagte er zu ihr. »Du bist es ihm und Dir schuldig.«

Die Amme war nicht rasch, nicht leise eingetreten.

Dennoch hatten die Beiden sie nicht gehört. Wie vertieft mußten sie also in ihr Gespräch sein! Erst als der Kammerdiener die Worte gesprochen hatte, sahen sie beide die alte Frau. Der Kammerdiener erhob sich schnell, er war roth geworden, die plötzliche Ueberraschung hatte ihn verlegen gemacht. Die Freifrau indeß blieb sitzen, ihr blasses Gesicht veränderte nicht die Farbe; es veränderte sich kein Zug darin. Sie warf nur einen stillen, trauernden, aber zugleich vertrauenden Blick auf die Amme, und dieser Blick sagte: »Könntest Du mich noch unglücklicher machen, als ich bin? Nein, Du kannst es nicht.«

Und so antwortete ihr ein Blick der treuen Augen der alten Rose.

»Ich erwarte ihn,« sagte die Freifrau dann zu dem Kammerdiener, der sich auf ihren Wink entfernte.

Die Freifrau wandte sich wieder zu der Amme.

»Rose, Sie ist diesem Hause immer treu gewesen!«

»Treu und verschwiegen, gnädige Frau.«

»Sie wird es auch ferner bleiben.«

»Gewiß, Euer Gnaden«

»Gut, so gehe Sie jetzt!«

Rose verließ das Zimmer. Neue Fragen, neue Geheimnisse tauchten vor ihr auf. Wer war der Diener, der so vertraut neben seiner Herrin hatte sitzen, der Du zu ihr hatte sagen können?

Sie befand sich am Ende des Corridors. Da sah sie plötzlich den Freiherrn, der am andern Ende die Treppe herunter kam.

Er war in tiefen Gedanken und schien finsterer als je. Er ging auf die Zimmer der Freifrau zu, klopfte an und trat hinein.

Die alte Amme mußte ihm folgen, sie schlich auf den Zehen ihm nach. Sie machte die Lauscherin vielleicht zum ersten Male in diesem Schlosse und horchte an der Thür.

Obwohl die Gatten leise mit einander sprachen, verstand sie dennoch die meisten Worte. Der Ton der Freifrau war ein leise klagender, der Freiherr sprach ruhig und kalt; die Amme glaubte sein finsteres, strenges Gesicht dabei zu sehen.

»Ich bitte Dich, laß mich,« sagte die Freifrau.

»Du hast gehört, es geht nicht,« war die Antwort. »Der Anstand, jene Gefahr« –

»Aber ich ertrage dieses Leben nicht länger.«

»Du mußt.«

»Ich nehme es mir – Du zwingst mich dazu.«

»Thorheit!«

»Gustav, Gustav« –

Die Amme entsetzte sich.

»Gustav heißt er? Und nicht Carl? Er ist doch nicht der Freiherr! Ich hatte Recht! Ich hatte Recht! Mein Gott, wer ist er denn?«

Der Freiherr hatte seine Gattin strenge unterbrochen.

»Sprich den Namen nicht mehr aus!«

»O,« klagte die Gattin, »fühlt Dein Herz denn gar nichts mehr für mich?«

»Mein Herz?« rief der Freiherr mit Bitterkeit, und in die Bitterkeit schien sich ein finsterer, feindlicher Groll zu mischen. »Mein Herz? Du wagst von meinem Herzen zu sprechen? Du wagst, mich zu erinnern? –«

»Gustav!« rief flehend die Frau.

»Nenne den Namen nicht!« sprach er härter, strenger. »Und rufe nie Zeiten zurück, deren bloße Erinnerung mich zu einem Verbrechen zwingen könnte. Bringst Du denn allein ein Opfer? Du bringst eins, Du mußt es, Du sollst es, ich will es. Aber auch ich bringe große, schwere Opfer hier, nicht minder wie Du, vielleicht noch schwerere. Und nun kein Wort weiter. Adieu!«

Die Amme flog von der Thür zurück und verbarg sich in einer Fensternische.

