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Christens Chrigi

In einer Mulde unweit des sogenannten Landstuhls ob Neuenegg liegt ein freundliches Heimetli. Sauber blicken die Fenster gegen die Abendsonne. Ordnung herrscht um das kleine Bauernhaus herum. Alles ist an seinem Platze. Kein Unrat verlangt nach einem Besen. Der Krautgarten ist bis unter die Zaunscheieli hinaus wohl gepflegt, und die Katze schnurrt behaglich auf der exakt aufgebauten Scheiterbeige an der Fensterwand.

Feierlich still liegt der Sonntag über den saftstrotzenden Wiesen, in denen der Löwenzahn an Sonne auffängt, was nur vom blauen Himmel herunter zu erhaschen ist. Soweit das Auge reicht, stehen um die Höfe herum die Baumgärten in weißer Blust, und unten, im Talgrund, glitzern zwischen dem üppig wuchernden Schachenholz die Wellen der Sense.

Ausgestorben scheint das Heimet, welches, wie nicht leicht ein zweites, den Namen Heimat verdient — und doch ist mir, als hörte ich leise irgendwo reden. Ja, schau, nur um ein paar Schritte um die Hausecke steht ein stattlicher Apfelbaum, ein stolz aufgebauter und doch luft- und sonnendurchfluteter Dom von wunderbar weißer und rosig angehauchter Blust, auf dunkles Geäste gestützt und von summenden Bienen umschwärmt. 269 In seinem duftig leichten Schatten sitzt ein Mann, rüstig noch, aber doch schon reichlich mit Silberfäden geziert im Haupthaar, das sein freundlich-ernstes Antlitz krönt. Er spricht zu einem jungen Paare, das ihm aufmerksam zuhört, indessen seine Frau, die Bäuerin, ihre Blicke mit Wohlgefallen bald auf dem beredten Gesicht ihres Mannes, bald auf dem stattlichen Paare ruhen läßt. Die Tochter ist's und ihr Mann. Der arbeitet werktags drunten in der Fabrik, sparsam und fleißig, aber sobald der Alte müde wird, soll er auch tagsüber hier oben bleiben und den kleinen Hof bebauen. So ist's abgemacht, und alt und jung sieht der Erfüllung dieses Wunsches in froher Zuversicht entgegen.

Heute löst der Bauer ein zweites Versprechen ein. Er will den Jungen sagen, wie er zu dem Heimet gekommen und was der Grundstein seines Glückes sei. Nirgends könnte das besser geschehen als unter diesem blühenden Apfelbaum, der selber ein lebendiger Zeuge der Familiengeschichte ist und dessen Schatten der Bauer mit der Andacht betritt, die man einem Gotteshaus schuldet.

«Wir Röschen», so erzählt just der Bauer, der offenbar auch dann und wann seine Zeitung las, «haben es wie die Könige von Dänemark. Von alters her wird bei uns der Erstgeborene Christian getauft. Aber wie es so geht, die Leute machen aus dem schönsten Namen jeweilen das, was ihnen mundgerecht ist, und je böser das Maul, 270 desto Wüsteres hängen sie dem lieben Nächsten an. Und es ist doch dem Mitmenschen noch nicht zuviel Ehre angetan, wenn man ihm den Namen gönnt, den er als ein unverdorben Kindlein bei der Taufe empfing. Item, der erste unseres Geschlechtes, von dem ich zu berichten weiß, mein Urgroßvater, lebte in der Gegend von Ersigen unter dem Namen Flueh-Chrigel. Ob er sein Schicksal verdient und ob damit die Verhunzung seines Namens zusammenhing, was weiß ich? Sicher ist, daß er, einst ein hablicher Bauer, um all sein Gut gekommen ist und in einem armseligen Hüsi an der Flueh seine letzten Tage in Not und Verlassenheit beschließen mußte. Seinen stattlichen, aber verlotterten Hof in der Bachzelg hatte einer an sich gebracht, der sich zu kehren wußte. Bald schaute das schöne Bauernhaus wieder stolz über die Felder als eines der vornehmsten in der Gemeinde. Des Flueh-Chrigels Ältester, Christen genannt, war auf dem Hübeli, einem Nachbarhof der Bachzelg, verdinget. Schon als ein Röcklibueb kam er dorthin, und es ging ihm nicht übel. Der Bauer legte ihm sogar ein paar Dublonen an Zins, damit der arme Büebel einmal mit einem Zehrpfennig in der Tasche seinen Weg suchen könne. Das war recht. Aber ein Leid ward ihm doch angetan. Irgendein Stürmi, der nicht weiter dachte als seine vom Herumhöckle rot gewordene Nasenspitze, sagte ihm einmal, als er am Hübeli die Schafe hütete: ‹Schau, Chrischteli, 271 der schöne Hof da drüben in der Bachzelg, der gehörte von Rechts wegen dir. Er ist deinem armen Vater, als er Ungfell hatte, entrissen worden.›

