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Balz Türlistock, der Grenadier

Im Wirtshaus zu Jeriswyl saßen ihrer wohl ein Dutzend oder mehr noch, denn der Durst war groß. Die groben Hemden, ja sogar die Zwilchhosen klebten an den gedrungenen Gestalten, und die Haupthaare sahen aus, als wären die Männer den ganzen Tag barhaupt im Regen herumgelaufen. Und doch stand der Himmel durchsichtig blau über Wald und Feld, von der Berra bis hinüber zum fernen Jurarücken. Wo weder Fuß noch Huf sich regte, blieb der Staub unbewegt in den Karrgeleisen, so windstill war es vom Aufgang bis zum Niedergang. Erntewetter, wie man es seit langem nicht mehr erlebt hatte.

Und es war noch etwas anderes, was die Bauern und ihre Knechte hinter den schweren Tischen festhielt. Der Kaspar Vonlanthen saß bei ihnen, der Sergeantmajor vom Regiment Castella, der mit auf Cabrera gewesen und seine Kameraden dutzendweise hatte Hungers sterben sehen. Die einen ließen sich's nicht ausreden, daß er Menschenfleisch gekostet habe. Wie in aller Herrgottswelt hätte er denn sonst das alles überstehen können, was er ihnen schon erzählt hatte? Andere schrieben seine zähe Widerstandskraft dem Umstand zu, daß er nie einen Kirschenkern ausgespuckt habe, wieder andere den Gelübden, welche 292 seine Mutter in der Kapelle zu St. Wolfgang für ihn getan. Kurz und gut, der Kaspar war wieder da, trug das Kreuz der Ehrenlegion und machte mit seinen Erzählungen die mit Schweiß an die harten Schädel geklebten Haare der Freiburger Bauern, kaum daß man beisammen saß, zu staubtrockenen Bürsten. Bei seiner lebendigen Gottesseele hatte eben einer geschworen, es laufe einem ob allem Garbenbinden eiskalt über den Rücken, wenn man dran denke, was einem hätte widerfahren können, hätte man nicht das Glück gehabt, schon in jungen Jahren einen tüchtigen Kropf an den Hals zu kriegen.

Ja, meinte ein anderer, von Rechts wegen müßte heut jeder gesunde junge Mann eine Kerze stiften zum Danke dafür, daß der Allerwelts-Moloch und Menschenfresser, der Napoleon, endlich übers Wasser geschafft sei. Es wäre beim heiligen Sankt Nikolas bald kein gerechtes Mannsbild mehr übrig geblieben.

«Nur immer gestiftet, Menk», lachte der Sergeantmajor, «wer vor ihm sicher sein will, sehe zu, wie er's anstelle; denn — das könnt ihr mir glauben — einen Soldatenmeister wie den Bonaparte konsigniert man nicht auf eine Insel kaum ein paar Kanonenschuß weit von Frankreich. Sac-à-papier! Bevor ihr das nächste Korn schneidet, ist er wieder à la tête de la grande armée

Da schrien und lachten sie alle durcheinander; aber der Vonlanthen ließ sich nichts sagen. «Sonst 293 fragt den Philipp, unsern Philipp, den Diesbacher! Der wird's euch schon sagen, der Colonel.»

Es war noch nicht spät, als einer nach dem andern sich erhob, seine Zeche bezahlte und vor das Haus trat, wo die Abendschwüle brütete. Nur der Vonlanthen saß wie angeklebt, als wollte er hier die Rückkehr Napoleons von Elba abwarten. Er folgte den andern erst, als draußen vor der Tür auf einen landläufigen Anruf der Muttergottes hin ein allgemeines Gelächter erscholl.

«Was gibt's?» Im Nu stand jetzt auch der durstige Sergeantmajor unter der Tür. «Was ist los?»

«Den Balz haben wir vergessen», sagte einer. Und des Balzen Vater, der Pächter Jungo vom Schloßgut, fing gleich an zu erklären: «Ich hab ihn hinübergeschickt über den Graben, er soll am Hüstorfergäßli auf den Rämi warten, wenn er von Heltiwyl heimkommt, damit er mir den Pflug auf den Wagen nimmt, den ich immer noch da drüben liegen habe.»

«Und der Rämi hockt derweil hier bei uns!» lachte der Vonlanthen.

«Und meine Schimmel sind gar nicht drüben gewesen», fügte der Rämi hinzu, «das ist noch das Beste dran.»

«Seht, seht!» ruft der Sepp, des Balzen älterer Bruder, der ein Stück weit gegen den tiefen Graben gegangen ist, zurück, «er steht noch 294 immer drüben, neben dem Pflug und reckt den Hals.»

«Wie ein Grenadier.»

«Oder ein Türlistock.»

«Ja, meiner Seel! Den kannst im Christmonat umhauen und auf die Säge führen, Jungo.»

So ruft's und spottet's und lacht's durcheinander, dieweil der Sergeantmajor in Gedanken bereits einen Kapitulationsbrief für den Balz ausfüllt, für den Fall, daß der große Soldatenmeister von Elba zurückkommt. «Grad so müssen sie sein», denkt er, «das ist der Soldat nach des Kaisers Herzen. Schön und groß — seine sechseinhalb Schuh mißt er —, hatt ihn ja schon längst im Aug. Aber daß er nun gar noch von der Art ist! So hingepflanzt, das Aug auf die Mücke genietet und keinen Wank bei der bestialischen Augsthitze und sinnt nichts anderes, bevor er von seinem Posten eingezogen wird. Sapristi, das ist doch die Sorte, die man noch von Hand niederghejen muß, nachdem sie schon vierundzwanzig Stunden das Gekrös voll blauer Bohnen haben.» — Er schnalzt mit der Zunge, der alte Felweibel.

Die andern aber, voran der Vater Jungo und der Sepp, haben inzwischen mit ihren Mähdertatzen Trichter gemacht und rufen hinüber: «He, du, Balz!» und winken, er soll auf dem kürzesten Wege durch den Graben — anderswo heißt man 295 so etwas eine Schlucht — zurückkommen. Und wahrhaftig, er hat's verstanden. Aber der Balthasar Jungo versteht besser als seine Dorfkameraden. Er ist nicht von denen, die sich noch was drauf einbilden, wenn sie nur den Buchstaben des Befehls erfüllt haben. Es sollte, wenn's nach seinem Kopfe ginge, jeder Schritt etwas Gescheites ausrichten.

«Er wird doch nicht... — Joses Marei! Den Pflug! Schaut! Auf der Achsel hat er ihn schon.»