Eine halbe Minute darauf kehrte der Freiherr aus dem Zimmer seiner Gemahlin zurück. Er ging langsam durch den Corridor, die Treppe hinauf, seinen Gemächern zu. Sein Gesicht sah die Amme nicht.

Die alte Rose mußte in ihr Stübchen schleichen. Sie war tief erschrocken. Welche Entdeckungen hatte sie gemacht! Welche Geheimnisse, welche furchtbaren Geheimnisse lagen hinter diesen Entdeckungen noch verborgen?

Den Abend kam der Rentmeister wieder zu ihr. Auch er hatte etwas erlebt, und er theilte es ihr mit. Die Unterredung des Freiherrn mit seiner Gemahlin hatte am vorgerückten Nachmittage stattgefunden.

Eine Stunde später trat der Freiherr bei dem Rentmeister in der Rentmeisterei ein. Er sah sehr finster aus.

»Warum sind Sie nicht gekommen?« fragte er vorwurfsvoll.

»Hatten Euer Gnaden mich befohlen?«

»Ich hatte Sie durch Georg auffordern lassen, mich in den Wald zu begleiten.«

»Georg war nicht bei mir.«

»Wie?».

»Ich versichere Euer Gnaden, ich habe ihn seit Mittag nicht gesehen.«

»Rufen Sie ihn her,« befahl der Freiherr noch finsterer.

Der Rentmeister ging, den Bedienten Georg herbeizuholen. Indem er nach der Bedientenstube im Schlosse gehen wollte, führte sein Weg ihn von der Rentmeisterei am Schloßpark vorüber. Zufällig warf er einen Blick in den Park und sah in einer der Alleen den Bedienten schleichen. Der Mensch schien dem benachbarten Walde zueilen zu wollen.

»Sie sollen mir zu dem Herrn folgen,« rief er ihm da.

Mehr sagte er ihm nicht. Er hatte seine eigenen Gedanken über das Schleichen des Menschen nach dem Walde hin, der ihm den Befehl, den Freiherrn in den Wald zu begleiten, nicht überbracht hatte. Aber er wollte durch das Weitere Gewißheit haben, ehe er sprach.

Der Diener folgte ihm in die Rentmeisterei, wo ihn der Freiherr finster empfing.

»Warum waren Sie nicht bei dem Herrn Rentmeister?«

»Ich hatte es vergessen, Euer Gnaden.«

»Ich kann keine Diener gebrauchen, die meine Befehle vergessen. Sie verlassen heute noch Ihren Dienst und das Schloß. Der Herr Rentmeister wird Ihnen nach unserer Rückkehr Ihren Lohn auszahlen.«

Der Diener ging, ohne ein Wort der Erwiderung, der Bitte.

»Gehen wir,« sagte der Freiherr zu dem Rentmeister.

Sie gingen in den Wald. Der Freiherr sprach kein Wort weiter von dem Zwischenfalle. Er sprach auch sonst nichts, als über den Zweck ihres Ganges. Es sollte Bauholz gehauen werden, er wollte mit dem Rentmeister vorläufig die Stellen besichtigen.

Der Rentmeister hatte Zeit, über das Vorgefallene nachzudenken. Der Bediente Georg war früher stets ein ordentlicher Mensch gewesen; nur seit den letzten Tagen hatte er sich manchmal zerstreut gezeigt. War er auch heute nur zerstreut gewesen? Aber wozu hatte er in den Wald schleichen wollen? Und gerade in jener Richtung, die der Freiherr jetzt nahm?

Der Rentmeister sollte es erfahren.

Sie kamen in den Theil des Waldes, der besichtigt werden sollte. Es waren hohe Eichen da, um deren Fällung es sich handelte. An einer der Eichen stand ein Mann; er schien wartend dazustehen. Als er den Freiherrn, der vorausging, erblickte, wollte er ihm entgegentreten. Da sah er den Rentmeister. Er stutzte; er schien zweifelhaft, ob er sich entfernen solle, doch entschloß er sich, zu bleiben.