Da war es um des armen Hüterbuben Ruhe geschehen. Ein Verlangen schlug in seinem Herzen Wurzel, das zu stark war für das auf die Barmherzigkeit der Menschen angewiesene, hilflose Kind. Es trieb noch tiefer seine gierigen Wurzeln, als auf sein Herumfragen hin andere Leute die Aussagen jenes Schwätzers bestätigten und bald ein jeder sagte: ‹Ja, du bist meiner Seel ein armer Tropf, Chrischteli. All Tag den schönen Hof, den dein Vater verspielt hat, vor der Nase, und so um den Gottslohn verdinget sein müssen. Dir ist übel angerichtet worden in dieser Welt.› Es kam hinzu, daß einmal der Lehrer in der Schule sagte, es sei auch schon geschehen, daß einer mit nichts angefangen habe und als ein reicher Mann gestorben sei. — Mehr brauchte es nicht. Hätte Chrischteli jeden Tag ein gemästet Kalb aufgetragen bekommen und Speck und Nidle mehr als genug, er wäre dennoch hungrig geblieben. Die Bachzelg muß mein werden, oder ich will nicht mehr Rösch Christen sein, so schwor er sich. Er arbeitete, wie kaum je ein armer Bueb gearbeitet hat, sammelte Nägel, verlorene Hufeisen, Lünge und anderes mehr, auch Packfäden und Lumpen, und erraxete sich Batzen um Batzen. Aber, du lieber Himmel, bis einer das Geld zu einem Hof beisammen hat!

272 Wer es merkte, spottete sein. Aber ‹wartit ume!› dachte Chrischteli. Wahrhaftig, es kam eine Zeit, da die Spötter sich zublinzelten und sagten, sie solle der Güggel bicken, wenn sie nicht noch erlebten, daß Rösch Christen auf des Vaters verlorenem Hof Einzug halte. Er wurde nicht nur ein fleißiger und ankehriger Knecht. Christen war auch von ansehnlicher Gestalt, und der zusammengehaltene Ausdruck seines Gesichts weckte jedermanns Vertrauen. So war es denn nicht allzu verwunderlich, daß ihm ein Bauer von Niederösch seine Tochter zur Frau gab. Alsbald wurde sie in sein Streben eingeweiht, und nun wurde zweispännig darauf los gefahren. Die beiden gönnten sich kaum das Allernötigste. Mit lachenden Augen sagte die junge Frau, sie wolle gern ein wenig bös haben, das schade niemandem etwas, wenn er dafür die Zuversicht hegen dürfe, einmal auf einem fetten Hofe zu sitzen. Nein, sie gönnten sich selber nichts; aber der liebe Gott, der weiter sieht als nur so ein wenig über Martistag oder Lichtmeß hinaus, gönnte ihnen mehr als sie verdienten. Er schenkte ihnen einen kleinen Chrigi und nach zwei Jahren einen Hans und dann noch drei Mägdlein. Nun wollten diese alle, lang bevor sie mit an den schweren Wagen gespannt werden konnten, ernährt und gekleidet sein, und das paßte nicht in den Finanzierungsplan des Christen. Aber sie waren nun da und wollten gelebt haben. Es 273 half also nichts anderes als ein noch ärstigeres Hineinliegen in die Stränge.

Die Großmutter in Niederösch sah dem mit Sorgen zu. ‹Der Tuusig Gottswille›, mahnte sie ihre Tochter, ‹gönnet euch auch einmal Ruhe!› Aber Änneli, die Tochter, wollte nichts davon wissen. ‹Wenn wir erst einmal so weit sind›, sagte sie, ‹dann können wir Sonntag haben, soviel wir wollen.› ‹Schon recht›, gab die Großmutter zurück, ‹aber ein Hof fordert gesunde Kräfte und nicht aufgebrauchte Menschen.› ‹Unsere Buben sind dann auch noch da›, vertröstete Änneli mehr sich als die Mutter.

