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Der Gutsherr von Kniephof fuhr mit Vater und Schwester durch den hellen Vorfrühlingstag, der über dem weiten Land aufgebaut war, als sei er irgendwie aus der dunkeln, duftenden Erde gewonnen, sei der Sinn der Scholle, ihr eigentlichstes, verklärtes Wesen. So wunderbar warm und innig lagen sie aneinander, Erde und Licht, Ackerkrume und lockernde Luft, daß man wirklich eines aus dem anderen verstehen konnte und aller Zweifel aus der Welt wie weggeblasen war.
Die Scholle reckte grüne Spitzen vor, und jeder Halm hatte nun, nachdem er durch Bohren, Wühlen und Heben sein Teil getan hatte, ein heiteres Selbstgefühl, er brauche sich bloß von den Säften durchströmen zu lassen, um etwas ganz Besonderes zu werden. Er zielte nach dem blauen Himmel, wo es weiße, streifige und flockige Wolken gab, Kränzlein und Blumensträuße, windgebogene Federn und allerlei phantastisches Zeug, das sich ausnahm, als sei es dieses Frühlingstages leichtsinniges Gedankenflitterwerk.
Der Gutsherr von Kniephof saß mit dem Vater auf dem Vordersitz und erklärte: hier komme Raps dran, da Klee und Hafer, dort müßte es bei Kartoffeln bleiben. Das war alles knapp und bündig, Freud und Leid gemischt, Erfolg und Mißlingen nahe beieinander, wie im Leben als Ganzem und überhaupt, und man konnte froh sein, daß neben so viel Nachtfrösten, krankem Vieh, toten Lämmern, hungrigen Schafen, Mangel an Stroh, Geld, Futter und Dünger doch noch immer ein unverwüstliches Wachstum durchbrach, solch ein unverdrossenes Vertrauen der Erde auf sich selbst, dem kein Fehlschlägen und keine menschliche Ungeschicklichkeit etwas anhaben konnte.
Hinten im engen Korb hockte Malwine mit einer Faust voll trockener Kletten vom vorigen Jahr, die sie irgendwo in einem Scheunenwinkel aufgelesen haben mochte, und die sie nun auf des Bruders dunkelgrünem Rücken anzubringen trachtete. Die kleinen, borstigen Bällchen hefteten sich mit ihren winzigen Widerhaken in den rauhen Stoff des Leibrockes, und man sah, daß Malwine offenbar darauf ausging, des Bruders Monogramm darzustellen. Das O war schon wohlgerundet, und dem B fehlte nur mehr der Bauch.
»Und die Steuern …« fuhr der Gutsherr fort, indem er Tamerlan mit der Peitsche über den scheckigen Rücken wischte, »das drückt und quetscht und dreht an der Schraube, bis unsereiner keinen Groschen mehr im Sack hat.«
Des Rittmeisters Nicken war heftige Zustimmung. Darin war kein Unterschied östlich oder westlich von der Elbe. Stettin oder Merseburg, die Regierung wünschte nichts sehnlicher, als die Staatsbürger allesamt zu Dukatenmännlein zu verwandeln. Und wenn man mal unversehens in die Tasche griff, so fand man sicher schon die Hand des Fiskus darin. Wenn es trotzdem voran ging, wie jetzt auf Kniephof, so mußte einer höllisch hinterher sein. Der Bengel! Dem schien zu gelingen, was ihm selbst versagt geblieben war, und wenn Wilhelmine jetzt von den Himmelswiesen auf deren irdische Gegenstücke an der Zampel niedersah, so mochte das schöne Lächeln verklärter Zufriedenheit ihr Gesicht durchleuchten.
»Drüben,« Otto zeigte mit dem Peitschenstiel auf eine Birkengruppe an einem morastigen Wiesenstreifen, »drüben haben wir seit einiger Zeit ein neues Gespenst. Bei Neumond hört man's wimmern … aus dem Sumpf steigen gedrehte Flämmchen, sehen aus wie Paragraphenzeichen, und über die Bäume fliegt's wie feurige Schwänze oder brennende Perückenzöpfe … ich vermute, es muß dort jemand von der Regierung in Stettin ertrunken sein.«
Malwine hielt den Atem an und rückte näher. Kindergruseln war noch überall in der Heimat versteckt und kam am helllichten Tag, unter lachendem Himmel vor, schlüpfte zu behaglichem Grausen ins Herz.
»Und nahebei, gleich drüben, im Steinbruch … dort ist es jetzt auch ganz schauerlich, dort spukt eine ungeratene Schwester. Die fuhr einmal hinter dem Bruder auf dem Korbwagen und benahm sich ohne Respekt wie eine richtige ungezogene Göhre. Er tat zuerst, als merke er nichts, aber als das Maß voll war, da fuhr er plötzlich herum …«
Und schwapp! da fuhr der Bruder auch wirklich herum und packte eine kleine Faust voll trockener Kletten. Malwine schrie auf, der große Bruder beugte sich von seinem erhöhten Sitz, daß es aussah, als begnade Zeus eine Sterbliche, faßte mit der Linken ein rosiges Ohr und leckte dann mit einer breiten, nassen Zunge vom Kinn bis unter den Hutrand über das Mädchengesicht.
»Ein Schweinekuß!« lachte er, »zur Strafe!«
»Pfui! Du bist abscheulich!« Das junge Ding bog sich, prustete, sprühte lachenden Zorn, wischte mit einem kleinen Taschentuch heftig Wangen, Mund und Nase.
»Du bist ja nicht gemalt!«
»Du hast schöne Manieren angenommen, in deinem Kniephof.«
»Wenn ernste Männer reden, treibt man keinen Unfug. Jetzt nimmst du mir die Kletten weg, sonst komm ich noch einmal …« Tamerlan, der im Begriff gewesen schien, auf offenem Wege einzuschlafen, fühlte wieder Zügel und Faust und setzte sich in einen beflissenen Trab; Malwine begann gehorsam von des Bruders Rücken die Kletten zu lesen, alles war wieder seinem Willen untertan.
»Jetzt will ich dir etwas von den Stettinern erzählen,« sagte Otto. »Der Prediger in Külz meint, die Kirche brauche ein neues Kleid. Das Wort Gottes dringe nicht so leicht in die Herzen der Gemeinde, wenn die Kirche nicht frisch getüncht wird. Der Kirchenpatron von Külz aber ist mit Steuern im Rückstand und meint, die alte Tünche könne noch bis zum Herbst ihren Dienst tun. Der Prediger geht an die Regierung, die Regierung gibt ihm recht und dem Kirchenpatron unrecht. Es muß partout getünchet sein. Der Landrat soll den Kirchenpatron dazu verhalten. Wer ist der Landrat? Herr Bernhard von Bismarck! Der ist aber verreist! Und wer vertritt ihn, wenn er verreist ist? Sein Stellvertreter! Wer ist das? Herr Otto von Bismarck. Der soll den Kirchenpatron von Külz zur Tünche anhalten! Und wer ist der Kirchenpatron von Külz? Auch Herr Otto von Bismarck. Ich soll mich selbst dazu verhalten, aber ich will nicht. Wie mache ich das?«
»Was hast du getan?« fragte der alte Herr, und sein breites Lachen klang in das des Sohnes.
»Was tut man in solchen Fällen? Nichts! Ich warte, bis Bernhard zurück ist. Indessen sammle ich Stettiner Nasen, weil ich nicht meine Pflicht tue. Zu Weihnachten kommen sie in einen Korb, jede kriegt eine rote Masche, und dann verehre ich das Ganze dem Bülow, weil der die Bürokraten auch so gerne hat. Bist du fertig, Star?«
»Warum Star?« fragte Malwine.
»Du krabbelst an meinem Rücken herum wie die Stare den Schafen, wenn sie ihnen das Ungeziefer aus der Wolle suchen.«
»So bist du das Schaf!« schlug sie blitzschnell hin.
Der Bruder wandte sich auf seinem hohen Sitz, öffnete den Mund und ließ die Zunge baumeln wie ein lechzender Hund. »Nein, nein!« schrie Malwine und kreuzte die Arme vor dem Gesicht, und das war nun wunderhübsch anzusehen, wie sie darunter vor und dazwischen den Feind anlugte.
»Ja wahrhaftig bin ich das Schaf,« sagte der Bruder in einem Baß, der zwei Meilen hinter dem Anbeginn der Zeiten herzukommen schien, »und ein dämliches dazu, daß ich mir so etwas gefallen lasse auf meinem Grund und Boden, du Drossel, du Spatz, du Schopfhuhn. Wer ist denn da eigentlich der Herr?«
Als er sich aber Tamerlan und dem Weg wieder zukehrte, da erwies es sich, daß man Herr auf seinem Grund und Boden sein und doch nicht tun kann, was man möchte. Denn man war in einen Hohlweg eingefahren, und da man eben um die Ecke bog, kam von der anderen Seite Hermann Schnuchel mit seinem Gefährt, und nur mit raschem Äh! und Rückwärtsreißen vermied man den Zusammenstoß.
Hermann Schnuchel aus Jarchelin hatte zwei Gesichter wie Janus. Das eine war das hinterpommersche langmütige Untertanengesicht, und dem war anzusehen, daß es der Obrigkeit Gehorsam trug und die von Gott eingesetzte Weltordnung von Rang und Stand, von Höher und Tiefer achtete. Das andere aber war über die härtesten Knochen Preußens gespannt, und wenn er dies aufgesetzt hatte, so war ihm Staat und Himmel vollkommen wurscht und galt ihm nichts als der eigene Schädel, und der war ja nun so dick, daß man mit ihm Wände einrennen konnte. Man sagte, daß es sich nach seinem häuslichen Zustand richte, ob er den friedlichen oder den kriegerischen Hermann Schnuchel zeige, und daß letzterem zumeist durch einigen Aufguß die richtige bäuerliche Borstigkeit verliehen werde.
Das Verhängnis wollte es, daß er heute gerade den kriegerischen Janus aufgesetzt hatte und daß ihm sein wilder Geist einblies, an dieser Stelle, wo man einander nicht ausweichen konnte, gebe es für ihn nur ein Vorwärts.
Bismarck maß die Entfernung vom Hohlwegrand. »Schnuchel,« sagte er, »vorbei geht's nicht. Einer muß zurück.«
»Ja,« sagte Hermann Schnuchel, nahm die Pfeife aus dem Mund und spie braunen Tabakssaft neben den Zügel.
»Nehm Er seinen Gaul und geh Er zurück.«
Aber Hermann Schnuchel blieb auf seinem Platz hocken, blinzelte in die Sonne und ließ die Zügel auf den Rücken seines schwarzen Pferdes klappen. Er hatte nichts gegen Herrn von Bismarck, wie niemand etwas gegen ihn hatte, aber mit dem Ausweichen war es heute nichts, und wenn anstatt des Herrn Kreisdeputierten der König da gehalten hätte.
»Schnuchel, soll ich vielleicht Ihm ausweichen?« fragte Bismarck, und in seiner Stimme war ein heller, sirrender Ton wie von einer scharf gespannten Saite. Malwine legte dem Bruder die Hand auf den Arm, aber da war nichts von Zorn, da war nur Vergnügen an der Probe der Kraft. Bismarck maß den Mann, den Wagen und das Pferd. Der Wagen war derb gefügt und hätte sich mit Sicheln an den Radspeichen als eine Art von Kriegswagen verwenden lassen können, der Gaul sah aus wie das trojanische Pferd, und oben darauf hockte Hermann Schnuchel, breit und schwer, die Rechthaberei in eigener Person. Das Ganze nahm sich aus, als fahre der alte Wendengott Püsterich über Land. Es war ein böses Anbinden mit diesem Unding von Gefährt.
»Schnuchel, wir fahren den Hohlweg entzwei, und Er macht mir Feldschaden.«
Aber Schnuchel blinzelte bloß nach links und rechts in die Felder und schien entschlossen, bis zum jüngsten Tag hier zu bleiben, wenn der Gegner nicht wich.
»Schnuchel, wenn ich wieder Brunnen bohre, so spanne ich Ihn ein, mit dem Kopf nach unten. Da kommen wir bis zu den Schwarzen, auf der anderen Seite der Erde.«
Hermann Schnuchel aber war auch dem Humor unzugänglich, nur sein trojanisches Pferd begann den Kopf auf und ab zu schleudern, hob den Schweif und ließ seine runden Äpfel, aus deren jedem ein kleines blaues, warmes Rauchfähnlein in den Frühling wehte, auf den Weg fallen.
Bismarck hob sich auf dem Sitz, wie ein Rennfahrer: »Seh Er sich vor, Schnuchel,« schrie er, »das Unheil komme über Ihn.« Er drängte Tamerlan zurück, schmitzte ihm die Peitsche scharf über den scheckigen Rücken, daß der Gaul einen richtigen Satz machte. Aber auch Schnuchel hatte die Zügel angezogen, und das trojanische Pferd fiel in einen bäuerlichen Trab.
Im nächsten Augenblick krachte das Himmelsgewölbe, die Erde drehte sich irgendwie plötzlich krampfhaft um, der Rand des Hohlweges wurde gegen die Köpfe geschleudert, man hatte ein breites schwarzes Pferdemaul über sich, Räder knarrten, die ganze Frühlingswelt machte eine Wendung von oben nach unten, jemand kreischte …
Da saß die ganze Bismarcksche Familie nebeneinander auf der Erde. Malwine ordnete eilig ihre Röcke, der Rittmeister angelte nach seinem Hut, der Herr Kreisdeputierte klappte ein Dreieck in seinem rechten Hosenbein auf und zu, und Hermann Schnuchel aus Jarchelin verschwand im Hintergrund der Ereignisse, ohne sich umzusehen. Sein breiter Rücken schien den ganzen Hohlweg auszufüllen.
Der leichte Korbwagen, in dem man gekommen war, hing auf drei Rädern, eine Seite war eingedrückt, und die gebrochene Deichsel starrte in den Weltraum hinaus. Tamerlan stand im zerrissenen Gestränge und drehte den Kopf fassungslos nach der Bescherung.
»Hol mich der Deubel!« sagte Bismarck, und sein Lachen kam breit und gewölbt aus der Brust, »ist das ein Dickkopf. Mit solchen Kerls wollte ich mal in die Franzosen fahren.«
Dann machte er sich daran, den Gaul auszuschirren. Der zerschellte Wagen blieb auf dem Kampfplatz zurück.
Man fand das ganze Haus voller Gäste.
In Gramenz bei Senfft von Pilsach war eine Art von Frühlingsfest gewesen. Da waren sie zusammengeflogen, konnten, wie dies oft geschah, nicht so bald auseinandergehen, schwirrten weiter und setzten sich in die Kniephöfer Flur, ein lustiger Schwarm von schwatzenden Menschen.
Der Hausherr kam mit Vater und Schwester zu Fuß, den stumpfsinnig gewordenen Tamerlan am Zügel nachziehend. Der Einmarsch erregte Verwunderung, Reinhold von Thadden tanzte auf einem Bein: »Don Quichote von Kniephof!« Er war zehn Jahre jünger als Bismarck.
»Hermann Schnuchel! Ein Hoch auf Hermann Schnuchel, der Otto auf die Erde gesetzt hat.« Moritz von Blankenburg rieb ein Glas auf dem Tisch, denn man hatte es sich in Abwesenheit des Hausherrn in der Gartenlaube bequem gemacht. Aber er trank nicht etwa dem entfernten Sieger zu, sondern suchte sanft und zärtlich über den Rand des Glases die Augen des Fräuleins von Thadden.
Durch das kahle Geäst, das sich um das Lattenwerk der Laube spann, brannte die Nachmittagssonne mit sommerlicher Begeisterung. Altes Gerät stand auf dem Tischchen zusammengedrängt, auch das Porzellan mit den Schönhausener Ansichten war wieder aus Berlin zurückgekehrt, und die schlanken Römer blühten dazwischen wie volle Tulpen.
Malwine und Marie von Thadden neigten sich zueinander, mädchenhaft vertraut; dürftig und kümmerlich drückte sich das ältliche Fräulein von Schötteritz hinter sie, während ihre Augen nicht von Bismarck wichen.
Schötteritz rückte das gichtische Bein auf seinem Liegestuhl: »Wenn du mit auf Gramenz gewesen wärst, so wäre dir das nicht passiert.«
Bismarck zeigte sein liebenswürdigstes Lächeln vor: »Leider hat der Tag noch immer nur vierundzwanzig Stunden, und ich habe die Kunst noch nicht erfunden, an zwei Orten zugleich zu sein. Der Vater war reisemüde. Und schließlich: was mache ich mit Einladungen hinten und vorne, kauft mir doch einmal ein Stück Mastvieh ab.«
Sie lachten dröhnenden Beifall.
Friederike von Schötteritz streckte ihr gelbliches, dürres Gesicht gegen die Schulter Malwines: »Es hätte ja auch wirklich ein Unglück geschehen können. Er ist so unbändig!« Sie hatte den großen Helden gefunden, der alle anderen überstrahlte, aber nun bangte sie um seinen Leib und seine Seele.
»Ja,« lachte Malwine, »man muß meine Strümpfe bis zu den Knien gesehen haben.«
»Gott hat seine Hand überall,« sagte Marie von Thadden ernst.
»Auch in den pommerschen Hohlwegen,« lachte Bismarck, der alles zu hören schien.
Senfft von Pilsach fing das Wort im Flug. »Ja … mit unseren Wegen überhaupt. Wasserstraßen gehören nach Pommern. Das ist eine einmalige Auslage, dann gibt's kein Bessern mehr und kein Bauen. Mit dem Wasser ist es wie mit dem Geld. Wo es ist, weiß man nichts damit anzufangen, und wo es nicht ist, könnte man es brauchen. Aufgabe: es von der einen zur anderen Stelle zu bringen. Entwässern und Bewässern, das ist das Programm der Zukunft. Was ist Pommern und die Mark? Entweder Sumpf oder Sand. Ausgleichen, meine Herren, ausgleichen!«
Aus Schötteritzens Liegestuhl grollte es lustig: »Er redet wie ein Demokrat.«
Im Regenwalder Verein, Bülows Gründung, hatte man die Frage nach allem Für und Wider erörtert, man hatte sie breit geklopft und langgezogen, durch das Sieb geschüttelt und zur Essenz verarbeitet. Die Meinungen gingen noch immer auseinander, die Gemüter gerieten auf wässerigem Weg in Hitze.
Aus einem kleinen, herzlichen Geklingel von Gläsern, das die Jugend verband, wandte sich Bismarck an den Sprecher: »Wenn es nach Ihnen ginge, lieber Senfft, so setzten wir das ganze Land unter Wasser … Sie … Sie Neptun von Pommern!«
Nun hatte Senfft von Pilsach wirklich etwas von einem Wassergott, eine umfängliche Bauchpartie, die zur Aufnahme von Luft eingerichtet zu sein schien, dehnbar wie eine Fischblase. Eines der besten Gehirne der ganzen Landschaft war in einen kugelrunden Schädel eingebaut, einen runden Seehundskopf mit Froschaugen und einem Wallroßschnurrbart, dessen dünne Fransen über wulstige Lippen hingen. Man stellte sich ihn sogleich vor, wie er, nackt und grün, mit einem Fischschwanz hinten und einem Dreizack in der Hand, die Fluten der Zampel hinabglitt. Die Mädchen kicherten dem Bilde zu.
»Nein, mein Lieber,« sagte der pommersche Neptun gutmütig, »lassen Sie nur. Denken Sie an Hermann Schnuchel.«
»Spaß! Wenn mich einer über den Haufen rennen will, kann mir das auf einem Kanal auch begegnen. So bin ich wenigstens trockenen Fußes davongekommen. Und die Gefahren des feuchten Elementes! Ich bin stolz darauf, beim letzten Hochwasser ist ein Teerfahrer samt seinem Pferd in der Zampel ertrunken. Und mir hat es einen Wagen mit drei Fässern Spiritus fortgetrieben. Aber das darf doch nicht der normale Zustand werden.«
Senfft von Pilsach ereiferte sich: »Übertreiben Sie nicht, Bismarck. Das Wasserteilungsgesetz wird kommen, da können Sie nicht gegen an. Es handelt sich darum, Ordnung in die Sache zu bringen, und dem Staat muß das Recht gewahrt bleiben, unter Umständen das Privateigentum zu enteignen.«
»Ich will Ihnen etwas sagen.« Bismarck setzte sich rittlings auf seinen Stuhl wie in Göttinger Studententagen und legte die Arme auf die Lehne. »Ich weiß eine Geschichte aus England. Ich habe einen Lord in Aachen kennen gelernt, der in selbstgewählter Verbannung lebt, der niemals in die Heimat zurückkehren wird. Wissen Sie, warum? Man hat ihn ›enteignet‹. Man hat ihm durch seinen Park eine Eisenbahn gebaut. Er hat dreizehn Schlösser, dieser Mann. Der Park des einen wird von einer Eisenbahn zerschnitten. Der Mann könnte in einem der zwölf anderen wohnen. Er tut es nicht, sein Rechtsgefühl ist verletzt, er hat sein Land verlassen. Verstehen Sie das?«
Bewunderung umrann ihn, drei Mädchen ergaben ihm ihre Seelen, die Schwester in alter Treue, Marie in neugieriger Freundschaft, Friederike in schrankenloser Vergötterung.