Der Rentmeister hatte ihn erkannt; es war der Freiherr Oswald von Falkenburg, der Onkel des Freiherrn Carl. Er hatte das Aussehen eines vornehmen Reisenden, den etwa ein Zufall oder ein Spaziergang in den Wald geführt hatte. Sein Gesicht war widerwärtig, lauernd, tückisch; er trat auf den Freiherrn zu.

Dieser wollte an ihm vorübergehen, ohne auf ihn zu achten Er kannte ihn ja nicht. Der Andere hielt ihn auf.

»Entschuldigen Sie, mein Herr –«

Auf einmal stutzte er und blickte forschend in das Gesicht des Neffen. Er mußte ihn sich noch einmal ansehen, ob er wirklich vor dem stehe, zu dem er wollte.

»Was wollen Sie, mein Herr?« fragte ihn der jüngere Freiherr.

»Parbleu, mein Herr, sind Sie wirklich mein Neffe?« fragte der Andere. Er fragte es boshaft, höhnisch.

Der Rentmeister sah seinen Herrn einen Augenblick wanken.

»Ihr Neffe –?«

»Wenn Sie in der That der Freiherr Carl von Falkenburg sind!«

»Der bin ich. «

»Hm, dann müssen Sie auch wissen, wer Ihr Onkel ist.«

»Ich habe meines Wissens nur einen Onkel; es ist der Freiherr Oswald von Falkenburg.«

»Und der bin ich! – Parbleu, Sie wissen es also doch?«

»Wozu diese Frage?«

»Wozu? Hm, wenn Sie wissen, daß ich Ihr Onkel bin, wenn Sie also mein Neffe sind, so müssen Sie auch ferner wissen, was für ein Abkommen zwischen uns bestand.«

Der Neffe erhob sich stolz.

»Mein Herr, bevor wir weiter sprechen, möchte ich Sie denn doch bitten, mir Ihrerseits zu beweisen, daß Sie der sind, für den Sie sich ausgeben.«

»Ein durchaus billiges Verlangen,« sagte mit seinem höhnischen, tückischen Lächeln der Andere. »Ich wünsche mir jetzt Glück, daß ich Sie nicht allein getroffen habe, wie ich gewünscht hatte, und daß Ihr Rentmeister bei Ihnen ist, ein Mann, dem Sie hoffentlich wohl vertrauen werden. Herr Buchholz, wer bin ich?«

»Der Herr Freiherr Oswald von Falkenburg,« antwortete der Rentmeister.

»Hm, Onkel und Neffe ständen also fest. Und nun, mein Herr Neffe, Ihre Antwort auf meine Frage?«

»Ihr Abkommen,« antwortete der Neffe, »war mit meinem Vater getroffen, nicht mit mir.«

»Und der Sohn hält sich an die Versprechungen seines Vaters nicht gebunden?«

»An derartige Versprechungen ist kein Sohn gebunden. Gesetz und Sitte sprechen ihn frei.«

»Auch die Ehre?«

»Unter Umständen sogar zwingend.«

»Ah, zwingend?« rief der alte Freiherr höhnisch; aber auf einmal wurde sein Gesicht ernst, und seine tückischen, falschen Augen flammten zornig. – »Zwingend?« wiederholte er. »Und von Ehre wollen Sie sprechen? Ein Freiherr von Falkenburg will sich auf die Ehre berufen dafür, daß er eine Metze geheirathet hat? Ja, ja, mein Herr, eine Metze! Ich habe die Beweise in den Händen.«

Der jüngere Freiherr hatte auffahren wollen; die Worte des Andern lähmten alle seine Kraft. Der Oheim fuhr fort, zornig, höhnisch, verächtlich:

»Freilich, freilich, der alte Stamm ist ja entartet. Der Vater ein Meineidiger, der Sohn ein völlig ehrloser Bube, ich, der Onkel, ein Lump, meine Tochter – Pah, eine vortreffliche Gesellschaft alten deutschen Adels!«

Auf einmal schien ihm wieder etwas Anderes einzufallen, denn er starrte dem Neffen in das geisterbleiche, bebende, vernichtete Gesicht.

