Auguste Supper
Lehrzeit
Auguste Supper

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Nun ist wieder einmal in den Scheunen der Dreiklang verstummt. Dicht geschlossen sind die hohen Tore, durch die vor ein paar Monaten die Garbenwagen fuhren. Die Tennen sind leer, und wenn ich durchs Dorf gehe, rufen mir die dreschenden Andersberger nicht mehr zu: »Net mithalte, Frau Pfarrer?«

Oft habe ich lachend abgewunken, oft aber habe ich auch den Flegel in die Hand genommen und habe dreingehauen. Da sind sie dann auf die Seite gestanden und haben gelacht und mit den Köpfen genickt: »Recht so, recht, no probiert! no net nochlasse! mer ka älles lerne uf der Welt, no keine warme Eiszapfe mache.«

Ach, ich weiß jetzt noch mancherlei, was ebenso hoffnungslos ist.

Martin kann's nicht leiden, wenn ich so mit den Leuten verkehre. Er sagt, das Pfarrhaus müsse immer Distanz halten. Ich glaube das nicht. Vielleicht würde ich's glauben, wenn ich nicht dazumal gehört hätte, was der rote Hannes unter dem Laubendach gesagt hat.

Daß man doch nicht vergessen kann, was man 158 vergessen möchte! Daß ein fremder Mensch, den ich nie gesehen habe und wohl nie sehen werde, in mein Leben herein ein Körnchen werfen durfte, das sich ankrallte und nun seine Würzelchen saugend immer tiefer bohrt!

Wenn Martin mir in seiner ruhigen Art sagt, wie ich mit den Bauern leben soll, dann sehe ich das Laubendach mit den Glasflaschen vor mir, und darunter hervor tönt's: »Ach was – ein Holzscheit ist er!« Trotzig werde ich, scheu. Oft liegt mir's auf der Zunge, das böse Wort des roten Hannes, daß ich es wie mein eignes dem gelassenen Mann neben mir entgegenschleudern möchte. Immer nachdenken muß ich über Martin. Ich glaube, das ist kein gutes Zeichen für uns beide. Maria Stengel muß über ihres Mannes Art nicht nachdenken, und die Blonde in dem seidenen Reisemantel – ja, die denkt auch nicht nach über den, dessen Arm sie dazumal umschlang.

Und wieder höre ich eine Stimme unter dem Laubendach. »Psychologisches ist da nicht viel dabei, Hannes. Zweckmäßigkeitsgründe!«

Ich hatte mir alles so ganz anders vorgestellt. Ich weiß nicht wie – aber ganz anders. An meinem Hochzeitstage noch. An eine glänzende Ferne dachte ich, die hinter der Binde vor meinen Augen liege. Und nun weiß ich nicht, ist die 159 Ferne nicht da oder ist nur die Binde nicht gefallen? Es ist alles so grau, so glanzlos um mich.

Die Tage sind voll Arbeit, und das ist gut. Aber an den Abenden, wenn Martin mit seinen Büchern mir gegenübersitzt, dann quält mich ein Hunger, für den ich nichts habe.

Martin bespricht mit mir, wo eine Not ist im Dorf. Er sagt mir, wohin ich zu gehen habe. Bringen soll ich dann überall – bringen. Es ist ja recht. Ich tu' es gern. Aber mir wird immer klarer, daß das eine Halbheit ist. Man will auch nehmen, nicht nur geben. Als ob ich nicht leben, als ob ich träumen würde, ist mir. Zupacken möchte ich irgendwo, meine Kraft spüren, meine ganze Jugend spüren, das Leben spüren.

Heute ist mir eingefallen, wie ich zu Martin dazumal, als wir den Berg heraufstiegen, gesagt habe, Pfarrer müsse man anstellen, damit sie arme Waisenmädchen heiraten, die von ihrer Tante loskommen wollen. Im Uebermut habe ich das einst gesagt. Und nun glaube ich: ohne daß ich's wußte, habe ich ein Geheimnis meiner Seele, das ich damals selbst nicht kannte, ausgeplaudert.

Martin freut sich, wenn die Andersberger ins Pfarrhaus kommen. Ihm fällt gar nicht auf, was mir auffällt, daß sie immer nur zu klagen, zu fragen haben. Mit ihrer Not, ihrem Leiden 160 kommen die meisten; mit seiner Freude kein einziger. Wenn sie eine Kuh haben, die recht Milch gibt, oder wenn die Ernte schön steht, oder wenn sie einen Pfandbrief ablösen können, dann laufen sie zum Ferdinand, nie zu uns.

Wenn ich Martin wäre, ich würde nicht eher ruhen, als bis sie auch mit jeder Freude zu mir kämen. Halbe Leute sind wir, wir Pfarrersleute, wenn das so fortgeht.

Und heucheln tun sie, die Bauern! Wenn der Friedrich Pfrommer oder der lange Mattheis zu uns kommt, oder wenn die Madel, das böse Weib, ihren Mann verklagt, dann ist das ein ganz andrer Menschenschlag, als sie sonst sind, wenn sie hinter ihren Mistwagen herschreiten. Ob es bei Helmut Stengel auch so war? Martin muß das doch merken! Aber er steht da weiter nichts dahinter als eben das Distanzhalten. Er sorgt nicht dafür, daß es anders wird. Er findet es sogar gut so. Und die Bauern wissen gar nicht, daß sie heucheln. Mich verdrießt's; mich macht's namenlos ungeduldig. Lachen möcht' ich mit den Leuten, wenn ich doch auch mit ihnen weinen soll. Ihre rechten, wahren Alltagsgesichter möchte ich sehen, nicht die Pfarrhausmasken. Mir kommt's vor, als ob wir auf Stelzen gingen. Und ich schüttle mich. Ich will die Schuld daran weit von mir wegschieben. 161

Als wir abends einmal durch die stillen Felder schritten, Martin und ich, da ist uns unfern vom Dorf ein betrunkener Handwerksbursche begegnet, der schimpfend und fluchend seines Wegs ging.

»Schämt Euch, Mann, wer wird so fluchen!« sagte Martin.

Da ist der andre stillgestanden und hat uns frech gemustert.

»Ha,« hat er dann gesagt, »ein Pfaff! Einer von denen, die immer vergessen, daß sie nackt in ihren Kleidern stecken.« Und lachend ist er fortgetorkelt.

Ich kann das Wort gar nicht vergessen. Erschrocken bin ich dran, wie wenn es etwas in mir getroffen hätte oder ein Echo in mir wachgerufen.

Als ich Martins Braut wurde, war es mein Stolz und meine Zuversicht, daß mein Verlobter war, wie er ist. Warum kann ich diesen Stolz und diese Zuversicht nicht zurückrufen? Wie kommt's, daß ich auf einmal das Gefühl habe, als fehlten Klänge in unsrer Ehe, Klänge, die zum vollen Lebenslied gehören?