»Nein,« sagte der pommersche Neptun, »das verstehe ich nicht, und das mißbillige ich entschieden. So eine Landesflucht ist Verrat an Volk und Staat. Das Interesse der Gesamtheit steht höher als das des einzelnen. Wohin kämen wir, wenn ein einziger Dickkopf eine Einrichtung verhindern könnte, die Hunderttausenden zugute kommen soll. Der moderne Staat muß solche Widerstände brechen können, er muß unter Umständen das Privateigentum an sich nehmen.«
Äußerlich war Bismarck nichts anzumerken, sogar das Lächeln blieb um seine Lippen stehen, aber dennoch ging irgendwie eine dunkle Kraft von ihm aus, die mehr von seinem Wesen sagte als diese feste Ruhe. Oder stieg sie aus dem Boden empor, drang sie aus der kühl gewordenen Luft auf ihn ein und verdichtete sich um ihn als ein Niederschlag dieser ganzen Menge von Körperlichem und Geistigem, das man Heimat nennt? »Der Staat!« sagte er, »was ist das? Das ist eine Konstruktion! Der Staat, der enteignen will, das ist der Staat der Beamten, die für den Fortbezug ihres Gehaltes sorgen und für den Bestand der Mittelmäßigkeiten, aus denen sie stammen. Wissen Sie, was Preußen ist? Wir – und der König. Sonst niemand. Ein Staat, der mir mein Eigentum nehmen will, ist nicht mein Staat. Hat mir der Staat mein Eigentum gegeben? Nein – also kann er es mir auch nicht nehmen.«
»Aber er entschädigt Sie doch dafür!«
»Sie können es mir gar nicht in Geld bezahlen, wenn Sie an meinem Land rücken. Soll ich Geld dafür nehmen, wenn man mir den Park meines Vaters in einen Karpfenteich oder das Grab meiner seligen Tante in einen Aalsumpf verwandelt? Ich habe ein Gutachten über die ganze Geschichte zu erstatten. Da werden Sie ja lesen, was ich zu sagen habe.«
Er stand auf, faßte den Stuhl mit beiden Händen, und da sah das hölzerne Ding wie ein Spielzeug aus: »Auf meinem Grund und Boden bin ich Herr – sonst niemand! Übrigens, Malwine, du frierst! Es ist kalt geworden … wir gehen hinein …«
Ganz sanft wurde der Stuhl hingesetzt.
»Begraben wir den Tomahawk,« sagte Bülow; »wenn ein paar redliche Männer, jeder nach seiner Art, das Beste wollen, so muß sich zum Schluß ein Verein finden lassen.«
Die Sonne lag irgendwo tief zwischen dürrem Gezweig, die Nacht wehte Frost vor sich her, was Grünes war, krümmte sich in Angst vor der Dunkelheit und der Kälte. Mit besorgtem Blick sah Bismarck in die Röte des Himmels, sein Bauernherz bangte um das Wachsen und Gedeihen ringsum.
»Ja,« sagte der alte Rittmeister, und es war wie ein nachschleppendes Bruchstück des Gespräches, »im Jahre 1562 hat uns der Hans Georg Burgstall genommen. Das sind sie uns heute noch schuldig.«
Man schwieg höflich und dachte, daß der alte Herr anfange kindisch zu werden; nur der Sohn verstand ihn ganz genau und nickte Mitwissenschaft.
Die drei Mädchen hingen Arm in Arm aneinander, wehten dem Haus zu. »Nun, wie steht's?« flüsterte Marie.
Malwine kroch enger in ihr Tuch: »Noch kein Wort darüber.«
»Mein Gott, der Arme … er läßt sich nichts merken! Sie ist keine Frau für ihn.«
Jedes Wort ätzte Friederikes Herz, sie wußte, daß sie noch heller sah als die anderen und hüllte sich in ihren einsamen Schmerz. Moritz von Blankenburg tauchte mit einem Scherz neben Marie, tastete unter dem Umhang nach ihrer Hand und nahm ihren zärtlichen Druck.
»Und Ihr?« fragte Malwine.
»Zu Ostern! In ein paar Tagen, dann darf man's wissen,« sagte Blankenburg hell. »Ich muß mein ganzes Leben lang Gott für so viel Glück danken.«
Johann steckte die Lichter im Gartensaal an, dann näherte er sich dem Herrn und meldete hinter der breiten Tatze, ein Postauftrag aus Stettin sei gekommen, etwas Amtliches, und man habe einen Taler erlegen müssen.
Bismarck staunte ihn an, dann schoß ihm das Begreifen ein: »Hol mich der Deubel! Die Stettiner haben mich beim Wickel. Da muß man doch gleich nachsehen. Die Herrschaften sind höflichst eingeladen!«
Man fragte durcheinander, aber der Hausherr schob sie alle vor sich her; lachend und polternd fuhrwerkte die junge Bande die dunkle Treppe hinan, als wollten sie das Haus mit Lärm auseinandersprengen; sie hielten sich an den Händen und tobten so als Kette die Stufen hinauf, daß selbst Friederike, dies Stück sauerer Elendswelt, das am Ende hing, ins Kreischen und Fuchteln kam. Die gesetzten Herren stiegen würdevoll schnaufend hinterher, und nur Senfft von Pilsach meinte, Bismarck führe sie hier als echter Räuberherbergsvater in Dunkelheit und Verderbnis, hauptsächlich deshalb, um ihn, seinen Widerpart in Wassersachen, los zu werden. Er habe aber ein Testament bereitgelegt, und in dem sei seinem Nachfolger aufgetragen, vor allem nichts eifriger zu betreiben, als daß mitten durch Kniephof ein großer Kanal für Ozeandampfer gestochen würde.
Indessen war man in Bismarcks Arbeitszimmer angekommen, und nun hieß es stillhalten, denn hier war man gänzlich im Unbekannten. Moritz von Blankenburg warnte, einen Schritt zu tun; schließlich: Treppen seien Treppen, und da könne man entweder hinauf oder hinab purzeln, da gäbe es keine sonderliche Überraschung gegen die Ordnung der Natur, was aber in Bismarcks Arbeitszimmer auf sie lauere, könne der gemeine Verstand nicht ermessen. Atem anhalten und aufpassen sei die Losung.
Als aber das Licht auf dem Schreibtisch angezündet war, wies es sich, daß dieses Zimmer nur der im Dunkeln unbändig gewordenen Phantasie voll Abenteuer und Gefahren gewesen war. Im Schein der Wirklichkeit zeigte es sich als ein etwas kahler Raum mit Bücherschränken und Glaskasten, ohne Falltüren und geheime Nischen, ohne den wüsten Luxus, mit dem der Klatsch bisweilen Bismarcks Einsamkeit ausstattete. Es war keine peinlichere Sauberkeit da, als ein Junggeselle haben durfte, ohne pedantisch zu sein, und gerade so viel Unordnung, um das Alleinsein romantisch zu verklären. In den Bücherkästen sah man allerlei Historisches, Schlosser und Ranke, neben Dantes grandiosem Ernst mimte Eugen Sue weltmännische Allüren und Kenntnis aller Laster der Abgründe der Kultur, und man konnte es nicht begreifen, wie es die gute Tante Friederike Bremer mit ihrem Strickstrumpf als seine Nachbarin im selben Bücherkasten aushielt.
Auf einem langen Ausziehtisch lag zwischen Getreideproben das Rechnungsbuch, und dem war anzusehen, daß jeder Tag mit allem Erwerb und Verderb darin seine genaue Spur zurückließ, und daß Ordnung und Gewissenhaftigkeit zwischen den Zeilen auf und ab spazierten und Nachschau hielten. Damit aber das Genialische nicht gänzlich verleugnet sei, war ein kleines Buch quer über das rote und schwarze Gitterwerk mit den kletternden Zahlen geschmissen.
Friederike von Schötteritz hatte in diesem Zimmer keinen Atem. Sie hielt die Hände vor die dürre Brust geschlagen und war ganz in eine schmerzliche Verzückung gelöst. Hier war das Heiligtum ihres Heros, hier dampfte sein Geist über den Büchern, hier sprach er mit den anderen Großen der Menschheit. Zögernd näherte sie sich dem Büchlein, erschauernd las sie: Byron »Childe Harold«. Das schlug ihr wie süße Hitze ins Gebein, und alle bleichen, schwarzlockigen, wilden, verstörten, lästernden, schrecklichen Helden des Dichters einten sich ihr mit einemmal in Bismarck.
Der hatte inzwischen das amtliche Schreiben erbrochen und hielt es empor: »Es ist, wie ich es erwartet habe. Der Kreisdeputierte Otto von Bismarck hat wegen unterlassener Verhaltung des Kirchenpatrons von Külz nach mehrfacher vergeblicher Monierung von seiten der hohen Regierung zu Stettin eine Ordnungsstrafe von einem Taler erhalten.«
»Na … na!« sagte Bülow, »machen die Zöpfe solche Zicken.«
»›Ordnung muß sein‹, sagt mein Freund Senfft von Pilsach,« fuhr Bismarck fort, »und so lade ich die Herrschaften ein, Zeuge zu sein, wie rasch die königlich preußische Verwaltungsmaschine arbeitet.« Er ging auf die Tür zu, riß sie auf und brüllte hinaus: »Der Herr Kirchenpatron von Külz soll kommen!«
Zu nicht geringem Erstaunen der Gäste verließ er selbst das Zimmer, öffnete jedoch im nächsten Augenblick wieder und trat mit einer Verbeugung in der Richtung des Schreibtisches ein.
Hierauf wandelte er voll bedachtsamer Würde zum Schreibtisch und ließ sich in den zersessenen Stuhl nieder, aus dessen schwarzem Lederüberzug ein Büschel Roßhaar übermütig herausgedreht war. Mit einem Nicken gegen die Stelle, wo er vorhin selbst gestanden hatte, fragte er: »Sie sind der Kirchenpatron von Külz?«
Er sprang auf, machte kehrt, stand stramm: »Zu dienen, Herr Kreisdeputierter!«
Er warf sich in den Stuhl, holte aus der Schreibtischlade einen Bogen Papier, prüfte eine Kielfeder am Daumennagel und spießte die Imagination des armen Sünders, die vor ihm stand, mit einem Vernichtungsblick an seine Schuld. Nachdem er aus einem langwierigen Federgeschnörkel das Wort Protokoll herausgeholt hatte, grollte er dumpf: »Sie heißen?«
Sogleich war er aus dem Sessel draußen, stand vor dem im Stuhl zurückgebliebenen Schatten seiner selbst und antwortete sich: »Rittergutsbesitzer Otto von Bismarck … zu dienen!«
Schon war er wieder vor dem Schreibtisch und setzte unter das herrlich geschwungene »Protokoll« die Worte: »aufgenommen am 25. März 1842 vor dem Kreisdeputierten Otto von Bismarck in Vertretung des beurlaubten Landrates Bernhard von Bismarck in Angelegenheit des Rittergutsbesitzers Otto von Bismarck als Kirchenpatrones von Külz wegen Tünchung der Filialkirche zu Külz.«
Jetzt erst begriff man den Sinn des grotesken Spieles, und ein pommersches Gelächter brach los, das den Mörtel von den Wänden löste und die Nägel in den Schindeln des Daches lockerte. Nur Friederike von Schötteritz konnte nicht mitlachen, ihr zartes Empfinden warf dieser Scherz aus dem Bild des Byronschen Helden. Unbeachtet stand sie neben dem wilden Recken, niemals fiel ein Strahl auf ihre Liebe; sie sah, wie er sein Herz an eine andere hingab, hoffnungslos hüllte sie ihn in ihre Träume und glaubte ihn so enger zu besitzen, als irgendeine andere. Was man sich von seinem tollen Leben, seinem Reiten, Spielen, Lieben erzählte, war Gift für sie, an das sich ihre Seele gewöhnte; ihr dünnes Blut wurde durch die Erzählung seiner Abenteuer berauscht, und in einer tiefen Traurigkeit rang sie um sein besseres Ich. Zu diesem romantisch verklärten Helden wollte es nicht passen, daß er sich mit einem derben Scherz selbst verspottete; von ihrem durchsichtigen Seelchen führte kein Weg zu den trotzigen Schwänken Eulenspiegels, zu den Übertreibungen und Späßen Münchhausens, deren Blut auch in Bismarck war und zum Übermut drängte.
Indessen aber fuhr Bismarck fort, sich selbst grimmig und punktatim nach der Külzer Tüncherei zu befragen und sich seine Antworten zu geben, die auf ein Hinausziehen der rückständigen Steuer wegen ausliefen. Ringsum lachte ganz Pommern, und Bismarck setzte Frage und Antwort, einmal als Kreisdeputierter auf die eine, dann als Kirchenpatron auf die andere Seite des halbgebrochenen Bogens und sorgte dafür, daß die Einwendungen des Kirchenpatrons im rechten Lichte ständen. Zuletzt unterschrieb er das Protokoll, einmal auf der linken und einmal auf der rechten Seite, bestätigte sich selbst die Richtigkeit und stülpte das Sandfaß darauf.
»Schade,« sagte Schötteritz, indem er die Lachtränen von den Wangen wischte, »daß die Regierung in Stettin nichts davon hat.«
»Sie soll nicht um ihr Vergnügen kommen,« antwortete Bismarck; und er faltete den Protokollbogen in Amtsformat, schnürte und versiegelte ihn und schrieb in seinen behaglichsten Buchstaben oben drauf: »An die hohe königliche Regierung in Stettin.«
Am Ende des langhingedehnten Nachtessens, dort, wo es in die zwanzigste Flasche ging, wurde beschlossen, morgen zeitig nach Trieglaff zu den Thaddens aufzubrechen.
Bismarck, der gern lange in den Federn lag, warnte vor solchem Vornehmen. Er wurde überstimmt und mußte sich den Gästen unterwerfen.
Die drei Mädchen, die eine Kammer im Obergeschoß teilten, hörten die Männer etwas schweren Schrittes durch das Haus gehen. Die alten Holztreppen ächzten, einmal fiel eine Tür sehr laut ins Schloß.
Von tausend Neuigkeiten und überaus wichtigen Dingen bisher wach gehalten, lauschten die drei, ob sie bekannte Tritte unterscheiden könnten. Jemand trug eine Stalllaterne über den Hof, der Schein drehte sich in wirren Segmenten über die Zimmerdecke, ein Heimchen zirpte unten im Backraum, das blieb in der schönen Wärme den ganzen Winter über lustig und in der Nacht lief sein Sägen und Rupfen durch alle Mauern des Hauses, als seien sie eigens so künstlich erbaut, um den traulichen Ton zu leiten.
Auf dem Flur vor dem Schlafzimmer brechselten Stiefelsohlen, vor dem Schlüsselloch war ein Atmen und Drängen von Körpern. Da fuhren die Decken bis an die Ohren hoch, wie Mäuse lugten die Mädchen aus den warmen Nestern.
»Schläft man schon?« fragte jemand, und das konnte niemand anderes sein als Moritz, kühn gemacht von Wein und Sehnsucht.
Kichern wagte sich in die Dunkelheit, die Glieder strafften sich unter der Decke vor Freude an dem Abenteuer.
»Schläft man schon?« fragte es dringlicher am Schlüsselloch.
»Ja – feste!« antwortete Marie.
»So sage ich es in den Traum. Morgen um sechs Uhr Aufbruch. Gute Nacht.«
Ganz leise wehte es aus den Betten: »Gute Nacht!«
Ein ganz leises Beneiden war doch in Malwine um diese schöne Zuversicht auf die Zukunft, auf dieses langsame Hingetriebenwerden zur Ehe, diese Gewißheit, den Gefährten gefunden zu haben. Und sogleich geriet sie auch wieder auf des Bruders Schicksal, das eben jetzt auf dem Ja oder Nein einer Frau stand.
»Ich sage dir, Ottilie ist keine Frau für Otto. Ich weiß auch gar nicht, warum er gerade auf sie verfallen ist.« Marie von Thadden sagte das so, als wäre es gar nicht dunkel, sondern als verstatte ihr eine übernatürliche Helle, im Kopf der Freundin zu lesen. Sie hob ihre Worte aus der schönen Gemeinsamkeit des Fühlens, die sie mit Malwine verband.
»Sie ist hübsch.«
»Das kann doch nicht alles sein. Dein Bruder ist ein genialischer Mensch, man muß trachten, ihn zu verstehen. Jetzt ist er wild und ungebärdig, seine Kraft will irgendwo hinaus. Ich glaube manchmal, das Leben hier ist zu eng für ihn, er sollte ins Große wirken können.«
»Er hat es selbst so gewollt. In der großen Welt draußen hat es ihn nicht gelitten.«
»Er hat aber doch den Duft dieser Welt mitgebracht, er der einzige, der hier ihre Manieren und ihren großen Zug hat. Die Frauen hier spüren das, alle Mädchen … jede würde glücklich sein …«
»Und er mußte gerade auf diese Ottilie von Puttkamer verfallen. Er schrieb mir einmal im Scherz: Mademoiselle, ich muß sehen, bald zu heiraten … aber schließlich,« fuhr sie eifrig fort, »es ist nicht um Ottilie. Sie könnte er noch gewinnen und erziehen … aber die Mutter mit ihrer eingefrorenen Liebenswürdigkeit, die kann er doch nicht mehr formen.«
»Und ich glaube, er liebt Ottilie sehr!«
»Er ist ganz Glut und Leidenschaft. Er verbirgt es. Ich glaube, sein wahres Wesen bekommt niemand zu sehen. Was er mir schreibt, ist auch nur immer Narrenspossenzeug. Ich fürchte, wenn er allein ist, leidet er sehr.«
Die Betten der Mädchen waren nahe aneinander gerückt, sie lagen Hand in Hand, weich und dunkel gingen die Worte von ihren Lippen, lösten sich in der Nacht. Sie hatten ganz vergessen, daß da, abseits von ihnen an der Wand, noch ein drittes lag – in Qual und Schmerz.
»Die Frau, die für Otto taugt,« sagte Marie, »die müßte etwas ganz Besonderes sein. Ein Gefäß, das die Form von seiner Hand annimmt, und doch dabei ein Stück starkes Selbst. Weißt du … ich denke mir manchmal: du wärest die rechte Frau für ihn … oder ich.«
Eine Stimme kam von der Wand her, eine brüchige, trockene Stimme, und man merkte, daß das, was sie sagte, am Ende einer langen Reihe durchkämpfter Gedanken stand: »Er hat keinen Gott.«
Jetzt war es sehr still, sogar das Heimchen schien beschworen, den starken Anruf zu hören. Sehr zaghaft nur begannen wieder die Geräusche der Nacht, Raunen der Bäume, das Angelgeknarre an einer offenstehenden Tür, ein Tapsen auf den Stiegen, das von einem der Hunde herrühren mochte.
»Ja,« sagte Marie, die Tochter des Bekenners Thadden, »es mag sein. Ihm fehlt die Herzenseinfalt und Frömmigkeit. Ich möchte ihn nicht nach seinem Glauben fragen.«
Und wieder kam diese trockene, erregte Stimme. »Seine Seele ist groß und schön. Aber sie irrt haltlos im Leeren. Sie entwürdigt sich durch Mummerei. Er ist ein verlorenes Weltkind; wer ihn liebt, muß um ihn weinen. Was sucht er? Er weiß es nicht, aber ich weiß es, er sucht seinen Gott.«
Zwei Mädchenhände verkrampften die Finger, drückten sich fest, leiteten die Gedanken über. Friederike war zu alt für die Jugend der beiden, sie stand nicht im Vertrauen, was man ihr geben konnte, war lächelndes und aus Zartgefühl schweigendes Mitleid.
Malwine nahm sich des Bruders an: »Ich glaube aber nicht, daß er ihn durch Ottilie finden würde. Die Puttkamersche Frömmigkeit ist zu selbstgerecht, die bekehrt keinen Sünder.«
Wieder wurde das Schweigen zu schwarzem Samt, die Atemzüge reihten sich tiefer aneinander.
»Um Sechs!« Maries Stimme war schon halb verdeckt. Sie hatte Malwine ihre Hand entzogen, mit der anderen verfaltet und unter die linke Wange geschoben. In dieser Lage pflegte sie einzuschlafen. Noch einmal hatte sie ein sehr weltliches, sündhaftes und schönes Empfinden von der Reife ihres Leibes.