»Aber zum Teufel, Bursch, gehörst Du denn wirklich zu uns? bist Du denn mein Neffe? Der Sohn jenes Meineidigen? Trägst Du einen Zug von ihm, von mir, von dem Geschlechte der Falkenburgs in Deinem Gesichte? Laß Dich einmal besehen. Zeig' her dieses Armesündergesicht! Bei Gott, wenn Du der Freiherr Carl von Falkenburg bist, dann bin ich ein Betrüger, ein Fälscher, ein Räuber oder Mörder, der aus irgend einem Zuchthause entsprungen und hergelaufen ist und sich für einen Freiherrn ausgibt und sich in einem reichen adligen Schlosse festsetzt, mit Metze und Kind –«

Der Freiherr Carl von Falkenburg hatte sich ermannt. Seine Gesichtszüge waren wieder fest geworden, seine Haltung wieder stolz. Den alten Freiherrn würdigte er keines Blickes. Er wandte sich an den Rentmeister, ruhig und fest.

»Kommen Sie, Buchholz! Der Mann mag mein Oheim sein; aber er ist ein Wahnsinniger, und einem Wahnsinnigen geht man aus dem Wege.«

Er nahm den Weg nach dem Schlosse zurück. Er ging langsam, ruhig, mit festem, stolzem Schritt. Der Rentmeister folgte ihm.

Der Freiherr Oswald von Falkenburg sah ihm mit boshaftem Hohne nach. Er sprach kein Wort mehr; aber man hörte ihn noch lange und laut lachen. Der Freiherr Carl ging schweigend. Erst als sie nahe beim Schlosse waren, sprach er: »Buchholz, Sie sind ein treuer Diener des Hauses?«

»Gewiß!« antwortete der Rentmeister. Damit trennten sie sich.

 

Es war Abend über ihre Rückkehr geworden.

Der Rentmeister ging zu der alten Rose, er mußte sein Herz gegen sie ausschütten.

»Gewiß,« sagte er, als er ihr Alles erzählt hatte, »bin ich ein treuer Diener des Hauses, aber –«

»Aber?« fragte ihn die alte Amme.

«Aber,« sagte der Rentmeister, »kann ich der treue Diener eines fremden Betrügers und Fälschers sein, der frecher Weise in dieses Haus sich eingeschlichen hat, mit einer –«

»Herr Rentmeister,« unterbrach ihn die alte Amme, »wir haben keine Beweise gegen ihn, daß er ein Fremder, ein Betrüger ist, und keine gegen sie, daß sie eine Metze ist. Wir haben vielmehr beide zwar als recht unglückliche, aber sonst nur als gute, brave und redliche Menschen kennen gelernt. Dagegen kennen wir jenen alten Freiherrn Oswald seit seiner frühesten Jugend nur als frechen, zu jeder Niederträchtigkeit fähigen Bösewicht. Darum dienen wir ferner treu diesem Hause und seiner Herrschaft, die wir einmal, wie die Sachen liegen, als die rechte Herrschaft anerkennen dürfen und also auch anerkennen müssen.«

»Und was soll weiter werden?« fragte der Rentmeister. »Was für ein Ende soll kommen?«

»Das überlassen wir Gott!«

»Gott?« wiederholte die alte Frau dann, wie durch einen Gedanken ergriffen und erschreckt. »Ist Gott auch bei den Verbrechen?«

Aber sie sprach nicht weiter, sie ging ihrer Arbeit nach und der Rentmeister ging in seine Rentmeisterei zurück.


Vier Wochen später war bei dem Criminalgerichte, zu dessen Bezirk das Gut Falkenburg gehörte, jenes anonyme Schreiben eingegangen, das die Ermordung der Freifrau von Falkenburg auf Falkenburg mit den anscheinend so widersprechenden Zusätzen anzeigte.



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