Wenn einer alt ist und hat ein gelebtes Leben hinter sich und steht und sagt: dies und das habe ich errungen und gelernt und davongetragen, so ist das schön und gut. Wenn aber ein Junger 162 wie Martin erst hineingeht in die tausend Gassen, die das Leben bilden, und er hat da schon jede Tasche und den Rücken und die Hände voll, wo soll er denn dann seines Lebens Beute unterbringen? Wegwerfen muß er von dem, was er hat, daß er die Hände leer und frei bekommt, oder er hat zwecklos gelebt. Das alles wüßte ich vielleicht nicht, wenn ich nicht gehört hätte, was der rote Hannes sagte. Warum habe ich lauschen müssen?

Martin hat immer eine volle Kirche. Die Bauern nicken mit schweren Köpfen, wenn er spricht. Sie haben an seinem Glauben und an seiner Predigt nichts auszusetzen. Sie können wohl mit ihm zufrieden sein, ihnen ist er nur der Pfarrer; alles andre haben sie anderswo. Ich aber, ich habe nichts außer ihm.

Mir kommt's vor, als gieße Martin allsonntäglich einen vollen Strom aus und die Bauern halten die Köpfe unter, schütteln sich und sind dann fertig für die Woche. Das wird ja wohl in der Stadt dereinst auch nicht viel anders gewesen sein, nur hab' ich's damals nicht gesehen. Wie viel habe ich doch dazumal nicht gesehen!

Da bin ich mit Scheuklappen geradeaus getrottet.

Doch – daß ich nicht ungerecht bin – einige Augenpaare gibt's zu Andersberg, die in der 163 Kirche verändert blicken. Da ist der Gemeinderat Lörcher zum Beispiel, dessen herber Mund so gern die schönen Lieder mitsingt. Der Alte hält nicht nur den Kopf unter den Strom. Der trinkt. Nicht gierig, nicht in heißem Durst. Aber doch jetzt ein Schlückchen und dann wieder ein Schlückchen wie ein weiser und bescheidener Mann. Ein Leid hat ihn wohl das Trinken gelehrt, den Alten.

Und da ist dann unter den Weibern die Nähkätter. Die schüttelt sich auch nicht, ehe sie aus der Kirche geht, die Tropfen aus dem Pelz.

Sie nimmt mit heim, was hängen bleibt, und besieht sich da in aller Ruhe, was sie brauchen kann. Was ihr nicht tauglich scheint, das wirft sie seelenruhig auf die Seite. Sie hat Mut wie eine, die nichts zu verlieren hat, und Unbefangenheit wie eine, die nichts gewinnen will.

Und das Agathle sitzt auch anders da als die andern. Ihre klaren, klugen Augen hängen ruhevoll an Martins Lippen. »Sprich nur, sprich, ich höre und ich glaube! Ich weiß, daß du die Wege kennst, so führe mich denn!«

Ich aber, wie halte denn ich's in der Kirche?

Ach ja, ich merke auf, daß ich das Amen nicht verpasse, und dann ziehe ich am Glockenstrang und gebe dem Mesner das Zeichen zum Ausläuten.

So ist's. 164

Und jetzt kommt der Winter und dann wieder der Frühling und so immer fort.

Das ist schon viel, wenn man einmal das weiß! Manche meinen, es bleibe immer Winter oder immer Frühling. Da bin ich doch schon ein Stückchen weiter!

Das kommt vom vielen Denken.

*

Ich habe lange nicht geschrieben. Ich wollte meinen Winterschlaf halten wie jeder Dachs im Bau, jeder Frosch im Schlamm. Da taugt das Schreiben nicht. Es macht so wach. Nun ist das Frühjahr da, da muß man doch wieder hervor.

Ich weiß etwas, was mich von Gottes und Rechts wegen erschrecken sollte und was mich doch nur freut. Ich habe einen Feind in Andersberg. Und erst einen gewichtigen.

Der Schullehrer Müller, der starkknochige Mann mit dem roten Gesicht und den tränenden Augen, will mir nicht wohl.

Ich glaube, schon vom ersten Tag an, als er dazumal bei unserm Einzug etwas verregnet wurde und sein Rheumatismus sich zu rühren begann, war er mir nicht gewogen. Ich habe dafür keine Beweise; aber es ist mir so. Wahrscheinlich sollte ich mich jetzt darüber grämen. Aber ich kann es nicht. Es ist mir ganz recht, daß dieser Mann mich nicht leiden mag. Den Ferdinand mag er 165 auch nicht, das weiß ich. Und der Blinde gibt ihm die Abneigung redlich heim. Aber die zwei sind auch so verschieden wie Feuer und Wasser.

Ich habe mit Ferdinand einmal über Müller gesprochen.

»Die Sache ist die,« sagte er, »der Müller ist der geborene Schulmeister, und solche Leute werden nie gute Schulmeister. Als der seine ersten Hosen bekam – oder vielleicht auch schon ein bißchen früher –, war seine Weltanschauung schon fertig und abgerundet. Damals schon hat er alles und noch etwas darüber gewußt und verstanden und hat nie Veranlassung gehabt, noch irgend etwas dazu zu lernen oder zu korrigieren. Es gibt solche Käuze, es gibt sogar sehr viele solcher Käuze auf den Kathedern. Und wenn sie nicht Rheumatismus haben oder nicht mit ihrem Pfarrer schlecht auskommen, dann sind sie eigentlich recht sehr zu beneiden.«

»Müller kommt mit meinem Mann sehr gut aus,« sagte ich tastend und fast verlegen.

»Na ja,« antwortete der Blinde, dann sprach er von etwas anderm und kam nicht mehr auf den Schulmeister zurück.

Wie ich darauf kam, daß der Müller mich nicht leiden mag? Nun, erstens spürt man ja so etwas, und dann hat es der Mann mir kürzlich auch unverhohlen zu verstehen gegeben. 166

Ich habe eine kleine Privatstrickschule gegründet. Warum ich dies tat, weiß ich eigentlich selbst nicht. Wohl habe ich die flachsköpfigen Mädchen mit ihren sonnverbrannten Gesichtern, ihren halb scheuen, halb neugierigen Augen und ihrer drollig-unbeholfenen Sprache gern; aber stundenlang unter ihnen zu sitzen und ihren unglaublich ungelenken Fingern die Fundamente zu späterer Kunstfertigkeit beizubringen, das ist mir qualvoll. Geduld ist nicht meine Stärke. Vielleicht tat ich's, weil es so Brauch ist. Weil die Frauen der andern Pfarrer es auch tun. Weil ich Martin zeigen wollte, daß auch ich eine richtige Pfarrfrau sei, oder weil ich meine heiße Seele unter einen Zwang bringen wollte, damit sie das Kühlsein lerne?

Also ich habe meine Schule. In unserm großen, hellen Flur sitzen wir auf Holzbänken, die der Kirche gehören. Im Winter wird man dann wieder sehen.

Das Agathle fängt die Mädchen unter der Haustüre ab und heißt sie die Schuhe reinigen, wenn sie Schuhe anhaben. Viele kommen auch barfuß.

