Auguste Supper
Lehrzeit
Auguste Supper

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Schwatzende, lachende, lärmende Städter bestiegen mit uns den Zug, der uns heimwärts tragen sollte.

Die Gesellschaft vom Morgen sah ich nicht darunter. Denen mochte wohl ihr Tag noch nicht lang genug sein. Die wollten ihn bis zur Neige auskosten.

Wieder zogen die grünen, kleinen Flüsse, die schmalen Täler und weißen Talstraßen draußen vorüber. Auf die breiten, dunkeln Flanken der tannenbestandenen Berge sank wie ein dünner Schleier der Abend, und als feine Sichel stand am bläßlichen Himmel der Mond.

Und müd geworden, verstummten nach und nach die lauten Menschen. Zurückgesunken, aneinander gelehnt oder auch schweigend durch die Fenster in den sinkenden Abend stierend, saßen sie und ließen sich dahintragen, der neuen Woche, der neuen Arbeit zu.

Sachte drängte die Sorge des Morgen die Freude des Heute aus den Gesichtern, die ich musterte.

Martin hielt die Augen geschlossen. Ich konnte 66 von keiner nahenden Sorge und von keiner schwindenden Freude in seinen ruhigen Zügen lesen.

Da lehnte auch ich mich zurück und machte die Augen zu.

*

Von unsrer Hochzeit weiß ich nicht mehr viel, so kurz es her ist. Der Tag ist mir vorbeigegangen wie ein Traum. Ein Erwarten war in mir, ein scheues Bangen, als gehe ich mit verbundenen Augen und tastenden Händen in eine Fremde hinein, die glänzend vor mir liegen müßte, wenn erst die Binde gefallen.

Martin sah bleicher aus als sonst, und seine hohe, schlanke Gestalt kam mir gebeugt vor, unsicher.

Das machte mich unruhig. Ich hatte ein Gefühl, als dürfe das nicht so sein – heute nicht. Der große, stille Mann war doch meine Hoffnung in der Fremde, in dem Land draußen, das ich nicht kannte und das hinter diesem Hochzeitstrubel lag. Sicher hätte er sein müssen, sicher, wegkundig und stark. Ein Erschrecken ging mir durch die Seele.

Kennen wir uns denn, der Martin und ich? Ist von allem Fremden, das mich erwartet, dieser Mann an meiner Seite nicht das Allerfremdeste?

Ich sah ihn an. Einen Herzschlag lang in heißer Angst. Dann wußte ich wieder, was ich immer gewußt hatte: daß Martin Moserosch von 67 den Tagen seiner Jugend an den guten Weg gegangen war, und daß es ein fröhlich Los sein müsse, mit ihm zu wandern.

Ich schrak zusammen. Der Pfarrer am Altar hatte das gesprochen. Nicht ich. Meine Seele war ganz stumm. Und auf einmal wußte ich auch, daß bis zum heutigen Tag immer andre die guten Worte gesprochen hatten, die Worte, die Martin und mich in eine gemeinsame Bahn drängten. Nur Echo, nichts Eignes war in mir erklungen. Der Geistliche sprach rasch und gewandt mit klingender Stimme. Der dreiundzwanzigste Psalm war sein Text. Ich weiß sonst nichts mehr von der Predigt. Und doch habe ich aufgemerkt. Gierig aufgemerkt sogar. Aber ich war wie ein hungriger Mensch, der unter leuchtenden Blüten nach Beeren sucht. Alle Blüten streifte ich beiseit, daß sie entblättert neben mir zu Boden sanken. Zu spät ward ich gewahr, daß heute nur der Tag der Blüten sei. Benommen schritt ich an Martins Arm vom Altar. Gaffende Menschen standen an unserm kurzen Weg. Wir gingen die paar Schritte zu Fuß.

»Nimm dein Kleid besser auf,« raunte neben mir Tante Elisabeth, »sonst ist's an einem Tag ruiniert.«

Ich weiß nicht, warum mir da auf einmal einfiel, daß ich meine Mutter nie gekannt hatte. 68

An der Ecke, dicht vor unsrer Haustür drängte ein Wagen uns vom Fahrdamm zurück. Wir standen still und warteten, bis das mit schweren Stämmen beladene Fuhrwerk vorüber wäre. Es dauerte nicht lange. Nur so lang etwa, als ein Windstoß braucht, um Nebelfetzen durcheinanderzujagen. Hinter mir sagte jemand: »Das hat die Rätin gut eingefädelt. Ihr Neffe und ihres Seligen Nichte – da braucht sie ihre Batzen nicht zu teilen.«

Ich wollte mich umschauen, aber ich konnte nicht. In die Nebelfetzen, die des Fremden Wort in mir aufgejagt, mußte ich starren. Dann führte mich Martin weiter. Im hohen, blumengeschmückten Hausflur drängten sich die Gäste um uns und wünschten uns Glück. Nicht Martin und mir allein, auch der Tante drückte alles die Hände. Ich dachte nicht daran, daß sie bisher und heute Elternstelle an uns versah. Mir kam's nur vor, als gratuliere man ihr zu einem geglückten Unternehmen. Wie ich mich sträubte gegen den Gedanken – er hatte sich eingekrallt und gab nicht locker. Da deckte ich ihn zu, daß ich ihn nicht mehr sah, wie man's immer macht.

Am frühen Abend reisten wir ab in eines der kleinen Schwarzwaldbäder, die versteckt zwischen den Tannen liegen.

Ich hörte wieder die Räder schlagen: ›Der 69 Heimat zu, der Heimat zu!‹ Martin sah in die Nacht hinaus und hielt die Brille in der Hand, als schmerzten ihn die Augen. –

An einem Montag war der Empfang in Andersberg vorgesehen.

Tantes Babette mußte unsern Hausrat hinbringen und einige Zeit oben bleiben.

»Tante tut viel für uns,« sagte Martin.

Auf der kleinen Station stiegen wir aus.

Heute war keine da, die einen seidenen Reisemantel trug und von einem sonnigen Tag ein Glück erwartete.

Nüchtern, still, werktäglich lag das verschindelte, gelb angestrichene Bahnhöfchen unter trübem Himmel, und die blanken Schienenstränge führten hinaus in eine Fremde, die mich nichts anging.

Ich weiß nicht, warum ich dem entschwindenden Zug, dem wir entstiegen waren, nachstarrte. – Er nahm doch nichts mit! Ich schrak ganz zusammen, als Martin meinen Arm berührte.

Eine Gruppe ernst, fast streng blickender Bauern stand abseits auf dem Perron und schaute uns prüfend entgegen.