«Ei nun, so ein Pflüglein! Da hab ich euch andre gelupft.»

«Das ist's nicht. Der Balz trägt seine vier Zentner, wenn's drauf ankommt. Aber daß er den Pflug auf dem Hudelweglein hinuntertragen will. Hals und Bein wird er brechen.»

«Seht! Mich nimmt nur wunder, wie er um die Nase am Fuchsbau herumkommt mit dem Gagerizeug.»

«Er bringt's fertig. Schaut, wie er säuberlich schnaagget. — Wenn nur das verdammte Weglein nicht bricht. Ist's nicht vor zwei Jahren dem dicken Schorro unter dem Fuße gewichen, he?»

Und so reden sie weiter, worüber es natürlich keinem der Braven einfällt, dem Balz entgegen hinabzusteigen und ihm zu helfen. Und auf einmal kommt am Bordrand herwärts der Grindel des Pflugs zum Vorschein. Da ist er ja schon, der Bürschtel. Zum Lohn für die Geduld 296 und den gefährlichen Transport wird er noch aufgezogen.

«Platz, Buben, oder der Teufel nimmt euch auf den Sterz», ruft der Balz. Und mitten durch das Maulaffengeständ hindurch trägt er das Pflügli heim an seinen Platz. Die Kameraden haben gar nicht besonders auf den glühroten Kopf hingeschaut. Kennen sie ihn etwa nicht? Aber der Vonlanthen, der hat ihm ins Gesicht geguckt und in sich hinein gewettert: «Augen hat der Kerl. Wenn das Weibervolk die sieht, gibt's Mord und Totschlag. Natürlich nicht bei denen daheim. Die sind allweg zu fromm und dürfen gar nicht hinschauen. Aber die draußen, die auf den Boulevards.»

Das nächstemal, wie der Feldweibel mit dem Herrn Grafen v. Diesbach ins Gespräch kam, drin in der Stadt Freiburg, meldete er dem Herrn Obersten, wenn dann etwa der Napoleon wieder Grenadiere brauche, so wüßte er einen besonders schönen. Aber da kam er an den Unrechten. Sapperlot, machte der Herr Graf ein Paar Augen. Und zum zweitenmal brauchte Vonlanthen nicht zu sagen, was er meine.

«Bist besoffen, Vonlanthen?» fragte der Oberst. «Seit wann wirbt ein Diesbach für den Korsen? Der soll hübsch bleiben, wo er ist. Zum zweitenmal wird er die Farce nicht mehr wagen. Haben ihn ja alle im Stiche gelassen, seine ducs, seine maréchaux, seine vieux grognards. — Jetzt ist 297 unser Kehr, Vonlanthen. Kommst mir eben recht. Der Herzog von Mortemart stellt eine neue Leibgarde für den König zusammen. Die Cent Suisses sollen auferstehen. Sapristi, das älteste und vornehmste Corps seit Charles VIII. Willst mitmachen? Ich werde das Kommando führen unter dem Herzog. — Aber besinnen darfst dich nicht lang. Habe an jedem Finger zehn, die gerne Sergeantmajor würden.»

«Melde mich zur Stelle. Herr Oberst.»

Und vergessen war die Wiederkunft des großen Soldatenmeisters. Nur wieder unter die Fahne, so schnell wie möglich.

«Abgemacht, Vonlanthen.»

«Und darf ich Euer Gnaden meinen Rekruten vorstellen, den Jungo Balthasar von Jeriswyl?»

«Ist's was Rechtes?»

«Seine Majestät dürften sich Glück wünschen, wenn wir hundert solche Grenadiere zusammenbrächten.»

«Bring ihn einmal her, aber bald.»

« Merci, mon colonel.» —

Und dem Grafen lachte das Herz im Leibe, als er Balthasar Jungo zu sehen bekam.

Aus Jeriswyl meldeten sich aber nicht nur der Kaspar Vonlanthen und Balthasar Jungo zu den Hundert Schweizern, sondern der junge Herr vom Schlosse war auch einer von den Auserwählten. Herr de Boccard kam als Leutnant zu der Kompagnie. So war denn ein eifriges 298 Hin und Her zwischen dem Schlößlein und der alten Stadt Freiburg. Und man fragte sich, was da noch werden wolle.

Als der Tag heranrückte, da das junge Kriegsvolk die Reise nach Paris antreten sollte, ging der Sergeantmajor eines Abends nach der Stadt. Und weil er nun einmal, wie alle braven Freiburger, seines Heiligen im Himmel sicher zu sein begehrte, wollte er im Vorbeigehen noch seine Schuldigkeit tun in der Kapelle zu St. Wolfgang. Fast ward ihm weich zumute. Die Abendsonne lag so warm und goldig auf den Alleen und Matten. Überall lagerte der Herbstduft, und der Jura zog sein breites, blaues Band um die heimatliche Herrlichkeit, als wollte er zum Beisammenbleiben mahnen, sah er doch hinter sich alle Falschheit der Fremde. Und die Kirchen und Kapellen weitherum läuteten zur Vesper.

Da trat dem Vonlanthen an der Kapellentür eine gebeugte Frauengestalt entgegen. Die Maria Schneuwli war's, die im äußersten Hüttlein von St. Wolfgang gegen Jeriswyl hin einsam wohnte, weil ihre Tochter Katharina als Kammerjungfer im Schlößlein diente. Ja, das war so schlimm nicht. Fast jeden Sonntag hatten sich Tochter und Mutter gesehen. Wenn nicht daheim, so doch in der Kirche. Aber jetzt! O du Barmherzigkeit!

«Kaspar, Kaspar! Ist da nichts mehr zu machen?»

299 «Wo fehlt's denn, Maria?»

«Daß ihr Buben zu Kriege zieht, du mein Gott, das war von alters her der Brauch; aber nun nehmen sie mir auch meine Tochter, mein einziges Kind mit hinaus.»

«Maria, du bist nicht gescheit.»

«O du! Tu doch nicht dergleichen! Bist nicht du selber schuld daran? — Das weißt du so gut wie ich.»

«Da möcht ich wohl stolz sein drauf, Maria.»

«Der junge Herr im Schloß ist schon lang hinter dem Käthi her. Der Herzogin von Mortemart möcht er einen Gefallen tun. Die sucht doch ein treues Wesen für ihren Dienst. Eine Schweizerin will sie haben. Und da weiß der junge Herr nichts Besseres und dinget seiner Frau Mutter das Kind ab für die Herzogin. Es hat gar nicht gewollt. — Nein nein, schweig nur, es hat nicht von mir weg begehrt, bis — ach du barmherzige Mutter Gottes! — bis es vernommen hat, daß du mit hinaus gehst, nach Paris. — Nichts da! Ich hab's doch gehört mit meinen eigenen Ohren, wie sie sagte: ‹So, wenn noch einer von hier mitgeht...› O so sind sie, die Kindsköpfe!»

