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IX.

Schnell, nur zu schnell jedoch kehrten meine Gedanken zu meinem elenden Zustande zurück und begannen sich über die Art und Weise der Gräuel zu verbreiten, in welchen er unvermeidlich enden mußte. Sollte ich, wenn ich meine Muskelkraft und meine Stimme wieder gewänne, verzweifelte und wahnsinnige Versuche machen, den Deckel des Sarges abzuwerfen, und wenn mir dieß nicht gelänge, aus allen Kräften um Hülfe rufen? Aber umsonst war eine solche Hoffnung, denn die Kirche war ein einsames Gebäude, und es befanden sich weder Häuser noch Fußwege in ihrer unmittelbaren Nähe. Und wenn es mir auch gelungen wäre, aus dem Sarge zu entkommen, wäre ich doch immer noch ein Gefangener in dem Gewölbe gewesen, würde über die moderigen Ueberreste meiner Vorfahren gestolpert und endlich doch langsam und elend im Wahnsinn und am Hungertod gestorben sein. Noch eine Alternative blieb übrig. Mein Scheintod konnte nach und nach in den wahren umgewandelt werden; mein Leben konnte erlöschen und ich in eine andere Welt ohne Leiden und fast ohne Bewußtsein übergehen – eine Euthanasie, um welche ich wiederholte Gebete an die Quelle aller Barmherzigkeit richtete.

Meinen Betrachtungen wurde eine neue Wendung durch das Schlagen der Kirchenuhr gegeben, deren Echo durch das leere Gebäude mit besonderer Feierlichkeit wiederhallte; ich beschäftigte mich damit, in meinem Innern die Minuten zu zählen, bis der Ton sich wiederholte, auf den ich mit einem gemischten Gefühl von Muthlosigkeit und Trost lauschte. Wahr ist es, er kündigte mir an, daß ich dem Tode eine Stunde näher, aber er bewies mir auch, daß ich noch nicht ganz von der Oberwelt abgeschlossen sei; ja, er schien mich den lebenden Scenen wiederzugeben, die ich verlassen hatte, denn meine Seele erhob sich bei jeder neuen Schwingung und verweilte unter allen Gegenständen und Beschäftigungen, die der besonderen Zeit eigen waren. Wer mag sich wundern, daß ich in dieser Täuschung eines Traumwachens ein Vergnügen fand?

Aber noch ein anderer Ton zog meine Aufmerksamkeit auf sich – das Zirpen und Zwitschern der Vögel, von denen einige auf den nahen Bäumen sangen, und andere, wie ich vermuthete, dicht an den Stufen meines Gewölbes herumhüpften. Es lag eine solche Schwermuth in ihrer Fröhlichkeit, daß sie meinen eigenen traurigen Zustand noch erhöhten, und ich sagte zu mir selbst:

»O glückliche Vögel! ihr habt die glänzende Sonne und die balsamische Luft zu eurer Erquickung; ihr habt Flügel, euch über die ganze schöne Welt zu tragen; ihr habt Stimmen, eurer Lust Ausdruck zu geben und Glück in melodischen Gesang zu verwandeln; und ich –« Der Kontrast war zu schrecklich, und ich wendete meine Gedanken ab von dieser Betrachtung.

Es war Abend geworden und Alles war still, als plötzlich die Orgel ihre weichen, schwellenden und wohlklingenden Töne ausströmte, begleitet von melodischen Kinderstimmen, welche einen Lobgesang anstimmten und sich zu einer Harmonie vereinigten, die unaussprechlich süß und feierlich war. Ich war einen Augenblick verwirrt und glaubte mich unter dem Einfluß eines Traumes, hatte ich mich nicht erinnert, daß es Freitag Abend sei, wo der Geistliche und der Organist jedesmal die armen Kinder in der Kirche versammelte, um die Gesänge auf den morgenden Sonnabend einzuüben. O! wie sehnte ich mich danach, mit in ihre andächtigen Gesänge einzustimmen! O, mit welchem Wohlgefallen lauschte ich auf sie! O, wie sank mir das Herz, als Alles vorüber war, die Kirchthüren geschlossen und die letzten zögernden Fußtritte gehört wurden!