Dann wurden Dreispitze gelüftet, runzelige Hände kamen uns entgegen, und eine rauhe Stimme begann zu sprechen. Worte der Begrüßung waren es, und der junge Eisenbahnbeamte in seiner roten 70 Dienstmütze lächelte unter der Bureautüre. Das ärgerte mich plötzlich. Ich reckte mich auf und trat mit ausgestreckten Händen den Leuten entgegen.

Martin erwiderte jetzt etwas. Ich weiß nicht was. Ich weiß nur, daß ich nach dem in der roten Mütze hinübersah, ob der wohl wieder lächelte. Aber er stand nicht mehr dort.

Leiterwagen, auf denen kleine Fichten mit bunten Bändern steckten, warteten auf uns. Martin half mir hinaufklettern. Langsam ging's am Berg empor. Ein schmaler Streifen gewitterdunkeln Himmels stand über uns. Abstreichende Nußhäher schrien.

»'s kommt no ebbes heut,« sagte der Schultheiß von Andersberg, der neben Martin saß, und er blickte mit gefurchter Stirne gegen den Himmel.

»Jakob, fahr schneller zu!« rief halb über die Schulter der Schulmeister dem Fuhrknecht zu, der neben dem Wagen mit schwerfällig stapfenden Schritten berganstieg.

Der Schulmeister ist ein großer, starkbeleibter, bartloser Mann mit rotem Gesicht, hängendem Doppelkinn, kleinen, etwas entzündeten Augen, an denen er oft mit einem indigoblauen Schnupftuch wischte und tupfte, und mit tiefer, gurgelnder Baßstimme.

»Ich leide nämlich an Rheumatismus und möchte in keinen Gewitterregen kommen,« wandte 71 er sich, ein seltsam breites, pedantisches Schriftdeutsch redend, an mich.

Der weißhaarige Gemeinderat in Dreispitz und Lederhosen, der neben mir saß, fuhr sich mit dem braunen, runzeligen Handrücken über Mund und Nase.

»Ander Leut wöllet an net naß werde, Schulmeister,« sagte er leise, verweisend, und es klang fast wie »Schollmeister«, »wenn se au kein Rheumatismus hänt.«

Der Hirschwirt, ein noch jüngerer, gutgewachsener Mann mit kurzgeschnittenem, schwarzem, aufrechtstehendem Haupthaar, klugblickenden, vielleicht ein wenig zu scharfen, dunkeln Augen, die rasch von einem zum andern gingen, schüttelte sich die Zigarrenasche vom städtischen, schlecht gemachten Rock, zog die Uhr, die an silberner, mit goldenem Schieber versehener Kette in der Westentasche steckte, und meinte besorgt: »Um Fünfe will der Ferdinand mit seim Chörle an de Stei'kreuz stehe – die könnet naß werde, wenn's dumm geht.«

»Ja no,« sagte der Schulmeister kurz, ohne den Blick von den Tannen am Weg zu lassen, »die hänt's jo net anders g'wöllt.«

»Ist dieser Ferdinand der Blinde, der in dem einsamen Häuschen wohnt?« wandte ich mich an den Hirschwirt. 72

»Ja,« antwortete an dessen Stelle rasch der Schulmeister und kehrte mir sein rotes Gesicht zu, »ja, 's Herrgottle von Andersberg.«

Ein kurzes, prustendes, fast durch die Nase gestoßenes Lachen begleitete die Antwort, und ich wußte nun, daß dieser Schulmeister des Ferdinand Freund nicht war.

Der Fuhrknecht mit dem Rosmarinstrauß am Hut trieb mit der bändergeschmückten Peitsche und heiserem Zuruf immer wieder die beiden dicken Rotschimmel an, die mit blumengeschmückten Stirnen, die Dachsschwarte und glitzernde Messingplatten am Geschirr, keuchend und kopfnickend bergan strebten.

»Steigen wir aus,« sagte ich, einem augenblicklichen Gefühl folgend, »damit die Pferde nicht so schwer zu ziehen haben.«

Die Männer sahen sich langsam gegenseitig an, als wolle jeder den andern fragen: was sagst du jetzt zu dieser Idee?

Mir kam deutlich zum Bewußtsein, daß ich etwas Unpassendes verlangt hatte; aber ich stand dennoch auf und rief: »Jakob, anhalten!«

Zwischen den spitzen Bauernknien strebte ich dem Wagenende zu, um abzusteigen.

Hinter mir stand der Hirschwirt auf. »Recht so, Frau Pfarrer,« sagte er, »meine Schimmel send scho zwanzigjährig.« 73

Ich sprang ab und schüttelte meine Röcke. Der Hirschwirt kam mir nach, sonst kein einziger der Männer.

Erstaunt, mißbilligend sahen sie alle zu mir her, und aus den Wagen, die hinter uns kamen, reckten sich die Köpfe.

Martin schob an seiner Brille und schüttelte leise den Kopf. »Wir sind doch beinahe oben, Martha,« rief er tadelnd.

Ich dehnte die steifgewordenen Glieder, trat neben den Knecht, der wieder sein heiseres »Hü!« rief, und schritt bergan.

Der weißhaarige Gemeinderat, der den Schulmeister abgefertigt hatte, nickte ein paarmal mit dem Kopf, legte seinen Tuchrock auf dem freigewordenen Sitz breiter aus und sagte: »Ja, ja, wenn mer halt jung ist.« –

Jetzt wußte ich nicht, war das ein Tadel, oder war's ein Lob.

Verhalten, aus weiter Ferne grollte der Donner. Mir kam es vor, als würden die Tannen stiller und dunkler. Durch Räderknarren und Hufschläge hindurch hörte ich ein seltsam dumpfes, eintönig schwirrendes und summendes Geräusch in der Höhe, als seien Schwärme von Bienen zwischen den Wipfeln an emsiger Arbeit.

Ein stichelhaariger, wolfsähnlicher Hund, der stumm unsern Wagen umkreist hatte, drängte sich 74 jetzt an mich und rieb seine schmale Schnauze an meinem Kleid.

Ich fuhr ihm über den Kopf, da hörte ich hinter mir den Hirschwirt sagen: »'s Viehzeug möget Sie scheint's, Frau Pfarrer, des ist kei schlecht's Zeiche bei ere Pfarrere.«

Das Wort tat mir wohl wie eine freundliche Ermunterung.

Der Wald trat jetzt von der Straße zurück. Von Ginster und Heidekraut und dichtem Brombeergerank durchzogene Schonungen drängten her. Der Streifen grauen Himmels verbreiterte sich. Man sah massige, ferne Wolken zu sonderbar flaumigen Knäueln geballt sich näher schieben.