«Von alledem hab ich nichts gewußt, Maria. Das kannst mir glauben. Seit Monaten hab ich mit deiner Käthi kein Wort gesprochen. Das ist eins, und das andre: Ich tät mir an deiner Statt nicht so viel Kummer draus machen. Wer etwas werden will, muß in die weite Welt. Deine 300 Tochter ist hübsch, ankehrig und brav. Dafür gibt ihr hier niemand, was es wert ist. Draußen aber ist so was gesucht und wird mit Gold aufgewogen.»

«Ach Du barmherziger Himmel! Das ist's ja grad, was mir Sorge macht. Geh mir mit dem Gold! Mir wär's nützer, zu wissen, was ich tun soll, damit mein Kind brav bleibt. Weiß nicht, was ich auf mich nähme, Pestilenz und Kreuz.»

«Stift ein Bild da in die Kapelle. Etwa einen Engel in Kriegsrüstung, und bitt die Mutter Gottes, daß sie deiner Tochter so einen an die Seite stelle. Tags soll er sie über die Gassen geleiten, nachts vor ihrem Bette stehen, Gewehr in Arm.»

«Du bist ein Unflat, einer armen Mutter Herzensnot zum Spott zu machen.»

«Was Spott! Maria, ich mein's doch gut mit dir und deinem Kind. Unsereiner ist doch kein schlechter Kerl. Schau, jetzt geh ich grad noch hinein, und ein Vaterunser bet ich extra für die Kathrine.»

«Gott sei dir gnädig, Kaspar! Aber Spott darfst du mit mir nicht treiben. Gut Nacht.»

«Gut Nacht und leb wohl, Maria. Morgen zieh ich ins Feld.»

Eine ganze Strecke schon war sie gelaufen, als er ihr noch einmal aus der Vorhalle nachrief: «Maria!»

«Was denn?»

301 «Es ist mir ernst. Ich mein's gut mit der Kathrine.»

's ist wahr. Bis vor einer Viertelstunde hatte der Sergeantmajor an die Katharina Schneuwli nicht gedacht. Puh! Soldatenvolk! Das pflückt vom nächsten Aste herunter und morgen wieder vom nächsten. Aber grad just die alte Maria hat ihm jetzt eine Idee gegeben. Ma foi, man bleibt nicht ewig jung. Eines schönen Tags wird's ihm auch zu dumm werden, seine Haut für andre zu Markte zu tragen. Und dann? Ja, dann zieht man eben wieder in die Heimat, vertauscht den Säbel mit dem Karst — vom Muttenstüpfer zum Muttenhauer — und wer dann ein braves und hübsches Weib am Herde hat, dem ist Heil widerfahren im Leben. Sacre double, Kathrine, wenn du doch Zutrauen hast zum Kasper Vonlanthen — ein Schafskopf ist er nicht. Und jetzt hinein in die Kapelle und hingekniet, alte Kriegsgurgel! — Es sieht's kein spottlustiger Kamerad. Und übrigens, unter die Hundert Schweizer taugt nicht jeder Schweizer. Gut katholisch muß einer sein, und das ist der Kasper Vonlanthen immer gewesen, potz Himmelsakerment! — Und außerdem nur Schweizer welscher Zunge. Er ist zwar von Düdingen, c'est-à-dire vo Guin, et il parle un français, ventre saint-gris, daß es dem Tüüfel drab gruuset, justement ce qu'il faut.

Die Maria Schneuwli war nicht recht draus 302 gekommen. Ist er ein loser Vogel, der Kaspar, einer von denen, die im Kriege das Gewissen verloren haben und nicht mehr unterscheiden können zwischen gut und böse? — Aber man hat doch immer gesagt, er sei ein Soldat, um den sich die hohen Herren reißen. Und wenn's ihm nicht um die Gnade der Mutter Gottes wäre, wozu ginge denn ein Feldwebel zwischen Tag und Nacht in die Kapelle, he? Also, es steckt doch noch was Gutes in dem Menschen.

Und das wegen des Bildes. Ei nun, mag er seinen Spott haben! Er weiß nicht, was er geredet hat. Vielleicht in eines heiligen Engels Namen. Am End kommt's auf den Glauben an. Und wenn auf einer Mutter Herz der Spott zentnerweise gehäuft wird, ihr Gebet bricht durch.

So ging denn die Maria hin und bestellte sich beim Bildschnitzer solchen Gewappneten. «Gwehr im Arm» hatte der Kaspar gesagt. Das war wohl Spott. Oder vielleicht sagen sie halt so beim Militär. «Du weißt schon, wie's gemeint ist, Schnitzer, gelt? Kosten darf's auch nicht zu viel, denn ich bin eine arme Frau.»

Als sie wieder hinging und das Bild in Händen hielt, da kam's ihr vor, als wäre gar wenig Kunst dran gewendet. Und der Pfarrer, als er das ex voto weihte, hatte ein Lachen in den Augen und pries den frommen Glauben der Mutter. Dem Sakristan sagte er: «Hängs nur hin! Einen Kriegsmann soll's vorstellen. Ich 303 hätt's eher für einen Türllstock gehalten. Aber, wen's angeht, der weiß wohl, was es bedeutet. Gott segne der Maria ihren Türlistock!»