»Du solltest Jean Paul lesen, Malwine,« stammelte sie, »seinen ›Titan‹. Ich habe das Buch herunter … ge … stürzt … wie Champagner. Es ist mein zweites Evangelium …« Sie lachte leise in den beginnenden Traum. »Und … weißt du … Jean Paul … Oder Bulwer … seine Helden sehen aus … sehen aus … ritterlich … groß … Pelham … und ein bißchen unglücklich … wie …«
Dann kam der Schlaf.
Der Nachtwind hatte den Himmel ein wenig verhängt und den Frühling vor Frost bewahrt. Bismarck rettete sich mit Tagesdämmern aus einem stolpernden Traumgewirr, riß das Fenster auf und wusch sich mit kalter Luft und Wasser zugleich.
Er trat auf den Hof, nahm einen der Büsche bei den grünen Knospenaugen und freute sich, daß sie nicht versengt und braun waren.
Der alte Hildebrand schlich zur Schmiede, er war einen Kopf kleiner geworden, fahl hingen ihm die Backen, vom Mund zum Kinn liefen Säbelfalten, vom Schädel flatterte dünnes, graugelbes Haar. An diesem Verfall hatten nicht bloß die Jahre, sondern auch der Kummer gearbeitet. Er sah den Herrn, der sonst zu so früher Stunde nicht auf dem Hof zu finden war, verwundert an.
»Wie steht's, Hildebrand?« fragte Bismarck den Scheuen.
Der Schmied schüttelte den Kopf, krächzte Schleim aus der Kehle, spuckte aus und trat darauf, als wolle er etwas Widriges niederstampfen.
Bismarck sah ihm in die entzündeten Trinkeraugen. »Hildebrand! Der Schnapsteufel bringt Sie um. Kopf hoch!«
Aber der Mann sah schiefen Blicks zu Boden, zog den Hosenbund hoch und schlürfte auf seinen Holzpantinen der Schmiede zu, deren Tor er entriegelte und krachend zuschlug.
Inzwischen kam der junge Hildebrand, der Sohn des Schmiedes, mit den Pferden, die im Stallübermut an den Zügeln tanzten. Es ging gegen sechs, Bismarck musterte die Fenster seines Hauses. Er sah Bülows eingeseiftes Gesicht an einer Scheibe, der Rittmeister winkte morgenfrisch herunter, aus einem der Fenster flog eine Kußhand herab. Nur dort, wo Reinhold und Moritz schliefen, rührte sich nichts, ihre Jugend träumte sorglos in den Tag hinein.
»Wartet, Schwefelbande!« knurrte Bismarck neiderfüllt.
Im Gartenzimmer schrägte allerlei Waffengerät die Wand, Gebrauchs- und Schmuckmordzeug aus fremden und eigenen Landen. Bismarck nahm eine schön ziselierte Duellpistole herab, lud sorgsam und trat in einen ersten Sonnenstrahl, der im Osten unter dem Wolkenbehang durchkroch. Mit Bedacht zielte er auf das Junggesellenfenster.
Oben sägte tiefbeglücktes, ahnungsloses Schnarchen. Reinhold und Moritz schliefen mit Hingebung, im letzten Dämmer des Weinkampfes von gestern abend, Moritz plusterte im Ausatmen die Lippen auf, als wolle er etwas fortblasen.
Ihm war, er ergehe sich in einem paradiesisch schönen Garten, der mit einer Saat von bunten Ballonblüten bestanden war. Es wölbte sich glänzend und in allen Farben den tastenden Fingern entgegen; dieses Rot, Grün, Gelb und Blau war so verlockend prall, daß es eine richtige Versuchung war, diese gespannten dünnen, weichen Häutchen anzufassen. Jedenfalls war es sonderbar, daß die Früchte der Erkenntnis so aussahen, wo man doch von altersher und durch des Moses eigene glaubwürdige Angaben dafür gehalten hatte, sie müßten eine Art von Äpfeln gewesen sein. Und sonderbar war es auch, daß auf der Nichtbeachtung des Gebotes als Strafe stand, der Kniephofer Park würde in einen Aalsumpf verwandelt werden. Moritz von Blankenburg hatte seine eigene Traummoral, und die sagte ihm, daß diese Wasserpantomime doch keineswegs geeignet sei, auf ihn abschreckend zu wirken, weil ihn der Kniephofer Park im Grunde wenig angehe. So hob er also, ein rechter sündiger Adam zweiter Auslage, den Arm und büßte seine böse Lust, indem er eine schöne blaue Ballonblüte mit den Fingern berührte.
Aber das war Höllenspuk und Teufelstrug! Es tat einen Schlag, als habe er durch den Fingerdruck eine mit hundert Tonnen Pulver geladene Karthaune gelöst; der sündige Adam flog aus dem Paradies durch Nacht und Grauen und Vernichtung in einen Frühlingsmorgen und ein Bett. Er hörte Fensterscheiben klirren, an der Decke tat es einen Schlag, und ein ganzer Klumpen Mörtel fiel mitten in die Stube. Da war eine Kugel in die Decke gefahren und hatte ihr eine Wunde geschlagen, aus der Staub nachrieselte. Nebenan, im Mädchenzimmer, quiekte es.
Der Schrecken riß Moritz und Reinhold mit zwei Sprüngen zum Fenster. Da stand Otto von Bismarck unten im Hof, eine Pistole in der Hand, aus deren Mund noch ein dünnes Rauchwölkchen ausging, tat mit ihr einen ritterlichen Salut und rief im vergnügtesten Morgenton: »Ausgeschlafen?«
Es gab einen kleinen Auflauf, man mußte Friederike ein wenig mit wohlriechenden Wassern reiben und ihr Riechsalz unter die Nase halten; die alten Herren bestürmten den wilden Schützen mit lachenden Vorwürfen: wie denn wenn, und was denn dann, worauf Bismarck entgegnete, er sei bereit, jedem von ihnen einen Apfel vom Haupt zu schießen, und er bäte sie nur, sich zu melden. Dann kamen die jäh aus dem Schlaf Geschossenen die Treppen herab.
»Man meint, die Welt stürzt ein,« rief Moritz von Blankenburg, »aber es ist Otto von Bismarck, der seine Gäste weckt.«
»Wartet nur, das jüngste Gericht wird eure Knochen aus den Gräbern noch ganz anders zusammenposaunen …«, wehrte der Hausherr den übeln Segen, der ihm noch zugedacht schien.
Es war notwendig, auf den Schrecken einen Schluck zu trinken. Im Gartenzimmer standen Sekt und Porter, Bismarck brauchte kein langes Zureden, er unterwies seine Gäste, wie diese beiden Getränke, jedes edel in seiner Art, zum Göttertrank würden, wenn man sie mischte.
»Mein Gott, schon am frühen Morgen,« flüsterte die noch immer schreckensblasse Friederike mit verschlungenen Händen, während sie jede Bewegung Bismarcks in ihre angstvollen Augen trank.
Man war in rechter Junkerlaune, man fühlte sich gehoben und königsgleich. Was kostet die Welt? Holla – wenn's darauf ankam, schoß man sich mit dem Teufel übers Schnupftuch. Moritz und Marie waren dicht beieinander, Auge in Auge, wo es nur anging, Hand in Hand. Schötteritz erzählte Geschichten, die waren so gebeizt und gepfeffert, daß man sie nur unter einem Dämpfer von sich geben konnte.
Mitten im besten Frühstücken blies ein Jagdhorn draußen.
An Hildebrands Reitknechtfäusten kämpften die Gäule, die Wagen standen schon längst bereit. Man brach mit Lärm und Gelächter in den Morgen hinein, die Damen verstauten die weiten Röcke in den Wagen, schlangen die Schals um die Schultern, Pelze schmiegten sich um die Knie. Der kranke Schötteritz barg seine gichtischen Beine in ihrer Wärme. Reinhold von Thadden und Moritz von Blankenburg ritten – Schlag links, Schlag rechts – die Ehrenwache. Die älteren Herren machten auf ihren Gäulen Figur.
So klapperte und rollte die ganze Sippe dem Walde zu.
Otto von Bismarck nahm nicht das rasche Tempo der anderen, der alte Rittmeister blieb neben ihm zurück. Seit dem Tode seiner Frau war der alte Herr in geruhige Zeiten gekommen. Niemand reformierte mehr um ihn herum; wenn etwas in Schönhausen nicht klappen wollte, kam Otto von Kniephof herüber und rückte die Karre zurecht. Die Knochen waren etwas morsch geworden, Rheinwein und Rotspohn schlugen nicht mehr recht an, so mußte denn mit Sherry und Portwein kuriert werden. Das Sterben war einem gewiß – am besten, wenn man sich mit gutem Trunk und stiller Vergnügtheit zu Grabe trug.
Wenn es eine Sorge gab, so war es jetzt die um Ottos innerliches Leid, das dem alten Herrn in besserem Verstehen einging als einem anderen.
Kaleb trabte mit seinen langen Beinen über die Waldwurzeln, sein Reiter duckte sich unter den Föhrenzweigen, der alte Rittmeister kam ohne Verbeugungen durch seinen Kniephofer Wald.
»Sekt und Porter!« brummte er, »Junge, du verstehst es. Das muß dich der Neid lassen. Da steckt was drin. Du hast Übung in die Wissenschaft von Getränke.«
Wieder trabten sie schweigend nebeneinander.
»Ich habe heute morgen zugesehen,« fuhr der alte Herr fort, »was ist das mit dem Meister Hildebrand? Der Mensch versauft sich ja vollends.«
»Es ist, seitdem ihm sein Weib durchgegangen ist.«
Nickend bestätigte der Alte. Das lag Jahre zurück, noch in den Zeiten des Rittmeisters. Und eines bösen Tages war das Weib des Schmiedes verschwunden gewesen. Eitel Honigseim und Sonnenschein zu Beginn, dann arger Zank und Schläge durch Sträflingsjahre, endlich Aufgehen einer Drachensaat von Gift und Haß – das war diese Ehe, die den Mann gebrochen hatte.
»Den Jungen hab' ich mir zum Reitknecht genommen,« beendete Otto die schweigende Wiederholung der Geschichte.
»Mit einem Feuerschlucker ist sie durchgegangen. Feuer mag er verschlucken können, dieses Weib wird ihm in'n Schlund geblieben sein. Ja … die Weiber, Junge! Wer sich da bindet, muß sich besser vorsehen als einer, der beim Juden Gäule kauft.«
Das war so ins Traben hineingesprochen, aber es war tief in die Seele vermeint. Der alte Herr hatte blanke Augen, die trugen nichts von dem, was es im Inneren gab, auf ihre stumpfe Fläche, schienen nur dazu tauglich, den Augenschein aufzunehmen und zu spiegeln. Aber vielleicht horchte er um so besser den Dingen und Menschen an Wurzel und Wesen.
»Vater!«
»Ja, Junge.«
»Vater, es wird mir zu schwer. Du mußt mir helfen.«
»Gern, mein Junge. Ich sehe, wie du dir quälst.«
»Sie haben mir doch einen Termin gestellt. Ein Jahr, von dem sind erst acht Monate um. Ich bin in einer großen Einsamkeit. Vater, jetzt muß es sich bald entscheiden.«
»Ich möchte dir glücklich sehen. Du hast doch gründlich erwogen?«
»Ja … und sie muß es sein. Aber sie wollen, daß ich aus meiner Haut fahren soll. Kann ein Mensch aus seiner Haut fahren?«
»Soll er auch nicht,« brummte der Rittmeister, »du am allerwenigsten.«
»Du sollst mir helfen, Vater.«
»Zum Donnerwetter, ja!«
»Wir wollen miteinander einen Brief schreiben. Das heißt, er muß von dir ausgehen … du muß ihr sagen, daß es nun genug sein muß und daß sie … daß ich nicht …«
»Ich weiß schon, Junge. Wir wollen dieser … hm, Dame einheizen, Deubel nochmal, daß sie einen weißen Hund für einen Bäckergesellen ansehen soll …«
Ein Kuckuck rief. »Wie lange noch?« fragte Bismarck klopfenden Herzens. Aber das Teufelsvieh schrie und schrie den ganzen Wald voll und schrie aus jedem Winkel einen Kameraden heraus und hörte gar nicht mehr auf, und es war, als ob die Unendlichkeit sich höhnisch herbeiließe, einen armen Sterblichen zu verspotten.
Man fror in den hohen Zimmern auf Pansin.
Sie waren sehr auf Würde und Großartigkeit angelegt, anders als die Räume auf Kniephof, an denen es Frau Wilhelmine so schmerzlich vermißt hatte, daß man keinen von ihnen so recht als Saal ansprechen konnte.
Das Meublement war geschont. Wenn Besuch kam, so mußte er wenige Minuten in einem Vorraum warten, während flinke Hände die weißen Leinenbezüge von den Polsterungen streiften.
So oft Bismarck nun schon auch auf Pansin gewesen war, er hatte nie die Zimmer zu sehen bekommen, in denen sich das Leben dieser Familie eigentlich abspielte, immer nur diese hohen, kahlen Säle, deren Wände auch mitten im Sommer Kälte aushauchten. Aller Leichtsinn war hier unbekannt, eine lippendünne Frömmigkeit mit gestielten Augen ließ nichts passieren, was irgendwie ins Weltfreudige schlug.
Er saß Frau von Puttkamer an der anderen Seite des ovalen Tisches gegenüber, steif auf einem steifen Stuhl, der ihm trotz seiner Länge noch mit zwei Knäufen über die Schultern sah. Die Sonne blinkerte in einer Perlenstickerei, die Frau von Puttkamer eben wegschob, um einen Brief aufzunehmen, der sich in der Politur der Tischplatte noch einmal sehen ließ.
»Sie kommen in Verfolg dieses Briefes,« sagte sie.
Bismarck starrte auf dieses Schreiben wie auf etwas ungeheuer Verfängliches. In den mit langen, schwarzen Handschuhen bezogenen Händen der Frau nahm sich das Stück Papier aus wie ein Uriasbrief.
»Der Herr Rittmeister war so liebenswürdig, mir in der Angelegenheit der von Ihnen beabsichtigten Verbindung unserer Familien zu schreiben. Ich nehme an, daß Sie von diesem Schritt wissen?«
In der Verdoppelung dieses Briefes, der Bismarck einmal aus der Hand der Frau von Puttkamer zuknitterte und das anderemal aus dem dunkel glänzenden Grund des Tisches entgegendämmerte wie aus tiefem Wasser, lag etwas Schicksalhaftes, das den Menschen bedrohte. Er starrte auf die Tischfläche, da quollen die unergründlichen Wasser des Geschehens; die Mutter mochte recht haben mit der magnetischen Kraft von Spiegeln, von glänzenden Flächen. Die letzte Frage hallte nach; sollte er nun leugnen, sollte er gestehen? Es galt stark zu sein, ganz zu bleiben, kein Stück seines Selbst an die Lüge hinzugeben.
Er sah vom Tisch auf, setzte sich den Zangenblicken aus: ja, er wisse davon, er habe den Vater selbst darum gebeten.
»So wissen Sie also auch, daß der Herr Rittmeister in Anbetracht Ihres Trübsinns und Kummers mich darum bittet, ich möge die einjährige Frist abkürzen und schon jetzt, nach acht Monaten, Ihre Bewerbung annehmen.«
»Ich denke, acht Monate sind für die Sehnsucht eines Liebenden eben eine genug lange Frist,« sagte Bismarck treuherzig und zugleich mit einem weltmännischen Versuch zu scherzen.
Frau von Puttkamer legte den Brief auf den Tisch, kreuzte die langen, schwarzbezogenen Arme über dem Magen und räusperte sich mißbilligend. »Aber keine genügende Frist für die Prüfung des Bewerbers durch eine Mutter.«
Hinten im Erkerfenster wußte Bismarck Ottilie. Er hatte ihr Bild ganz deutlich vor sich, wie es ihm beim Eintreten entgegengeleuchtet hatte. Ihr Profil vor dem hohen, schmalen, vielfach durchstabten Fenster, den Korb mit den vielen Knäueln bunter Wolle im Schoß, die Wolken, die sich hinter ihr über die Wipfel des Parkes bauschten und bäumten. Sein Manöver, sich so zu setzen, daß er sie im Auge hätte, durchkreuzte die Mutter, indem sie ihn zwang, ihr den Rücken zu kehren. Nun ersehnte er Hilfe von ihr, den warmen Strom von Mensch zu Mensch, die Unterstützung durch Wünsche, die seine eigenen Energien verstärken und sieghaft machen könnten. Aber die Hilfe kam nicht, nichts Verwandtes rührte ihn an, es blieb leer zwischen ihm und ihr, toter Raum, unbelebt von Schwingungen der Seele.
Frau von Puttkamer begann wieder mit der sanften Höflichkeit, die sie niemals verließ. »Ich kann nicht oft genug wiederholen, wie ehrenvoll Ihr Antrag für uns ist. Ein junger Mann von einnehmendem Äußeren … nein, nein, lieber Herr von Bismarck … ich muß Ihnen das sagen, damit Sie sehen, daß ich für Ihre hervorragenden Qualitäten durchaus nicht blind bin. Ein Mann, der durch die Schule der Welt gegangen ist … ach, mein Gott, genau so, wie das Ihre liebe selige Mama, meine beste Freundin – Gott schenke ihr die Ruhe – immer gewünscht hat. Besitzer eines schönen Gutes, das er aus dem Gröbsten herausgearbeitet hat – und vielleicht noch einmal recht ertragreich machen wird … Ein Mann, der bei einiger Ausdauer – Sie verzeihen! – auch im Staatsdienst seinen Weg hätte machen können … oder noch machen könnte. Nein, nein … ich bin nicht blind.«
Das war Frau von Puttkamers bewährte Taktik: zuerst die lichte Habenseite seines gesellschaftlichen Kontos, kurz wie ein Sonnenblick an einem Regentag, und dann das lange, rabenschwarze, wolkenschwere Soll, das in Donner und Verdammnis endete. Ja – zum Deubel, warum war er denn eigentlich hierher gekommen, welche törichte Hoffnung hatte ihm eingegeben, daß der Brief des Vaters etwas an diesen Dingen geändert haben könnte? Da saß er wieder wie ein Junge, dem seine Sünden vorgerechnet werden.
»Aber …« Das Wort stand riesengroß wie Kometenschrift am Weltuntergangshimmel seiner Liebe … »aber in dem, was ich gegen Ihre Bewerbung einzuwenden habe, hat sich in den letzten acht Monaten nichts verändert. Ihr Herr Vater macht nun allerdings in diesem Brief« – ein schwarzer Zeigefinger tippte auf den weißen Bogen, und in dem Abgrund der Politur, in diesem schicksalsschweren Wasser der Tischplatte sah man einen langen, schmalen, dunkeln Schatten gleiten wie einen räuberischen Fisch – »den Versuch, den Mohren ein wenig weiß zu waschen. Aber der Mohr bleibt doch noch immer Mohr.«
Sie entblößte lächelnd die Zähne. Vor dieser übersüßten Freundlichkeit gerann Bismarck aller Mut, das Blut wurde dick und schwer und konnte vom Herzen gar nicht mehr wieder aus den Beinen heraufgepumpt werden.
»Der Herr Rittmeister meint, ich möchte mich nicht durch ein anscheinend leichtfertiges Benehmen täuschen lassen. Er glaubt – mit mir – an Ihren guten Kern. Und vielleicht hat er auch darin recht, daß die Kunde von Ihren Abenteuern so manches übertreibt. Aber einer Übertreibung muß doch etwas zugrunde liegen, was übertrieben werden kann. Und wenn nur der zehnte Teil dessen Wahrheit ist, was man sich von Ihnen erzählt … lieber Herr von Bismarck, in diesen letzten acht Monaten hat sich nicht nur nichts geändert … es will mir scheinen, es sei sogar noch ärger geworden.«
Bismarck lächelte ins Wesenlose. »Sehen Sie … es ist … Sie dürfen auch nicht alles glauben … ich bin so einsam, mein Landleben, man trinkt, man spielt ein bißchen, man macht hundert dumme Streiche – wenn Sie mir Ottilie gegeben hätten, so wäre ich längst ein gesetzter Ehemann.« Und er lächelte wieder demütig und bittend, unsagbar vertrauensvoll und offenen Herzens. Zugleich sog er mit allen Kräften seiner Seele an der des Mädchens, das er hinter sich im Erkerfenster wußte, rief sie mit lieben Namen an. Jeden Augenblick konnte sie leise von hinten herankommen, ihm die Hand auf die Schulter legen und sagen: »Mutter, es ist genug – ich, ich vertraue ihm.«
»Man trinkt, lieber Bismarck,« die Zangenblicke der Frau faßten schärfer zu, »Sie sagen: man trinkt, die Leute aber sagen, man schwemmt sich in Kniephof toll und voll, man feiert Orgien, und daß der Gutsherr noch dasitzt, wenn die anderen unter dem Tisch liegen, das ist ein trauriger Ruhm.«
Noch einmal stieß Bismarck mit lächelnder Wendung vor. »Es gibt einen Dialog des Plato ›Das Gastmahl‹, in dem wird erzählt, daß Sokrates, ein sonst sehr achtbarer Mann, am Ende dieses in der Kulturgeschichte der Menschheit berühmten Gastmahles nach sehr feinen und tiefsinnigen Gesprächen die anderen unter den Tisch getrunken hatte. Und wissen Sie warum? Weil er daheim eine Frau hatte, die Xanthippe hieß.«
O Gott, das war nun freilich ein grimmiger Verstoß erster Ordnung. Bismarck hatte damit nichts anderes sagen wollen, als dies, was auf ihn selbst paßte, daß Sokrates kein Heim des Behagens und Verständnisses hatte. Aber Frau von Puttkamer war von einem befiederten und mit Widerhaken besetzten Pfeil getroffen, der federnd in ihrem Herzen saß. Es unterlag keinem Zweifel, daß dieser junge Mensch den Namen des berühmtesten bösen Weibes der Weltgeschichte nicht ohne hämische Absicht angebracht hatte. Ihre sorgende Mutterliebe, die Vorsicht finanzieller Erwägungen war diesem Herrn gut genug, um sein Witzchen daran zu hängen. Sie wickelte sich noch enger in sich selbst, drehte alle Seelenöffnungen zu, daß ja kein freundliches Gefühl mehr einschlüpfen könnte.