Unmerklich ließ die Steigung der Straße nach. Die Schimmel nickten weniger mit den Köpfen und hoben die Hufe nicht mehr so rasch und kurz.

»Jetzt hänt mer's bald,« sagte der Hirschwirt.

Und dann waren wir oben.

Zwei graue, flechtenbedeckte Steinkreuze ragten, im Ginster fast versteckt, unweit vom Weg. Eines davon war halb umgesunken, hatte einen Arm verloren und schien kleiner, zierlicher als das andre.

»Was bedeuten die Kreuze dort drüben?« fragte ich den Hirschwirt.

Er ließ seine blanken Augen rasch über die Steine gleiten, zupfte an seinem schwachen, schwarzen Schnurrbart und rief dann, das erste 75 Wörtchen unmäßig dehnend, zum Schulmeister hinüber: »Was bedeute die Kreuz?«

Der Gefragte blinzelte mit den entzündeten Augen nach den Steinen, drückte das fette Kinn stärker auf die steife Hemdenbrust und sagte lehrhaft: »Nach Professor Bierlingers Alemannia sollen hier dereinst zwei fahrende Gesellen vom Blitz erschlagen worden sein. Nach einer Ueberlieferung im Volk aber hätte ein Herr von Wengern eine Bauerntochter verführt und danach habe das Mädchen sich und ihr Kind an dieser Stelle umgebracht. Welches die richtige Version ist –« er sagte Fersion –, »weiß ich nicht.«

Der weißhaarige Gemeinderat nickte ernst mit dem Kopf: »'s wird scho des wohr sei mit dem Mädle, dem Agnesle,« sagte er schwer, kniff die schmalen Lippen ein und sah auf die spitzen Knie seines Gegenübers.

Der Hirschwirt lachte kurz auf, ein wenig gedankenlos, vielleicht ein wenig zynisch, und fragte aufblickend: »G'fällt Euch des G'schichtle besser, Lörcher?«

Der alte Bauer wandte die kleinen, wässerigen Augen ruhig dem Frager zu. »Ums G'falle handelt sich's do net. Aber i sag no: eh der Herrgott ei'mol mit eme Wetterstrahl ebbes z'grundrichtet, tut's e nobler Herr zeh'mol mit seiner Liederlichkeit. So ist's!« 76

Hart und stark wirkten des Mannes Worte. Das ›so ist's‹ klang wie ein unwiderrufliches Schlußwort, das jede Milderung und jeden Widerspruch schon von vornherein weit wegwies.

Das Mäuerchen aus Feldsteinen, von dem aus ich zum erstenmal die Rundsicht auf der Höhe geprüft hatte, tauchte jetzt auf, und davor stand eine Schar halbwüchsiger Buben und Mädchen, die den Wagen entgegensahen. Auf den Rainen, zur Seite der Straße, drängten sich Dorfleute und neugierig blickende Kinder. Die große gelbe Dogge, die damals auf den Steinplatten vor dem einsamen Häuschen gelegen hatte, kam in federnden Sätzen auf den stichelhaarigen Wolfshund neben uns zugesprungen, und als der keine Luft bezeugte, in gutem oder in bösem mit ihr anzubinden, drängte sie sich plump und täppisch an mich.

»I sag's jo!« meinte befriedigt der Hirschwirt.

Ohne weiteren Befehl hielt jetzt der Fuhrknecht Jakob den Wagen an, und hinter ihm hielten die andern.

Damals sah ich den blinden Ferdinand Schmitz zum erstenmal. Bei den halbwüchsigen Buben und Mädchen stand er, ein mittelgroßer, stämmiger Mann mit reichem, graumeliertem Haar, das in schönem Ansatz um eine breite Stirne stand und vom warmen Wind leicht zurückgeweht wurde.

Eine große, wohlgeformte Nase sprach von 77 Tatkraft und Beharrlichkeit; der feine, leichtgeöffnete Mund aber war fast ein Frauenmund, ein Mund, der Schönes und Mildes kennt und liebt. Unter starken, dunkeln Brauen blickten zwei Augen uns entgegen. Aber diese Augen waren ohne Leben. In kalter Leere, wie Glasaugen, standen sie in dem Gesicht.

Der Mann trug den Hut in der Hand. Der Stirne unter dem melierten Haar sah man an, daß sie gewöhnt und gewillt war, sich nackt und frei den Winden zu bieten.

In schwarzer, peinlich sauberer, etwas altväterischer Tuchkleidung war der Ferdinand erschienen. Das gab der stämmigen Gestalt erhöhte Würde. Wenn der leisere oder stärkere Anflug von Salbung, der fast allen geistlichen Herren eignet, bei dem Blinden nicht so vollständig gefehlt hätte, man hätte ihn wohl für einen Pfarrer gehalten.

Auf einen Wink umringten ihn jetzt die Buben und Mädchen. In geschäftigem und wichtigem Eifer wandten sie ihm die Gesichter zu, sahen gespannt auf seine taktierende Rechte und setzten kräftig ein: »Lobe den Herren, o meine Seele, ich will ihn loben bis zum Tod.«

An den Blinden angeschmiegt, den schönen Kopf zu ihrem Herrn erhoben, saß die gelbe Dogge, hielt die gestutzten Ohren gestellt und schien zu lauschen. Der Mann aber, der den 78 Taktstock schwang, hatte die Lider über die toten Augen gesenkt. Da sah sein Gesicht wie verwandelt aus, wie in Frieden getaucht, wie das Gesicht eines Wunschlosen.

In dünnen, rasch verebbenden Tönen, die auf der freien Lichtung nichts zusammenhielt, schallte das Lied über die Höhe; ein zerflatterndes Lob, das wohl wie wirbelnde Blütenblätter zum Ohr des Höchsten kam.

Nach der ersten Strophe kletterte Martin vom Wagen und mit ihm die andern.

Vor den Sängern standen wir Hand in Hand.

Die schrillen, klangarmen, aber nicht ungeübten Stimmen sangen in lebendigem Tempo: »Weil denn kein Mensch uns helfen kann, rufe man Gott um Hilfe an, Halleluja, Halleluja!«

Aus der Ferne, von den Pappeln am Scherbacher Weg kam ein tiefer, grollender Donner herüber wie ein gewaltiger Kontrabaß.

Ich fühlte, wie mir das Herz schwoll in wundersamer Ergriffenheit.

Das alte, windzerpflückte Lied, das über die Aecker zog, während der gewitterschwere Himmel über den still gewordenen Wäldern stand, schien mir mein wahrer Hochzeitstext zu sein.