Immer aber erzitterten diese heiligen Töne in meinem Ohre fort und entzückten und erregten meine Phantasie, bis sie ein ideales Bild von Größe und Glorie hervorzauberten. Mir war es, als sähe ich die letzte Sonne, die die Erde zu sehen bestimmt wäre, allmählig in die fluthende See sinken; eine finstere Färbung war über die ganze Natur verbreitet, ein seidener Vorhang über die Welt herabgelassen; Alles lag in Nacht, tiefer Finsterniß und Tod, – während in einer entgegengesetzten Richtung der Vorhang des Himmels aufgezogen war. Das Morgenroth einer neuen, unbeschreiblich schönen Schöpfung erhob sich; die Sonne schien mit strahlendem und blendendem Glanze; die Luft war mit aromatischen Düften erfüllt, und goldgelockte Engel, schwebend auf rosenfarbenen Schwingen, schlugen goldene Harfen und vereinigten ihre süßen und melodiösen Stimmen zu einem Choralgesang. Zugleich schwebten sie um einen centralen Thron, dessen unaussprechlichen Glanz kein menschliches Auge ertragen konnte. Wie lange meine Seele in der Betrachtung dieses Traumbildes versteckt war, weiß ich nicht, aber einige Stunden mußten wohl darüber verflossen sein, denn als es durch einen Sturm, der über den Kirchhof hinwegzog, verscheucht wurde, schlug die Glocke Zwölf. Traurig zitterte ihr Schall durch das Gebäude, und ihr dumpfes Echo verbreitete sich nahe und ferne auf den Schwingen des dahinziehenden Sturmes.

Mitternacht! So abergläubisch es auch sein mag, eine gewisse Furcht verbindet sich immer mit dieser Stunde; aber wie unendlich tiefer mußte der Einfluß derselben, mit allen seinen geisterhaften und schrecklichen Gedankenverbindungen auf mich sein, der ich begraben und am Leben war! umgeben von den modernden Ueberresten unzähliger Generationen und in wirklicher Berührung mit den Leichen oder Gerippen meiner eigenen Voreltern! Als wenn sich Schrecken auf Schrecken häufen sollten, wurde der Streit der Elemente auf Momente immer lauter und heftiger. Der Wind, der kurz zuvor gestöhnt und geächzt hatte, steigerte sich jetzt zu einem ungestümen Geheul; der Eibenbaum knarrte und rasselte, als wenn seine Aeste durch den Wind gepeitscht würden; der Regen wurde in Strömen gegen die Thüre des Gewölbes getrieben, da die zu ihr führenden Stufen noch nicht bedeckt waren, und das Rasseln des Donners, das fast Todte hätte erwecken können, schien die feste Erde unter mir zu erschüttern. Mit diesem schrecklichen Ausbruch schien sich der Sturm erschöpft zu haben, denn es folgte Stille, während welcher ein schwacher Ton an mein Ohr schlug, der mich fast bis zum Wahnsinn aufregte.

»Gütiger Himmel!« rief ich in Gedanken, »täuschen mich meine Sinne? Kann dieß ein Fußtritt sein? Er ist es – er ist es! Sie kommen näher – näher – näher – sie steigen die Treppe herab – still! horch! – es rasselt der Schlüssel im Schloß – er wird umgedreht – die Thüre ist offen – die Thüre ist offen – die Thüre ist offen!!«

Wunderbar ist die blitzartige Schnelligkeit, mit welcher in einer Krisis wie diese Gedanken die Seele durchziehen. In weniger als einer Sekunde hatte die meinige das ganze Geheimniß enthüllt, und ich konnte meine Befreiung aus dem Grabe berechnen, bevor sie noch stattfand. Doktor Linnel war früher zurückgekommen, als man erwartet hatte; sein früherer Verdacht war durch die ungebührliche Eile meines Begräbnisses bestätigt worden; er hatte sogleich Menschen abgeschickt, mich wieder auszugraben; seine Geschicklichkeit entdeckte schnell, daß ich nur in einer Ohnmacht lag; er würde mich wieder ins Leben zurückrufen; ich würde im Stande sein, meine gehorsame und theilnehmende Tochter zu belohnen und meinen unnatürlichen Sohn zu bestrafen; ich würde mich vielleicht noch mehre Jahre eines Lebens erfreuen, das mich glücklich machte durch das Bewußtsein, im Angesicht des Himmels frei von Vorwürfen und meinen Mitmenschen nützlich zu sein. Nie, nein, nie, sollte ich auch hundert Jahre leben, werde ich den Strahl von Begeisterung vergessen, der in diesem Augenblicke meine Brust elektrisirte! Hoffnung beseelte mein klopfendes Herz, ich schlug in Gedanken die Hände zusammen und rief voll Freude und Entzücken: »Gerettet! gerettet! gerettet!«


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