Das hatte der kleine Chrigi gehört, und wie einst sein Vater über die Worte nachsann, die man ihm beim Hüten gesagt, so behielt auch er, was die Mutter gesprochen. Und auf den gleichen guten Ackergrund fiel bei ihm, was der Pfarrer nach der Taufe des jüngsten Schwesterleins zum Vater sagte: ‹Es ist recht, Christen, daß ihr so fleißig seid, du und deine Frau, aber ihr sollt darüber nicht vergessen, was der Apostel uns lehrt: So liegt es nun nicht an jemands Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen. Das gilt ebensowohl für unser Sorgen um Geld und Gut wie für den Frieden der Seele.›

Ob diese Worte in Chrigi den Grund legten zu seinem Denken und Handeln, oder ob er es als besondere Gnadengabe mit auf die Welt 274 bekommen, weiß ich nicht; aber es zeigte sich mehr und mehr, daß dieser Knabe den Sinn des Lebens besser erfaßt hatte als hundert Menschen um ihn her. Er hatte begriffen, daß das Geheimnis des Glücklichseins darin bestand, ein blindes Vertrauen in Gottes Vatergüte und Allmacht zu fassen. Und das setzte ihn instand, sich für seine Nächsten herzugeben, ohne zuvor nachgerechnet zu haben: was Nutzens erwächst mir daraus?

Er machte seines Vaters Sache zur seinen und wurde ihm eine fühlbare Hilfe in einem Alter, wo andere noch an nichts anderes denken als an Lust und Freude des Lebens und es als selbstverständlich voraussetzen, daß Vater und Mutter sie auf Händen tragen. Chrigi schwang mit seinen Knabenhänden den Karst und freute sich im geheimen darauf, daß er einst das seine zur Wiedergewinnung des Bachzelghofes werde beigetragen haben. Ja, Chrigi tat mehr als das. In seiner jugendlichen Seele formten sich die Wünsche zu Gebeten um Erfüllung der Wünsche seines Vaters. Er wußte ja auch nicht, daß Wünsche und Sorgen, die einem vor den Menschen Ansehen verschaffen, vor Gottes Urteil töricht sein können. Er würde sich auch durch solche Erkenntnis nicht haben stören lassen, denn er glaubte, daß Gott Wege wußte aus des Menschen eitlem Bemühen zu dauerndem Glücke.

Und wir, die wir zurückblicken auf eines 275 Hauses Geschichte, wir wissen, daß Saat und Ernte die Geschlechter überdauern und daß der Glaube der Väter die Kinder durch die Stürme der Zeiten trägt, während Gott ihre Torheit am Hause vorbei ins Weite strömen läßt. Wir wissen auch, daß die Erde Gottes ist. Er kann jedem, der durch der Menschen Habgier von der Scholle seiner Väter vertrieben wurde, eine neue Heimat schaffen.

Glück und Unglück unserer Vorfahren offenbaren uns die Kraft ihres Glaubens und Gottes Eingreifen ins Menschenleben. Auf den Glauben kommt es an, denn im Dunkel, das ihren Weg bedeckte, konnten sie nicht sehen, wo es mit ihnen hinauswollte.

Christens Chrigi sollte auf das Frühjahr vom Herren kommen, als mitten im Winter der Kriegslärm losging. Es hieß schon vor Neujahr, die Franzosen wollen ins Land hereinbrechen. Die Jungmannschaft wurde aufgeboten. Der Bachzelgbauer war gestorben. Der Sohn war Dragoner, der Knecht Füsilier. Beide mußten ins Murtenbiet marschieren. Der Stall stand voll Kühe die gemolken sein wollten. Da machte sich denn die Bäuerin an unsern Christen heran und bot ihm guten Lohn. Ob sie sich dabei gedacht, es müßte dem Hofe zu besonderm Segen werden, wenn sie dem um sein Erbe gebrachten Manne Vertrauen schenkte und die Stalltür auftat, was weiß ich? Sie war jedenfalls eine von denen, die 276 im Glück ihres Gottes nicht vergessen und sich durch das Ungemach des Nächsten demütigen lassen. Christen spielte nicht den Gekränkten. Er dachte vielmehr, vielleicht tue ihm das Gfell diese Tür auf. Wenn der Mensch in sein Vorhaben verrannt und verschossen ist, so kommen ihm die törichten Gedanken wie das Unkraut auf dem Acker. Christen fuhr es im Kopfe herum, so ein Dragoner im roten Rocke sei gar leicht zu treffen. Es könnte wohl geschehen, daß der Bäuerin Sohn nicht aus dem Felde heimkehre. Bis dahin hätte er, Christen, Gelegenheit genug gefunden, sich der Bäuerin wert zu machen, er wolle sich schon stellen, daß sie nicht zu klagen hätte. Freilich, er habe Weib und Kind; aber wenn ihm Glück beschieden sei, so werden ihm diese nicht im Wege stehen. Auf alle Fälle käme er dem ersehnten Bachzelghof um einen guten Schritt näher. Und er arbeitete, als wäre alles, was ihm anvertraut wurde, sein Eigentum.