 

Potztausend, ja, die Tuilerien, das war nun etwas anderes als das Schlößlein zu Jeriswyl. Auch in ganz Freiburg war nichts, das einen Begriff davon geben konnte. Darum unterließ es Balthasar Jungo, den Lieben daheim in einem Briefe klarzumachen, wie und wo er jetzt wohne. Etwas wie ein Schwindelgefühl hatte ihn erfaßt, als er zum erstenmal die breite Fassade mit ihren fünf Gebäuden und den Flügeln und den endlosen Reihen haushoher Fenster vom großen Garten aus erblickt hatte. Und das Gewimmel buntgekleideter Menschen, wo immer einer den andern an Hoffärtigkeit überbot! Wie das zwischen den riesigen Rabatten und kreisrunden Bassins herumscharwenzelte, grüßte, lorgnettierte, fächerte, komplimentierte, lachte, schwatzte und Grimassen schnitt. Dazwischen standen vom Morgen bis zum Abend, in Regenschauern und Sonnenbrand, ewig in der gleichen verschrobenen Positur Marmorfiguren und wußten nichts anderes als schweigen und warten. Solche gab's ja auch daheim, sogar an Kirchen; aber Balz war im Traume nie eingefallen, daß er jemals zu solchen Geduldhelden in irgendeine Art von Verwandtschaft treten würde. Und jetzt war's — helf mir Gott! — doch so. Das gleiche Wesen hatte man sich zu eigen machen müssen. Dastehen auf seinem 304 angewiesenen Fleck, an einer Tür, auf einem Podest, einer Treppenstufe, wie ein Götz, Gewehr im Arm, Gewehr präsentiert. Der Hauptunterschied bestand darin, daß die Götter im Garten draußen schlimmstenfalls ein lockeres Tuch umhatten — manche hatten auch das fallen lassen — während die armen Hundert Schweizer, an Hals und Ohren wund, in dem mit Tressen schwer besetzten Waffenrock mit kaminartigem Kragen steckten und den in der Bergluft kantig ausgewachsenen Schädel in eine blechbeschlagene Bärenmütze gezwängt hatten, Schnatten auf der Stirn, Beulen am Hinterhaupt.

Wo war jetzt das Soldatenleben, das lustige, wo der Marsch mit Trompetengeschmetter, das Lagertreiben, der ruhmbringende Kampf, wo einer mit Küherarmen knackende Schädel zerbrosmen konnte?

Wo waren die Geschichten des Kaspar Vonlanthen? — Man bekam ihn nur dienstlich zu sehen, und das war jedesmal ein heiliger Schreck. Keiner brauchte seine fünf Sinne für sich. Der Grenadier fühlte sich in des Königs Rock verdammt eng, der Sergeantmajor schnauzte in des Herrn Leutnants Auftrag die Rekruten an, der Leutnant de Boccard hatte nur Ohren für den Capitaine des Gardes Grafen von Diesbach, der nur Augen für den Generalobersten Herzog von Mortemart, und der hob die Nase nur nach dem Winde, der aus den Gemächern der Majestäten 305 wehte. Manchmal, wenn er das so recht verspürte, kam Balz Jungo die Versuchung an, mit einem alle Vorhänge von oben bis unten zerreißenden Jauchzer das dämmrige Vestibül zu erschrecken. Aber er wußte längst, daß ihm das nicht mehr passieren würde. «Und wenn euch ein Imb Hornissen unter der Bärenmütze kitzelte — nicht den Schatten eines Zuckens will ich sehen», hatte der Vonlanthen seinerzeit seine Instruktion eingeleitet. Es war nicht bei Befehlen und Drohen geblieben. Man hatte sie auf jede mögliche Weise geguselt, erchlüpft, gezwickt, gestochen und mit den infamsten Witzen, die je unter einem Kasernendach ausgekrochen, zum Lachen gereizt. Das war das Schlimmste gewesen, und manch einer hatte sich gewünscht, diese Pein mit den Schrecken der Beresina, den Höllenqualen der Pontons von Cadiz zu vertauschen. Aber jetzt hatten sie's los. Und wenn der Teufel in Person von Mann zu Mann gekommen wäre, er hätte keinem einen Zuck abgelockt.

Armer Balz! Er kannte ihn noch nicht, den Verführer in seiner Meisterrolle.

Eines Tages stand er in der Galerie zwischen den innern Gemächern und der Wohnung des Herzogs von Mortemart. Und irgendwo war der Feldweibel. Man sah ihn nicht, aber es war, als zitterte die Luft von seinem Atem. Und jeden Augenblick schattete leisen Schrittes eine Hoheit oder Exzellenz vorüber. Die hatten keinen Blick 306 für die schönen Schweizermannen. Ihrethalb hätte der Herzog ebenso gut hölzerne Mannequins im Tressenfrack hinstellen können. Aber wehe dem Gardisten, der sich auf diese Achtlosigkeit verließ und einer Fliege wehrte!

Doch schau! Was kommt dort den Korridor entlang? Erscheint — verschwindet, erscheint — verschwindet. Immer im Lichteinfall eines Fensters flammt es auf, und im Schatten des Trumeau erlischt's. Balz stiehlt die Erscheinung nur mit dem einen Auge, denn den Kopf darf er nicht wenden. Es kommt näher, lautlos wie ein feckelnder Sommervogel. Was zum Kuckuck soll das bedeuten, daß dieses Gespenst am hellichten Tag des Grenadiers Herz an die Tressenwand wirft? — Still! — Starr! — Es kommt, ist da und ist... nein, es ist nicht die Katharina Schneuwli aus der alten Strohhütte von St. Wolfgang... und ist sie doch, aber sie heißt setzt Demoiselle Ninette — verparisert wie der Balz Jungo von Jeriswyl. Da stöckelt sie vorüber, eine Hutschachtel am Arm, knixt, wirft den rechten Fuß vor den linken und den linken vor den rechten, wiegt sich in den Hüften, knixt noch einmal und — ist vorüber, wendet sich im Trumeau-Schatten noch einmal. Und in dem Schatten funkeln ihre Augen.

Einen Atemzug lang schließt der Grenadier Jungo seine Augendeckel. Er sieht den Weg nach St. Wolfgang, den grünen Wald zur Linken, das Kapellentürmchen über den Bäumen zur Rechten. 307 Schwarzweiße Kühe stehen in der Weide gegen Ballisberg. Es rauscht und bimmelt... Knax! Schritte auf dem Parkett. — Still! — Starr! — Monseigneur de Montmorency.

Viele, viele noch gehen vorüber bis zur Ablösung, hohe Würdenträger, vornehme Erscheinungen, Intrigantenfratzen, Stolze und Kriecher, Prinzessinnen und Schleichkatzen; aber weder Schatten noch Licht löschen aus den Blick von Demoiselle Ninette, denn er war lieb, war wie ein unbeholfen treuherziges Geschreibsel in höfischem Umschlag.

Eine Stunde noch, und der Grenadier sitzt im Schlafsaal auf seinem Bettschragen, den Rock aufgeknöpft, die schwere Mütze mit dem rotweißen Panasch liegt auf der braunen Decke. Er lächelt in sich hinein. Keiner seiner Kameraden erfährt, vor wem er heut Gewehr in Arm gestanden.

Und wieder trifft's ihn nach achtundvierzig Stunden auf den gleichen Fleck. Und auf die Minute wie vorgestern flammt es auf und erlischt, den Flur entlang. Und schon auf die Entfernung von fünf Fenstern fängt das Soldatenherz an zu hüpfen.