Als der letzte Ton verklungen, trat der Blinde einen Schritt vor und hob den Kopf, wie lauschend oder witternd. 79

»Hier sind wir,« sagte ich unwillkürlich, denn mir war, als suche er uns.

Er lächelte kurz, hell, fast belustigt und streckte mir die Rechte zu.

»Euern Eingang segne Gott!« sprach er dann fest, herzlich und ohne Pathos, wie einen schlichten, aufrichtigen Wunsch.

»Amen,« fiel Martin ein und trat neben den Blinden.

Ich hörte nicht, was die beiden miteinander sprachen, weil ich mich den Sängern und Sängerinnen und den näherdrängenden Weibern zuwandte. Nur den Schulmeister sah ich noch herzutreten, wie er mit dem blauen Tuch die entzündeten Augen tupfte und mit seiner rollenden Baßstimme meinte: »Ein wenig rasch im Tempo, Herr Schmitz; aber –«

Das Aber verstand ich nicht.

Zu Fuß, von den leeren Wagen gefolgt, von der Dogge und dem Wolfshund umsprungen, denen sich nach und nach die schwarzen Spitzer mit den spitzen Schnauzen zugesellten, gingen wir dem Dorf zu, ein langer, vielgliedriger Zug.

Ich schritt neben dem Blinden aus, der einen Stock trug und nie strauchelte, ja nicht einmal tastete.

»Ich kenne jeden Stein am Weg,« sagte er lächelnd, als ich ihn darüber fragte, »und auch noch andre Steine hier oben kenne ich.« 80

Schwere, große Tropfen fielen jetzt und rollten im fettigen Staub der Straße wie quecksilberne Kügelchen.

»Laufet, Leut!« rief hinter mir der Schulmeister mit Besorgnis in seiner Baßstimme.

Man schritt rascher aus. Zuletzt war's wie eine Flucht. Mit Poltern und Rasseln und klirrenden Pferdsgeschirren kamen hintendrein die leeren Wagen.

Ich faßte des Blinden Hand, um ihn zu führen.

Er ließ es geschehen und schritt lachend mit mir aus.

Rascher, stärker fiel der Regen.

Bei den ersten Häusern von Andersberg schlüpften die Aengstlichsten, unter ihnen der Schulmeister, unter Dach.

Martin hatte sich zu mir und dem Blinden gesellt.

»Stehen wir unter?« fragte er.

»Komm heim!« gab ich zurück und bog in die Gasse ein, die zum Pfarrhaus führen mußte.

Wie eine Herde, in die der Wolf brach, stiebte im Dorf unser Geleit auseinander. Nur etliche weißhaarige Männer, unter ihnen der Schultheiß Roller und der Gemeinderat Lörcher, der Filialist mit dem fertigen Gesicht und das Agathle, das unter den Weibern gewesen war, strebten mit uns dem Pfarrhaus zu. 81

Am »Hirsch«, an dem wir vorbei mußten, schauten aus jedem Fenster lachende Köpfe, der Hirschwirt selbst stand unter der Haustüre, schwenkte den Regen vom Hut und rief: »Kommet Se doch, Frau Pfarrer!«

Ich hatte mir durch die dicken Rotschimmel und den Wolfshund hindurch sein Herz gewonnen.

»Komm nur heim!« sagte diesmal Martin, und wir eilten die Gasse hinunter.

Im Hof mit den grauen Mauern und dem bemoosten Brunnen standen Tannenbäume von allen Größen. Um die Haustüre mit dem schweren Eisenring hing eine Girlande aus Buchs und weißen Holunderdolden, deren schwüler Duft den ganzen Flur erfüllte.

Tantes Babette kam die Schneckentreppe heruntergelaufen und rief: »Gott sei Dank, daß net älle mitkommet!«

Wir waren kaum unter Dach, da brach das Wetter draußen los, als sollte die Sündflut kommen.

In dem ebenerdigen Raum gegen den Garten, den Pfarrer Stengel als Studierstube benutzt hatte und den auch Martin dazu nehmen wollte, standen wir dichtgedrängt und sahen hinaus in das wilde Toben.

Klatschend und spritzend schlugen die 82 Wassermassen auf Beete und Wege, als sollte alles weggewaschen und fortgeflößt werden. Die mächtigen Blätter der Pfeifenpflanze, welche die Laube umgrünte, hingen wie eingeschüchtert am Holzwerk. Auf dem steinernen Tisch im Innern saß ein Buchfink, pluderte die Federn auf und drehte das Köpfchen, halb in Unruhe, halb in der Freude des Geborgenseins.

Man sah die Blitze nicht, aber in ununterbrochenem Rollen murrte der Donner. Die Regenschleier, die den Garten füllten, verdichteten sich weiter draußen zu einer grauen Wand, die der Blick nicht durchdrang.

Ich wandte mich ins Zimmer zurück, nach unsern Gästen zu sehen. Stumm, mit ernsten Gesichtern, die Dreispitze in den Händen, standen die Bauern. Der Blinde lehnte an dem großen irdenen Ofen neben der Türe, hielt die feinen Lippen leicht geöffnet, die toten Augen geschlossen, und er schien zu lauschen auf das Rauschen der himmlischen Wasser und das grollende Murren des Donners. Das Agathle aber breitete eine Decke, die ihr wohl Babette gegeben, über den großen Tisch.

Da trat ich rasch zu ihr und fragte leise: »Agathle, möchtest du wohl wieder Pfarrmagd werden?«

Sie sah mich einen Augenblick mit ihren 83 ruhigen Augen erstaunt, fast scheu an und antwortete: »Sell scho; aber –« Ein schwaches Rot lief langsam über ihr Gesicht, dann ging sie zur Tür, ohne auszureden.

Ein rascher, bläulicher Schein flimmerte mir jetzt über die Augen. Am Fenster fuhr Martin fast taumelnd zurück und ein jäher, kurzer, betäubender Donnerschlag erdröhnte.

»Diesmol hot's ei'g'schlage,« sagte nach einer Pause des Schreckens der Schultheiß.

»Jo weger,« stimmte der alte Lörcher bei und nickte schwer mit dem weißen Kopf.

Babette trug das Kaffeegeschirr herzu, und ich eilte eben, ihr behilflich zu sein, da kam über den Flur ein halbwüchsiger, regentriefender Bursche gelaufen, der rief atemlos: »Herr Schultheiß, Herr Schultheiß, 's Hansjörgs Häusle brennt lichterloh!«

Der Gerufene trat vor. Das kluge Gesicht mit dem leisen Anflug von Selbstherrlichkeit und Selbstgerechtigkeit blickte scharf auf den Unglücksboten.