Ich muß mir immer einen gewaltigen inneren Ruck geben, wenn ich unter die Kinder trete. Und doch bin ich oft nicht bei der Sache. Doch ertappe ich mich immer wieder darauf, daß meine Gedanken weit weg sind von den feuchten, verschwitzten Strickzeugen, die da in den ungeschickten kleinen Händen fast einrosten. 167

Gewaltig sind die Fortschritte nicht, die wir machen. Die Kleinen nicht im Stricken und ich nicht im Geduldig- und Kühlsein. Nach den ersten Stunden war mir's, als müßte ich das Ganze wieder hinwerfen und mich nicht mit etwas abquälen, zu dem ich so gar nicht veranlagt bin. Aber ich schämte mich. Und ich dachte in einem tiefen Herzenswinkel bitter: ›Martha, dann könntest du gleich alles hinwerfen, das ganze Pfarrerinsein; denn du bist auch dazu nicht veranlagt.‹

Da vermeinte ich, des Blinden ruhiges Gesicht zu sehen, seine sichere Stimme sagen zu hören: »Die geborenen Schulmeister werden fast nie gute Schulmeister.« Vielleicht ist's mit den Pfarrerinnen auch so. Vielleicht werden jene die besseren, die gegen sich selbst zu kämpfen haben; wie die Pflanzen stärker und besser bewurzelt werden, die mit den drängenden Keimen nicht allzu rasch und leicht an die Oberfläche kommen. So trieb ich's denn weiter, so gut es gehen wollte. Einmal, gleich zu Beginn, hatte Martin gesagt:

»Das freut mich, Martha, daß du die Mädchen zu dir kommen läßt.«

Nachher nie wieder etwas. Ich glaube, mein Großer denkt, gerade ich könne absolut kein Lob vertragen.

Dieser Tage nun, da wir abends nach dem Essen im Garten saßen, kam der Schullehrer 168 daher. Er kommt sehr häufig zu Martin, und sie unterhalten sich immer gut miteinander.

Er verbeugte sich auf seine ungelenke Art, wischte mit dem indigoblauen Taschentuch über die rote Stirn und setzte sich auf Martins Aufforderung zu uns, nachdem er ein halb dutzendmal versichert hatte, daß er nicht stören wolle.

Er störte nicht. Ich dachte es fast bitter. Das, was Martin und ich zusammen zu reden hatten, konnte jeder hören. Und es konnte auch ebensogut erst morgen geredet werden.

Vom revidierten und reduzierten Spruchbuch sprachen dann die Männer. Ich saß und lauschte stumm. Und ich bekam immer das peinigende Gefühl nicht los, daß da neben mir zwei Blinde über die Farben redeten. Wie mich das entsetzlich quälte! Den Schulmeister, ja, den wollte ich ja reden lassen, das war so unwesentlich, was dieser Klotz aus Fleisch und Knochen dachte, forderte, vorschlug! Aber Martin, aber mein Großer! Von den Nöten der Welt, den religiösen Bedürfnissen der Menschen, von den Gefahren, den Verderbnissen, den Klippen des Lebens redete er aus voller, breiter Brust heraus.

Und ich schluckte und schluckte, daß ich nicht aufschrie. Mir war, als habe ich während der paar Andersberger Jahre als Weib dieses Mannes Höhen und Tiefen des Lebens geschaut 169 und sei scheu und stumm geworden vor dem Geschauten. Er aber, der nur zwischen Kanzel und Pfarrhaus zu Andersberg hin und her gegangen all diese Jahre, er, den kein Begehren hinausgezerrt, den kein Sehnen fortgezogen, den kein Vermissen umgetrieben – er sprach von draußen!

»Martin,« hätte ich schreien mögen, »was weißt denn du, gleichmütiger Mann, von den Nöten der Welt? Und du satter Mann, was weißt denn du von religiösen Bedürfnissen? Und du sicherer, du kühler, du ahnungsloser Mann, was weißt denn du von Gefahren und Klippen des Lebens?«

Aber ich durfte von all dem nichts sagen. Aber etwas drängte sich mir plötzlich ganz ungewollt auf die Lippen. Fast wie zu mir selber sagte ich: »Da sollte man auch den blinden Ferdinand darüber hören!«

Die beiden Männer sahen mir zur gleichen Zeit ins Gesicht. Des Schulmeisters großer, bartloser Mund verzog sich zu einem sonderbaren Grinsen. Martin rückte an der Brille, dann lächelte auch er.

»Weißt du, Martha, wer so, wie der Blinde, abseits steht, der kann in solchen Dingen nicht gut mitreden, nicht wahr, Herr Müller!«

»Gewiß. Da entscheiden doch besser Männer der Praxis,« entgegnete gemessen der Schulmeister. 170

Ich war wie vor den Mund geschlagen. Ferdinand Schmitz abseits? Er, dem alles Menschliche vertraut ist, der mit seiner klaren, weiten Seele alles umfängt? Was ist denn Praxis, wenn es das nicht ist?

Auf der Kanzel oder hinter dem Katheder stehen etwa? Lachen hätte ich mögen.

Dann fragte ich aus einem Zorn heraus, den ich selbst nicht recht verstand: »Bleibt doch wenigstens der Spruch weg: ›Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist?‹«

Martin sah mich an. Er sieht mich jetzt oft so an. Erschrocken, traurig, warnend. Ich weiß selbst nicht wie. »Es ist ein ernster Spruch, Martha, und ein notwendiger.«

Wieder sah ich den Schulmeister nicken. Diesen satten Mann, der sich gewiß noch nie versagt hat, wonach es ihn gelüstete.

Da quoll mir's über. »Es ist ein Spruch, der Heuchler großzieht oder Halbmenschen.«

Der Schulmeister schüttelte bedächtig die große Hand. »Ach was, Frau Pfarrer, man muß nur den Begriff ›die Welt‹ im rechten Sinn verstehen: der Augen Lust und des Fleisches Lust und hoffärtiges Wesen.«

»Ja,« rief ich unglücklich und zerrissen, »tretet das nur breit, ziehet nur die Schleier weg, daß den Andersberger Buben und Mädchen beizeiten 171 der Glanz von allem gestreift wird! Liebhaben möchte man als Kind die Welt und alles, was darinnen ist, arglos liebhaben. Da braucht's doch nicht, daß man einem von Schmutz und Elend erzählt.«

»Martha,« sagte Martin fast hart, »für die Kinder als solche ist er ja nicht, der Spruch. Aber man gibt ihn ihnen, damit sie ihn haben, wenn sie ihn brauchen.«

»Ja,« bestätigte der Schulmeister, »erst schafft man sich das Rüstzeug an, dann geht man in den Kampf.«

»Erst läßt man einen ein bißchen Gift schlucken und dann ein bißchen Gegengift. Und das Würgen an dem Gift und Gegengift, das ist das Leben,« sagte ich, und ich begriff auf einmal, daß mir alle diese Weisheit in meiner Ehe gewachsen war. Mir scheint's so zu sein: entweder werden die Menschen glücklich oder sie werden klug. Entweder lernen sie das Küssen, das Lachen, das Genießen, oder sie lernen das Denken.