Da ist sie, knixt, pirouettiert links, pirouettiert rechts und wirft dem Grenadier Kußhände, noch drei Fenster weit. Er blieb an ihren Augen hängen, aber kein Faden hat sich an ihm gerührt, nicht ein Haar an der Bärenmütze.

In der folgenden Woche hat Balthasar Jungo 308 den Dienst im Korridor am Tage, da abends großer Empfang ist. Die dienstbaren Geister schwirren von Tür zu Tür wie die Bienen von Kelch zu Kelch. Und richtig! — Sieben Fenster voraus strampelt das Herz des Grenadiers. — Es lichtert heute noch heller auf dem Schmetterling. Es wedelt etwas auf ihrem linken Arm. Ein Panasch von Straußenfedern, eine Gala-Coiffure der Frau Herzogin. Demoiselle Ninette knixt tief vor der Majestät Grenadier und läßt ihn aus ihren schönen Augen trinken, in langen Zügen. Und — husch — bäumelt sie auf den Zehenspitzen dicht an ihm, kitzelt ihn mit den Wipfeln der herzoglichen Straußenfedern an der Nase. «Salut, Balz Jungo», haucht sie an ihm hinauf. Und ihre Augen funkeln vor Uebermut ob der Grimasse, die er schneidet, um das Niesen zu verwinden.

Irgendwo fällt eine Tür ins Schloß, kaum hörbar; aber das Geräusch genügte, um den Vogel zu verscheuchen. Weg ist er, die Augen hingegen sind dageblieben wie Sonnenflecken. Er mag hinschauen, wo er will, überall lachen sie ihn an. — Und da soll einer noch stehen bleiben wie die Marmorbilder im Park! — Ist sie nun aufrichtig verliebt, oder hat sie nur den Teufel im Leibe, mich zu quälen?

Das nächste Mal, wie Balz Jungo den Sergeantmajor bei erträglicher Laune traf, wagte er die Frage, ob er nicht zur Abwechslung mal auf einen andern Posten kommandiert werden könnte, 309 vielleicht ins Freie oder, wenn's denn nicht anders zu machen wäre, ans Hofgitter gegen den Carousselplatz oder zum Pont tournant hinaus. Wenn's ihr ernst ist, so dachte sich der Grenadier, findet sie mich an jedem Posten. Hat sie's nur darauf abgesehen, mich zu necken, so wird sie nicht weit suchen.

Zuerst machte der Feldweibel ein paar Augen wie Zwölfpfünderhaubitzgranaten. Aber nicht diese furchtbaren Augen platzten, wie zu befürchten stand, sondern des Gestrengen Schimpfwortbehälter. Und dann folgte eine Standrede, der Jungo entnehmen durfte, daß seit den Anfängen der Weltgeschichte er der erste Grenadier sei, der es sich herausnahm, eine solche Bitte auszusprechen. Balz schämte sich wie ein nasser Pudel und verdammte heimlich die Demoiselle Ninette, die er für diesen Makel auf seiner Soldatenehre verantwortlich machte.

Der Sergeantmajor aber, der im tiefsten Grunde seines Herzens etwas wie Rührung verspürte ob der Zutraulichkeit seines Rekruten, begann sich für die Ursache des sonderlichen Einfalls zu interessieren.

«Warum will Er nicht mehr dort stehen? — Nu — hat er die Sprache verloren? Raus damit!»

«Ich... mag mich noch nicht genug g'meistern, Herr Sergeantmajor.»

«So? — Das Stillstehen hat Er noch immer 310 nicht los? — Wart Er mal, Grenadier Jungo, ich werd Ihm Gelegenheit geben, es zu lernen. Morgen kommt Er ans Hauptportal gegen den großen Garten, da kann Er dann was erleben. Präsentieren, bis Er nicht mehr weiß, ob Er zwei oder zwanzig Arme hat. Gesund! Gelegenheit, sich zu wärmen bei der Hundekälte. — Rechtsumkehrt! Auf seinen Posten, marsch!»

Andern Tags kam Balz in den Garten zu stehen, aber nicht ans Hauptportal, sondern an den Südflügel des Schlosses, weil der diensttuende Offizier erst beobachten wollte, ob der Grenadier Jungo für solch wichtigen Passierposten tauge. Es war bitter kalt. Der Garten lag unter einer Schneedecke, die Statuen steckten in Strohwickeln, die Bassins waren entleert und mit Laub gefüllt. Aber die Wintersonne blinkte auf der weiten Schneedecke. Während der ersten Stunde geschah nichts. Balz schielte häufig nach der Mittelallee, wo die meisten Menschen kamen und gingen. Es flatterten darunter allerhand Vögel, aber der eine, der gefürchtete und doch erhoffte, kam nicht.

Dafür nahte sich ein junger Herr mit zwei Knaben, die sich mit Schneeballenwerfen vergnügten, woran zu erkennen war, daß es Prinzen von Geblüt seien, denn andre Menschen durften im Tuileriengarten keinen Schneeball werfen. — Achtung, Balz! — Hoch in Arm Gwerr! Eins, zwei. Präsentiert 's Gwerr! Und starr wie ein Eiszapfen steht er. — Prachtvoll!

311 Kaum aber haben ihn die jungen Herren entdeckt, als ihnen der böse Geist von Paris eingibt, diese Grenadierbrust wäre eine wunderschöne Zielscheibe für Schneebälle. Es war zu einleuchtend, als daß einer sich noch lang besinnen konnte. Die Knaben tummeln sich, die Bälle fliegen links und rechts vorbei. Breichi, denkt Balz Jungo, ist keine königliche Tugend. Lächelnd — natürlich nur mit den Augensternen — hält er stand, das heißt, er blieb so starr, daß die kleinen Uebeltäter sich fragen, ob er aus Holz geschnitzt sei. Aber nun glaubt der Mentor eingreifen zu müssen, nicht etwa abmahnend, wie es sich für einen königlichen Hauslehrer schickte. Balz weiß noch nicht, daß die Schweizer Gardisten bei den Parisern ebenso verhaßt wie bewundert sind; aber heute bekommt er's zu fühlen. Der Herr Mentor will seinen Zöglingen eine ganz besondere Lektion geben. Und er kann's. — Patsch, sitzt ein großer Ball schon mitten auf des Freiburgers breiter Brust. Die Kleinen jubeln auf. Und — patsch! — kommt der zweite, mit der Kraft des Hasses geschleuderte, dem Grenadier mitten ins Gesicht geflogen. Jetzt lachen die Augen nicht mehr. «Hundsfott von einem Hofschranzen!» rufen sie. Aber wer versteht hier die Sprache eines ehrlichen Schweizergesichts? Der dritte Ball bringt die Bärenmütze ein wenig aus dem Senkel. — Das wird peinlich. — Doch die Probe ist bestanden. Der diensttuende Offizier hat den Unfug beobachtet 312 und kommt wie von ungefähr gegangen. Der königliche Pädagoge ist plötzlich mitsamt seinen Schützlingen verschwunden.