»'s Hansjörgs sächst?« fragte er dann langsam und seltsam schwer; »i sag's jo, unserm Herrgott kommt keiner naus.«

Das Agathle lief mit zwei großen Kannen in den Händen die Schneckentreppe herunter.

Ganz schneeweiß sah sie aus im Gesicht. Und 84 merkwürdig: der Ausdruck des Schreckens und der Verstörtheit, dazu die tiefe Blässe machten dieses schmale, vorher allzu ruhige, kühle Antlitz schön, lebensvoll, charaktervoll. Es waren nicht mehr nur reine, klargeschnittene Züge, die man sah, es war ein beseeltes Menschenangesicht.

Mit scheuen, verstörten Augen blickte sie im Vorbeigehen den Schultheißen an, stellte drinnen auf dem Tisch die Kannen ab und ging dann ohne ein Wort zu reden an uns allen vorüber hinaus in den Regen.

»Was hat sie?« fragte ich unwillkürlich.

»D'r Hansjörg ist doch ihr Vatter,« sagte neben mir der Bursche, der die Botschaft gebracht hatte.

Die Männer drängten alle hinaus. Martin und der Blinde mit ihnen.

Der alte Lörcher allein stand noch im Hausflur, wendete seinen tuchenen Rock um, daß das Zwilchfutter nach außen kam, und schlüpfte mit leisem Aechzen wieder hinein.

»'s ist mei Kircherock,« sagte er halb zu sich, halb zu mir, »den laß i wege 's Hansjörgs Häusle net hi sei.«

Ich konnte nicht lächeln über den Alten. Wie er da durch den mählich versiegenden Regen zwischen den tropfenden Tannenbäumchen dahinschritt, war er trotz des grauen, zerstückelten Rockfutters keine lächerliche Gestalt. Er sah aus wie 85 einer, der in souveräner Sicherheit tut oder läßt, was er jeweils für gut und zweckmäßig findet.

Mit Babette allein gelassen, stand ich dann vor dem großen, gedeckten Tisch, dem die Gäste fehlten. Ein Unbehagen kam in mir auf, fast eine leise Furcht.

»Babette, was meinst du,« mußte ich fragen, »wird ein solcher Einzug unter Blitz und Donner und Feuersnot nichts Schlimmes bedeuten?«

Die Magd sah mich an und schüttelte den Kopf. »D' Frau Konsistorialrat und der Herr Pfarrer saget doch, 's sei e Sünd, wenn mer so Sache glaubt,« entgegnete sie leise, ausweichend.

Ich fühlte den Unwillen in mir aufsteigen, für den ich keinen rechten Grund wußte und der mir doch immer kam, wenn die beiden Sicheren, Unbeirrbaren meiner unsicheren, rasch aufgestörten Seele ihren Tadel und ihren Rat zuriefen.

»Was man glaubt oder nicht glaubt, ist überhaupt nie Sünde,« sagte ich feindselig, und mir war, als spreche ich durch die Magd hindurch zu den zweien, die hinter ihr standen; »jeder glaubt, wie er kann.«

Babettes erstauntes Gesicht brachte mich zu mir. Ich mußte fast lachen. Die Alte aber schnitt in den Kuchen und sagte: »Mi geht's jo nix an; aber i sag no: wenn i d' Pfarrere wär, mir wär e anderer Tag zum Ei'zug lieber g'wä.« 86

»Mir auch,« gab ich leise zu.

Die Magd schenkte uns Kaffee ein. »Ei Gut's hat's doch,« sagte sie ermunternd. »Mer könnet unsern Kuche selber esse und hent die Baure schnell aus em Haus kriegt.«

*

Ich tat jetzt die Fenster weit auf. In düftesatten, schweren Fluten drang die feuchte Luft aus dem zerwühlten Garten herein. Als trüge sie einen Hauch mit aus den frischen Wunden der zerfetzten und zerschlagenen Erde, so herb kam sie daher.

Ich sog sie ein wie einen Trank, der Mut und Kraft und Stärke gibt. Dabei hob sich mir die Brust, und mir ward fast trotzig und kühn zu Sinn. So, als sei ich, die Martha Moserosch, geborene Heller, trotz Blitz und Donner am Einzugstag, gefestet für alles. Das ist ja immer so: je schemenhafter und vom Schleier unklarer Hoffnungen und Befürchtungen umwoben das Leben vor uns liegt, je sieghafter recken wir die Köpfe.

Erst nach und nach, wenn nüchtern und still jeder Tag sein Teilchen bringt und fortnimmt, dann wird man müd und zieht die Schultern ein. Man denkt nicht mehr an Sieg und an Triumph, man sorgt nur noch, wie man seinen Weg gehe, weiter, immer weiter, immer weiter.

Babette räumte jetzt den Tisch ab, und ich 87 schritt die gewundene Treppe empor, mein eigenstes Reich zu betreten.

Noch war nirgends richtige Ordnung. Nur notdürftig wohnlich gemacht waren die Räume.

Wohlig reckte ich die Arme. Ich arbeite gern, und von aller Arbeit ist die beste doch: sein eigen Nest bauen.

Als ich über den Flur ging, schaute ich durchs Fenster.

Mitten unter den verstreuten Dächern von Andersberg sah ich eine fast senkrecht aufsteigende Säule dicken, schwärzlichen, wolligen Rauches.

Dort brannte das Häuschen des Hansjörg.

Ich erschrak und ich schämte mich.

Dort ging einem sein Nest zugrunde, und ich wollte mich hier so seelenruhig daranmachen, das unsrige auszubauen. ›Du kannst nichts helfen,‹ dachte ich dann, ›es sieht aus, als treibe dich die Neugier.‹ Unschlüssig schaute ich hinüber.

Hinter der Rauchsäule, weit draußen ragten die Pappeln am Scherbacher Weg, besser einwärts lag das Anwesen des blinden Ferdinand.

Deutlich sah ich den regennassen Giebel und die grünen Läden. Der Mann, der dort wohnt, ging es mir durch den Kopf, der kann auch nicht helfen und Neugier treibt ihn sicher nicht. Aber doch ist er auf dem Platz, wenn über einen andern die Not kommt. 88

Da hielt mich's nicht mehr. Ich sagte der Babette Bescheid und eilte dem Brandplatz zu.

In dichten, aber untätigen Reihen umstanden die Andersberger das kleine Anwesen, das, wie die meisten der Bauernhäuser, gesondert zwischen Gartenland und Hofraum lag.

Auffallend still, als nehme sie der Anblick ganz dahin, verharrten die Leute. Wohl hatten die meisten Kübel oder Eimer in den Händen, aber ich sah nicht, daß jemand Wasser herzutrug.

Es wäre auch zwecklose Mühe gewesen.