Wenn man einen Martin zum Mann hat, sind alle Wege vorgezeichnet.

Ich nahm meine Strickarbeit auf. Mir war bös zumute. Ich zählte Maschen und Gänge und redete mir ein, für mich gäbe es auf der Welt nichts Wichtigeres, als Martins Strumpf heute noch fertig zu stricken.

Auf einmal mußte ich doch aufschauen und 172 bei der Sache sein. Der Schulmeister hatte mich angeredet.

Nach der Strickschule fragte er, und wie die Dinge liefen.

Ich hätte mir trotzig lieber die Zunge abgebissen, als daß ich jetzt gesagt hätte, wie schwer mir das begonnene Werk wurde. »Vortrefflich geht's,« sagte ich kurz.

»Das freut mich,« entgegnete er in seiner Schriftsprache, »nur dürfte ich vielleicht um eines bitten, Frau Pfarrer.«

Ich sah überrascht auf. »Nun?«

Er schüttelte langsam den Kopf wie in bedächtiger Mißbilligung. »Wenn vielleicht Frau Pfarrer den Kindern andres erzählen wollten als vom wilden Jäger und von solchen Sachen.«

Ich begriff nicht sofort. Oder vielmehr, ich war nicht gleich gefaßt. »Ja, aber warum denn?« fragte ich.

»Warum?« antwortete langsam der Schulmeister, und er nickte vor sich hin und zog die Brauen zusammen, als schaue er gar düstere Bilder. »Bei uns da oben ist ja leider Gottes der Aberglaube so groß, daß es nicht nottut, ihn noch zu züchten.«

Ich wollte auffahren, wollte erklären, wie und in welchem Zusammenhang ich die schöne alte Sage erzählt hatte; aber der wuchtige Mann 173 machte mit einer seiner großen Hände eine Bewegung, als schiebe er mich beiseite und fuhr fort: »Mit solchen Stücklein alten Heidentums, und wenn sie noch so romantisch wären, zu spielen, ist immer gefährlich. Ich kenne meine Leute. Frau Pfarrer sagt da vielleicht in der Strickstunde: die alten Heiden glaubten und so weiter; aber das Margaretle Ulrich oder das Kätterle vom Schmied oder die Bärbel vom Langbauern, die lassen dann schon das von den Heiden weg und kolportieren: ›D' Frau Pfarrer hot g'sagt, d'r wild' Jäger und so weiter.‹ Auch das hat mir auf meine Frage das Kätterle vom Schmied erzählt, daß vor und nach der Strickstunde nicht gebetet wird, und das, meine ich, verehrte Frau Pfarrer, wenn mir's zu sagen erlaubt wäre, das ist ein Fehler.«

Er schnaufte förmlich nach seiner langen Rede, wischte sich übers Gesicht und schaute auf Martin mit einem Ausdruck, der mir das Blut in die Stirne trieb.

Ich wartete gar nicht ab, was mein Mann sagen würde. Mein Strickzeug legte ich auf den Tisch und stand auf, denn mir war, als könne ich das, was ich sagen wollte, nur stehend sagen und als müsse ich nachher schleunigst davonlaufen, damit mir sicher der letzte Trumpf bliebe und keine Tränen kämen.

»Nein,« sagte ich schneidend und sah dem 174 Schullehrer ins Gesicht, »nein, wir beten nicht bei unsrer Strickstunde. Wir ziehen ja auch keine Feiertagskleider dazu an und nehmen den lieben Gott für unsre schmutzigen Strickstrümpfe gar nicht in Anspruch. Ganz allein plagen wir uns daran ab, ganz allein, und wenn's nicht gehen will, dann helfe ich – nicht Gott.

Und das mit dem wilden Jäger, das werde ich wieder erzählen und wieder und so lange, bis mir die Mädchen dabei nimmer mit glänzenden Augen auf die Lippen schauen, bis sie genug daran haben und nicht mehr hungrig sind.«

Ich schöpfte Atem und ich wollte schweigen; aber da sah ich wieder das Grinsen auf dem vollen Gesicht und fuhr rascher und heißer fort: »Soll ich Ihnen sagen, Herr Müller, warum sie so abergläubisch sind da oben, die Leute? Weil sie einen Glauben von Holz, einen ausgetrockneten, leblosen, zugeschnitzten Glauben haben, einen Glauben, der ihnen fertig dargeboten wird und den sie fertig hinnehmen und in ihre Häuser stellen wie einen glückbringenden Fetisch. Aber sonst ist nichts anzufangen mit diesem Holzglauben. Da suchen sie sich eben noch etwas Lebendiges. Etwas, was sie als kleinen Keim irgendwo aufnehmen und dann in ihren Herzen großwachsen lassen. Denn das will der Mensch. Das will jeder Mensch. Er will etwas, das in ihm, in 175 ihm selbst gewachsen ist, etwas, das er nährt mit seinem eignen Blut!«

Ich weiß nicht, dachte ich das, was ich sagte, in jenem Augenblick zum erstenmal, so wie man im Angesicht einer drängenden Gefahr über einen hohen Zaun, einen breiten Graben springt, den man sonst sicher umgangen hätte, oder sprach ich nur aus, was mir in der Seele langsam groß geworden war.

Als ich geendet, ging ich rasch und ohne Gruß davon, und hinter mir hörte ich den Schullehrer sagen: »Ganz mein Exkollege Ferdinand Schmitz.«

In der Nacht, die diesem Abend folgte, saß Martin lange in seinem Studierzimmer. Bei der Abendandacht hatte ich darauf gewartet, daß er einen Text wähle, der mich anginge. Aber er las weiter, wo wir gestern stehengeblieben waren.

Das machte mich aufs neue unsäglich ungeduldig. Ich möchte einmal die Degen kreuzen. Frisch und frei. Aber es gibt keine Gewitter bei uns. Schwüle und Spannung ist nie auf beiden Seiten, nur bei mir.

Lange vor ihm ging ich zu Bett. Ich tu' das fast immer. Die Abende quälen mich. Ich habe gedacht, wir würden da beieinander sitzen und von allem in der Welt reden, vom Begreiflichen und vom Unbegreiflichen. Und wenn das Unbegreifliche mit seinen bösen grünen Augen allzu drohend 176 uns anstarren wollte, dann würde Martin mich auf seine Knie ziehen und würde sagen: »Lassen wir's gut sein, Martha, das beste ist doch, daß wir uns liebhaben.«

Aber so ist's nicht bei uns. Für Martin gibt's, glaube ich, überhaupt keine Unbegreiflichkeiten. Er kennt die Formel, die alles stimmen macht.