»Sie können noch mehr Beispiele aus der Historie anführen,« sagte sie, »es wird dadurch nicht besser. Ihr Vater schreibt, wir wollten das Glück unserer Kinder gründen. Dazu muß man die Fundamente prüfen. Was war es denn damals mit Ihrer eigenmächtigen Entfernung vom Amt? Das war doch ein rechtes Abenteuer von der verliebten Gattung …«
»Mein Gott, darüber sind fünf Jahre hingegangen.«
»Aber die Lust an Ähnlichem ist geblieben. Sie sind zu jung, mein Lieber. Man weiß ja noch gar nicht, was aus Ihnen wird.«
Bismarck lauschte gespannt nach rückwärts. Jetzt, jetzt mußte er den leisen Schritt hören, jetzt mußte sich die Hand auf seine Schulter legen. Jetzt war der Augenblick der Entscheidung da. Er hielt den Atem an, aber nicht einmal ein tieferer Seufzer war vernehmbar. Wolken hatten die Sonne übersponnen, grau und glanzlos lag die Tischplatte, der Brief schwamm auf dem Trüben wie ein Floß von Schiffbrüchigen. Aus den kahlen Wänden sank Frost in sein Blut, ein Herr von Puttkamer in Allongeperücke und Staatsrock sah streng auf ihn herab. Die schwarzen Finger der Rechten spielten einen triumphierenden Marsch auf dem schwarzbezogenen linken Unterarm.
»Sie müßten Vertrauen zu mir haben,« sagte er zaghaft.
Frau von Puttkamer drückte ihn gänzlich unter sich. »Wie kann ich Vertrauen zu jemandem haben, dem die Religion abgeht. Nur ein Mensch, der einen festen Glauben hat, bietet die Gewähr eines festen Charakters.«
Himmelmillionenhakenquarten! Es schwoll wie ein Windstoß durch Bismarck, fegte dürres und prasselndes Zeug vor sich her, riß schmerzhaft an seinem Leben. Ja, zum Deubel, warum saß man eigentlich da und bettelte um ein wenig Einsicht und Gnade? Plötzlich, nach einem schreckhaften Gefühl der Leere und Armseligkeit, in dem man an sich selbst hätte verzweifeln mögen, strömte aller gehemmte Reichtum daher, erfüllte den ganzen Menschen. Das Leben war nur Stoff des Knetens, und die Kraft dazu hatte man in seinen Fäusten. Sollte man davon jemanden redend überzeugen, mit schönen Worten und Versprechungen? Zu Kreuze kriechen? Wie Heinrich nach Kanossa gegangen war? Von jetzt an will ich schon brav sein! Wenn er etwas verlangen durfte, so war es dies: Glauben an ihn. Prüfte man ihn, so prüfte er wieder.
Er wiegte, sich zur Beschwichtigung, bärenhaft das Haupt. »Religion! Ich habe mir meine eigene zurechtgemacht. Die genügt für den Hausgebrauch. Ich gehe nicht in die Öffentlichkeit, wenn ich andächtig sein will.«
Frau von Puttkamer sprach sanft und eindringlich, ihre Zangenblicke hielten das Opfer: »Es gibt nur eine Religion, und die ist so, wie sie Gott geoffenbart hat.«
Bismarck stand plötzlich auf, kehrte der schwiegermütterlichen Großinquisitorin den Rücken, wuchs, sich selber überraschend, in dem kahlen, frostigen Raum zu mächtiger Größe. Weltall und Menschheit baumelten an ihm herab. Es gab außer ihm nur noch einen Menschen, der etwas zu sagen hatte, zu dem drängte er jetzt seinen Willen, hoch und stolz wie eine diamantene Brücke. Er sang wie eine Harfe, sturmbewegt, seine Augen waren stählerne Vögel. Noch stützte er die Faust auf den Tisch, hatte Gefühl von Erde unter sich, aber nun trat er mit zwei Schritten ins Leere hinaus, stand von allem gelöst.
»Jetzt hat eigentlich niemand mehr etwas zu sagen, als Sie, Ottilie! Was denken Sie von mir. Haben Sie Vertrauen zu mir?«
Das schöne Mädchen am Fenster senkte den Kopf auf die bunten Wollknäuel, ihr Gesicht lag im Dämmern, man konnte nicht sehen, ob es die Farbe wechselte. Aber auf dem gekrümmten Rücken schien die Frage zu liegen wie ein schwerer Stein.
»Ich frage Sie, Ottilie – ob Sie zu mir Vertrauen haben?«
Etwas Kleines, Dunkles drängte sich in die Bahn, pflanzte die Mutterwürde aus; Frau von Puttkamer fand, die Fäden seien von dem Sofaplatz hinter dem ovalen Tisch nicht mehr zu leiten, sie agierte jetzt auf der Vorderseite der Szene, stellte das Unvermeidliche wieder auf.
»Lassen Sie doch das Kind!«
Ottilie hob die langen Wimpern, drehte den Kopf, ihre ratlosen Augen zweifelten zwischen Mutter und Freier.
»Sie soll mir antworten!« drängte Bismarck.
»Sie wird Ihnen Antwort geben, bis die Probezeit um ist.«
Gehorsam sank der Kopf wieder auf die Wollknäuel; in der Dämmerung war es nicht auszunehmen, ob die Fensterstäbe vor oder hinter diesem Kopf verliefen, so konnte man meinen, man sehe ihn hinter dem Gitterfenster eines Gefängnisses.
»Ich muß also warten?« fragte Bismarck.
»Geduld, mein lieber Freund … Geduld.«
Da war der Flug beendet, man stand, wieder zu Lehm geworden, mitten im Zimmer und empfand den tragischen Aufwand sehr überflüssig und lächerlich, man war gar nicht so groß, daß alles andere daneben unscheinbar wurde.
Bismarck empfahl sich, sagte etwas vom Reitenmüssen, weil man sonst in die Dunkelheit gerate, versprach das Wiederkommen und wurde mit Sirupaufguß von Höflichkeiten versehen wie eine Torte.
Kaleb trabte auf seinen langen Beinen der Nacht entgegen. Sein Reiter hatte des Weges nicht acht, hing im Sattel wie in seinen schwerfälligen, schleppenden Gedanken. Nur daß die Rosse seines Geistes nicht wußten, wohin es ging. Die Empörung war fort, und die Enttäuschung drückte wie ein schweres wollenes Tuch auf seine Kräfte, verhüllte Gegenwart und Zukunft wie Heiderauch Busch und Baum verhüllt. Er sehnte sich nach dem Zorn, der den Menschen aufpeitscht.
So also sah sein Bild bei den Gediegenen und Frommen aus. Es war ein Zerrbild, aber vielleicht mußte es so erscheinen, wenn man nicht der Gespiegelte selber war, der es anders wußte.
Übrigens: der Ritt rüttelte, je länger er dauerte, die Gedanken um so besser zurecht, und jetzt sonderte sich etwas Festes aus, eine Gewißheit. Letzten Endes handelte es sich den guten Leuten um eine Sicherheit im Rechnungspunkte. So ein Anfänger, der auf einem verschuldeten Gut wirtschaftete, bot keine Gewähr eines glücklichen Bestandes und Ausganges, wenn sein Betragen von der ganzen Landschaft als leichtfertig abgetan wurde. Man sah in Pansin auf gefüllte Taschen, man hatte allen Anlaß, darauf zu sehen – das war es. Nun hätte man sie darüber in einigem beruhigen können, aber es widerstrebte Bismarck, sich Vertrauen durch Buchauszüge zu erkaufen.
Wichtel wuchsen aus dem Boden, legten Wurzelschlingen um die Hufe, fahl lugte ein See durch Binsen, wie Leichenhaut, hier herum waren Moorgespenster zu Haus. Schwarz sprang es an der Wegbiegung auf sie zu – ein Wachholder.
Kaleb scheute und schlug Galopp an.
Die rasche Bewegung trieb Dünste fort, weckte hellere Kräfte. Wenn er Ottilie entführte, wie irgendein Ahn in Ritterszeiten, quer über den Sattel, oder hinter sich, die Arme um seinen Hals geschlungen. Weinend … weinend … und so weinte sie ihn denn ins Elend hinein, wenn nicht der Segen aus der Mutter schwarzbehandschuhten Händen dabei war. Dammich noch mal!
Bäume standen auf, gesellten sich, Landsknechtshaufen, wurden dunkel und drohend, und der Weg war ganz im Finstern. Kaleb trabte mit Bedacht.
Lichter flogen wie verfrühte Glühwürmchen, sprühten zwischen den Stämmen, wurden zu Bällen und Streifen, malten die Bäume alle an der einen Seite gelb und rot. Eine Schenke stellte sich an die Straße, die hatte Schein und eine Musik, als feiere der Teufel Geburtstag. Es donnerte unten wie auf alten Kesseln, und einer ziselierte oben die letzten Töne einer Violine; dazwischen aber polterte einer, als trommle er mit Wasserstiefeln in einer Tonne herum, und ab und zu tat eine Flöte einen Lauf, daß einem das Mark gefror. Aber diese Musika war Bismarck wie ein Abbild des Staates, jeder will was anderes, und im ganzen klebt es doch zusammen. Die Musika hielt den Takt, und Bauern tanzten ihre Sonntagsfreude aus.
Kaleb wurde an einen Eisenhaken gebunden. Sein Herr trat in die niedrige Stube. Unter gebräunten Balken wirbelte Rauch und Tanz, die Leiber dampften, und in den Köpfen rumorte schon der Rausch. Der Gutsherr von Kniephof scherte sich nichts ums Mützenrücken, trank aus einem irdenen Krug, nahm ein Mädchen und warf sich in den Tanz. In Staub und Rauch und Dunst drängten sich die Paare, die festen Lenden und Schultern rieben sich aneinander, man verwuchs förmlich zu einem Klumpen, der nun, da das Beispiel des Kniephofer Gutsherrn auch die lässigen Tänzer aneiferte, so anschwoll, daß er die Wände des Krugs hinauszudrücken schien.
Bismarck wechselte die Mädchen, die Burschen führten sie ihm, als dem Ehrengast, zu, er wiegte sich mit ihnen im großen Knäuel hin und her, ohne von der Stelle zu kommen. Dann wich auf einmal alles an die Wände zurück, ein leerer Kreis entstand, einen Augenblick lang war es Bismarck, Göttingen sei wieder lebendig und es gelte eine Mensur. Er sollte einen Ehrentanz haben, und die Musika spielte etwas Langsames.
Das Mädchen war rot und weiß, seine Röcke knisterten, die Wäsche roch nach Seife und Sonne, warm lag ihre Wange an der seinen. Sie schämte sich vor so viel Ehre.
Nach dem Tanz sprang eine Kaskade von Bier über Musikanten und Tänzer, der hohe Gast hatte ein Fäßchen frei gemacht. Als es sehr laut herging, schwand Bismarck aus der Tür.
Das Mädchen ging mit, stand bei Kaleb und streichelte das Pferd, das ihr in die Hand schnob. Sie hatte den Kopf gesenkt, dunstiges Licht traf Hals und Arme. Nur ein paar Schritte, und man war im Dunkeln, in einem schweigenden, weichen Frühlingsatmen. Quellen sangen im Blut, zwischen Himmel und Erde stand der Mensch, mit seinem Anteil an beiden, leidend und beglückt durch beide, Bismarck küßte das liebe, schlanke Ding zwischen Nackenhaar und Hemdkrause … sie wehrte ihm nicht …
Dann stob er durch die Finsternis wie der wilde Reiter.
Er dachte nicht an Halsbrechen, er wollte nur reiten, denn das schien ihm so ziemlich das Einzige, was jetzt zu tun war. Er hatte keineswegs Eile, sein Haus lockte ihn nicht, er war davon überzeugt, seinen Gedanken nicht entfliehen zu können, er wollte reiten.
Kaleb schnob Angst.
Es ging immer in die schwarze Mauer hinein, die erst im letzten Augenblick vor dem Pferdekopf auseinanderwich. Warum Frau von Puttkamer immer schwarze Handschuhe trug? Einen Augenblick lang schimmerte wieder Wasser zwischen den Stämmen. Bismarck lenkte seitab, Äste schnellten aus dem Unvorhergesehenen, peitschten Pferd und Reiter. Die Lust ließ sich nicht bändigen, so mochte man in den Feind reiten.
Man sollte warten – warten, wenn das Blut brannte.
Etwas Ungefüges fiel wie ein Klotz herab, die Schwärze drang durch ein Loch in den Kopf, löschte die vor den Augen springenden Lichter.
Dann schwamm man auf gedehnten, weichen Wellenrücken – lange …
Ein Gurren drang zuerst durch den Schleier. Waldtauben ruckten im Holz, Grau und Gold quollen ineinander, feuchtes Gras war über den tagenden Himmel gespannt.
Bismarck stützte sich auf den Armen empor. Er lag am Rande einer Föhrenschonung unter einem Baum, als hätte er sich den Platz zum Schlafen eigens ausgesucht. Ein Großes, Lebendes hauchte schnuppernd heran: Kaleb, dessen Zügel sich um ein Bäumchen geschlungen hatten, so daß er gebannt war.
Bismarck befühlte sich, seine Kleider waren vom Tau durchnäßt, aber seine Glieder bogen sich unzerbrochen, nicht einmal der Kopf hatte ein Loch, nur eine kleine Beule bekundete den nächtlichen Sturz.
»Preußenschädel!« lachte er sich selbst zu.
Herrlich ausgeschlafen lag er im morgenfrischen Wald. Plötzlich breitete er die Arme aus wie in Kindertagen: Nährende Erde! tragende Erde! Ströme wiedergeborener Kraft rannen durch alle Bahnen des Lebens. Seine Finger bogen sich, faßten triefende Grasbüschel:
»Mutter Scholle!«
Bei den Thaddens auf Trieglaff war ein wärmeres Christentum daheim als anderswo. Gott stand ihnen nicht in einer gläsernen Leere, umdonnert von Wetterwolken und zuckenden Strahlen, sondern er neigte sich liebevoll zu den Herzen der Menschen, um in ihnen seine Wohnstatt zu nehmen. Sein Sinn war ihnen nicht Sündenfall und Strafgericht, sondern noch immer wirkende Versöhnung und Erlösung.
Für die Frömmigkeit der Thadden und ihrer Gleichgesinnten war Gott nicht der, der die Felsen spaltet, sondern der, unter dessen Hand sie sich begrünen, nicht der, der die Schloßen in die Halme schleudert, sondern der, dessen Hauch die Backen der Äpfel rötet.
Gott war der Unbegreifliche, darum konnte er nur im Empfinden vernommen werden, im Kindesgefühl sich offenbaren, nicht in der kalten Vernunft.
Zu Zeiten des Predigers Dummert freilich, da hatte dieser Gott auf alle Weltlichkeit ein scharfes Auge gehabt. Liebeslieder waren verbotene Melodei, Tüllkragen eine gefältete und gekrauste Sündhaftigkeit, und Tabakrauchen war verpönt gewesen, als würden die Pfeifenköpfe in der Höllenküche gestopft und als seien die Zigarren dem Teufel vom Schwanz geschnitten. Das waren die Kriegszeiten der Pietisten.
Die Landeskirche, die mit dem lieben Gott einen Vertrag gemacht hatte und die allein richtige, behördlich bestätigte Ansicht von seinem Wesen besaß, war arg hinter den Stillen im Lande her. Ihr Gott war ein Paragraphengott, er hatte das Einmaleins erfunden und den Landesfürsten. Die ganze Welt war in zwei Stockwerke geteilt: im unteren saß der preußische Adler, im oberen, aber noch innerhalb des Bereiches der königlich preußischen reinen Vernunft, wohnte Gott. War der Staat nicht vernünftig? Stieß man nicht allenthalben – wenn man von gewissen, nur zu Prüfungszwecken erfundenen Unzulänglichkeiten und Widerwärtigkeiten absah – auf eine vernünftige Weltordnung? Somit war auch Gott der Vernunft faßbar, war ein logisches Postulat und alle Schwärmerei und Ekstase, wie sie da in Pommern die Hirne umnebelte, Unfug und Unsinn.
Das waren Kriegszeiten.
Vor dem Gutstor kletterten die Gendarmen aus den Sätteln, hinten kletterten die Prediger über die Zäune.
Aber als die meisten Gläubigen in der Landeskirche verblieben und dieser aus der pommerschen Pietisterei keine nennenswerte Einbuße entstand, verhauchte ihr Zorn, und die Verfolgungen wurden eingestellt. Das Nachlassen des Druckes lockerte den Gegendruck, der Gott der Stillen im Lande lernte wieder lächeln und hatte nichts mehr gegen Tüllkragen und Tabaksqualm.
Es war ein beglückender Glaube, um diesen strahlenden, liebenden Gott zu wissen, und wo zwei junge Menschen mit sich und der Welt einig waren, da wuchs aus diesem Einsgefühl mit Gott eine Zärtlichkeit heran, die auch auf dritte überströmen wollte.
Marie von Thadden und Moritz von Blanckenburg, seit einem Jahr Braut und Bräutigam, standen im Sonnenschein des Glückes, und nur dies eine beschwerte sie, daß der Freund der Erweckung widerstrebte. In langen und bangen Gesprächen bestärkten sie sich darin, daß Gott einst die Seele dieses Sündenkindes von ihnen fordern würde.
In dem großen Saal, der auf Trieglaff eigens für die Hausandachten gebaut worden war, kamen alle zusammen: die Familie des Gutsherrn, das Hofgesinde und die Bauern. Sie nannten sich alle Brüderchen und Schwesterchen, denn vor Gott war man gleich, wenngleich Gott auch ansonsten Scheidung der Stände gewollt und dem Untertan Gehorsam gegen die Obrigkeit, dem Gutsherrn die Sorge für den Untergebenen auferlegt hatte. Irgend jemand, dem das Herz brannte und die Zunge gelöst war, begann zu predigen. Senfft von Pilsach, der Hausherr oder Herr von Puttkamer auf Reinfelden, der gewaltigste der Laienredner in diesem Kreise. Manchmal sprang ein Erleuchteter auf, ein schlichter Bauer, dem sich Gott geoffenbart hatte und der nun die Schale seiner Sünden weggoß.
Sinn und Geist lagen ausgebreitet wie Frühlingsäcker, Gott säete seine Saat von gutem Willen, Freudigkeit und Zuversicht, und wenn Marie und Moritz manchmal in das Leuchten dieser einfältigen Bauerngemüter sahen oder in den hinreißenden, kindlichen Jubel der Versammlung, das Hosiannah und Gloria, einstimmen konnten, da war es ihnen ein bitteres Leid, daß Otto von diesem Glück ausgeschlossen war. Es schien ihnen, er stehe in eine düstere Wolke gehüllt abseits, uneins in sich selber, einmal Schwermut und dann wieder Übermut, einmal Kümmernis und dann Kraftvergeudung, während er doch nur einen Schritt in das lichte Reich der Gnade zu machen hatte, wo Heiterkeit und Einheit des ganzen Menschen war.
Sie trugen ihre Seelensorgen vor den Vater.