Unterdessen marschierten sie drüben an der Sense, Saane und Aare hin und her, von den Franzosen genarrt und hingehalten, bis der Rat uneins wurde und darüber das Vertrauen verlor, in sich selbst und in die alte Kraft, welche das Vaterland groß gemacht hatte. Und das Volk verlor das Vertrauen in seine Obrigkeit. Jetzt wußte der Franzos, daß er's wagen durfte, und unversehens hörte man die Kanonen donnern, von Solothurn bis nach Freiburg hinein. Da 277 erging der Landsturm, und alles, was eine Waffe zu tragen vermochte, sollte marschieren.

Es waren auch noch Leute da vom zweiten Aufgebot, die vorerst nachrücken sollten, und zu denen gehörte der Kanonier Rösch Christen. Da war nun guter Rat teuer. Änneli schlang ihre Arme um Christens Hals und jammerte: ‹Gang mer nid, gang mer nid, Chrischte! Lue doch dyner Ching da! U was sött i ohni di?› — Tief schnitt es Christen ins Herz; aber er wußte, was er zu antworten hatte. Hatten nicht tausend andere Weib und Kind verlassen, um die Freiheit retten zu helfen, in der allein der Schweizer leben kann? Es galt einzustehen für die gemeinsame Sache. — Aber da war eben noch das andere. Hielt er nicht mit seiner Mannesfaust das Glück am Zipfel? Stand er nicht schon mit einem Fuß auf der Schwelle zum Endziel seines mühevollen Lebens?

Chrigi sah der Mutter Tränen rinnen, sah des Vaters Niedergeschlagenheit, hörte das Jammern der Bachzelgbäuerin, das Brüllen der Kühe, die gefüttert und gemolken sein wollten. Füttern, ja das hätte er wohl fertig gebracht; aber ein Dutzend Kühe melken? Er war wohl kräftig und gelenkig, ein hübsch Bürschlein, aber nun einmal noch nicht voll ausgewachsen. Einen vollgültigen Bauernknecht abgeben konnte er nicht; aber — vielleicht einen braven kleinen Kanonier. Ja, auf einmal kam's ihn an, er wollte helfen, die Franzosen verjagen. Dazu taugte er wohl schon. Und 278 so mit dem Jungvolk zu Felde ziehen, wäre das nicht schön?

Christen, dem Vater, war zuerst die Sache nicht recht. Hatte es noch einen Sinn, die Bachzelg zu erwerken, wenn sein Sohn vor dem Feinde bleiben sollte? — Aber Chrigin hatte die Begeisterung gepackt, er wollte gehen. Es pressierte, denn immer von neuem erging der Hilferuf der Glocken, und es dünkte einen, das Schießen komme näher und näher.

Der Vater stach neue Löcher in sein weißes Riemenzeug, um es der noch schmächtigen Gestalt Chrigis anzupassen. Dennoch blieb ihm alles zu groß. Der Hut mit dem kleinen schwarzroten Federbusch deckte ihm die Ohren, der Kanoniersäbel streifte beinah den Boden. Die Ärmel wurden umgelitzt. Alles deutete darauf, daß hier ein Bürschlein an die Front ging, auf welches das Vaterland noch nicht ein volles Anrecht hatte. Sie plääreten alle zusammen, als er ihnen die Hand zum Abschied reichte, der Vater, die Mutter, die Bäuerin und die Geschwister. ‹Wart, Chrigi›, sagte die Bäuerin, ‹du mußt noch etwas auf den Weg haben.› Ein paar Batzen drückte sie ihm in die Hand, und den Habersack füllte sie ihm mit Brot und Speck und Äpfeln. ‹Das sind noch von den guten sauren, die erst im Keller ganz reif werden. Es ist der beste Baum auf der ganzen Bachzelg.›

Halb lächerte es die Alten, als der gute Chrigi 279 gegen Kirchberg davon pfoselte, aber dabei lief ihnen das lautere Salzwasser über die Backen herunter. Der Vater hatte ihm die blonden Haare im Nacken mit einem Schuhbändel zu einem winzigen Ordonnanzzöpflein zusammengeschnürt. Das war ihm ungewohnt, aber die straff gezogenen Haare gaben ihm erst recht das Gefühl, Soldat zu sein.