Und doch reizte mich dies müßige Starren.

Eine Spritze sandte ihren dünnen Strahl hinüber hinter die Mauerreste, die ausgebrannt, von qualmendem Schutt gefüllt, von keiner Flamme mehr erhellt, noch standen.

»Hat man denn gar nichts retten können?« fragte ich das nächste beste Weib, und es mag wohl wie Ungeduld in meiner Stimme gelegen haben.

Sie schaute mich an, abweisend und kühl. »Wenn der Herrgott 's Feuer schickt, kann unsereins 's Wasser spare,« sagte sie streng.

Drei oder vier andre Weiber, die unfern standen und sich uns neugierig zugewendet hatten, nickten mit den Köpfen.

Ein Mann in kurzem, offenem, gestricktem Wams, der eine Axt trug und ganz rußig war 89 an Gesicht und Händen, trat näher, rückte flüchtig an seiner Mütze, spuckte aus und sagte: »Wisset Se, Frau, wenn der Blitz zünd't, ist fast nie nix z' mache. 's goht z' schnell. Mir Mannsleut hättet em Hansjörg scho g'holfe, wenn z' helfe g'wä wär.«

Etwas in des Mannes Rede und der Blick, mit dem er die Weiber vielleicht unbewußt streifte, schien diese zu reizen. Eine davon, eine große, sehr hagere Gestalt mit einem dünnen, steifen Zöpfchen über dem Rücken, gab dem Mann einen derben Stoß in die Seite und sagte grimmig, ohne Humor: »Freilich, d' Mannsleut helfet so eme Lumpe, weil in älle Mannsleut e Stück von eme Lumpe steckt. In älle,« wiederholte sie zornig, eindringlich, »vom Nachtwächter bis zum Pfarrer.«

Ich wußte nicht, sollte ich mich ärgern oder sollte ich lächeln. Es war komisch zugleich und herausfordernd, drastisch und gallenbitter, wie dieses Weib, das mich wohl schwerlich kannte, sprach.

Der Mann rieb sich die gestoßene Stelle und lachte phlegmatisch. »Nei, weil d' Mannsleut e bessers G'müt hänt,« betonte er nachdrücklich.

Die große Frau schaute mit finsteren Augen die Gasse hinunter. Auf ihrem ausgemergelten herben Gesicht lag offene Verachtung. »G'müt,« 90 sagte sie, »G'müt –? Vor der Kammertür, jo, do hent se G'müt; wenn se aber emol drinn send, no sparet se ihr ganz G'müt fürs Wirtshaus.«

Grollend, abgerissen, mit einer abgrundtiefen Bitterkeit sprach das Weib und schritt davon.

Der Mann winkte ihr mit dem Kinn nach. »Die do,« sagte er, spuckte in die Hände und nahm die Axt auf die andre Schulter.

»Wer ist das Weib?« fragte ich ganz beklommenen Herzens.

»Mer heißt se halt d' Nähkätter, 's ist e Ledige,« gab er geringschätzig zur Antwort.

Ich spähte jetzt nach Martin und dem Blinden aus. Es war schwer, durch den zähen Schmutz zu kommen, der die Brandstätte umgab. Ich sah, daß die Leute sich anstießen, daß von mir die Rede war.

In dem kleinen Grasgarten hinter dem Haus standen die Männer. Wohl den tuchenen Kirchenröcken zulieb hielten sie sich so abseits. Martin, der Blinde und ein kleiner Bauersmann in Lederhosen und Hemdärmeln, den ich nur von hinten sehen konnte, bildeten eine Gruppe für sich und redeten eifrig.

Zu einem unförmlichen Haufen geschichtet, lagen unter den paar krumm und windschief gewachsenen Obstbäumen schmutzige Bettstücke. 91 Stühle, Bänke, Tische standen und lagen umher. Eiserne Kochtöpfe, Rechen, Hauen, Besen, Kübel und Eimer waren durcheinander geworfen in der wilden und sinnlosen Hast, die mehr zerstört als rettet.

Eine ausgehängte Tür lehnte an einem Apfelbaum und davor kniete, tief über irgend etwas ins Gras gebeugt, das Agathle. Rasch, mit erschrockenem Herzen, trat ich zu der reglos Kauernden. Da hob sie den Kopf und sah mich an mit hilflosen, jammervollen Augen, die trocken waren, als sei ein Brand auch da drinnen.

Ganz unwillkürlich, ohne einen klaren Gedanken, wie unter dem Zwang einer drängenden Gefahr sagte ich da: »Weine doch, Agathle!«

Aber das Mädchen schien mich nicht zu hören. Sie beugte sich wieder über das Etwas im Gras, und ich sah, daß da ein flacher, breiter Kasten mit hölzerner Rückwand und Glasdeckel lag, ein Kasten mit bunten Totenblumen.

Der gläserne Deckel war zu Scherben zersprungen, die Blumen lagen zerstreut auf der weißen Glanzpappe, und von Agathles zerschnittenen Händen tropfte das rote Blut zwischen die weißen Lilien und die glühenden Rosen.

Ich kniete nieder neben dem Mädchen und half ihr stumm die Scherben entfernen.

»Das kann man wieder machen, Agathle,« 92 sagte ich zwei-, dreimal, als sei das zersprungene Glas der einzige Schmerz, der einzige Jammer der Tränenlosen. Ich wußte sonst ja nichts zu sagen.

Auf einmal lehnte sie sich hintenüber gegen die gerettete Türe.

»O Mueter, Mueter,« stieß sie schluchzend hervor und schlug die blutenden Hände vors Gesicht.

Da sagte ich nichts mehr. Was ist zu machen, wenn ein Kind nach der toten Mutter schreit?

Ich nahm den Kasten aus dem Gras und las zwischen den zerknitterten Blumen Namen um Namen.

»Anna Maria Hindermann, geborene Taube. Geh aus, mein Herz, und suche Freud'!« stand groß in der Mitte. Im engen Kreise darum, wie ein Volk Küchlein um die Henne geschart, standen elf Buben- und Mädchennamen, elf kurze Geburtsdaten und elf nahe dabei liegende Todestage. Oben darüber im Halbkreis war zu lesen: »Ich will die Lämmer in meine Arme sammeln,« und unten hieß es: »Trennung ist unser Los, Wiedersehen unsre Hoffnung.«

Mir wurden mit einemmal die Arme schwer und müd wie von einer übergroßen Last. Schweigend stellte ich den Kasten an seinen alten Platz. 93

Daß es das geben darf! So viel Leid, so viel zerstörte Hoffnung, so viel Schmerzen ganz nah, ganz trocken, ganz stumm beieinander. Ist denn das das Leben, das Weibesleben? Geht man darum mit heißklopfendem Herzen hinein in das unbekannte Land, das Ehe heißt?