Er sah ernst, dann lachte er: »Bekehrt ihn doch; ladet eure Trauer in Donnerbüchsen, schüttet Gottes Erleuchtungspulver auf, beschießt sein krankes Herz. Er ist eine Festung, die es sich lohnt zu Fall zu bringen.«
Sie gingen mit sich zu Rate. »Ich habe die größere Verantwortung,« sagte Moritz, »ich bin sein Freund von Jugend an, wir waren beide zugleich im grauen Kloster in Berlin. Unsere Leben sind zu lange parallel verlaufen; sie sollen nun nicht auseinanderstreben: meines zu Gott, seines in die Verdammnis. Aber du mußt mir helfen.«
»Was kann ich dir helfen?« klagte Marie, »wenn er auf dich nichts gibt.«
»Doch, doch … es ist die Sympathie, die wirkt. Du liebst ihn doch als Freundin.«
»Er zieht mich an … ein großer, interessanter Weltmann, er hat etwas Leuchtendes, doch es kommt nicht von Gott.«
»Ich fürchte nichts von ihm. Du bist ihm heilig. Ich würde wagen, dich ihm ganz zu überlassen. Seine gefährliche Glätte ist für dich kein Glatteis. Und seine kalte Eleganz birgt keine Ruchlosigkeit, sondern ist nur ein Panzer über ein weiches Gemüt. Wir müssen ihm an sein Herz dringen – und wenn ich das Geheimnis preisgeben müßte.«
An diesem Abend schlangen sie heiße Bitten um Bismarcks Heil in ihr vereintes Gebet. Und als ob dieses Gebet den Entfernten herbeigerufen hätte, traf er am nächsten Tag zur Mittagszeit in Trieglaff ein.
Reisezeiten hatten ihn noch einmal mit der großen Welt zusammengebracht; von England und Paris aus gesehen, war Pommern sehr unbedeutend erschienen, aber er münzte seine Überlegenheit nicht für seinen täglichen Verkehr aus. Nur einen blonden Vollbart hatte er aus Paris mitgebracht, und der war in diesen Landen so ungewöhnlich, daß man abenteuerliche Geschichten von ihm zu erzählen begann.
»Ich habe etwas auf dem Herzen,« sagte er und griff an die Brust.
Man sah ihn an, und Erwartung stockte den Atem. Sollte das Gebet schon an ihn gerührt haben? dachte Moritz.
Bismarck schob die Hand in die Brusttasche und zog einige gefaltete Bogen Papier heraus. »Das da!« und er warf das Ding zwischen die Kaffeetassen, freute sich der Enttäuschung. »Ich bin unter die Zeitungsschreiber gegangen. Darf ich euch das Machwerk vorsetzen?«
Es war eine Entgegnung auf einen Artikel, der in der »Stettiner Zeitung« erschienen, war. Ein unbekannter Skribent hatte sich über eine Parforcejagd auf dem Freienwalder Stadtacker aufgehalten. Dem hatte Bismarck heimgeleuchtet, mit wohlgezielten Hieben links und rechts, Jäger und Student zugleich, der Reiter und Junker gegen den demokratischen Scheelseher, und am Schluß stand etwas, das nahm sich sehr so aus, als sei es ein Wink mit der Duellpistole.
Die Verlesung fiel in ein Schweigen, Moritz sah betrübt vor sich hin. Herr von Thadden fragte: »Ist das nötig, Bismarck, daß Sie sich mit solchen Dingen abgeben?«
»Nötig, nötig,« sagte Bismarck ärgerlich, »sie sollen uns reiten lassen. Wenn es nach diesen Stubenhockern ginge, so müßten wir unsere Gäule dem Metzger verkaufen und dürften höchstens nach Spatzen schießen. Man soll uns unsere Freiheit nicht antasten.«
Die Verstimmung drückte das Gespräch. Herr von Thadden stand im Grund ganz dort, wo Bismarck stand: der König war ihm ein großer Gutsbesitzer, der Gutsbesitzer ein kleiner König – aber die Zeitungsschmierer sollte alle der Teufel holen, und daß sich Bismarck mit ihnen einließ, war wenig nach seinem Sinn. –
Im Trieglaffer Park fing ein kleiner Teich ein Stück unbefangenen Sonnenhimmels in einen Metallspiegel, der in einen grünen Rahmen gespannt war. Mitten darein aber war ein fröhliches Buschwerk gesteckt, ein Strauß von Flieder und Schilf, das war die Freundschaftsinsel; eine gebogene Holzbrücke spannte sich zwischen ihr und dem Ufer, unter der schwammen die Abbilder der weißen Wölkchen durch, und manchmal sprühte der Silberglanz eines flossenschnellen Schuppenrückens, so daß die beiden Unendlichkeiten oben und unten in eins geflossen schienen.
Im Schilf brannten Schwertlilien, Libellen hielten ihre Körper zwischen einem feinen Geflirr links und rechts, dann zuckten sie plötzlich weg.
Inmitten dieser sommerlichen Leichtfertigkeit rüsteten zwei bange Menschen zum Sturm auf eines dritten Seele.
»Du redest immer von Freiheit,« sagte Moritz zaghaft. »Freiheit ist allein in Gott. Die Freiheit, die du meinst, ist Unfreiheit, Gefangenschaft in den Dingen der Welt.«
Sie standen auf der Bogenbrücke, schritten jetzt gegen die Insel zu hinab. »Ihr seid anmaßend, ihr Frommen,« sagte Bismarck nachlässig.
Moritz folgte ihm eilig: »Wie denn anmaßend? Das verstehe ich nicht.«
»Es ist eure Anmaßung, Gott kennen zu wollen. Gott ist die Freiheit, Gott ist das und jenes … Jeder weiß es ganz genau, was Gott ist.«
»Wie sollten wir es nicht wissen, wo wir doch das lebendigste Gefühl von ihm haben. Er offenbart sich uns in der Heimlichkeit.«
»Gott hat andere Dinge zu tun, als sich dem Menschen zu offenbaren, diesem Staub vom Rollen der Räder.«
»Schrecklich,« sagte Marie, »wenn jemand Gottes Hand nicht fühlt.«
»Mein Gott ist zu groß, um sich um mich zu kümmern.«
»So spricht Gott niemals zu Ihnen … er kann sich Ihnen nicht verständlich machen?«
»Vielleicht ist das Gewissen seine Stimme. Im übrigen aber mag es Gott vielleicht gehen, wie dem Zauberlehrling Goethes – er hat die Welt einmal geschaffen und mag sich jetzt selbst darüber wundern, welches Unheil daraus entstanden ist. Wir aber sind dieser Schöpfung beiläufiger Ausfluß, leben ein Dasein ohne Zweck und Ziel.«
Die Freundschaftsinsel war nur eine enge Scholle Land. Der Weg schlang sich in zwei Achtern durch die Fliederbüsche, und genau in der Mitte reckte sich eine Art Tempelchen auf acht Säulchen von grau gestrichenem Holz. Der Wehmut war unter diesem offenen Dach ein Denkmal errichtet: auf einem Sockel stand eine Urne aus Stein, der Deckel war ein wenig zur Seite geschoben, daß eine steinerne Flamme aus dem Urnenbauch ihren Ausgang fand, und, malerisch hingeworfen, war schon seit mehr als einem halben Jahrhundert ein steinernes Tuch im Begriff, über die gewölbten Wandungen herabzugleiten. Irgendein literarischer Oertzen, von denen das Gut durch Heirat an Thadden gekommen war, hatte hier seine Begeisterung für den Sänger der Messiade überliefert. Auf dem Sockel stand in schiefgestellten starken Buchstaben, die von grünlichem Moos ausgefüllt waren: Klopstock.
Marie legte den Arm an die Urne, stand, ein klein wenig des hübschen Anklingens ihrer Linien gegen den Stein bewußt: »Bismarck, mir graut vor Ihnen.«
Ein Fliederbusch hatte eine Gerte für Bismarck geben müssen, eine rasche, feste Faust streifte die Blätter bis auf eine dünne Quaste am Gertenende ab. »Geben Sie sich mit meiner armen Seele keine Mühe,« sagte er. Er mied ihren Blick, klopfte eifrig gegen den Stiefelschaft.
Es verdroß sie, daß er sie nicht ansehen wollte, und sie schloß daraus, daß ihrem Blick vielleicht eine überredende Kraft gegeben war, die ihren Worten versagt blieb. Sie wollte ihn zwingen, sie anzusehen: »Ich kann es Ihnen nachfühlen, Bismarck, es ist der noch nicht verwundene Schmerz um den Verlust. Es ist die alte Geschichte: man macht Gott für den unglücklichen Ausgang verantwortlich.«
Es gelang. Bismarck sah sie voll an. »Nein,« sagte er beinahe ungehalten, »das ist vorbei. Es war anfangs schwerer als ich dachte, es trug sich schlecht, daß Ottilie nicht standhielt. Übrigens, wenn mich etwas davon überzeugen könnte, daß es eine Vorsehung gibt, so wäre es dies, daß mir diese Heiratsidee fehlgeschlagen ist. Die Leidenschaft stülpt dem Menschen absonderliche Brillen auf … die Gläser sind fort: man sieht ein ganz gewöhnliches Frauenzimmerchen.«
Marie schmiegte die Wange gegen den Stein, das Tuch zog seine massigen Falten nahe ihrer Stirn vorüber. »Und doch, Bismarck – Sie sollten heiraten.«
Noch eines Blickes Länge fing sie das Funkeln von Bismarcks Augen. Dann wich der blaue Glanz beiseite, bohrte sich in den Kies: »Schaffen sie mir eine Frau!«
»Ich wüßte eine …«
Ein gelber Falter war aus dem Nachmittagsglast herübergetaumelt, Bismarcks Gerte zuckte, und das Tier drehte sich mit gebrochenen Flügeln am Boden.
Moritz von Blankenburg war in schwerer Seelennot hinter den beiden auf- und abgegangen. Die Hände auf den Rücken gelegt, suchte er nach Worten, die wie Angelhaken des Freundes Herz aus der Tiefe holen sollten, wo es in Verstocktheit lag. Jetzt hielt er an, lächelte in all seiner Bedrängsnis: »Die Frauen … Otto … die Frauen können selbst bei Gott beginnen, es läuft doch zum Schluß immer aufs Heiraten heraus.«
»Moritz, wenn du unartig bist, nehme ich mein Wort zurück.«
Aber er war schon wieder ganz ernst, in seine Sorgen zurückgefallen, wandelte noch einmal um die Urne, blieb dann vor Bismarck stehen. »Otto,« sagte er, »Freunde sind Menschen, die sich stets aus Liebe die Wahrheit sagen.«
»Ich habe dir immer die Wahrheit gesagt,« scherzte Bismarck, »daß du ein alter Esel bist.«
Aber Moritz ließ sich nicht abschütteln, er war ein Hündlein Gottes, biß sich ein, mit grimmigen Zähnen. »Warum hast du deinen Reitknecht Hildebrand im vorigen Sommer gerettet?«
»Weil er ins Wasser gefallen war.«
»Warum hast du deinen Reitknecht Hildebrand mit Gefahr deines Lebens gerettet?«
»Weil er sonst versoffen wäre! – Und weil ich die Rettungsmedaille kriegen wollte. Ich gründe jetzt in Jarchelin eine Dorffeuerwehr, werde Feuerwehrhauptmann und rücke am Sonntag mit der Medaille aus. Man muß was für die Repräsentation tun.«
Moritz stand gedrückt und mit den ein wenig kurzsichtigen Augen zwinkernd vor dem Freund: »Du wirst deine gute Tat nicht klein machen. Deine Seele hat dich angetrieben. Gottes Stimme hat dir zugerufen.«
»Ja, also meinetwegen … das Gewissen.«
»Warum hörst du auf dein Gewissen?«
»Warum? – weil es unbequem ist, ein schlechtes Gewissen zu haben.«
Über Moritz kam ein wenig von der Ekstase der gemeinsamen Andachten, sein Gesicht wurde scheckig, seine Hände zackten Gesten in die Luft. Er drängte sich vor Marie. »Ach, Otto, ich durchschaue dich. Ich sehe deine große Not und dein Ringen um Gott. Ich sehe, wie du ankämpfst gegen die Härte deines Gemütes, die dir den Weg zu Gott wehren will. Wende dich zum Glauben.«
Bismarck wandte sich ab, der Anblick solch unbeherrschter Erregtheit war ihm peinlich. Er setzte sich auf die Bank, die rund um das Tempelchen lief, sah durch eine schmale Gasse zwischen den Fliederbüschen auf den sonnenbeschienenen Teich hinaus. Eine dunkle Dolde nickte windbewegt immer in den strahlenden Glanz hinein.
»Ich weiß den Abend noch ganz genau, an dem ich zum letztenmal gebetet habe. Was ist Glaube? Kann man sich vornehmen, zu glauben? Der Glaube muß entweder in mich hineinfahren, oder ohne mein Zutun und Wollen in mir aufschießen.«
Moritz war ihm nachgekommen, stand schon wieder zwinkernd und deutend vor ihm:
»Sieh mich an, Otto, ich war wie du ungläubig oder weltgläubig, dachte, es sei alles gut so. Aber ich bin erweckt worden und bin in der Gotteskindschaft noch einmal so glücklich als zuvor. Was sage ich: jetzt erst weiß ich, was das ist, leben! Ich will nicht sagen, daß ich besser bin als du, geistlicher Hochmut sei ferne von mir, aber ich bitte dich, verhärte dich nicht, du darfst nicht sagen ›ich kann nicht‹, du mußt glauben wollen. Sieh, Otto, wir beide haben gestern über dich gebetet, daß du gerettet werdest.«
Bismarck hatte die Hände zwischen den geöffneten Knien gefaltet und mit der Gertenquaste durch den Sand gefegt, daß kleine Staubwölkchen über seine Stiefel qualmten. Jetzt sah er auf, wie emporgerissen, geradenwegs in Mariens Gesicht.
»Ja, Otto,« sagte sie, dunkelrot und kurzatmig, »wir haben über Sie gebetet.«
»Ich begehe einen Verrat,« sagte Moritz außer sich, »einen schändlichen Verrat Ich gebe dir eine Seele preis. Die Seele einer Sterbenden. Mißbrauchst du dieses Geheimnis, dann müßte ich mich mit dir übers Schnupftuch schießen. Dann wärst du ein elender Schurke. Aber du bist ein edler Mensch, nur befangen im Unglauben. Diese Sterbende soll dir den Glauben geben. Höre, Otto, sie liebt dich. Lange liebt sie dich schon, eine edle, tiefe und reine Seele. Und deine Lebensführung ist der Wurm ihres Gemütes. Du siehst das Dasein ohne Zweck und Ziel – das ist der Weg zum Selbstmord. Sie fürchtet für dich.«
Von der Wucht dieses Anpralls war Bismarck überwältigt, er sah Tränen in den Augen Maries, aller Glanz des Sommertages war mit Wehmut getränkt.
»Sie soll sterben, ersehnt den Tod und kann doch nicht sterben, bis sie dich gerettet weiß. Sie ahnt nichts davon, daß ich sie an dich verrate. Aber im Namen Gottes, ich wage es daraufhin, ihr in der Ewigkeit Rechenschaft geben zu müssen. Stelle dir das Bild recht innig vor, das Bild dieser sterbenden Seele, die im Todeskampfe liegt, bis sie dich selig weiß. Wenn sie hinüberlächeln soll, so müssen deine stolzen Wellen sich gelegt haben, du mußt wieder Gottes Hand fühlen.«
Marie sah sich vom Blick des Bedrängten umklammert, umloht, sie nahm wahr, daß Moritz ein wenig unbeholfen in der Tasche wühlte, einen zerknitterten Brief vorbrachte. »Da – da – sie hat Marie geschrieben und mir auch … lies! Gott erwecke dich!«
Der Brief ging in Bismarcks Hand. Der war aufgestanden, stieß beinahe bis ans Dach, es sah aus, als bäume er sich gegen das Schicksal auf.
»Wer ist es?«
»Es ist Friederike von Schötteritz.«
Bismarcks Hand hielt den Brief zwischen schlaffen Fingern. Nachdenken zog Falten über seine Stirn, um den Mund webte Unerklärliches. Dann schob er das Schreiben in die Brusttasche, legte die Hand auf den Scheitel und trat auf die Steinschwelle des Tempelchens, die von vielen Tritten abgeschliffen war. Der im Achter geschlungene Weg lag vor ihm, mit zwei kleinen Rasenflächen, deren jede eine Gruppe Rosen trug. Eine Möwe kam plötzlich, weiß und grau, schief über die Fliederbüsche, wie ein Stück Silber schnellte ein Fisch, Kreise liefen auf dem Wasser auseinander, vom Gebälk des Tempelchens kam etwas Eiliges, Krabbelndes, ein kleines Spinnchen an einem Faden, als glückbringender Abendgruß, ein Mistkäfer mühte sich zappelnd wieder auf die Beine zu kommen. Alles dies war nur scheinbar vereinzelt, hing irgendwie im Innern tief zusammen, wußte nichts von Bangen, war alles in Gottes großer Huld.
Bismarck wandte sich den Freunden zu, reichte beiden die festen Hände: »Ich weiß, was ihr für mich getan habt … ich danke es euch.«
Sie gingen in den Abend hinaus. Marie lief fort, ihr weißes Kleid leuchtete bei den Rosenstöcken, dann zwischen Schilf und Flieder. Sie kam mit einem Arm voll Blumen und weißen Fliederdolden. Bismarck erhielt eine rote Rose.
»Was bedeutet das?«
»Rot ist das lebensvolle Ringen nach jeder Blüte und Frucht.«
Marie nestelte eine tiefblaue Gladiole an Moritz' Rockkragen. »Echte Liebe, Treue, Feuer für den Kern der Existenz – das ist blau.«
Was an weißen Blüten übrig war, das trug sie in das Tempelchen, und mit heißen Wangen schüttelte sie weißen Flieder und weiße Nelken über die Urne. Moritz leuchtete in sanfter Verklärung, seine Hoffnung auf Ottos Himmlisches war jauchzend groß geworden.
»Seid Bruder und Schwester!«
Marie kam und neigte die Stirn. »Ademar!«
»Ademar?«
»Wir nennen Sie so!«
Bismarck küßte die heiße Stirn mit einem flüchtigen Hauch.
Auf Trieglaff hatte sich die Frömmigkeit mit der Heiterkeit zusammengetan, um eine Hochzeit zu feiern.
Es gab einen guten Klang, und nur die Überstrengen, wie Ludwig von Gerlach, meinten, es gehe zu laut und weltlich her und bei einer so wichtigen Sache könnte etwas weniger gefiedelt und gelächtert sein. Auch was Essen und Trinken anlangt, kam alles aus dem Vollen, und wer nicht an christlicher Bedenklichkeit einen rechten Halt in sich hatte, konnte leicht in Fraß und Völlerei geraten. Die alte Susanne, ein Thaddensches Erbübel, von dem der Herr des Hauses behauptete, es stamme noch aus dem Dreißigjährigen Krieg und man könne darum keine neumodische Politur von ihm verlangen, schlug sich auch auf die Seite der Eiferer. Sie hatte alles ausräumen müssen, was in Küche und Keller speicherte, ratzenkahl gähnten Spinde und Borde, und die Schlüssel, die nun nichts zu versperren hatten, klimperten lauter Wehmut und Verzicht. Sie jammerte durch ihre Bezirke und briet und buk in alle Speisen die bange Frage, ob Gott diese unvernünftigen Aufwendungen nicht am Ende durch ein Strafgericht beantworten werde.
Der Oktobertag hatte sich kaum erst recht aus den frühen Nebeln losgemacht, da begann es auf den Landstraßen zu rollen und zu traben, Pommern sandte seine bekränzten und freudigen Heerscharen zu der Trieglaffer Hochzeit. Braut und Bräutigam standen ernst und heiter. Der Brautvater war bewegliches Leben, und das Wort, das er jedem Gast zur Begrüßung anheftete, war nicht so irgendetwas Plötzliches und Weithergeholtes, sondern es funkelte und traf, als sei es eigens für diesen Zweck lange vorher nach jedes einzelnen Maß zugeschnitten und sorgsam abgepaßt.
»Ademar, ich habe Ihnen etwas Hübsches zugedacht,« sagte Marie, »Sie werden zufrieden sein.«
Bismarck besah die Braut; im weißen Seidenkleid mit Kranz und Schleier blühte sie dem Neuen entgegen. Alle Aufregung der letzten Brautwochen war abgetan, es war, als tauche sie nach langer, ein wenig banger Halbbetäubung erst in dieser Stunde zu voller Besinnung.
Sie faßte Bismarck an den Ellenbogen und drehte ihn um, und da stand das Hübsche hinter ihm, ein mageres Mädchen im weißen Mullkleid, eine etwas lange Nase im gewöhnlichen Gesicht. Ins tiefschwarze Haar waren blutrote Granatblüten getan, und das sah so aus, als sei sie sich ihrer Gewöhnlichkeit bewußt und bemühe sich, sie ins Interessante zu ändern, so wie brave Bürgersfrauen es lieben, auf Maskenbällen Zigeunerinnen oder Spanierinnen oder sonst irgend etwas Leidenschaftliches vorzutäuschen.
»Meine liebste Freundin, Johanna von Puttkamer auf Reinfelden!«
Der Name rührte an das Pansiner Elend, Bismarck umwölkte sich. Moritz betrachtete ihn besorgt, aber schon besann sich der Weltmann an seine Pflichten und daß diese Reinfelderin ja nicht einmal durch eine entfernte Verwandtschaft mit der Ungetreuen bemakelt war. Sie sah ihn auch ganz unbefangen, höchstens ein ganz klein wenig neugierig an und erwiderte seine stumme Verbeugung durch eine Spur von Knix.