Zwischen Alchenflüh und Hindelbank holte ihn ein zweispänniger Leiterwagen voll Mannen vom letzten Aufgebot ein. Als die ihn sahen, hieß es: ‹Potz Stärnebärg, lueget da, dä Vaterlandsvertäfeler! — Wolle, jitz böset's de dem Franzos. — Seh, Bueb, hock uuf!›

Gerne setzte er sich hinten in den Wagen und ließ seine Füße baumeln, denn er war des Marschierens in Schuhen wenig gewohnt; aber von der Brönntsflasche, die immerfort auf dem Wagen von Hand zu Hand ging, begehrte er nichts.

Als man gegen Abend vor dem Berner Zeughaus anlangte, war daselbst ein Treiben, wie Chrigi auch nicht im Traume je etwas Ähnliches gesehen. Die Gasse, der Platz, der Hof, alles dicht voll Menschen, Militär und andere. Sie standen herum wie an einem Dinget für in den welschen Heuet, viele trübselig und still, andere waren betrunken, und an manchem Orte wurde geschimpft und geflucht. Es sei lätz gegangen am Wangenhubel, hieß es, aber wenn mehr Mannschaft und 280 Geschütz zur Hand gewesen wären, so hätte man ‹myseel no möge gfahre›. Morgen sollte man doch noch einmal ‹hinger se›. Das hätte doch der Teufel gesehen, wenn man sie so leichten Kaufs nach Bern herein ließe.

Des armen Chrigi achtete sich kaum jemand, und er wußte nicht, ‹wo zueche›. Als es stillete, legte er sich im Hofe des Zeughauses auf einen Haufen Stroh neben Soldaten, die bereits schnarchten. Und am andern Morgen, als alarmiert wurde, schloß er sich einer Kolonne auf gut Glück an. Vor dem Obern Tor sah er bespannte Kanonen stehen. Da dachte er, hier würde wohl seines Vaters Posten sein, und machte sich hinzu, als eben ein hoher Offizier, es war der Oberst von Graffenried, zu einem Hauptmann sagte: ‹Nähmet Dir die, Herr vo Freuderych, und fahret über e Wangehubel gäge Landstuehl use.›

Der Hauptmann übernahm das Kommando. Als er Chrigis gewahr wurde, lachte er und fragte den Wachtmeister des nächsten Geschützes: ‹Wäm ghört dä Pfüder? Wo bisch du gmuschteret worde, Bueb?› — Da trat der Wachtmeister für ihn ein und sagte: ‹Das isch ja glych, Herr Houpme, mir näh der guet Wille für d'Tölli.›

Die kleine Kolonne setzte sich in Bewegung. Es war viel Gestürm unterwegs. Immerzu kamen noch Soldaten von außenher zurück, die gestern im Kampfe gewesen, und schlossen sich an.

Am Wangenhubel ging's los. Man hörte 281 gewaltig schießen. Und als sie die Kanonen auf die Höhe gebracht, kamen auch schon Berner gelaufen, denen das Blut über das Gesicht und die Hände lief. In einem Acker lagen ihrer ein paar steif und tot, und eben sah Chrigi einen am Wegrand mit einem Schrei zusammenbrechen. Es lief dem Knaben eiskalt über den Rücken. Aber man hatte nicht Zeit, dem nachzusinnen, was man sah. Der Hauptmann ließ die Kanonen in den Acker hinausfahren und laden. Er half selber richten. Und nun sah Chrigi zum erstenmal, wie man mit Kanonen schießt. Mit Feuereifer half er speichen und vorfahren, Kugeln recken und stunggen. Auf Häuser schoß man, wo die Franzosen nisteten. Bald räumten sie das Feld, und dann ging's vorwärts, in den Forst hinein, immer unter Flintenfeuer. Überall knallte es, und hie und da kam ein Tannen-Tuller mit Krachen herunter.

‹Vorwärts! Vorwärts! Mir hei se. Uf se!› hieß es links und rechts.