Es lohnte sich kaum, das Gewehr bei Fuß zu nehmen. Vor dem Offizier fliegt es wieder in die Höhe.

«Himmelsakerment, Jungo! Wie sieht Er aus? Weiß Er noch nicht, was ein königlicher Gardist seiner Soldatenwürde schuldig ist? — Warum hat Er den Lümmeln nicht die Kolbenkappe zu fühlen gegeben?»

«Herr Leutnant halten zu Gnaden! Prinzen von Geblüt...»

«Was Prinzen! — Ganz gewöhnliche gamins sind es. Weiß Er noch nicht, daß zurzeit gar keine Prinzen von diesem Alter im Schlosse weilen? Es sind die Bengel des Herrn Oberstallmeisters.»

Gegen den ungezogenen Hauslehrer ging eine Anzeige wegen ungebührlichen Benehmens gegenüber einer königlichen Schildwache durch alle Etappen des Dienstweges. Auf der vorletzten Stufe wurde sie ad acta gelegt als in diesen Zeiten inopportun.

Der Grenadier Jungo hingegen wurde dem Sergeantmajor Vonlanthen zu besonderer Überwachung und Instruktion zugewiesen mit dem Befehl, ihn an einen Posten zu stellen, wo er Gelegenheit finde, die bei Hofe verkehrenden Persönlichkeiten von Angesicht kennenzulernen. So kam Balz wieder in den Korridor vor den innern 313 Gemächern zu stehen. Es war dort wie ehedem, mit dem einzigen Unterschied, daß nun des öftern die martialische Gestalt des Feldweibels Vonlanthen aus einer entfernten Nische des Ganges hervortrat.

War es eine Einbildung des jungen Grenadiers, oder hatte er richtig geraten: er gewann immer deutlicher den Eindruck, Demoiselle Ninette sei der gehorsame Trabant und ein bewußt handelndes Marterinstrument in den Händen des Sergeantmajors, der sich von der Heimat her eine Art Patenschaft über das Mädchen angemaßt hatte und hierin seiner Sache sicher schien.

Ninette zeigte sich sehr erfinderisch in Grausamkeiten. Zu den Tanzschritten, die ihr mit jedem Tage besser zu gelingen schienen, begann sie gelegentlich den ranz-des-vaches zu summen. Sie zupfte Balz am Ohr und flüsterte ihm heimatliche Liebenswürdigkeiten zu. Und Balz lernte in ihrer Schule das Verbeißen immer besser. Hätte er nicht ein paar treuherzige Augen im Gesicht gehabt, die keinen Zweifel über seine Gefühle zuließen, so hätte sie, wie die vermeintlichen Prinzen im Garten, auf die Idee verfallen können, er sei von Holz. «Und ich werde ihn doch zum Bougieren bringen», schwur sie, erst sich selber und endlich auch dem Kaspar Vonlanthen.

Eines Tages, als sie wieder einmal all ihre Künste umsonst versucht hatte, stellte sie sich genau vor den Grenadier hin, machte ihm einen Knix, 314 der halb huldigend, halb höhnend ausfiel, und flüsterte ihm mit flammenden Blicken zu: «Du — bist — und bleibst — ein — Türlistock. Adieu.»

Diesmal glaubte Balz, es sei ihr letztes Wort, er werde von nun an seine Ruhe haben vor ihr. Er ahnte nicht, daß er ihr fast so traurig nachgeblickt hatte wie damals, als sie ihm mit dem ranz-des-vaches hatte Tränen entlocken wollen. Sie aber hatte den Blick aufgefangen und wurde ihn so wenig los wie Balz den ihrigen. Eine ganze Woche lang suchte sie diesen Blick in ihrem Gedächtnis erlöschen zu lassen. Balz bekam sie nicht mehr zu sehen.

An einem düstern Januartag aber hatte er kaum den Posten im Korridor bezogen, als sie wieder erschien. Sie trug ein kleines Holzgestell unterm Arm, wie es die Frauen zum Plätten von Rockärmeln gebrauchen. Erst schien sie achtlos an Balz vorübergehen zu wollen. Plötzlich aber wandte sie sich um, warf die linke, dann die rechte Hüfte nach vorn, knixte, sagte: « Bonjour, monsieur Türlistock!» und stellte zu seinem Erstaunen das Gestellchen dicht vor seine Füße. Und ehe er nur überlegen konnte, was nun da werden sollte, stand sie mit den Fußspitzen drauf, faßte mit beiden Händen in den Balg der Bärenmütze und drückte ihm mit ihren frischen blühenden Lippen einen Kuß auf den Mund. Und — husch — hinunter! Brett untern Arm. Knix und auf und davon.

315 Balz leckte sich die Lippen wie eine Katze, die Milch getrunken hat.

Aber nun war's genug, nämlich auch für den Sergeantmajor, der vom Ende des Korridors diese neueste Erprobung des Grenadiers betrachtet hatte.

Gegen die übermütige Soubrette ging eine Anzeige wegen ungebührlichen Benehmens gegenüber einer königlichen Schildwache durch alle Etappen des Dienstweges. Auf der vorletzten Stufe, das heißt bei der Frau Herzogin von Mortemart, wurde es als opportun erachtet, der Katharina Schneuwli ein für allemal den Korridor zu verbieten, sintemal man zu dero Gemächern auf anderm Wege viel rascher gelangen konnte.

Dieses automatische Funktionieren seines lebenden Marterinstrumentes hatte der Sergeantmajor nicht vorausgesehen. Dafür erlebte er zwei Monate später die hohe Genugtuung, mehr politischen Scharfblick bekundet zu haben als der Capitaine Souscommandant der Hundert Schweizer; denn ganz unversehens lief die Kunde den Korridor entlang, daß Napoleon Bonaparte den Boden Frankreichs betreten habe. Und nach wenigen Tagen schritt der große Soldatenmeister selbst durch die Galerie, während die Fenster vom Beifallsgeschrei seiner Getreuen klirrten.