Der Oktobertag bestreute den Kirchweg gelb und rot, die Bauern säumten den Straßenrain, im Hintergrund der Festesstimmung krachte es aus alten Donnerbüchsen, die Schulmädchen sangen etwas von Mendelssohn, dem die Braut mit ganzem Herzen zugetan war. Der Lehrer orgelte süß und schwärmerisch und dann wieder gewaltig und gemütbewegend durch alle Register, und er hätte ihrer noch einmal so viel haben können, er hätte sie heute alle gezogen. Schließlich ließ er die aufgewühlte Brandung wieder in eine sanfte Lieblichkeit auslaufen, und dann kam der Prediger an die Reihe. In der blendend geweißten Kirche fügten sich ihm die Worte ohne Beschwer, sie waren alle wie frisch gewaschen und in Zuversicht auf Gott gestärkt.
Hütewerfen und Donnerbüchsengetöse, weiße Mädchen mit Sträußen, Glockenläuten, festlicher Hunger, Tränen, viele Hände, eine leichte Benommenheit in Kopf und Herz – Marie lehnte sich an Moritz, dem sie nun gegeben war.
Bismarck, der Brautführer, und Johanna, die Brautführerin, hatten es miteinander zu tun. »Nun sind sie eins,« sagte das Mädchen und schaute geradeaus in den Park.
Auf der Terrasse über dem noch immer frischen, kurzen Rasen verübte Musik einen leidlichen Spektakel, kleine Tischchen mit Sherry und Lachsbrötchen halfen den allzu Hungrigen bis zur Tafel.
»Ich habe meine Schwester an die Ehe abtreten müssen,« sagte Bismarck, »es ist ein sonderbares Ding. Man sieht so etwas heranwachsen, dann fällt es einfach von einem ab, wie eine reife Frucht. Nun muß sie trachten, mit dem auszukommen, was man ihr mitgegeben hat.«
Johanna lachte: »Was mögen Sie wohl Malwine mitgegeben haben?«
»Doch einiges. Ich glaube, ich habe sie gelehrt, einen Mann von einem zu unterscheiden, der bloß so aussieht. Wenn es nicht mein Freund Arnim wäre, der sie mir genommen hat, einem anderen würde ich es nie verzeihen.«
Aus einem Knäuel von Herren kam der Hausherr herab, hinter ihm, in einigen Schritten Entfernung, wandelte ein kleines Männlein.
»Wo haben Sie die Rettungsmedaille, Bismarck?«
»In der Tasche.«
»Ist das eine Art? Ich habe Sie doch nur und eigentlichst eingeladen, daß ich meinen Gästen sagen kann: hier haben Sie einen richtig gehenden Lebensretter, der einen hundertdreißig Pfund und drei Lot schweren Reitknecht aus dem Lubbiner See gezogen hat. Sie verderben mir die ganze Festfreude. Übrigens stelle ich Ihnen hier den Assessor Hans von Kleist-Retzow vor.« Und in raschem Flüstern fügte er bei: »Beinahe taub! Sie müssen schreien!«
Der kleine Mann hatte indessen seine Stiefnichte Johanna begrüßt und verneigte sich nun so, daß ihm der lange Bismarck den ganzen Rücken hinunter sah: »Sehr erfreut!« brüllte der kleine Assessor.
»Sehr erfreut!« brüllte Bismarck dem Tauben zurück.
»Sie waren bei der Regierung in Aachen!« schrie der Assessor wieder.
Bismarck schloß aus dem Stimmaufwand des Kleinen, daß seine Taubheit wohl sehr arg sein müsse. Er beugte sich zu ihm nieder und donnerte an seinem Ohr: »Wir kommen schlecht miteinander aus, die Regierung und ich. Ich habe es unlängst noch einmal in Potsdam versucht – aber nie wieder.«
Der Assessor taumelte, von dem Luftdruck aus Bismarcks Lungen getroffen, zurück, seine Hand zuckte nach dem gemarterten Trommelfell. Dann lächelte er vergnügt, holte tief Atem und brüllte los: »Ja, ja. Ich weiß! Man erzählt etwas Reizendes von Ihnen. Meding hat Sie warten lassen, wie er das immer tut. Man soll glauben, er habe viel zu arbeiten. Sie wollten Urlaub haben. Aber als Sie lange genug gewartet hatten, trugen Sie dem Portier auf: ›Sagen Sie dem Herrn Oberpräsidenten, ich wäre fortgegangen, aber ich käme auch nicht wieder.‹ Und darauf reichten Sie Ihren Abschied ein! Famos! Famos! Wir haben uns alle gefreut. Meding ist 'n Aas!« Der kleine Mann verlor die Luft und sank erschöpft zusammen.
Bismarck lächelte verbindlich. Dann donnerte er: »Wenn es auch nicht ganz so war …« Hierauf gerieten die Herren in ein politisches Gespräch, das Bismarck fesselte, weil er in dem kleinen Kleist seine eigenen Ansichten mit Abweichungen wiederfand. Es war nur etwas anstrengend, dieses Gespräch im gleichen Weltuntergangsposaunenton zu führen, und schließlich schreit man politische Ansichten auch nicht so hinaus, daß es über die ganze pommersche Seenplatte hörbar wird.
Bismarck sah mit einem Seitenblick, daß Johanna von Puttkamer mit weit aufgerissenen Augen dastand, und nahm dann auch wahr, daß er mit Kleist den Mittelpunkt eines Kreises bildete, den ein heimliches Lachen umlief. Er empfand es unangenehm, in einer Arena zu stehen und eine Vorstellung in Lungengymnastik zu geben. Ein Gentleman brüllt nicht so, dachte er, und das kleinere Übel ist, daß er mich nicht versteht. Er dämpfte also die Stimme und sagte in gewöhnlichem Gesprächston: »Die einzig mögliche Vertretungsform für Preußen ist die ständische; Bauern, Bürger und Adel, das ist die natürliche Gliederung des Volkes, und der König sollte sich durch keinerlei Geschrei irre machen lassen.«
Und sogleich senkte auch der Assessor die Stimme ins Gebräuchliche: »Und was die Liberalen wollen, dieses Großdeutschland ist ein Unsinn. Undeutsch ist es, den Einzelstaat aufzugeben, denn in der bunten Vielfältigkeit unseres Wesens liegt eben unsere deutsche Eigenart. Und undeutsch wäre es ebenso, mit der alten Gliederung zu brechen. Deutsch und ständisch ist dasselbe.«
»Erlauben Sie,« sagte Bismarck, »Sie hören doch ganz vortrefflich.«
Jetzt sank dem Assessor von Kleist die Unterlippe herab, zugleich hob die Stirn mit vielen Falten die Augenbrauen hoch, und zwischen diesem Gesenkten und diesem Gehobenen trat eine ratlose Verblüfftheit zutage. »Und Sie …,« stammelte er, »Sie sind nicht schwerhörig?«
Es war ein pommerscher Scherz; man hatte auch ihm weisgemacht, Bismarcks Ohren seien nur für stärkstes Geschütz eingerichtet, und nun bebte die Erde zwischen Oder und Weichsel von Gelächter. Bisweilen brach in diesen Landen die Kruste, und dann kam durch den neuen Preußen der alte zum Vorschein, die rauhe, ungebändigte Tonart schlug durch die sanftere Kulturweise, der struppige Wendenschädel tauchte auf.
Es kam nicht dazu, daß Bismarck seine Ungehaltenheit zeigte, denn Johanna war auf einmal unaufdringlich da, lachte in einer freien Heiterkeit alles Grobe und Verletzende weg.
»Sie können nichts dafür!« sagte Bismarck und reichte Kleist die Hand.
Marie und Moritz hatten alle Glückwünsche über sich ergehen lassen, standen ein wenig verquetscht von den Umarmungen, und Marie wischte heimlich ein halbes hundert salbungsvoll feuchter Küsse vom Mund.
Die Terrassenmusik fiedelte sich von draußen ins Speisezimmer und wurde Tafelmusik. Alles Silber der Thadden und Oertzen war ausgerückt, Frau von Thadden sah mit mütterlicher Rührung auf die Stücke, die man ihr vor Jahren auf die Geschenktafel gestellt hatte und die nun der Tochter Hochzeit mitfeiern halfen. Es waren Vasen aus Lapislazuli darunter, Harfen aus Silber, mit silbernen Saiten bespannt, Dinge ohne jede andere Bestimmung als die, da zu sein und in dunkeln Schränken auf Feste zu warten, aber auch edel gefügte Nützlichkeiten in den altmodisch gewordenen Formen des Dazumal.
Die Musik spielte einen Choral, die Gäste standen hinter den hohen Stuhllehnen und hörten schweigend zu. Dann faltete der Brautvater die Hände: »Lasset uns beten!« Und er sprach ein schlichtes, starkes Gebet, Dank für alles bisher Gewährte, Kindesbitte um weitere Fürsorge.
Mit dem letzten Wort brach der fröhliche Tafellärm herein. Man rief einander an, denn es gab in diesem Kreis wenige, die nicht durch Gleichheit der Erziehung und der Wege verbunden gewesen wären.
Die junge Frau sah mit klaren Augen die Tafel hinab. »Sieh, Johanna und Ademar!«
»Hochzeiten sind ansteckend,« sagte Moritz, »die bösen Zungen behaupten: ein Unglück zieht das andere nach sich.«
»Wenn es doch so käme!«
»Friederike ist ohne Trost gestorben, und Bismarck steckt noch immer in seiner alten Haut. Es mag sein, daß der Stachel in ihm sitzt, daß er den Keim in sich trägt, aber nun müßte jemand sein, der den Stachel tiefer einbohrt, der den Keim pflegt, daß er heranwächst.«
»Ich bin sehr glücklich, Moritz, ich möchte, daß alle Menschen glücklich sind.«
»Ich wünsche sehr, daß ihm Johanna gefällt. Ist es nicht seltsame Fügung, daß sie so heißt wie Ottilie? Hast du von der Homöopathie gehört, die Ähnliches aufeinander wirken lassen will? Oder, wie die Alten sagen, lege die Haare des Hundes, der dich gebissen hat, auf deine Wunde. Vielleicht heilt Johanna den Schmerz, den ihm Ottilie zugefügt hat.«
Ein leiser, von fern herüberziehender Traum wagte sich in die Augen der jungen Frau. Sie sah, wie sich Johanna zu ihrem Tischnachbarn beugte.
»Sie sind also der wilde Bismarck?« fragte die Reinfelderin den Kniephofer.
Ihr Gesicht wurde im Gespräch zu einem frischen, lebhaften Studentengesicht; was andere durch ernste Erfahrungen erwerben und mit herben Verlusten bezahlen, Kenntnis von Welt und Menschen, schien sie ohne Mühe aus sich selbst zu holen. Nur daß es da wie aus einer Retorte kam, in der es verfeinert und geläutert worden war, so daß ein unentwegter Schwarzseher hätte sagen können, sie fälsche alles, was sie sehe. Ein Mensch des Vertrauens aber hätte dankbar jubeln müssen, so müsse es sein, lauter und klar und Hölle und Teufel seien müßige Erfindungen magenkranker Leute, Schmutz und Elend lägen in Zeiten, über die man bereits längst zu besseren hinausgerückt sei. Dieser ganze wundersame Prozeß aber schien sich in den beiden strahlenden Augen zu vollziehen, die unter den schön gespannten, schwarzen Brauen lagen. In diesen Augen wurde die Welt umgewandelt. Ihre Farbe wechselte dabei von Grau zu Schwarz, ließ aber doch als wichtigsten Eindruck ein strahlendes Blau bestehen. Es war mit diesen Augen, wie man es von den magischen Steinen erzählt, in denen unter dem glatten Schliff alle Begebnisse gleich Wolken vorübertreiben.
Bismarck sah sich gespiegelt und verbessert. Er bog sich trotzig aus dem Bann dieses blauen Feuers. »Ja – ich trinke wie weiland Kaiser Wenzeslaus, ich spiele wie der Graf von Luxemburg, ich habe einen Harem wie der Großtürke.«
Johanna nahm keinen Anstoß. »Und was ist es mit Ihrem Vollbart?«
»Was denn?«
»Nun – man erzählt doch: Otto von Bismarck sitzt in einem Barbierladen und macht recht junkerhaft den König herunter. Der kann ihm gar nichts nach Gefallen tun. Und wie er sich so kräftig durchgeschimpft hat, da steht auf einmal einer der Barbiergäste auf, schlägt den Mantel auseinander, und ist der König. Der hat alles angehört, und zur Strafe für seine schlechte Meinung muß nun Otto von Bismarck den Vollbart tragen, und der darf nur zweimal im Jahre geschoren werden – vom Henker!«
»Und hat man Ihnen noch nicht erzählt, daß ich meinen alten Vater im Hungerturm eingesperrt habe? Nur einer meiner Vasallen namens Hermann trägt ihm nachts heimlich Speise und Trank zu. Mein Bruder Bernhard aber ist aus Gram über diese schrecklichen Familienverhältnisse in den böhmischen Wäldern Räuberhauptmann geworden.«
Das Lachen Johannas umfing Bismarck wie etwas sehr Köstliches, es war ein blaues Lachen, an dem ihre Augen den größten Anteil hatten.
Nach vielen Toasten, von denen die einen schwer und gewunden daherkamen wie Lindwürmer durch den Wald, die anderen schmetterlingshaft taumelten und von den Lippen graziös zu den Rändern der Sektgläser zu flattern schienen, während die weitaus meisten brav und behäbig waren, Filzschuhe anhatten wie Bürgersfrauen auf dem Markt, trat man in den Abend auf die Terrasse hinaus.
Schwärmer stoben bunt und prasselnd über die Baumkronen auf, bogen sich in viele feurige Strähne herunter, hingen wie lodernde Grasbüschel in der Luft, wie Blumensträuße.
Man setzte sich dem leichten Seewind aus, der kühlend über Wasserflächen kam, den Weindunst ein wenig wegspülte.
Blau, Grün, Gold und Rot warf die Erde gegen die Wolken, manchmal riß der Wind eine Saite von den lodernden Harfen in die Luft, wühlte in dem wehenden Haar des Feuers. Ein Funke kam im Bogen über den Park, fiel bei der Freundschaftsinsel in den Teich und ertrank.
In der Küche prophezeite die alte Susanna Unheil, der Herr Zebaoth könne doch nicht zulassen, daß statt innerer Einkehr und ernster Betrachtung solch wüste Lustbarkeit ein Hochzeitsfest geheißen werde.
Aber der Brautvater war anderer Meinung und freute sich, als ein ganzer Klumpen Feuers über dem schweren Schwarz der Bäume auseinanderbrach und unzählige Goldfäden zur Erde schüttete. Der Wind kam, wickelte einen der lohenden Goldfäden um die Faust und fuhr mit ihm über Strohdächer und Scheunen. So wurde der alten Susanna die Genugtuung zuteil, daß sie als erste sah, wie aus dem Stall hinter dem Herrschaftshaus eine lange, grelle Flamme stach. Da fiel sie freilich gleich in Todesangst, stürzte auf die Knie, bat um Vergebung ihrer sündigen Gedanken und um Rettung aus Feuersgefahr.
Der Brandlärm fiel in die weinlaute Gesellschaft, einen Augenblick war alles schreckgelähmt, man sah noch die im Gespräch erstarrenden Gruppen, einzelne Gesten hingen noch in der Luft, Herren waren noch über die nackten Schultern von Damen gebeugt und rissen schon die Gesichter aufwärts wie überraschte Kämpfer.
Aus dem Stall und der einen Scheune sprangen steile Flammen vor, drüben in die Strohdächer der Bauern war die Brunst eingefallen. Das Rot goß sich in die Halsausschnitte der Kleider, auf die bloßen Arme und Fäuste.
Jeder der Männer hatte nach einem vorübergehenden Anflug von Schrecken den besten Willen zu helfen, nur daß dieser Wille in keine Bahn geleitet war; die Männer wandten sich unschlüssig nach links und rechts, stürzten von den Damen fort und kehrten, von kavaliersmäßigen Bedenken getrieben, wieder zurück.
Durch Bismarcks Erinnerung schoß fern ein helles Licht, Funkenprallen, hoch aufstiebendes Feuergevögel, ein Mann im gelben Schlafrock … dann sprang er los, faßte jemanden am Arm, es war der kleine Kleist, der baumelte an ihm wie ein Groschenboot am Dreimaster, lamentierendes Gesinde schoß herum, das brüllte der Kniephofer zum Teich zusammen. Es hatte seine Schwierigkeiten, von den kopflosen Knechten die geteerten Feuereimer herauszuschlagen, dann aber lief einer um den andern triefend durch die Kette der Hände vom Teichrand zum Feuer, spie in die Glut.
Ein Weib krümmte sich vor den arbeitenden Menschen, beschwor sie, vom frevelhaften Rettungswerk abzulassen, Gott habe die Brunst entzündet, er müsse sie auch wieder löschen. Sie wand sich in letzten Ängsten: Sünde, Gott zu widerstreben! Keinen Finger rühren! Brennen lassen! Gott wird löschen, wenn er will! Wenn er nicht will – wer kann retten?!
Bismarck schob die alte Susanna aus dem Weg, er sah in seiner Nähe zwei weiße Kleider, Seide und Mull, ein Brautkranz wich aus dem Haar, Granatblüten blätterten aus schwarzen Flechten. Marie und Johanna halfen Pferde anschirren, die mit Wassertonnen zu den entfernteren Herden jagten …
Das Hochzeitsfest endete in harter Arbeit; das Gutshaus selbst war mit versengtem Schopf und angebrannten Flanken davongekommen, aber ringsum qualmte viel schwarzes Gesparr. Und als man so weit war, daß nichts mehr zu befürchten stand, da klatschte der Hausherr in die Hände: es gab durchnäßte und verdorbene Hochzeitskleider in Menge, aber auf der Terrasse standen wieder die kleinen Tischchen mit Sherry und Lachsbrötchen.
»Kinder, Hunger und Durst gibt's bei uns nicht,« rief er in den dampfenden Morgen. »Gelobt sei Gott, daß er das Schlimmste abgewendet. Herr, dein Name ist Herr, von Ewigkeit zu Ewigkeit, und dein Name sei gebenedeit, Nehmen und Geben steht allein bei dir – was aber den Morgentrunk anlangt, wollen wir uns nicht nötigen lassen.«
Da scholl ringsum Pommernlachen, in den berußten, zerrissenen Händen klangen die feinen Sherrygläschen.
Bismarck kam als letzter die Terrassentreppen hinan, der Brand gloste hinter ihm gebändigt in sich zusammen.
Da lag das winselnde Weib: Sünde! Gott zu widerstreben! Das Gebet allein war alle Kraft.
Bismarck sah sie an. Das Bild einer weiten, dampfenden Ebene, die er in England gesehen hatte, stieg ihm auf, endlose Reihen von Eisenreitern im Gebet, Gottesstreiter! Das Cromwellwort kam ihm in den Mund: » Pray and keep your powder dry.«
»Wat het he seggt?« fragte Susanna mißtrauisch aus ihrem Gottesjammer.
Johanna neigte sich vor: »Beten ist gut – aber besser ist es, das Pulver trocken halten.«
Auf Kardemin die Sylvesternacht.
Die junge Ehe hatte sich im Engen eingenistet, saß warm zwischen den vier Wänden, und draußen krachte der Winter im Wald.
Das Gebet war vorüber, der Shakespeare war zugeschlagen, des melancholischen Dänenprinzen Leiche war weggetragen, aber seine Schwermut schwebte noch über der Ananasbowle. Marie hatte zwei edle englische Gläser hervorgeholt, im leichten Gequirl schwammen die Scheiben. Sie stieß mit Bismarck an, da gaben die Gläser einen seltsamen Ton von sich, einen leisen, klagenden Schrei, der im Zimmer irrte, als suche er einen Weg in die Nacht.
»Ich lese schlecht,« sagte Bismarck, indem er sich geschlossenen Auges im Stuhl weit zurücklehnte, daß die Arme fast bis zur Erde hingen. Alles Gerät schien ihm manchmal zu klein.
Es mochte von der Ananasbowle herrühren, daß Marie heute trotz Silvesterernst und Hamlettragik wie ein schillerndes, raunendes Wasser war: »Sie lesen nicht gut, Ademar … aber wir kommen ohne Sie nicht zurecht. Wer soll uns sagen, wie diese vertrackten englischen Namen ausgesprochen werden?«
»Ich glaube …« sagte er langsam, »es ist noch ein Geheimnis da! Hamlet kommt zu keiner Tat … denn … er liebt seine Mutter.«
»Pfui! Ademar! Wo steht das?«
»Es steht nirgends … solche Dinge muß man fühlen.«
Mit leichten ziehenden Geisterchen wirkte die Ananasbowle in Maries Kopf. Sie stieß mit dem Freund an, wieder schrie das feine Glas, als leide es Not. Ihre Augen rauschten zu ihm. Moritz, der in seinem jungen Glück allzurasch behäbig geworden war, blinzelte nach der Uhr hin, deren Zeiger in einem spitzen Winkel nach oben auseinanderliefen.