Um die Mittagszeit kam man ans andere Ende des Waldes, ob dem Sensetal. Da ging's nun erst recht los. Gegenüber, am Sensebord, ballte sich der Geschützrauch. Es heulte in den Lüften und krachte am Walde, daß einem Hören und Sehen verging. Jetzt gab es Arbeit für unsre Kanoniere. Sie mußten ihre Geschütze vorstoßen, bis sie die Brücke aufs Korn nehmen konnten, über welche die Franzosen sich zurückzogen. 282 Seht», so erzählte der Bauer mit lebhaften Augen, «dort drüben muß es etwa gewesen sein. Dort brachten sie die Kanonen in Stellung und feuerten in die Brücke. Die Franzosen mußten durchs Wasser. Und jetzt brach wie ein Wettersturm unser Fußvolk hervor, den Hang hinunter und warf den wirren Schwarm der Franzosen vollends über den Haufen. Einen Augenblick mußten unsre Kanoniere das Feuer einstellen, um nicht die eigenen Leute zu gefährden. Sie waren hungrig und durstig, denn seit dem frühen Morgen hatten sie nichts auf die Zähne bekommen. Ohne das Geschütz zu verlassen, holte jeder aus seinem Sack, was er eben erwischte. Chrigi biß mit Heißhunger in eine der großen Goldreinetten von der Bachzelg, und seine blauen Augen lachten ob der an der Kanone geleisteten Arbeit. In einem einzigen Tage Soldat geworden, tüchtig Pulver gerochen und Teilhaber an einem ruhmreichen Siege! ‹Diesmal bleiben wir Meister›, wollte der Wachtmeister sagen, aber er vollendete den Satz nicht. Ein Schrei entfuhr der ganzen Geschützbedienung. Mit grausigem Klatschen fuhr eine Vollkugel ins Bord. Ein abgerissener Arm hing in den Radspeichen, und der kleine tapfere Chrigi lag daneben. Das Blut schoß in heißem Bogen aus seiner zerrissenen Bubenbrust. Die Kameraden wollten ihn aufheben, ihm helfen. Aber sie konnten ihn nur ans Bord hinlegen, den Arm 283 dazu. Die Hand hielt noch den Apfel umklammert. Dann rief das Kommando sie ans Geschütz, und als nach kurzem Kampfe das Feuer erlosch, weil die niederschmetternde Nachricht eintraf, daß Bern gefallen sei, da hatte Chrigi seinen letzten Seufzer schon getan. Er war im ungetrübten Bewußtsein des erfochtenen Sieges gestorben.

Anderntags wurde des Knaben schlanker Leib seiner unangemessenen Rüstung entkleidet, mit dem abgerissenen rechten Arme, der des Vaters rechter Arm hätte werden wollen, neben hundert andern Helden in ein Grab gelegt. In der Nacht, als die Sterne über den für ihr Volk Gefallenen Wache hielten, war den erstarrten Fingern der Apfel entglitten und in eine Furche gerollt.

Zerrissenen Herzens liefen die übrigen Krieger auseinander. Gar mancher unter ihnen beneidete die im Grabe Schlummernden, welche die Liebe zur Heimat mit dem Tode hatten besiegeln dürfen. Den Heimkehrenden kam es vor, als wären sie nun zu nichts mehr in der Welt. Eine bange, dunkle Zukunft lag vor ihnen. Unter dem Vorscherm ihrer Heimstatt empfing sie das Wehklagen um die vor dem Feinde Gebliebenen, während ruhmlos und beutegierig das französische Heer in der alten würdevollen Stadt Einzug hielt. Lang währte es, bis man den Mut fand, wieder zu Pflug und Karst zu greifen. Wessen sollte sein, was der Saat entsproß?

284 In die Bachzelg waren der Dragoner und der Füsilier zurückgekehrt. Christen mußte ihnen das Feld räumen. Seines hoffnungsvollen Erstgebornen beraubt, kehrte er in die armselige Hütte zurück, wo er zuvor mit seiner treuen Gefährtin gerungen und gekämpft, um sich mühsam Batzen um Batzen abzusparen. Doppelt grausam erschien ihm nun, nachdem er bis in das Herz seines Lebenszieles vorgedrungen, sein Geschick. — Aber noch gab er den Kampf nicht auf. Als ob ihn all das widrige Geschehen erst recht herausforderte, taglöhnerte er auf den Höfen herum und gönnte sich und den Seinen nur was nötig war, um Leib und Seele beieinander zu behalten. Tropfen um Tropfen nur mehrte sich der gesammelte Schatz. Man merkte kaum, daß das lederne Säcklein schwerete, während jedermann außer Christen das Einfallen der Gesichtlein seiner Kinder sah. Aenneli maß es mit dem untrüglichen Maß ihrer Mutteraugen. Sie sah ein frühes Welken voraus, sie kümmerte Tag und Nacht und fand doch lang den Mut nicht, ihrem Mann ein Wort davon zu sagen; denn sie fürchtete, er möchte, so ihm die Augen aufgingen, zusammenbrechen. Er würde, wie es ja jetzt, nach dem Krieg, ohnehin in der Luft lag, in den Verzweiflungsschrei ausbrechen: ‹Es isch alls für nüt gsi›, und völlig erlahmen. Einmal nur wagte sie — die Not war stärker geworden als die schonende Angst 285 — ein Wort. Die Kinder lagen an einem hellblauen Sommersonntag abgezehrt auf dem Strohsack und waren fast nicht zu wecken, wo doch vor den Fenstern alles sang und sprang. Da sagte sie zu ihrem Manne ganz schüchtern: ‹Es wird ne doch z'sträng.› Aber im Schatten, der sich auf des Vaters Gesicht ausbreitete, erfror ihr jeder weitere Zuspruch.