Unbeschreiblich schwer und bitter war mir ums Herz, als ich in jener Nacht so allein in der tiefen Finsternis lag. Wäre es an mir gewesen, Martin mein jähes Wesen abzubitten? Ich wühlte den Kopf in die Kissen und weinte. Da hörte ich eine Stimme sagen: »Ach was, ein Holzscheit ist er.«

Ich setzte mich aufrecht. Mein Herz hämmerte. In die Nacht starrte ich hinein, und der rote Hannes flüsterte: »In die Sünde fallen – ich wüßte keinen, der mehr alle Prämissen hätte. Ganz besonders, wenn ›sie‹ danach ist.«

»Sie« – da meinte er mich. Ich glaube, ich lachte mitten in der Nacht. Ja, ruhelos sollte er werden, hinausgeschleudert aus seiner glatten Bahn, der unbeirrte Mann, daß er es kennen lernen würde, das Hungern und Dürsten und Friedlossein.

Ich glaube, ich schlief nicht in jener Nacht.

*

Erst ein paar Jahre ist's, und doch dünkt mich's eine Ewigkeit, daß ich zum erstenmal Andersbergs Dächer sah. 177

Was ist eigentlich aus mir geworden in dieser Zeit? Oft meine ich, in all der Kühle und Stille unseres Lebens habe sich über mein ganzes Wesen her eine Hülle gebildet, eine Kruste, die langsam, langsam immer tiefer hinein erstarre.

Oft flößt es mir Angst ein, dieses Gefühl. Ich meine, ich müsse um mich schlagen, ehe es zu spät sei. Für alles. Ich werde einmal vom Tisch des Lebens aufstehen müssen und nicht satt geworden sein.

Martin ist beliebt und verehrt im Ort. Das heißt bei allen rechten Leuten. Die unrechten halten sich himmelfern von ihm. Und die könnten doch den Pfarrer am nötigsten brauchen. Wo liegt der Fehler? Oder ist das kein Fehler? Ich maße mir kein Urteil mehr an. Man wird ja toll von all dem Denken. Den Ferdinand frage ich bisweilen nach etwas, was mir gar zu quer liegt. Den kann man alles fragen. Er entsetzt sich nie. Er hat auch noch nie zu mir gesagt, dieses viele Fragen sei meines Vaters Blut und Erbteil, und es führe in alle Not hinein. Und den Demütigen gebe Gott Gnade, und lauter solche Sachen, die ich nicht hören mag, weil sie wie Brei sind: nicht fest und nicht flüssig.

Schwer in den Aehren stand der Haber, als ich das letztemal zum Ferdinand hinausschritt.

Da quoll es wie Bitterkeit in mir empor. 178

Die Körnlein, die man in die Furchen streut, die geben, wenn's zur Ernte kommt, einfach her, was sie in sich trugen und was des Wetters Gunst und Unbill reifen ließ. Dann sind sie fertig und entlastet.

Wir aber, wir Menschen?

Sind nicht auch wir drängender Keime voll, die wir nicht auswählen und nicht zurückweisen durften? Geht nicht auch über uns des Wetters Gunst und Ungunst ungefragt und unentrinnbar?

Wir aber, wir sollen einstehen für das, was wird. Da spricht man nicht schlichtweg von Frucht. Da heißt's Verdienst, und ach – da heißt es Schuld.

Lohnt sich's denn, dafür, daß wir vielleicht ein bißchen Eignes beisteuern, die ganze Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen? Wäre es nicht viel leichter und besser, auch eine Blume auf dem Felde zu sein?

Wenn ich dem Blinden diesen Gedanken sage, dann wird er nicken und lachen. »Jawohl, Frau Martha, es mag wohl sein, daß es leichter wäre. Dieweil wir nun aber eben die Pfarrerin von Andersberg sind, müssen wir uns, so gut es geht, in dieser Rolle zurechtzufinden suchen.«

Wenn ich aber meinem Martin mit solchen Reden käme, dann würde er alle seine schweren Geschütze auffahren, wie er immer tut. 179

Nein, ich kann mit Martin nicht mehr reden von dem, was meine innerste ruhelose Seele bewegt. Er kann keinen freien Nacken sehen. Er kommt immer gleich mit einem Joch daher. Und immer sagt er, es sei das leichte Joch des Menschensohnes. Es ist nicht wahr! Es ist gewiß nicht wahr! Dieses Joch kann gar nicht aufgelegt, es kann nur aufgenommen werden. Aus freiem Willen, wie die Lasten der Liebe.

Wir verstehen einander nicht mehr.

Auf dem Bänkchen im Garten, an der warmen Hauswand saß der Ferdinand, als ich zu ihm kam.

Dort sitzt er immer. Das Bänkchen ist wie ein Beichtstuhl, zu dem die kommen, die abladen wollen.

Die Dogge lag auf den Steinplatten und schlug mit dem Schweif, daß es klatschte, mir zum Willkomm.

Ich setzte mich neben den Mann und stellte meinen Fuß auf den Körper des Hundes wie auf einen Schemel. Das mag das mächtige Tier gern leiden.

»Was gibt's Neues, Frau Pfarrer?« fragte der Blinde, als er mir die Hand gedrückt hatte.

Es ist dies ja eine Redensart, keine eigentliche Frage; aber ich erschrak, als sie der Ferdinand vorbrachte.

Es kam mir zum Bewußtsein, daß ich immer nur holen wollte bei diesem Mann, der da 180 eingesponnen in endlose Nacht saß und wartete, daß ihm die Sehenden etwas von ihrem Licht, vom Licht des jeweiligen Tages brächten. Aufgerüttelt sah ich in die Weite, die im wundersam klaren Frühherbsttag vor meinen Augen lag. Ich sah die Sonnenfäden fliegen in der weichen Luft, sah den Bussard über dem Wald kreisen, sah die Malven und die Sonnenblumen am Gartenzaun blühen und vermeinte eine Stimme sagen zu hören: »Siehe, Martha, so reich bist du!« Aber ich redete über diese Stimme hinüber, als wäre sie nicht da, und sagte: »Neues? Neues gibt's doch da oben nichts!«

Der Blinde lachte und spielte mit seinem Stock, den er zwischen den Knien hielt. »Nicht, Frau Pfarrer? Ei, das wäre! Alle Tage ist doch irgend etwas los auf der Gotteswelt. Jetzt müssen die Andersberger Haber schneiden, schätze ich; die Brombeeren und Hagebutten sollten auch bald reif sein. Der Hirschwirt hat mir gesagt, die Nähkätter sei mit seinen Schimmeln nach der Lammwirtin in die Stadt gefahren, weil der Amerikaner sterben will: und das ist nicht genug Neues?«

Ich fühlte mich zurechtgewiesen. »Ja, wenn Sie solche Kleinigkeiten meinen, Ferdinand,« sagte ich.