Zu Martin schaute ich hinüber in quälender, hilfloser Beklemmung. Aber der sah nicht her. Etwas vornübergeneigt stand er und sprach auf den Hemdärmeligen ein.

Neben mir richtete sich das Agathle auf. Ich tat es ihr nach, fast unbewußt.

»Ist die's, die an der Kirchenmauer begraben liegt?« fragte ich erschüttert.

»Ja, nebe 's Pfarrers Monikale,« sagte leise das Mädchen und schaute über das wirre Chaos vor uns hin, als sehe sie das Grab an der Mauer.

Durch das nasse, zerstampfte Gras schritt ich hinüber zu Martin. Ich hatte ein Gefühl, als ob Agathle am liebsten allein gelassen sein wolle.

Mein Mann sah mir mit abwesendem Blick entgegen und sprach weiter. Erst als ich fast neben ihm stand, schien er mich zu sehen. Er rückte an der Brille, nickte mir zu und sagte: »Das sieht bös aus, Martha.«

Ich weiß nicht, meinte er den Brand oder etwas andres.

Der Hemdärmelige wandte mir sein Gesicht 94 zu und schob ein wenig an der Zipfelmütze, die er auf das graue Haar gestülpt trug. Ich sah ein gedunsenes, blaurotes Antlitz mit kleinen, wässerigen Augen, die entzündete rote Ränder zeigten. Tiefeingesunken, fast unsichtbar waren die Lippen des bartlosen Mundes, das hervortretende Kinn, zu dem sich eine schmale Nase herunterneigte, war rauh und grau von Bartstoppeln.

»Das ist der Hansjörg, der Abgebrannte,« erklärte mir Martin.

Ich hatte Mühe, kein Erschrecken zu verraten. Dieser Mann war also Agathles Vater, der Gatte des Weibes mit der verrückten Grabschrift.

Fast mit Selbstüberwindung reichte ich dem Bauern die Hand hin.

»Ihr tut mir leid! Es ist hart, wenn einem das Heim zugrunde geht.«

Eine verkrümmte Hand, die sich kalt anfühlte, legte sich nach Bauernart ohne Druck in die meine und wurde lange nicht zurückgezogen.

Ich fühlte Widerwillen und wollte mir's nicht zugestehen.

Der Mann lachte kurz auf: »'s wurd voll eins sei,« sagte er fast höhnisch.

Ehe ich etwas darauf erwiderte, trat der Blinde her und versetzte verweisend, unmutig: »Nicht so, Hansjörg, das ist wider die Abrede.« 95

Der Bauer sah auf, giftig, gereizt. »Sie hänt gut schwätze, Herr Ferdinand, Sie und die andre! Mei Häusle ist he! I und mei Agathle hänt kei Dach meh überm Kopf! Do defür ka i jetzt an denke und sage was i will.«

Als sei ein Fehdehandschuh hingeworfen worden, so klang des alten Trinkers Rede, ein Fehdehandschuh, der Gott und den Menschen galt.

»Vatter,« sagte jetzt von hinten her das Agathle: »Vatter, d' Mueter tät sage: ›'s Häusle ist he, aber mir send doch g'sund!‹«

Martin und ich wandten uns zur gleichen Zeit nach dem Mädchen um. Mit blassem Gesicht und verweinten Augen stand sie da und sah ihren Vater an, als müsse ihr fester Blick den verkommenen Mann halten.

Kurz und scheu begegneten des Bauern Augen denen der Tochter.

»D' Mueter, ja was d' Mueter,« murmelte er dann.

Der Blinde schob sich leise vor und legte dem Mann die Hand auf die Schulter. »Denket, sie sei da, Hansjörg, denket, sie sei heute da, was würde sie sagen? ›Hansjörg,‹ würde sie sagen, ›der Herrgott muß meine, unser Häusle sei z' alt für uns, wir müsset e neus han!‹ So würde sie sagen, und aus dem heißen Schutt des alten 96 würde sie morgen schon die Steine herauslesen zum Bau des neuen.«

Ueber des Trinkers Gesicht lief ein Lachen, ein selbstvergessenes, inniges Lachen, das alles Gemeine von diesem Gesicht nahm. Aber schnell, wie er gekommen, verschwand der helle Strahl und verbitterter, giftiger als zuvor kehrte sich der Mann dem Blinden zu: »So ist se gwe und so hat se g'schwätzt. Trunke hot se net, g'flucht hot se net, g'schimpft hot se net! Und doch hot se nix wie Kreuz g'hätt auf der Welt! Lasset Se me mit 'm Herrgott z'friede, Herr Ferdinand! Der will nix vo meim Häusle, ob's neu ist oder alt! Der guckt net noch mir nomm, und i net noch ehm! So kommet mir am beste mitnander aus. Hahaha!«

Der Bauer sprach in leidenschaftlicher, unheimlicher Verbissenheit. Seine Stimme klang erst halblaut und heiser, dann fast schrill.

Mit seltsam ratlosem, entsetztem Blick sah Martin auf den Trinker und dann zu mir her. »Ist so etwas denkbar?« schien mich der Blick zu fragen.

»Fürchtet Ihr Euch nicht, Mann, in dieser Stunde so zu lästern?« stammelte er und trat dem Bauern näher.

»I mi fürchte?« schrie der und fuhr auf. Schaumbläschen standen in den Winkeln des 97 lippenlosen Mundes, der hastig seine Rede hervorsprudelte. »I mi fürchte? – Vor was denn, zu was denn? Was kann er mir denn no nemme, der Herrgott, wenn er g'rad ebbes von mer will? – Was han i denn no? was? 's Weib ist mer g'storbe, d' Buebe send mer g'storbe, der Wald ist he, 's Geld ist he, 's Haus ist he, i selber be he – hahaha – was will 'r denn no vo mir, d'r Herrgott? 's Wiesle am Rain vielleicht und meine paar Zwetschgebäum? Die kann er han! 's Wiesle vertramplet mer d' Buebe und d' Zwetschge holet se au! Nei, Herr, nei, wenn mer so dostoht wie i, no fürcht mer sich vorm Herrgott nemme, net emol vorm Teufel.«

Der Trinker fing an zu lachen und schüttelte die Rechte gegen Martin hin, der ganz bleich zurücktrat, als graue ihm vor diesem Mann.