‹Chrischte, Chrischte, mach's nid z'guet!› mahnte die Großmutter. Und der Pfarrer raunte ihm zu: ‹Chrischte, mach nid, daß vor luter Huse d'Chinder uf d'Gmeind bringsch!›

Auf all das hatte er nur einen Bescheid: ‹I weiß scho, was es ma erlyde. Nache hei si's de descht besser.›

Einmal aber ließ er dann doch mit sich reden. Das war im Herbst des Unglücksjahres, als es wenig dringende Arbeit gab und niemand des werkigen Taglöhners begehrte. Da fragte der Jungbauer von der Bachzelg eines Abends im Vorbeigehen den mit einem Karren Aufleseholz aus dem Gemeindewald heimkehrenden Christen: ‹Nimmt's, di nüt wunger, wo Chrigi lyt?›

Das nun freilich wohl. Die Frage hatte einen Punkt in Christens Gemüt berührt, der immer schmerzte. Der arme Mann schwieg, und der Dragoner begriff das Schweigen. ‹So chumm morn am Morgen übere›, sagte er, ‹üseren es paar fahren uf Neuenegg.›

Dem konnte nun Christen nicht widerstehen. 286 Er fand sich, so gut dies noch möglich war, gsuntiget, auf dem Bachzelghof ein und setzte sich still und versonnen neben die Männer und Frauen, die eine Wallfahrt nach dem Schlachtfeld unternahmen. Es ging nicht laut her, weder unterwegs noch drüben am Landstuhl, wo sie wie auf einem Friedhof herumtrappeten, die im Herbstschmuck prangende Gegend beschauten und sich ein Bild von dem Kampfe zu machen versuchten. Ein Bauer gesellte sich zu ihnen und erzählte, was er selbst erlebt und wie es hergegangen, als da vor einem halben Jahre die Kugeln pfiffen. Er führte sie auf die Stätte, wo die Gefallenen begraben liegen. ‹Ha o eine derby›, sagte er. ‹Si hei ne danide welle biärdige, bir Chilche. Isch drum nid bim Militär gsi, nume süsch mitgange. Weder i ha ne du hie welle ha, bi disne. 's isch eine so guet wie der anger.› Etwas trotzig Erbittertes klang aus den Worten des Alten. Er klagte, wie übel es ihm seit diesem Frühjahr ergehe. Allenthalben fehle ihm der gefallene Sohn. Knechte könne man wohl einstellen, aber sie hätten keine Liebe zur Sache, keine Anhänglichkeit, seien nirgends mit dem Boden verwachsen.

Von der Erinnerung und vom Anblick der wehmütig schönen Herbstlandschaft gleichermaßen ergriffen, träppelten sie der noch erkennbaren, hie und da etwas eingesunkenen Aufschüttung des Massengrabes entlang. Ein hölzernes Kreuz stand 287 da als vorläufiges Denkmal. Ein einziges Kreuz für alle. Sie machten keine Worte darüber; aber alle sagten sich, das sei eine seltsame Erinnerung an das eine heilige Kreuz, das für die ganze Menschheit errichtet worden. Christen, mein Großvater, hat mir manchmal von jener Stunde erzählt. ‹Bueb›, sagte er, ‹du kannst mir's glauben, in dem Augenblick ist mir gewesen, als griffen Hände aus dem Boden und hielten mich an den Füßen fest. Ich sagte zu dem Bauer, ich hätte auch einen da unter dem Wasen, und erzählte ihm von Chrigi, wie er für mich ins Feld gezogen sei und wie er ausgesehen in seinem viel zu großen Gruscht. Da schaute mir der Alte in die Augen und sagte: So? Isch das dyne gsi? Dä han i gseh. I bi unger der Türe gstange, ha mym nahegluegt u nid gwüßt, wott ihm nahen oder nid. U derwyle sy si dert äne mit der Kanunne voruehe gfahren u hei gschosse. U du, wo diser ahe sy uf se z'Dorf, hei si chly verschnupet, u gwüß grad i däm Ougeblick het's ne gä. I ha ne gseh gheje. U dernah, wo's fertig gsi isch, han ne no gseh lige, da am Bördli nide.› Dies und noch mehr wußte der Bauer meinem Großvater zu erzählen. Lang standen darauf die beiden noch nebeneinander und sinneten nach über das Schicksal ihrer Söhne. Da sagte auf einmal mein Großvater zu dem Bauern: ‹Bruuchscht e keis Chnächtli?› Der Bauer gschauete Christen, der nicht nach gut haben aussah, er blickte ihm fest 288 in die Augen und auf die Hände, und nach kurzem Besinnen fragte er: ‹Wettischt öppe du dinge?›

‹Es düecht mi äbe, i chönni nümme vo hie furt›, antwortete er.