Der Blinde kehrte mir sein Gesicht zu. »Kleinigkeiten? Kennen Sie sich da so genau aus, Frau Pfarrer? Ich nicht. Ich komme nie so recht 181 draus, was eigentlich auf der Welt eine Kleinigkeit ist. Seit ich einmal, es ist schon viele Jahre her, von den farbigen Sonnen, die im Weltenraum kreisen, und von den Milliarden von Mikroben, die ein Tropfen Wasser enthält, gelesen habe, seitdem bringe ich immer alles durcheinander und meine, alles ist klein und alles ist groß. Und ich sage Ihnen, Frau Pfarrer, diese Konfusion der Maßstäbe in meinem blinden Kopf ist eine famose Sache. Seitdem ist mir's nicht mehr so ganz und gar unwahrscheinlich, daß der liebe Herrgott die Haare auf meinem Haupte zählt und der jungen Raben achthat. Denn wenn einmal einer farbige Sonnen kreisen und Millionen in einem Wassertropfen schwimmen läßt, der macht auch noch andre Kunststücke, für den gibt's keine technischen Schwierigkeiten.«

Ich hielt meine Hände gefaltet und lauschte dem Blinden. Gierig tut sich mein Herz auf, so oft er spricht. Wenn mir aus dem leichten Firnis der Frivolität, den er so gerne über seine Reden legt, gleich einer heißen Lohe sein brünstiger Ernst entgegenschlägt, dann muß ich im Geiste Martins schwere Salbung dagegen halten, die mir das Herz erkältet, so oft ich in meinem vergitterten Kirchenstuhle sitze.

Ich hätte gerne weiter gelauscht, aber Ferdinand schwieg, als denke er über etwas nach, dann 182 fragte er plötzlich: »Wo fehlt's denn eigentlich, Frauchen?«

Ich war gar nicht überrascht, daß er das fragte. War ich doch herausgewandert zu ihm, wie man zu einem Arzt geht, von dem man zuversichtlich Heilung erwartet. Und jeder Arzt nimmt doch für selbstverständlich an, daß denen, die ihn aufsuchen, etwas fehle.

»Ja, wo fehlt's denn?« stammelte ich wie eine, die alles Leugnen, alles Vertuschen endgültig aufgibt. Ich war so müde. Aber weiter kam ich dann nicht. Wild schlug mein Herz. Wie ein Kind war ich, das wohl den quälenden Schmerz fühlt, aber nicht genau angeben kann, wo er sitzt.

Das Dengeln einer Sense drang einförmig vom Dorfende her und dann das schetternde Vesperglöcklein.

Ich faltete meine Hände nach jahrelanger Gewohnheit. Der Blinde nahm die seinen nicht vom Stockgriff.

Da brach es plötzlich, ohne daß ich es wollte, ohne daß ich es aufhalten konnte, aus mir heraus: »Ferdinand, ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr einen Weg gehen mit meinem Mann. Er ist so untadelig, so untadelig. Keine Härte ist da, kein – ach Ferdinand, ich kann mich nirgends anklammern.«

Ich stieß das hervor in Angst und 183 bitterlichem Herzeleid. Ich wollte nicht anklagen. Es waren gar keine Gedanken, die ich da sagte. Es waren Schreie des Herzens, die von einer Gewalt, über die ich keine Macht hatte, ans Licht geschleudert wurden.

Der Blinde nahm meine Hand und streichelte sie.

»Geduld, Frau Pfarrer, nur Geduld,« murmelte er.

Lange blieb es still. Der Hund war aufgestanden und drängte sich an mich. Ich sah seine klugen und stolzen Augen mit dem Ausdruck selbstverständlicher Treue an dem blinden Herrn hängen.

Da weiß ich, daß es mich wie Neid überkam. ›So an jemand hängen,‹ dachte ich, ›so treu, so stolz und demütig.‹

»Nicht wahr,« fragte auf einmal Ferdinand, »der Herr Pfarrer ist ein Pfarrerssohn und ein Pfarrersenkel?«

»Ja,« bestätigte ich verwundert, »Martin und ich, wir haben Pfarrer und Pfarrtöchter zu Vorfahren gehabt. Nur mein Vater –«

»Ist aus der Art geschlagen, ich weiß,« vollendete leichthin der Blinde, als ich leise stockte.

Er drückte meine Hand stärker. »Frau Pfarrer, wenn Ihnen einmal ein Sohn geschenkt ist, dann lassen Sie den nicht Pfarrer werden!«

Mir flammte die Stirne. Aufschreien hätte 184 ich mögen. ›Wir werden nie einen Sohn haben! Wir zwei nicht.‹

Ich schluchzte und drückte den Kopf in die Hände. Leben, wo bist du? Mein Leben? Mein Weibesleben?

Aber der Blinde wartete nicht darauf, daß ich etwas sage. Gedankenvoll, wie zu sich selber, fuhr er fort: »Durch lange Generationen hindurch Kaufleute, Bauern, Soldaten – meinetwegen. Gut ist's ja nicht; aber gefährlich ist's auch nicht. Aber Pfarrer – nimmermehr! Das ist ein gefährliches Experiment, und noch nicht oft ist's geglückt. Das Erstarrende, das in aller Inzucht liegt, das macht furchtbar leicht das Priesterliche im Menschen kaput. Der Theologie tut's vielleicht nichts. Aber die Theologie ist nicht das Priesterliche. Sie ist nicht das, was die Pfarrer gibt, die wir brauchen: volle Menschen mit reichem Blut und ungestörtem Gleichgewicht. Das Gleichgewicht geht flöten bei jeder Inzucht.« Er wiegte den Kopf, sah vor sich hin und lächelte. »Sie, liebe Frau Pfarrer, meinen vielleicht, die liebe Gottesgelahrtheit, aus all den vielen dicken, guten Büchern heraus, die mache den Pfarrer? Die Bauern meinen's auch und die meisten in der Stadt auch. Aber ich blinder Kerl sage: die dicken Bücher und die Gottesgelahrtheit, die geben nur den schwarzen Kittel. 185 Der Pfarrer steckt ganz wo anders. Der steckt im Blut. Im warmen Menschenblut. Jedem Kleiderstock kann man den schwarzen Kittel umhängen. Aber ist er darum ein Pfarrer? Ach, und im Examen, da wird der Kittel, nur der Kittel gemustert. Konfuses Zeug muß ich oft denken. Ich träume bisweilen von einer Zeit, da statt der gescheiten Professoren Menschen, die des Lebens Lust und Leid und Schuld gerüttelt hat, hungrige und übersättigte, arme und allzu reiche, dürstende und berauschte Menschen vor den Pfarramtskandidaten stünden und ihre tausend Fragen stellten mit gierigen Lippen. Da, liebe Frau, da könnte kein einziger Kleiderstock, um den ein schwarzer Kittel hängt, Antwort geben. Die, welche vor diesem Kollegium beständen, die wären die rechten, die ausgesiebten Pfarrer.«

»Ferdinand,« fragte ich zitternd, »glauben Sie, mein Mann wäre da durchgefallen?«

Er antwortete lang nicht. Mein Blick hing an seinem Mund. Leis sagte er: »Er hätte vieles, vieles nicht gewußt, der Herr Pfarrer.«

Wir waren still. Die Tränen liefen mir immerfort übers Gesicht. Dann seufzte der Blinde. »Sie stellen oft grausam schwere Fragen, die Examinatoren, die von den Hecken und Zäunen des Lebens hereinkommen. Bei den Professoren mag's leichter sein, zu bestehen. Sicher kann ich 186 das nicht sagen. Ich bin ja vor der Zeit davongelaufen, weil mir das Licht ausging. Ist gut so. Ich bin von Hause aus ein frecher Kerl, dem nicht so leicht Autoritäten imponieren. Das ist ein Kapitalfehler für den, der Theologie studiert. Und ich bin weiter ein schüchterner und unselbständiger Kerl, der seiner Meinung oft weniger zu trauen wagt als der Meinung jedes xbeliebigen Hansjörg. Das ist ein zweiter Kapitalfehler. Und so könnte ich Ihnen noch allerlei aufzählen.«

Unglücklich saß ich da. Wie wenn ich mir eben klar und unwiderleglich das Defizit meines Lebens herausgerechnet hätte. Die letzten, die winzigsten Posten suchte ich heranzuziehen, um die Bilanz doch noch günstiger zu gestalten.