»Jetzt geht das Jahr zu Ende! Ademar … was wird dir das neue bringen?«
Bismarck saß vornübergebeugt, ein Wehen warf Schnee ans Fenster; durch den Spalt unten an der Tür kam ein leiser Luftzug, der sich ins Haus verirrt haben mochte, und drang kühl an die Beine. »Ein paar Vorträge im Regenwalder Verein, Sinken der Wollpreise, Regen, Ärger mit der Regierung.«
Mit feingebogenem Arm hob Marie im Silberlöffel neuen Trank in die Gläser. Das runde Handgelenk ruhte einen Augenblick auf dem Glasrand. »O Freunde,« sagte sie begeistert, »gibt es etwas Herrlicheres als die Freundschaft? Die Welt ist voll Güte Gottes, aber die Freundschaft ist sein Meisterwerk. Wer seinen Freund liebt, dient Gott.«
Die Gläser wippten aneinander, aus dem Kristall sprang ein schneidender, durchdringender Ton, der sich in die Lungen bohrte und wie ein rauhes Gefühl an die Knochen anzusetzen schien. Bismarck stellte sein Glas hart hin. »Ich kann aus diesem Ding nicht trinken. Es schreit, es hat eine Seele. Es ist wie in der Geschichte von Hoffmann, da ist eine Violine, in der eine Seele eingespannt ist, die singt und klagt und leidet erbärmlich. Was für schreckliche Stimmen haben diese Gläser?« Und einen Augenblick lang stand ihm ein kleines, dürres Männchen beim Ofen, das mit Menuettschritt gegen den Lichtkreis der Lampe vortänzeln wollte …
»Kinder! das neue Jahr rückt an!« Moritz hatte sich seiner Schläfrigkeit entrafft. Marie brachte still, mit leise wiegendem Schritt, zwei rubinrote böhmische Gläser aus dem Schrank. Die waren fest gebaucht, von robuster Gesundheit, und schrien nicht, als sie anstießen.
»Auf deine Erweckung, Ademar!« sagte Moritz.
»Auf euer stetes Glück, meine Freunde!« Bismarcks Stimme war nicht ganz fest in der Kehle.
Die Stockuhr auf der Kommode holte aus und begann gegen die schwirrende Spiralfeder zu schlagen. Zwölfmal! Und zwei kleine geflügelte Genien schlugen mit kleinen Hämmern zwölfmal auf ein silbernes Herz, das sie mit Zangen auf einem Amboß niederhielten. Über ihnen aber hob Chronos mit Sense und Tuch nach dem letzten Schlag bedachtsam seine Sanduhr.
Der alte Herr auf Schönhausen hatte sich für den Rest seiner Erdentage eine gute Philosophie zurechtgemacht, die er mit so viel Behagen, als sein körperliches Befinden verstattete, aus dem Allgemeinen ins Spezielle wandte.
Ärger war billig zu haben, jede Stunde hielt mehr davon feil, als man gebrauchen konnte, und wie ein boshafter Krämer mochte sie manchmal, wenn man ihr gar nichts abnehmen wollte, dem lässigen Käufer den ganzen Vorrat an den Kopf werfen.
Da war es gut, in der Einsamkeit eine kleine Freudenapotheke zu halten! Tropfen, Pillen, Mixturen von Heiterkeit gegen Magenverstimmungen des Gemütes, gegen Hämorrhoiden des Geistes, gegen Leberverhärtungen der Seele, als da waren: ein paar frohe und sonnige Briefe aus Kniephof vom Otto oder aus Naugard von Bernhard oder aus Angermünde von Malwine, und dann die verstaubten Kellerfreunde, die nur den gläsernen Rock abzuwerfen brauchten, um im herrlichsten Goldgelb oder einem zum Schwarzen neigenden Purpur dazustehen.
Dem Leben war überhaupt gut beizukommen, wenn man es behandelte wie eine launische Frau, das heißt, wenn man nach seinem eigenen Kopf verfuhr und so tat, als habe es Ja gesagt, wenn es Nein gesagt hatte.
Man konnte ihm so abgewinnen, was es gar nicht hergeben wollte, man konnte Füchse jagen, wo es gar keine gab. Bei solchen Veranstaltungen war auch Otto gut zu gebrauchen. Man rückte in den frühen Wintermorgen oder in die Herbstnebel der Elbniederung aus, prüfte den Wind mit aller jägermäßigen Genauigkeit, und Ihle oder Bellin führten zu irgendeinem Busch, in dem sie einen Fuchs gespürt haben wollten. Es war nun allen Beteiligten von vornherein klar, und dem Rittmeister selbst war es am klarsten, daß in dem Busch ebensowenig ein Fuchs saß wie etwa ein Nashorn, aber die Jägerfreude der Erwartung blieb unverkümmert und war kein Wechselgläubiger, der auf Erfüllung bestand. Man sog die Nebel in die Lungen oder spürte die Finger am Schießeisen klamm werden, man hörte die getreuen Mannen mit den aufgeregten Hunden den Busch umzingeln, ganz wie bei einer wirklichen Jagd. Otto unterhielt sich mit dem Vater so lange im Verschwörerflüsterton, bis der Rittmeister mit den Augen abwinkte und dem roten Pelz die Büchse entgegenhob. Denn nun waren Karl, Bellin und Ihle mit den Hunden in Feindesland eingebrochen, tobten wie drei Armeekorps Waldteufel durch das Gestrüpp, als wollten sie um eines armseligen Füchsleins willen Baum und Strauch mit Stumpf und Stiel ausreißen, droschen mit den Knütteln dörperisch an jeden Stamm, heulten dem harmlosesten Dornbusch in die Wurzeln hinein und vertrieben mit dem wüsten Gejaid Holzmännlein und Holzweiblein auf sieben Jahr. Wenn sie dann brüllheiser und dorngeritzt und in bravem Schweiß zu den Jägern kamen, dann begann Ottos Anteil an der Veranstaltung. Ob er denn nichts gesehen habe? Ja – es sei ihm doch gewesen, als ob – oder: nein, diesmal könne ganz bestimmt kein Schwanz durchgewischt sein. Darauf ließ man von dem gemarterten Stück Schönhausener Welt ab und nahm ein anderes vor, dem man genau so zusetzte, ohne mehr hervorzuholen, als ein paar Krähen, ein struppiges Häslein oder ein holzklaubendes Bauernweib, dem der Schrecken bis an sein Ende nicht mehr aus den Gliedern ging. Man wurde so aufs schönste naß und müde, hungrig und stubenfroh, aß nachher die Neunaugen und Gänselebern mit dreifach gesteigertem Vergnügen, Fingal streckte die Beine und schnarchte vor dem Ofen, und so war es doch gewesen wie eine wirkliche Jagd.
Aber die Elbe hatte etwas gegen den alten Herrn, der nie dem Wasser innerlich gut Freund gewesen war, und so schickte sie ihm im Frühjahr von 1845 durch den gebrochenen Deich gelbes Lehmwasser auf die Saaten. Es traf sich nun unglücklich, daß zur selben Zeit, als sich die Elbe den Weg ins Weite zwang, dem Rittmeister der Portweinweg enge und beschwerlich wurde. Sein Hals wollte das Schlucken verlernen, der viele, auf dem Lehmgeschiebe herangeschwemmte Ärger mußte unverspült bleiben, also daß ihm der Herbst dieses Jahres seinen Faden philosophiae abriß und das Lebenslichtlein ausblies.
Da wurde nun Otto von Bismarck nach dem Einvernehmen zwischen den Geschwistern auch Herr auf Schönhausen, und es entschied sich, daß er Kniephof an die längere Leine legen mußte, um Schönhausen näher an der Faust zu haben.
Sein Leben nahm den ersten Kreis und führte ihn an die Stätte seiner Geburt zurück. So stand er nun, wie der alte Blanck vor Zeiten gesagt hatte, mit einem Bein in Pommern und mit dem anderen in der Altmark, und wenn er auch hier in Pflicht und Frohn des Tages genommen war, die Seele war immer noch gegen die östliche Heimat seines Herzens gewendet. Hier gab es nun ein scharfes Werken durch Stall und Feld. Kaum daß Kniephof hochgekommen war, mußte hier noch einmal tiefer unten begonnen werden, und dabei drohte draußen hinter dem Deich der Feind.
Dem schweren Wasser wäre aber noch beizukommen gewesen, wenn nicht die Regierung von Magdeburg am grünen Tisch alles hätte besser wissen wollen als die Männer, die alljährlich zum Frühjahrsgruß den Eisstoß kommen sahen und um die Festigkeit des Deiches bangen mußten. Es war notwendig, den Magdeburger Herren, die sich von den Stettinern nur durch die Namen unterschieden, klar zu machen, daß ein Deich nicht durch Verordnungen und Berichte zu erhalten und verstopfen sei, sondern nur durch Knüppel, Sand und Mauerwerk.
So ließ die Arbeit wenigstens die Muskeln spielen und gab der Kampf um den Deich dem Geist scharfe Flüge, schärfte ihm Pfeile gegen die breitbäuchige Unfähigkeit im papierenen Hemd.
Denn sonst verrannen ihm die Schönhausener Wochen kahl und schmucklos. Ungern sah er beim Eintritt ins Dorf links von der Straße das Neue Schloß, das in Zeiten des Niederganges vom Besitz hatte abgetrennt werden müssen; es kam ihm vor, als ginge er da einer Schnittfläche entlang, so wie man in geologischen Kabinetten die sogenannten Profile sieht, das sind Schnitte durch das Antlitz der Mutter Erde, die dem Gelehrten ja sehr wichtig sein mögen, aber Ungelehrte wieder allzusehr an Leichentisch und Seziermesser erinnern. Und das eigene Heim war Bismarck wenig vertraut; gern las er zwar das Sprüchlein, das den Klee und die Eichenblätter im Wappen über dem Portal kriegerisch anders deutete:
»Das Wegekraut sollst stehen lan,
Hüt dich, Jung, sind Nesseln dran« –;
aber es schien ihm, als dürfte sich zu Wegekraut und Nesseln, zu Mühe und Wehrhaftigkeit schon manchmal auch ein Ruch Reseden oder ein Sträußchen Rosen gesellen, wie es ihm in Kniephof von der Freundschaft oft genug in seine Einsamkeit gelegt worden war. So nahm er denn alle Gelegenheit herzhaft wahr, aus der Elbniederung an die Oder zu wallfahrten, und ließ auch viel von dem, was ihm durch den Sinn wollte oder leuchtete, durch die Kielfeder aufs Papier fließen, daß man in Kardemin seiner nicht vergesse.
Im Sommer kam ihm ein Evangelium der Freundschaft aus dem Osten, warmer Sonnenschein drängte die Kälte in die entlegensten Herzenswinkel. Marie hatte es sich in den Kopf gesetzt, den Harz aufzusuchen, und rührte dazu die Werbetrommel über Pommern. Da war auf einmal das gelobte Land auf die andere Seite der Welt gerutscht, rückte mit dunkeln Waldbergen zusammen und hielt dem romantischen Sinn Sagensteine und verfallene Schlösser entgegen.
Auf dem Bahnhof von Magdeburg hatte das Leben einen hellen Klang. Sein Rhythmus schien Bismarck manchmal gesteigert, seit es die Schienenstränge hatte, auf denen es Menschen und Güter mit unerhörter Schnelligkeit von Ort zu Ort brachte. Da lag Schönhausen in seiner Niederung, deichbewehrt, in Abgeschiedenheit, aber unweit keuchte die Welt und rollte mit schweren Eisenwagen, und war daran auszugleichen, was jahrhundertelang streng geschieden nebeneinander gestanden hatte. So war die Eisenbahn sonst im Grunde nur ein notwendiges Übel, das Unausweichbare, dem die Liberalen den fanatischen Namen Fortschritt gaben; aber heute war sie eine Freude und ein wahres Himmelsgeschenk.
Bismarck freute sich seiner Länge, die ihm über das drängende Volk hinwegzuschauen gestattete; er sah im Zug ein weißes Tuch scharf nach hinten wehen, sah sich erkannt, schwenkte seine Mütze im Kreis. Noch ins Kreischen der Bremsen hinein schlugen Bruderkuß und Umarmung, Moritz hielt ihn fest, seine Hand war von Marie erfaßt. Dann sah er in graue Augen, die ihn still neugierig betrachteten.
»Fräulein von Puttkamer?«
Hedwig von Blanckenburg und Marie duckten sich hinter ihm ins Verschwörergeheimnis.
»Jetzt bist du unser, Otto!«
»Wir wollen leben, wandern … ganz in Freiheit.«
»Man soll uns nicht anmerken, daß wir sonst gesetzte Menschen sind.«
»So wollt ihr nicht den Harz fromm machen?« warf Bismarck fragweise ein, »ich dachte, es sei als Kreuzzug gegen das germanische Götterzeug vermeint, das sich um den Blocksberg herum so zähe halt.«
Aber es war nichts als grüne, wanderfertige Jugend da, und als man in Wernigerode die Stolper getroffen hatte, gute, gerade Menschen, da wies es sich, daß auch das Ehepaar Mittelstädt, den anderen an Jahren weit überlegen, der Sommerlust nicht weniger offen die Seele entgegentrug. Sogar der junge Prediger Wangemann war ganz an das Ungesalbte hingegeben, an Volkslieder und Mendelssohn, und sang begeisternd einmal ums anderemal: »Entflieh mit mir und sei mein Weib«.
Man konnte es wahrhaftig an nichts wahrnehmen, daß Pietisten auf dem Wege waren, alle Schönheit wurde durstig getrunken, die Stillen im Lande waren sehr ins Laute hineingeraten, der Himmel über den Harzbergen hing ihnen voller Geigen, von denen keine einzige falsch gestimmt war, und im ganzen schienen ihre Gemüter um eine erhebliche Anzahl von Breitegraden südlich gerückt, wo schon das wärmere Seelenklima beginnt. Wenn einer was Feines hatte oder wußte, so behielt er es nicht etwa für sich, sondern trug es den andern zu, daß die sich auch freuen sollten. Sie waren so aufeinander abgepaßt, daß jeder Ton von einem zum anderen überging und Verwandtes erweckte, und so klang immer sehr bald ein Akkord zusammen, bei dem Schwermut und Fröhlichkeit ihr Gemeinsames in warmer Herzlichkeit fanden. Bismarck stand bei alledem vielleicht ein wenig abseits; es war trotz seiner Freude an allem doch ein feiner Hauch von Kälte um ihn, wenn es zu überschwenglich zuging.
Sie saßen im Gasthof zu Ilsenburg, und Elisabeth Mittelstädt machte dem Prediger Wangemann gegenüber kein Hehl daraus: Bismarck sei ihr so, wie wenn sie mitten im Sommer und Sonnenschein an einer offenen Kellertür vorüberginge, da komme auch immer so ein Sturz kalter Luft hervor. Wenn man mit diesem Menschen zusammenleben müßte, so müßte man wohl den Seelenschnupfen kriegen.
»Ich finde ihn interessant,« entgegnete der Prediger, »er weiß unendlich viel. Er hat die Welt gesehen, und nicht wie andere daraufhin, ob die Suppen süß oder sauer angemacht werden, sondern auf das, woraus es ankommt. Was er mir von englischen Kathedralen gesagt hat, erspart mir ein Buch über diesen Gegenstand.«
Beim Klavier gab es großes Gelächter, man zwang Johanna zu den Tasten. Moritz hatte schon die gemusterte Decke abgerissen und sie Bismarck um die Schultern geworfen. »Was bekomme ich, wenn ich spiele?« fragte Johanna mit schiefgehaltenem Kopf; ihre Augen waren Lichtgarben, graue Funken sprühten.
»Otto, was bekommt sie, wenn sie spielt?« drängte Moritz.
Bismarck zog den Mantel königlich um sich her: »Eine Lizenz zum Drehorgelspielen für Schönhausen und Fischbeck,« und er neigte seine Hand, als verleihe er eine Urkunde.
»Ich bin erschüttert – ich kann nicht länger widerstehen.« Das schwarze Gelock sprang um Johannas Schläfen, sie schlug den Deckel zurück, die armselige, abgearbeitete Klaviatur wurde sichtbar, die zerschundenen schwarzen Tasten, das drangvolle Nebeneinander der einst weiß gewesenen, nunmehr gelben, in die braune Flecken von Zigarren gebrannt waren. Mit einem Finger ließ sie eine bekannte Melodie über das gemarterte Tastenwerk stolpern, hinten im langgestreckten Kastenleib balgten sich die Hämmer mit den lockeren Saiten. Ein Geheul ertönte plötzlich. Mitten im Zimmer hockte Moritz, hielt die Hände in den Gelenken abgebogen, hatte den Kopf schief zur Decke gedreht, die Augen aus den Achsen gekugelt und heulte wie ein musikfeindlicher Dorfköter.
Der Kellner, der eben mit einem Stoß Teller bei der Tür hereinkam, wurde zur Salzsäule und stand, ganz gegen alle Erziehung, ratlos vor der Erscheinung.
Das Ehepaar Mittelstädt lachte Tränen.
»Er ist mondsüchtig,« schrie Hedwig Blanckenburg, und Bismarck fuhr mit seiner Klavierdecke auf ihn zu, als wolle er sie über seinen Kopf werfen.
»Ich muß ihn erlösen,« sagte Johanna, und unter ihren nun voll eingreifenden Fingern entstand ein Walzer, einer von den Wiener Walzern, mit denen sich Gungl jetzt eben in die Begeisterung der Berliner einspielte. Ihr Spiel hatte nichts Erschütterndes, es war eine gute, klare Geläufigkeit darin, die nicht bis zur Brillanz gelangt war, mit dem hübschen Walzer war auch ganz gewiß keine tiefere Wirkung zu wecken; aber es breitete sich ein Wohlbehagen über die Menschen, und seltsam, dieser abgearbeitete Scherben von Klavier bekam eine Stimme und sang. Er sang, wie manchmal ein herabgekommener Sänger singt, der sonst in Kneipen Lieder gröhlt, wenn er sich seiner Vergangenheit erinnert; und das ergreift einen, weil jeder Ton durch Tränen hindurch muß, die ihm aus dem Herzen quellen. Und auch das war dabei: das Grau oder Blau ihrer Augen fand Bismarck irgendwie in die Töne gelöst, die Schalkheit und wissende Unwissenheit der Augen, die Takte waren von diesem einzigen, starken Elixier getränkt, und darum gingen sie so wohl und fein in den Menschen ein.
Das Tellerklappern wurde jetzt heftig, drei Kellner schleppten die Küchenerzeugnisse heran. Auf dem Tisch braute es würzhaft; was in den drei Reichen der Natur für Menschendienst gewachsen war, schien sich dort zu vereinigen.
Johanna zog den Deckel über die Tasten, die, von ihren Fingern nicht mehr benützt, sogleich aussahen, wie alte, schlechte Zähne; wehleidig verzitterte ein Summen im Klavier.
»Kennen Sie Beethoven?« fragte Bismarck.
»Nein.«
»Er hat wohl das Tiefste ausgedrückt, was das Menschenherz an Leidenschaft empfinden kann. Schmerz der eisigsten Einsamkeit, Ringen zwischen Gott und Teufel.«
»Was hat denn Bismarck mit Johanna getan?« schrie Moritz messerfuchtelnd. »Sie stehen dort hinten und schau'n die Koteletten nicht an.«
Herr von Mittelstädt knüpfte die Serviette hinten am Halse fest und breitete die Ellenbogen auseinander, um das Huhn zu zerlegen, das braun und mit glitzernden Fetttröpfchen auf der Haut in einem grünen Salatkranz lag. »Dem Moritz hat die Ehe noch nicht die gute Laune verdorben!«
Marie beugte sich vor, um ihrem Mann ins Gesicht zu sehen. »Wir beziehen ein Gehalt von der Regierung; wir sind engagiert, um den Leuten Lust zur Ehe zu machen.«
»Es wird wenig helfen,« sagte der rosige Wangemann, »wer kann sich heute zur Ehe entschließen? Die Zeiten sind schlecht.«
Moritz sah über seine Forelle weg, die heute morgen noch in der Ilse zwischen dunkelgrünen, schlammbesponnenen Steinen leise flossenschlagend gestanden hatte und nun rot getupft und silbergrau in goldener Butter schwamm: »Du solltest nicht so reden, Wangemann, das ist nicht Pastorensinn!«
»Die katholische Religion hat das vor uns voraus, daß sie ihren Priestern die Ehe verbietet. Wie klug ist das ausgedacht: wer für das Himmlische werben will, soll seinen Willen nicht an das Irdische binden. Und gibt es eine stärkere irdische Bindung als das Weib?«
In Elisabeth von Mittelstädts Gesicht, das dem Sprecher gespannt zugewendet war, zog eine Enttäuschung auf, ihrem ohnehin etwas angesäuerten Lebensmut war diese katholische Anwandlung schmerzliche Überraschung. Frau von Mittelstädt trat ihrem Gatten unter dem Tisch stark auf den Fuß und wies mit einem Ruck des Kinns bedeutungsvoll auf die Tochter.