Zum Glücke bekam Kaspar Vonlanthen den Vergötterten nicht zu sehen. Ein stillschweigendes Einvernehmen sämtlicher braven Schweizersoldaten hatte ihn mit allen Kameraden in die Heimat 316 geführt, bevor die Versuchung eines abermaligen Fahnenwechsels an ihn herantreten konnte.

 

Und wieder war's ein heißer Erntetag. In goldener Breite lag die gemähte Brotfrucht des alten Jungo, und über das üppige Gewühl der Wälder und Höfe grüßten die schieferblauen Zacken der Freiburger Berge. Dem Kaspar Vonlanthen war's schon am Morgen zu warm zum Handanlegen. Man denke, was das für ein Durst werden müßte bis Feierabend, wenn man schon frühmorgens den Schweiß zum Ausbrechen brächte! Darum wanderte er, die Stummelpfeife im Mundwinkel, der Stadt zu. Dort war doch wohl etwas Neues zu erfahren vom Kriegsschauplatz. Die Schlacht bei Quatre-Bras war geschlagen, und jetzt mußte es auf die «Gnepfe» kommen.

Da kam mit stattlichem Gespann und knarrendem Wagen Balz Jungo vom Dorfe herausgefahren. Er saß auf dem Sperrscheit und legte die Hand an den breitrandigen Strohhut, und als Kaspar die Pfeife aus dem Munde nahm, hielt er die Pferde an; denn achtlos weiterzugehen, wenn der Sergeantmajor sich zum Reden anschickte, hatte Balz noch nicht wieder gelernt.

«Wenn wir jetzt draußen wären, Balz!» fing Vonlanthen an.

«Ja», meinte Jungo, «das ließe ich mir besser gefallen als das ewige Herumstehen und Paradieren im Palais. Man hat ja darob ganz vergessen, 317 wozu man seine gesunden Knochen und Gelenke hat.»

«Balz, Balz! Was du in Paris gelernt hast, wird dir noch zugute kommen. Nur Geduld!»

«Will's hoffen. — Hü!» Und abermals salutierend fuhr der Bauernsohn weiter.

«Schon wahr», dachte er im Laufe des Tages, wenn auf seines Vaters Äckern ihm das Gesinde parierte wie einem Drillmeister, ohne daß er ein einziges hartes Wort von sich geben mußte. Besser als ein geschliffener Spiegel zeigte ihm das fleißige Völklein, welchen Eindruck ein wackerer Soldat macht, auch wenn er nur in Hemd und Zwilchhose dasteht. Bei dem schönen Wetter waren Meister und Knecht froher Laune, und die Arbeit lief so frisch, daß man früher als erwartet dem Ende entgegensah. Unter den Garbenbinderinnen war die flinke Demoiselle Ninette vom Schloßgut. Das war so der Brauch. Die Herrschaft ließ ihre Dienerschaft mit angreifen, wo sie wollte, damit sie sich ein Recht erwarb, bei der «Sichlete» mitzutun. Ninettes wohlgepflegte Hände schafften merkwürdig behende, und ihre Munterkeit wirkte Wunder. Der verdrossenste Erdknecht wurde zum frohen Gesellen, wenn er diese Taglöhnerin zur Seite hatte. Aber es mußte von Blindheit geschlagen sein, wer nicht merkte, warum Ninette bei der Ernte helfen wollte. Sie werkte dem Meisterssohn in die Augen. Auf dem Stoppelfeld gelingen die Tanzschritte nicht, aber Ninette wußte 318 mit der Arbeit zu kokettieren. Wen hatte man je so spielend die Garben binden sehen? Wenn sie sich mit der goldenen Last aufreckte und glühenden Gesichts daherschritt wie eine Gefährtin der Demeter, so folgten ihr die bewundernden Augen aller Schnitter.

Balz wußte, für wen die schlanke Gestalt sich straffte, für wen sie in der heißen Augustsonne sich über die knisternden Halme beugte, und er lachte still in sich hinein. Er tat seinem Vater den Dienst des Meisterknechts und versagte sich die Rechte des Sohnes. Nicht an eine Fingerspitze ließ er das schöne Mädchen herankommen. Auf keinen ihrer Scherze ging er ein. Das Schnittervolk wunderte sich darüber. Die einen sahen darin den Stolz des Bauernsohnes und gaben sich damit zufrieden. Andere, die sich besser auskannten im Leben des Dorfes, sagten: «Er nimmt sich in acht vor dem Kaspar Vonlanthen. Seht, dort hinter dem Lebhag geht die Kriegsgurgel, das Räuchlein seiner Pfeife verrät den Laurer.» O ja, den scharfen Augen Balthasars konnte der Patrouillierende kaum entgangen sein. Es gingen weder Kardinäle, noch Staatsminister, weder Gardekapitäne noch Hofdamen vorüber, aber immerhin wachsame Curés und neugierige Damen vom Schloß. Aber auch um dieser willen würde Balz Jungo, der Sohn und Erbe des Pächters, sich keine ländlichen Zärtlichkeiten versagt haben. Hier war er frei.

319 Niemand erfuhr, warum Balz Jungo so kühl blieb. Wer es wissen wollte, der hätte mit des Bauernsohnes eigenen Augen über Feld schauen müssen, mit den Augen, welche tagsüber Ninettes Gaukelspiel unmerklich verfolgten und abends vom Hof aus die Schar der armen Ährenleser auf dem abgeernteten Acker beobachteten, unter denen eine alte, gebückte Frau mühsam ihr Krättlein füllte — Ninettes Mutter.

Wenn abends das Glöcklein von St. Wolfgang Katharina Schneuwli heimrief vom Felde, so folgte ihren tänzelnden Schritten — so eine wird doch nicht müde bei der Arbeit? — der Spott der Schnitterinnen. «Abgeblitzt!» hieß es. Aber Ninette hatte in Balzens Augen geschaut und ging unverdrossen ihres Weges. Er rächt sich nur für die süße Plage, die ich ihm in Paris angetan. Nur Geduld! So tröstete sie sich.

Aber nun kam das letzte Haferfeld an die Reihe. «Was dann, wenn er wiederum den steifen Grenadier spielt bis zum Feierabend und die lustige Erntezeit vorüber ist? An der Sichlete wird er für mich keine Zeit übrig haben. Ich muß ihm helfen. Heute oder nie.»