‹He, so syg's›, meinte der Bauer. Er bot Christen die Hand, und so kam dann mein Großvater mit den Seinen auf Martinstag des bösen Jahres auf den Landstuhl. Er wurde des Bauers Knecht und Ghusme. Und weil er als ein treuer und werkiger Mann des Meisters Sache zu der seinen machte, faßten sie ein festes Vertrauen zueinander.

Die Bachzelg lag nun weit hinter Christen, und es wohlete ihm zusehends, je mehr ihm das Streben nach dem einstigen Besitztum der Väter aus dem Sinn kam. Gott aber hatte ihm noch einen Segen aus diesem verlorenen Besitztum aufgehoben.

Christen war ja schon nicht mehr jung, als er auf den Landstuhl zog, und nach etlichen Jahren fing das Wetter an, ihm übel aufzuspielen. Es kam ihn immer härter an, seiner strengen Arbeit Meister zu werden. Inzwischen aber war Hans, mein Vater, zu einem kräftigen Burschen erwachsen und konnte an Christens Platz treten. Der Bauer wollte des letztern Rat und Hilfe aber nicht ermangeln und überließ ihm das Ghusmestöckli, das hier gestanden hat. Der Großvater trug Sorge dazu und pflegte Plätz und Hausmatte wie sein eigen. Eines Tages hatte er da drüben 289 am Bördli inmitten eines Dornhages ein artig Apfelbäumlein entdeckt, gerade an der Stelle, wo Chrigi seine Seele ausgehaucht. Er schonte sein beim Hagscheren. Und als nun das Bäumlein zum erstenmal blühte, machte er den Bauer darauf aufmerksam.

‹So›, sagte der Bauer, ‹das isch jitz hingäge dys. Das het dy Bueb gsäit.› So war es ja auch. Christen nahm das Bäumlein dankbar an und pflanzte es hierher. Er erinnerte sich der schönen Goldreinetten, welche die Bachzelgbäuerin Chrigi mit auf den Weg gegeben. Für den alten Mann bedeutete der Marsch nach Ersigen hinunter keine Kleinigkeit. Aber das Bäumlein, das des Sohnes Hand im Sterben hier gesät hatte, redete eine zu deutliche Sprache. Er wanderte in die alte Heimat, wandte sich an die Bachzelgbäuerin und kam nach zwei Tagen mit Stopfern von dem in der Nachbarschaft weit herum bekannten Baume zurück. Die Veredelung gelang ihm, und nach zwei Jahren brach er die ersten Äpfel von Chrigis lebendigem Denkmal. Sie glänzten so goldig wie die in der Bachzelg, und dazu trugen sie alle kleine blutrote Flecken, die sie noch schöner erscheinen ließen.

Seht, Kinder, es ist der Baum, unter dem wir da sitzen, und ihr werdet jetzt begreifen, warum er mir so wert ist und ich in seinem Schatten allemal an Gottes wundersame Fügungen denken muß. Unserm Geschlecht war das stolze Besitztum 290 der Bachzelg verloren gegangen — Gott weiß warum. Aber durch die brave Zelgbäuerin hat er ein edles Samenkorn gelegt in die Hand des armen Chrigi, der den Sinn des Lebens begriffen, der nie das seine gesucht und ein blind Vertrauen in Gottes Vatergüte und Allmacht gefaßt hatte.

Der Großvater pflegte den Baum mit besonderer Sorgfalt, legte jeden Batzen, den er aus seinen schönen Früchten löste, zu dem früher mühsam Erhauseten und ging klug damit um. Mein Vater, der mich, seinen Erstgebornen, zum Andenken an Christen und Chrigi wieder Christian taufen ließ, tat wie der Großvater, und ihrer beider Fleiß und Gottvertrauen setzten mich endlich instand, das alte Ghusmestöcklt mit ein paar Jucharten Land zu erwerben und es umzubauen zu dem, was es heute ist. Es ist schön und heimelig, das Land ist gut, die Bachzelgäpfel sind goldeswert; aber das Wertvollste an dem Heimetli ist doch die Lehre, die uns Chrigi hinterlassen hat.»

*  *  *


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