»Vatter,« rief das Agathle, flammende Röte im Gesicht, »Vatter, sei stät, 's ist doch der neu Pfarrer!«

Der Alte sah sich nach seiner Tochter um. »I sieh's woll!« sagte er kurz und bestimmt, »drum han i au mein Kropf ausg'leert. Em Pfarrer muß mer's sage, wie mer mit 'm Herrgott stoht.«

»Das stimmt,« warf trocken der Blinde ein.

Die Männer in den Kirchenröcken traten her. 98

»Hansjörg,« fragte der Schultheiß scharf, »bist d' am helle Tag net nüchtern?«

Der Trinker sah aus, als sei er gewillt, den Fragenden anzuspringen. Wie er so stand, einer gegen alle, ja gegen den Herrgott, da sprach eine rohe Kraft, ein Ungebeugtsein aus dem verkommenen Alten, ein Ungebeugtsein, das wohl etwas Erschreckendes, aber nichts Widerliches für mich hatte.

»Er ist nüchtern,« sagte ich rasch zum Schultheißen, »die letzte böse Stunde hat ihm das Blut heiß gemacht.«

Der Trinker lachte kichernd auf. »Sell wird's sei, Frau, Sie werdet recht hau! – O, daß Gott erbarm! Wenn des bißle Brenne do mei ganz O'glück wär! Do han i scho andre Sache außeg'macht. Froget Se e mol de Schultes do, der soll's Ihne sage. Aber natürlich, do schwätzt mer net dervon! Mer sächt bloß emmer: ›D'r Hansjörg ist e Lump, d'r Hansjörg sauft!‹ Aber worum der Hansjörg sauft, do schnauft mer net.«

Giftige, feindselige Blicke schossen aus des Mannes triefenden Augen auf die Umstehenden. Es war, als wolle der Lump Gericht halten über die Tadellosen.

Die Männer lachten kurz auf, der alte Lörcher, der Gemeinderat, nickte schwer mit dem grauen Kopf, von dem er den Dreispitz abgenommen hatte. 99

»Hansjörg,« sagte er langsam, »'s ist wohr; du host e schwers Lebe hinter d'r; aber du bist net d'r einzig! Wenn älle saufe wötet, wo en Pack traget –« Der Mund des Sprechenden sank plötzlich tief ein, die weißen, dichten Brauen über den alten Augen rückten nahe zusammen.

Jetzt legte der Blinde dem Gemeinderat leise die Hand auf den Arm und, das ausdrucksvolle Gesicht dem Trinker zugekehrt, sagte er ernst: »Hansjörg, wenn Ihr einmal Euer Agathle nimmer habt, dann will ich kein Wort mehr wider Euer Leben sagen; aber wenn einer, der eine Tochter hat wie Ihr, sich den Hals abtrinkt, so ist er nicht wert, daß ihn die Sonne anscheint.«

Der Trinker lachte ungut. »O send Se mer still, Ferdinand! Scheint denn Ihne d' Sonn, und Sie trinket net –! 's ist alles ei Teufel! 's best ist no, mer denkt gar net drüber noch!«

Erschrocken sah ich auf den Blinden; aber der lächelte ruhig, fast froh.

»Martha,« sagte jetzt Martin hinter mir, »der Mann ist ohne Obdach und Heimat, könnten wir ihn nicht zu uns nehmen bis auf weiteres?«

Ein leiser Schrecken überrieselte mich. Ich fand nicht schnell eine Antwort.

»I – ins Pfarrhaus?« rief da heiser der Hansjörg und lachte, »i bleib für mi, wie 's 100 Frieders Katz. 's ist gnueg, daß mei Agathle zwei Johr lang im Pfarrhaus g'wä ist. I gang zum Hirschwirt und frog 'n um en Platz in seim Gaulsstall.«

»Jo, daß d' 'm emol im Rausch d' Streu a'zündst?« murmelte der Schultheiß.

»Ihr kommet mit mir, Hansjörg,« sagte da ruhig und bestimmt der Blinde, und er trat einen Schritt vor gegen den Trinker, als wolle er sich gleich dessen häßlicher Person versichern.

Der Schultheiß und die andern Männer blickten rasch auf, der Hansjörg aber trat zurück und sagte unsicher: »No stät!«

»Gar nichts stät,« entgegnete fest und hart der Blinde; »bei mir ist Platz für einen Gestrandeten, wie Ihr seid.«

Wieder wollte der Hansjörg etwas dawiderreden, da trat das Agathle von hinten her an ihren Vater: »Vatter, ganget mit 'm Herr Ferdinand, des tät d' Mueter au sage.«

Der Trinker fuhr sich mit der Rechten langsam über das blaurote Gesicht, dann sagte er: »Also – mei'twege.« Von einem Dank hörte ich nichts.

»Und du kommst mit uns, Agathle,« bat ich.

Unsicher sah das Mädchen von mir zu Martin und von Martin zu mir, dann nickte sie stumm.

So habe ich an jenem Tag die Pfarrmagd gedungen . . . . 101

*

In der Nacht, die diesem bösen Tage folgte, der ersten Nacht, die Martin und ich im Pfarrhaus zu Andersberg verbrachten, schlief ich kaum.

Und den großen Mann an meiner Seite hörte ich wieder und wieder seufzen.

»Woran denkst du, Martin?« fragte ich leise.

Aber ich bekam keine Antwort. Ein böser Traum mochte den Schläfer quälen; oder war's etwas, das er mit mir nicht bereden wollte.

Schwarz gähnte die wetterschwüle Nacht vor den noch unverhüllten Fenstern unsrer großen Stube, dann und wann zuckte ein fernes Wetterleuchten auf, das sah aus, als hebe sich für Sekundenlänge eine dunkle Wimper von einem flammenden Auge.

Die Aeste des großen Nußbaums im Pfarrgarten rauschten und knarrten bisweilen im Wind, und in der Ferne bellte ein Hund heiser und unaufhörlich.

So fremd, so geheimnisvoll, so ungeheuerlich war mir diese erste Nacht. Losgelöst von allem, was bisher war, kam ich mir vor, losgelöst und allein gelassen in der Fremde, zwischen den schwarzen Wäldern, den Schluchten und Bergen, in denen andre Menschen hausten, als ich sie seitdem gekannt hatte.

Da, als das Gefühl der Verlassenheit mich so mächtig überkommen wollte, da fiel mir der 102 Ferdinand ein, der blinde Mann in seinem einsamen Häuschen, und es fiel mir ein, wie er zu dem Trinker gesagt hatte: »Bei mir ist Platz für Gestrandete, wie Ihr seid.«

Und auf einmal meinte ich, ihn sagen zu hören: »Bei mir ist auch Platz für dich, Martha Moserosch, wenn du dich fürchtest in der Fremde.«

Da schlief ich ein gegen den Morgen.

*


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