Das letzte Haferfuder schwankte feldein. Es wuchs nur noch in halbe Höhe. Man konnte die Garben von Hand hinauflangen. Dort stand er, der Meisterssohn, die leere Gabel in der Hand, und ließ den Wagen anfahren. Es lag noch eine einzige Reihe von Garben. Die Schnitterinnen 320 blieben zurück und griffen nach den Rechen zum Nachräumen. — Jetzt oder nie! Ninette hatte die Hemdärmel hochgestreift. Ihre runden Arme schlangen sich herrlich um die Garben. Auf den stolz erhobenen Kopf schwang sie die goldene Bürde. Mit funkelnden Augen schritt sie dicht an Balz vorüber und wischte ihm wie von ungefähr, doch ganz ohne Not, mit den kitzelnden Ähren das heiße Gesicht.

«He — du!» — Aha.

Die Garbe — Ninettes letzte — fliegt auf den Wagen. Blitzschnell wendet sie sich und kommt mit den hocherhobenen schönen Armen auf Balz zu, als wollte sie eine neue Garbe umfangen.

Da tut er einen Schritt zurück, die Absätze schlagen zusammen. Kopf hoch! Blick gradaus! Und präsentiert die Gabel, als stünde er im Korridor der Tuilerien. Starr!

Ninettes Arme fallen herab. Sie weiß nicht, daß ihre kleinen Hände sich zu zornigen Fäusten ballen, daß ihre Augen Feuer sprühen.

«Türlistock!» knirscht ihr selbst im Zorn noch liebreizender Mund. Aber die Lippen erbleichen und zucken. Sie wendet sich und geht. Balz bleibt in Stellung, bis er sicher ist, daß sie nicht mehr zurückschaut. Sie schreitet das Feld entlang, den Kopf hoch und zur Seite gewandt. Die Gefährtinnen brauchen nicht zu sehen, daß ihr Tränen über die braunen Wangen rinnen.

321 Unter den Riesenkastanien des Schloßhofes ist Ninette verschwunden.

Es war noch früh, und das Mädchen nahm seine Arbeit im Schlosse wieder auf. —

Das Glöcklein der Kapelle hatte ausgeklungen. Mädchen wanderten Arm in Arm, voll froher Erwartungen dem großen Pachthof des Jungo zu.

«Ninette, warum bist du noch hier? Hörst du nicht, der Geiger streicht in der Tenne schon seine Saiten!»

«Madame, ich gehe nicht.»

Die Dame des Hauses musterte das schmollende Gesichtlein.

«Ninette, was soll das?» fragte sie aufmunternd.

«Madame, ich danke für die gnädige Erlaubnis; aber ich gehe nicht.»

«Steht es so schlimm um deine Mutter?»

«Meine Mutter?»

«Sie ist doch eigentlich recht krank, die arme. Sie hat es dir wohl nicht eingestehen wollen.»

«Madame, wenn Sie gestatten, will ich gleich nach ihr sehen.»

«Du könntest nichts Besseres tun.» Ninette knixte und lief.

 

«Balz, wo hast du die schönste deiner Glaneusen?» fragte mit listigem Zwinkern Kaspar Vonlanthen, der, seinen Knaster rauchend, dem Tanz in der Tenne zusah und dazu dem Wistelacher mit Hingebung huldigte.

322 Und Balz Jungo zwinkerte zurück: «Wir haben was gelernt in Paris, Sergeantmajor!»

«Recht so, Grenadier, das gefällt mir.»

Als der Feldweibel andern Tags seinen Rausch ausgeschlafen hatte, besann er sich auf das kurze Gespräch. In sich hinein schmunzelnd, sagte er halblaut: «Hat sich nicht fangen lassen, der Balz. Tant pis pour lui! Mir kann's schon passen.»

Tubäkelnd träppelte der Sergeantmajor den Zäunen entlang und guckte fleißig über die Hecken des Schloßparkes. Aber Ninette bekam er nie zu Gesicht. Wo zum Kuckuck ist die fameuse Glaneuse hingekommen? — Der alte Nichtstuer strich der Straße nach, suchte und fand nicht und wäre wohl steinalt geworden ohne zu finden, hätte er nicht eines Abends um die Melkzeit aus dem Stalle der Witwe Schneuwli eine gar liebliche Stimme vernommen. Die sang:

« Dedans ma chaumière
Pour y vivre heureux,
Combien faut-il être?
if faut être deux.

Oui ma chaumière,
Je la préfère,
Avec toi, avec toi,
Au palais du roi.
»

« Avec qui, mademoiselle?» fragte Kaspar, an die Tür tretend.

Da verstummte die Sängerin. Und sie wollte 323 sich nicht sehen lassen. Der Kuckuck weiß, wie sie es anstellte; aber sie wußte immer zu entkommen, heute und jeden Abend, wenn der Schnauzbart an die Tür oder gar in den Stall trat und fragte: « Avec qui, mademoiselle?»

Des Morgens aber, während der ci-devant sergeant-major des Cent Suisses noch schnarchte, schritt sein ehemaliger Rekrut in schweren Schuhen hinterm Pflug und spähte über Feld. Da sah er die Demoiselle Ninette hantieren mit Melkkübel, mit Sichel und Mistgabel, mit Gertel und Besen. Jetzt wußte man's: sie lebte ihrer armen kranken Mutter.

«Nun gefällst du mir», sagte Balz Jungo leise vor sich hin.

Und eines Abends, als eine Woche um war, kam Kaspar Vonlanthen eben wieder des Weges und lauschte seelenvergnügt:

« Oui ma chaumière,
Je la préfère,
Avec toi, avec toi,
Au palais du roi.
»

Wie gewohnt rief er in den Stall: « Avec qui, mademoiselle?»

Da trat stramm wie in den Tuilerien Balz Jungo aus der Stalltür, präsentierte die Mistgabel und rief starren Blickes: « Sergeant-major! Avec moi, Grenadier Türlistock.»

«Ha! Sacre double! Was soll das heißen, Grenadier?»

324 «Es soll heißen, daß hier niemand passiert. — Wir haben etwas gelernt in Paris.»

Und eine liebe Stimme fügte bei:

« Oui ma chaumière,
Je la préfère,
Avec toi au palais du roi.
»

Ninette trat unter die Tür, schlang ihre schönen Arme um den Hals Balz Jungos, zog seinen Kopf zu sich herunter und küßte ihn: « Oui, avec toi.»

Drinnen aber im Stüblein, auf reinlichem Krankenlager, murmelte Mutter Schneuwli: «Es ist doch so, die Mutter Gottes hat mir meinen Türlistock gesegnet. Sie hört auf die Stimme des Mutterherzens.» Und das Glöcklein der Kapelle von St. Wolfgang, in welcher das hölzerne Männlein baumelte, rief sein Amen in den stillen Herbstabend.


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