»Sie loben ihn so sehr, meinen Mann, die Andersberger.«

Der Blinde lachte leise auf. »Ja, ja, die Bauern! Die sehen wie die Kinder zuerst nach dem Kittel. Und wie die Kinder wissen sie immer, was sie mögen, was ihnen gefällt, aber selten, was sie brauchen und was ihnen guttut. Die haben ihre dicken Köpfe über meinen Stengel geschüttelt, daß es nur so eine Art hatte. Als er ging, da hat der Lörcher zu mir gesagt. ›Der Stengel ist e rechter Ma. Aber e rechter Ma ka jeder sei. Mir brauchet halt en Pfarrer.‹ – 187 Den Pfarrer haben sie jetzt, drum sind sie so zufrieden. Aber Sie, Frau Pfarrer!« Er brach kurz ab und streichelte den Hund.

Ja, ich! Wie kann man mir helfen? Mir werden die Tage hingehen in Arbeit und Enge. All das, was meinem Vater unerträglich geworden ist, so daß er sich herausgerissen hat, das wird nun mich umzirken und wird keine Gnade geben, bis ich niederbreche in die Knie.

Oft ist's, als ob der Blinde einem die Gedanken aus der Seele lese. »Eine Hoffnung ist,« sagte er leise. »Unter allzu viel Gottseligkeit hat schon tausendmal das Leben mit jäher Hand wie in Ungeduld unselige Menschlichkeit hineingeknetet. Das Leben ist ja wie strömendes Wasser: es will Gleichgewicht, Ausgleich. Und es ist nicht schade um diese Art von Gottseligkeit. Die ist ja keine leuchtende Blüte, die fröhlich zum Himmel wächst. Die ist ein knöchernes, verknorpeltes Ding. Vererbt wie Kurzsichtigkeit, festgelegt wie eine Familientradition, überkommen wie die Unterlippe der Habsburger. Was gebe ich da drum! Alles Erbgut in Ehren. Aber seine Frömmigkeit, die muß sich jeder aus dem eignen Acker hervorscharren. Und wenn ihm dabei das Blut von den Fingern läuft, dann hab' ich den meisten Glauben dran.«

»Ferdinand,« sagte ich nach langer Zeit, 188 »wenn ich das alles doch früher einmal gehört hätte! Ich war ja ganz blind und wie schlafend. Jetzt ist's zu spät.«

Er lächelte. »Ach Gott, ja! Mit dreißig Jahren hält man's nicht mehr für der Mühe wert, sich einen neuen Regenschirm zu kaufen, und mit siebzig baut man sich dann ein Haus. Die Welt ist wunderlich. Aber die Leute sind doch das Allerwunderlichste.«

Ich trocknete mir das Gesicht und wollte gehen. Aber der Blinde lehnte sich an die Hauswand zurück, schloß die Augen, daß sein Gesicht den stillen Zug und Ausdruck bekam, und sagte halblaut: »Seltsam! Da sind Leute, und keine schlechten, die setzen ehrlich ihre beste Kraft daran, das Pendel in ihrem Leben anzuhalten. Irgendwie oder irgendwann wird's aber doch frei und schwingt dann zu weit nach der andern Seite.«

»Na, ja doch,« fuhr er nach einer Weile fort, obgleich ich gar keinen Einwurf gemacht hatte. »Hin und her geht doch das Pendel. Soll es gehen! Anders ist, weiß Gott, das innere und das äußere Leben nicht in Gang zu halten. Wer immer einatmen will, erstickt, und wer immer ausatmen will, erstickt auch. Innerlich und äußerlich. Es geht innen und außen nach den gleichen Prinzipien. ›Das Himmelreich ist gleich,‹ das ist keine Redensart, das ist eines weisen 189 Lehrers Satz, über den wir blind hinüberstolpern wie über so vieles.«

Ich lauschte und dachte nach und legte mir alles zurecht.

»Verstehen Sie, Frau Pfarrer, was ich sagen will?« fragte Ferdinand.

Meinen ganzen Mut nahm ich zusammen und entgegnete: »Ja, ich glaube, ich verstehe Sie. Sie meinen, man könne nicht immer hoch droben sein mit seinem ganzen Wesen, so ganz im Feiertag und abseits von der Welt und vom Lachen und von allem, was lustig und leicht und menschlich ist.«

Ich sah, daß er nickte, und wurde noch kecker.

»Sie meinen vielleicht, sogar der Irrtum, sogar die Sünde sei etwas Nötiges.«

Er fuhr auf. »Sie brauchen da ein Wort, das Sie nicht verstehen. Wer nur den Mut oder die Frechheit gehabt hat, dies Wort so breit unter unsre täglichen Gebrauchsworte hineinzumengen, so daß es nach und nach wohlfeil geworden ist wie Kieselsteine! Schon die kleinsten Kinder haben das Wort in allen Taschen stecken und klimpern damit auf den Gassen. ›Hin und her‹ – das kennt man gar nicht mehr. ›Sünde‹ klingt auch viel voller und runder, viel menschlicher.«

Er lächelte. »Na, wie ist's, Frau Pfarrer? Suchen wir jetzt nach dem Mühlstein, der dem 190 Ferdinand um den Hals zu hängen wäre, des Aergernisses halber?«

Ich fühlte das Blut in der Stirne, weil er mich doch noch für ganz anders hält, als ich durch all das Sinnieren und das Erleben und das Enttäuschtsein geworden bin. Da raffte ich mich auf, denn ich mag nicht für anders angesehen werden, als ich bin.

»Ferdinand,« sagte ich, »ich gehöre ja schon lange nicht mehr zu denen, die man nicht ärgern darf. An mir ist doch gar nichts zu verderben.«

»Na, also,« sagte er trocken.

Wieder fing ich an, weil ich doch so unendlich oft daran herumgegrübelt habe. »Glauben Sie, daß man einfältig bleiben kann und der Geringsten eines, wenn man nur will?«

Er lachte. »Daß jeder Mensch die Augen schließen kann, wenn er nur will, ja, das glaube ich. Aber ich sage deshalb gewiß nicht, daß jeder blind sein kann, wenn er will.«

»So, meinen Sie, sei das?« fragte ich.

»Ja, das meine ich. Das Himmelreich ist gleich –« Wieder lachte er hell und froh.

Ich sagte lange nichts mehr, weil ich viel zu durchdenken und zu prüfen hatte. »Ferdinand,« fragte ich dann, »warum hat er es aber wohl gesagt, das Wort von den Armen im Geist und von den Geringsten und den Einfältigen?« 191

Des Blinden Gesicht wurde ernst. »Warum? Weil er ein Erbarmer gewesen ist. Einer, der keinen, auch den Elendesten nicht, dahinten lassen wollte. Lächerlich, daß man ihm jetzt ansinnen will, er habe auch die Gesunden und die Rüstigen elend haben wollen, daß sie sich ganz von ihm sollten schleppen lassen. Reden wir nicht mehr darüber! Warum sollte es auch dem Manne von Nazareth anders gehen als andern Großen? Sie sagen da etwas. Irgendein leuchtendes Wort, wie es in ihren leuchtenden Seelen aufglüht. Und die Kleinen und Kleinsten stehen ringsum, fangen das Licht in ihren Spiegelein auf und sehen es nun, wie's diese Spiegelein zurückwerfen. Lassen wir ihnen die Freude! Wir kennen ja doch die Quelle und den vollen Strom.«

Ich gab mich immer noch nicht zufrieden. Allzu viel war in mir angesammelt, was ich nicht allein fertig machen konnte. Und Martin ist der letzte, den ich fragen kann. Und fragen will.

»Glauben Sie, Ferdinand, wenn mein Lebenshunger, mein Glückshunger, ich meine, wenn all das Menschliche in mir satter wäre – ich wäre dann auch so suchend und zweifelnd und weglos, wie ich es jetzt bin?«

Er wandte den Kopf. »Also auch das quält Sie?« 192

»Ja, das quält mich oft; das quält mich fast am meisten. Es macht mich zuweilen ganz irr und ganz ängstlich. Ich will ja doch ein wahrhaftiger Mensch sein. Einer, der ehrlich und für eine gute Sache streitet.«

Ein Lächeln ging über sein Gesicht. »Recht so,« sagte er warm. »In diesem Kampf sich's leicht machen, das heißt seine Menschenkrone aus der Hand geben. Und die wollen wir tragen, Frau Pfarrer. Aber zu weit treiben dürfen Sie die Mühsal nicht. Bedenken Sie: irgend etwas muß das Bröckchen sein, das einem hochgehalten wird, sonst kommt man nicht empor und trottet satt dahin.«

»Ja,« sagte ich; »aber es gibt auf der Welt so großes Herzeleid, so tiefen Jammer, daß meine Not sich davor verkriechen sollte.«

Er schüttelte den Kopf. »Groß, tief? Wer will da messen; wer hat den Maßstab? Wenn Leben heißen würde: der Held sein von einer Kette von Ereignissen, dann könnte man eher zwischen Groß und Klein unterscheiden. Aber Leben heißt reif werden, heißt seinen innersten Kern aus tausend Schalen lösen. Da ist nichts klein und nichts groß. Glauben Sie, Frau Pfarrer, die Unstimmigkeiten, die Verkehrtheiten des gewöhnlichen Alltags, die rütteln viel sicherer, viel unentrinnbarer auf als jähe Wetterschläge.« 193

Er mußte mein leises Schluchzen hören.

»Weinen Sie denn, Frau Pfarrer, weinen Sie denn? Wenn der Pflug über die Furchen geht, dann weint man doch nicht, dann wartet man und hofft!«

Ich nahm mich zusammen. »Ferdinand, ich habe mit dem allem gar nicht zu Ihnen kommen wollen. Das muß man allein tragen. Aber es ist stärker geworden als ich. Es ist schon lang in mir. Viel länger, als ich es selbst wußte. Es muß doch auch im Blute liegen, so etwas. Aber nun will ich Ihnen auch das noch sagen: Von Kind auf bin ich überfüttert worden mit Kost, die nichts für mich war. Heut weiß ich das. Ich habe geschluckt und geschluckt. Mein guter Wille war hinter all dem Glauben her, den man mir anbot, und er hat ihn mir hinuntergestopft Tag um Tag.

So ging das. Und dann auf einmal! Als das Glück nicht kam und die graue Oede mich angrinste, da ist mein Wille müd und lahm geworden und mit dem Glauben war's aus. Jetzt stehe ich da und habe nichts mehr und kann nicht mehr.«

»Also bankerott?« fragte der Blinde fast hart.

»Bankerott.«

Ich wartete mit zusammengekrampften Händen, daß Ferdinand mir etwas sage. Einen Weg. 194 Eine Hilfe. Aber er blieb still, und die Nacht sank langsam über die Welt.

»Ferdinand,« bat ich endlich leise, »reden Sie doch!«

»Da hilft kein Reden.«

»Was hilft denn, Ferdinand?«

»Da hilft: graben, bis einem das Blut unter den Nägeln hervorkommt.«

»Oh,« stieß ich hervor, »man kann doch einander helfen. Der Stengel wüßte da etwas.«

Der Blinde entgegnete lange nichts. Auf einmal lachte er leise.

»Was der Stengel kann, das kann ich auch. Der hat ja nur einen einzigen Kniff in seiner Praxis: ›Freuet euch mit den Fröhlichen, weinet mit den Weinenden!‹«

»War das seine ganze Seelsorge?« fragte ich.

»Seine ganze Weisheit überhaupt!« entgegnete der Blinde. »Ich glaube, der Mann hat alle Hauptstücke und Hauptartikel vergessen gehabt. Ja, ja, für die Andersberger war der nichts! Ein windiges Pfarrerlein mit windiger Weisheit.«

Nero fuhr jetzt vor meinen Füßen auf und bellte in die Nacht hinaus, durch die sich Schritte näherten. Martin schickte Agathle, daß sie nach mir sehe, weil es schon so spät sei.

Einen Augenblick hatte ich gehofft, er wäre es selbst. Aber er geht fast nie zu Ferdinand. 195

Als wir dahinschritten durch die Nacht, sagte Agathle: »E rechter Ma ist d'r Herr Ferdinand. Schad, daß er blind ist.«

Ich gab keine Antwort.

Sie aber fuhr fort und ihre klare Art klang aus den Worten: »Vielleicht ist's au so recht. Er wär' sonst am End net so worde. 's Best kommt aus de Leut erst raus, wenn se unter's Rad komme send wie d' Aepfel beim Moste.«

Das dünne Läuten der Betglocke kam übers Feld.

»'s Mattheisle läut heut emol wieder um e Stund z'spät,« sagte mißbilligend das Mädchen. »I sag's immer zum Herr Pfarrer, er soll strenger sei!«

Ich weiß nicht, warum es mich wie ein Vorwurf traf, daß Agathle sich um diese Dinge annahm, die mich nie kümmerten.

*


 << zurück weiter >>