Moritz gab Großartiges von sich: »Wie meint Schiller? ›Himmlische Rosen ins irdische Leben.‹«
»Der Herr Prediger hat recht,« sagte Bismarck, »eine Frau ist ein Übel. Wenn ich mir in mein Leben hinein eine Frau vorstelle, so komme ich zum Schluß: es geht nicht. Ich bin ein Langschläfer! Nun ist zweierlei möglich: entweder meine Frau ist auch eine Langschläferin, oder sie ist es nicht. Ist sie eine Langschläferin, dann ist sie eine schlechte Hausfrau; es geht in Küche und Haus drunter und drüber, die Milch brennt an, oder die Katze frißt den Speck; – ist sie aber keine Langschläferin, dann rumort sie mir morgens in meinen schönsten Schlaf hinein, weckt mich auf, der Tag ist mir verdorben, und so ist sie erst recht eine schlechte Hausfrau, die dem Mann den Tag schlecht macht. Conclusio: eine Frau ist auf jeden Fall eine schlechte Hausfrau.«
»Sie dürfen eben nicht nur eine Hausfrau suchen, Ademar,« sagte Marie.
Sein Blick ging ernst zu ihr: »Wie viele Frauen gibt es, die dem Mann Freundin sein können?«
Wangemann blies die rosigen Bäcklein auf, sein junges Gesicht zuckte vor stillem Lachen: »Die Ungläubigen reden davon, daß Gottes Schöpfung unvollkommen sei. Ich könnte Gott nur einen einzigen Vorwurf machen: daß die Knöpfe nicht von selber wachsen. Dann wäre die Ehefrau ganz und gar entbehrlich.«
Moritz sandte dem letzten zarten Forellenbissen eine kleine runde Kartoffel nach. Die sah aus wie ein großer, butterglänzender und mit grünem Schnittlauch bestreuter Schlußpunkt zu dieser gottgesegneten Zwiesprache mit dem Flossentier. »Ja,« sagte er kauend, »ihr redet beide von der Ehe wie der Blinde von den Farben. Probieren geht über Studieren. Versucht's nur einmal.«
Sie wehrten lachend ab. »Das ist's ja eben, daß es kein Probieren gibt. Ja – ginge die Ehe nicht immer gleich so aufs Ganze.«
Elisabeth schüttelte mißbilligend den Kopf; da war diese kühle Frivolität, die offene Kellertür. »Ach Gott, Moritz,« sagte Marie mit einem verzogenen Mund, »da müssen wir der Regierung den Gehalt zurückgeben. Wenn wir nicht einmal unseren nächsten Freunden Lust machen können!« Sie wandte sich nach links. »Und du, Johanna?«
»Ich finde die Ehe recht nett,« sagte die Schweigsame, »sie hat nur einen Nachteil: daß ein Mann dabei sein muß.«
Entrüstung schlug ihr entgegen; Johanna verriet gemeinsame Interessen. »Ach, du Unnatur! Du Männerfeindin! Na warte nur auf deinen Tag!«
»Herr Prediger,« schmeichelte Elisabeth leise bewegt, »singen Sie uns doch was. Sie singen so schön.«
Er ließ die rosigen Bäcklein im Öl der lieblichen Umlockung funkeln und erhob sich zum Klavier. Es bleckte die garstige, gelbbraune Tastenreihe.
»Entflieh mit mir und sei mein Weib!« sang der Ehefeind. –
Der Morgen nahm die Wanderer die Ilse entlang mit sich dem Brocken zu. Das Wasser sprang von roten Gipfeln und buckligen Halden ins dunkle Tal.
»Ich bin die Prinzessin Ilse und wohne am Ilsenstein,« summte Moritz, »er war ein Lästerer, aber ein Dichter.«
»Ein Zerrissener,« ergänzte Marie, »wie Beethoven, nur nicht so groß. Ich träume mir ein Menschenbuch, in das müßte für jeden Freund ein Gedicht kommen, in dem seine volle Seele liegt. Von Heine aber dürfte mir da nichts herein.«
Aus dem Tal rang sich der Weg bergan, ins lichtere Gehölz. Je höher sie kamen, desto freier und kühler wurde es um sie. In den Schneelöchern hatte der Winter noch schmutzige Reste zurückgelassen, an deren Rand ein Wundersaum von Frühlingsblüten stand. Bismarck bedauerte, daß sie keinen Champagner mitgebracht hatten, da hier so schöne Gelegenheit gewesen wäre, ihn zu kühlen. Die anderen aber sprachen davon, daß der Reiz der Berghöhen darin liege, daß man mit dem Hinansteigen immer mehr ins schon abgetane Jahr zurückgeführt würde, vom Sommer des Tales bis zur Winterkälte, und daß es also sei wie mit der Erinnerung, die auch in Vergangenheiten leite. Man lebe so ein Stück seines Lebens noch einmal.
Unter einem über die Waldberge gespannten Zelt von Gold und Blau wurde das Frühstückslager abgehalten. Dann kam man ins Blockgewirr, und das zarte Zeugschuhwerk der Frauen, das den Knöchel nicht fest genug umspannte, gab Anlaß zur Besorgnis. Bismarck, der oft als letzter ging, um mit seinen langen Beinen das Steigen der anderen nicht zu sehr zu beschleunigen, sah oft Johanna vor sich und freute sich, wie sicher und gut sie ging.
Einmal wandte sie sich nach ihm um: »Hier sind also die Hexen zu Haus?«
»Ja!« sagte er ernsthaft. »Es mag schon übermenschliche Begegnisse und Einflüsse geben, Dunkles und Verborgenes, das rührt uns ja in allen großen Dingen an, ist vielleicht das Beste in ihnen. Wenn Sie einem tiefen Eindruck nachsinnen, bleibt immer etwas unerklärt. Sollen Sie sagen, warum Sie ein Gedicht von Byron ergreift oder etwas von Beethoven? So müssen Sie zuletzt verstummen.«
Johanna hätte nicht sagen können, warum sie darüber so innig erfreut war, daß Bismarck so zu ihr sprach. Sie fühlte, daß er ihr mit diesen Worten mehr gab, als anderen sonst. Und warum gerade mir? Indem sie dieser Frage nachhing, fand sie sich selbst in das Dunkle, Unerklärte gedrängt, von dem er gesprochen hatte. Eine süß nagende, verwirrende Neugierde blieb zurück. Sie zog sich im Laufe des Tages noch oft in seine Nähe, immer wieder mutlos ins Unbedeutende sinkend, wenn sie sich zu innerlich Wichtigem erheben wollte.
Das Brockengespenst, das Moritz ganz fest versprochen hatte, blieb aus, aber dafür hob sich ihnen deutsches Land wie eine volle Schale entgegen, angefüllt mit dem Grün der Wälder, dem Altgold der Felder und dem dazwischen hingestreuten Gekräusel von Dörfern und Städten. Wo der Himmel dem weitgedehnten Gespreite eine Grenze setzen mußte, dort war nur des Blickes, aber nicht der deutschen Erde Ende; man ahnte in den Dünsten des Nordens das Meer und in der Klarheit des südlichen Himmels Zinnen und Firne ausgebäumter Bergwelten.
Fast schmerzlich süß war das Glücksgefühl der Stunden, und Bismarck hatte zu tun, seine Kaltblütigkeit gegen den Ansturm von Schwärmerei zu verteidigen, der immer wieder aus den wunderbar erhellten Menschen vordrang. In der einfachen Gipfelwirtschaft fand man sich mit den geringen Vorräten an Lebensmitteln gerne ab, und da man schließlich die rechte Zeit zum Abstieg versäumt hatte, entschloß man sich auch, über Nacht zu bleiben. Wenig hätte gefehlt, und Wangemann, der auf die Teufelskanzel geklettert war, hätte von dort herab zu sprechen begonnen, ohne zu bedenken, daß auf diesem Felsen nun ein für allemal ein satanisches Predigtservitut haftete.
Der Sonnenuntergang hielt nicht ganz, was der schöne Tag versprochen hatte, aber dafür kam dann die köstlichste Mondnacht herauf.
»Sehen Sie den Eisstoß dort oben?« sagte Bismarck, der mit Johanna, wie sie in einen schweren Mantel gehüllt, vor dem Blockhaus stand.
Am Himmel war wirklich ein lebhaftes Schauspiel von bewegten Wolkenschollen, die sich übereinanderschoben und von einem starken Strom fortgetragen wurden, während sich der Mond wie ein großes Boot durchkämpfen mußte. Wenn er dann eine Strecke freie Fahrt hatte, so zackten die Granitblöcke des Hexenaltars und der Teufelskanzel ihre schweren Schatten zwischen sich und über den kurzbegrasten Grund.
»Sie denken an Ihren Deich?« fragte Johanna.
»Er macht mir Sorgen. Sehen Sie, ich will Deichhauptmann werden, nicht um der Ehre willen, sondern weil ich weiß, daß ich der Nächste dazu bin. Unser Hab und Gut hängt an diesem Deich, und man hat mit nichts als lauter Unverstand und Trägheit zu kämpfen … Sehen Sie, da ist der Qualmdeich … ach, was erzähle ich Ihnen das …?«
Ein Paar strich unten um den Hexenaltar, und man hätte Ungeheuerliches denken können, wenn man nicht genau gewußt hätte, es sei Elisabeth und Wangemann.
»Wollen Sie es mir nicht doch erzählen?« bat Johanna nach einem kleinen Schweigen.
Und Bismarck nahm ohne längeres Weigern seine Schönhausener Angelegenheiten und stellte sie vor Johanna, wie vor einen klugen, einsichtsvollen Menschen. Da war der Fischbecker Qualmdeich, der war nicht etwa so ein Ding für sich, sondern gehörte zur Uferbefestigung, wie nur ein Stück des eigentlichen Elbdeiches. Er hielt den Gegendruck gegen den elenden Hauptdeich fest. Aber die Regierung hatte ihren Aktenschimmel aufgezäunt und ritt ihn gegen vier armselige Bauern, denen sie immer wieder die Erhaltung dieses Qualmdeiches aufhalsen wollte, obzwar die vier Notnägel die Last nicht tragen konnten und das Ganze eine öffentliche Sache war.
»Sollte man es für möglich halten?« Johanna war ehrlich erstaunt.
»Man versteht es nicht. Wundern Sie sich dann, wenn man von Menschen nicht allzuviel hält und von jedem das Schlimmste und Dümmste so lange annimmt, bis er den Gegenbeweis erbracht hat?«
Sie erschauerte bis in die Untergründe ihres Seins. Es war ein schnürendes Kältegefühl. »Das muß furchtbar sein! Mit dieser Ansicht von den Menschen muß einem das Herz erfrieren.«
Hedwig und Marie kamen von einem Rundgang. »Sieh da! Der ausgekältete Bismarck und die gleichgültige Johanna!« lachte das Trieglaffer Fräulein. Aber Marie zog sie hastig fort, mit eifrigem Geflüster die Störung beseitigend.
Die Mondfahrt ließ Schatten in raschem Wechsel aufspringen und aufgesaugt werden. »Das Leben ist ein Schattenspiel,« sagte Bismarck mondwärts starrend, »ich treibe willenlos zwischen den Schollen. Mein Steuer ist die Neigung des Augenblicks. Es ist mir gleichgültig, wo mein Schiff an Land oder auf Grund gerät.«
Tränen drangen dunkel heran, die Welt war voll Leid. »Sie sollten nicht so sprechen! Sie sind berufen, ins Große zu wirken.«
»Ach, wenn Sie wüßten, wie mich die Leere quält. Was ist denn dies alles? Ich werde Deichhauptmann sein und mir und meinen Bauern das Land behüten. Ich balge mich mit der Regierung wegen der Patrimonialgerichtsbarkeit. Ich werde vielleicht zum Abgeordneten gewählt werden und, wenn der König einmal den Vereinigten Landtag beruft, zwischen etlichen hundert anderen Schafsköpfen Reden halten und stimmen. Was weiter?«
Schweres fiel in Johannas Seele, aber Freude glänzte wolkenhoch her. War das der wilde Bismarck, von dem man nichts als tolle Streiche wußte? Da stand ein in sich selbst bohrender Grübler, ein Beladener, einer, der Rechenschaft fordert und zu geben gesonnen ist. Und ihr wurde sein Vertrauen.
Das Spiel am Himmel nahm seinen Fortgang, nach einer schweren Wolkentrift gerann nun alles zu Silber, vorsintflutlich hockten die Granite, hielten die schwarzen Schatten an sich gerafft. Ein weicher Flug zuckte in der Luft. Johanna zitterte unter der drangvollen Fülle dieser Stunde. Wartete Bismarck auf ein Wort? Bescheiden hob sie es aus sich: »Was Sie quält, ist nur das Übermaß Ihrer Kraft.«
Er stand ihr abgewandt. Der Mantel bewegte sich leicht, es war, als rüste er sich auf seinem Felsblock zum Fliegen. »Ich bin dreißig vorbei. Mit diesem Jahr entscheidet sich das Leben zu dem Weg, den es gehen will. Es lag einmal ein schöner, blauer Duft auf fernen Bergen. Jetzt weiß ich, es ist vorbei.«
»Mein Gott, Bismarck, Sie fangen doch erst an.«
»Ich habe es als Beamter versucht. Ekel! Alles wird ins Kleinliche gezerrt. Da war dann die große, stille Kraft der Erde. Seit Jahren baue ich Raps und Korn und schlage mich mit Dürre und Feuchtigkeit, die Pferde kriegen den Koller, die Kühe kalben, das Gesinde muß kurz gehalten werden. Es ist mit der Erde wie mit manchen Frauen, die man liebt. Man darf mit ihnen nicht zu vertraut werden. Die vielen, kleinen Dinge, die ein Beisammensein nötig macht, trüben das Gefühl fürs Große. Die Einsamkeit ist bitter.«
Elisabeth und Wangemann strichen langsam vorbei, dem Haus zu, etwas schrie seltsam in der Mondnacht, ein Käuzchen, aber es war, als habe einer der grotesken Felsen sich eine zu ihm passende Stimme beigelegt. Weither wehte die Unendlichkeit, aus dieser Ahnung räumlicher und zeitlicher Ewigkeit tropfte es schmerzlich und betäubend ins Blut. Johanna umfaßte einen Zacken des naßkalten Felsens, das Mondlicht war in kleinen Schüsselchen des Steines flüssig geworden, es war die Stunde der sprechenden Tiere. Jetzt kam das Einhorn an den Rand der großen Wälder, trabte mit glühenden Augen auf die Lichtung, trug die Affengestalt der Nachtmahr zum offenen Fenster des Försterhauses. Aber um die Schneelöcher unten drehten sich selige Lichttänzerinnen. Und alles hing irgendwie im tiefsten Wesen Johannas und dieses Mannes, war von Gottes Hauch berufen, zeugte von ihm durch seine reine Schönheit. Ihre Lippen sprangen auf: »Es ist die Enge. Eine große Aufgabe, Bismarck, die fehlt! Vertrauen Sie auf Gott. Er wird Sie rufen, wenn es an der Zeit ist.«
»Ich habe um Gott gerungen,« sagte er, »er hat mich nicht gehört. Wenn er ist, hätte er mich hören müssen, so habe ich aufgeschrien. Wer glauben kann, der steht fest. Der Zweifel kann nicht heran. Mag auch die irdische Bestimmung verfehlt werden, die himmlische ist ihm sicher. Wer aber nur über diese Erde verfügt und nicht finden kann, wohin er zu gehen hat …! Nächtelang habe ich über der Bibel gewacht …« Er schlug den Mantel auf, der Wind, der bergauf stieg und um die Teufelskanzel fuhr, riß am befreiten Saum. Stand einer dort auf den Steinen und predigte, war dieser Wind sein fauchender Atem? »Ach, das macht einen nur noch bitterer!« brach Bismarck ab.
Angstvoll bebte ein allzu beladenes Herz. »Ihre Freunde sind besorgt um Sie.«
Bismarck wandte sich jäh: »Ach, Sie … mit Ihrem einfachen Kinderglauben,« sagte er rauh. Dann aber glitt die Schönheit der lichtdurchzitterten Nacht weich und sänftigend in sein verstörtes Gemüt: »Sie … Sie könnten einen stützen!«
Schrecken zog einen dunkeln Trichterwirbel. »O Bismarck,« sagte Johanna, kaum ihrer selbst bewußt, »auf mich wäre kein Verlaß. Ich bin so schwach im Glauben.«
Breiter Lampenschein brach in die blaue Mondflut. Eine dunkle Gestalt stand in der Hüttentür, beide Arme gegen die Rahmen gespreizt. »Juhu! Kinder! Schlafenszeit!« schrie Moritz.
Sie schritten nebeneinander her, tauchten ins neckende Gefrage, ob sie auf die nächste Walpurgisnacht Quartier bestellt hätten, Bismarck als Herrn Urians Leibjägermeister, Johanna als jüngstes und sauberstes Hexlein. Dann ging's auf das rauhe Lager, das den Frauen im Obergeschoß, den Herren auf dem Stroh in der Kammer neben dem Wirtszimmer bereitet war. Schulternahe, Arm in Arm gingen Johanna und Marie die steile Hühnerstiege hinan. Plötzlich fühlte sich Marie umfaßt, naß drückte sich der Freundin Gesicht an ihre Wange, Schluchzen schütterte an ihrem Hals. Alle Seligkeit der Nacht war gelöst, Mondsilber und Unendlichkeitsahnung in Tränen gewandelt, ein tiefergriffenes Herz half sich in beglückendes Weinen.
»Was hast du, Johanna?«
»Ich möchte gut sein, Marie … die Welt ist so unsagbar schön … bete mit mir, daß mich Gott gut sein läßt.«
Sie standen aus der Treppe, durch eine Schießscharte von Fenster schob der Mond seine milde Hand auf die braunen Wände. Marie hielt Johannas Kopf, zukunftsfroh und doch mit einem leise nagenden Gefühl im Herzen.
Das ganze Haus roch nach Essenzen, man hatte allerlei wohlriechende Kräuter abgebrannt, um die Luft zu verbessern, denn diese Krankheit, deren Natur den Ärzten rätselhaft war, konnte auch ansteckender Art sein. Sie gab das Bild einer Gehirnentzündung, aber die Kette führte vom Totenbett des jüngsten Thadden über das der Mutter zum Krankenlager Maries. Der Bruder war an Typhus gestorben, und so lag die Vermutung nahe, daß die Seuche, die über ganz Pommern ging, auch Marie ergriffen habe.
Moritz sah vom Fenster des Krankenzimmers Bismarcks Wagen vorfahren, sah den langen Freund herausspringen, der tiefe Oktoberdreck spritzte über Schlag und Pferd und Mann.
Im Hausflur empfing er Bismarck mit stummer, schmerzlicher Umarmung. »Dreißig Stunden ist sie im Delirium gelegen. Wir glaubten schon, es wäre vorbei. Jetzt klärt es sich wieder. Sie hat mich erkannt.« Vor der Tür des Krankenzimmers, die Klinke leise niederdrückend, flüsterte er noch: »In ihren Phantasten hat sie auch dich immer gesehen. Sie war bei den Seligen … auf einmal strahlt sie in Freude: ›wie froh bin ich, daß auch du angekommen bist.‹ Das warst du, Otto, der da kam.«
Schon vor vierzehn Tagen, da Bismarck Marie als eine von leichtem Übelbefinden Befallene verlassen hatte, war ihr Aussehen danach angetan gewesen, Besorgnis zu erwecken; jetzt war das, was da zwischen dem aufgetürmten Bett und der Binde um den Kopf zu sehen war, zum Erschrecken. Zur Schlacke ausgebrannt, gedörrt von Fiebern, zusammengeschnurrt war das arme Gesicht. In tiefe Bewußtlosigkeiten gestürzt, dann wieder zu wütender Gedanken- und Bilderhetze aufgerissen, verströmte die Kranke Kraft und Leben. Der Geruch, der das ganze Haus in Besitz genommen hatte, schien aus ihrem halbgeöffneten Mund hervorzukommen, getragen von den ungleichmäßigen Stößen des Atems.
»Ja … Ademar!« sagte sie und man sah das Bemühen, ihre Hand unter der schweren Decke hervorzuziehen. Bismarck wehrte ab, er war wie unter einem Geschwirr sausender, dunkler Flügel, ein langer Saugrüssel lag an seinem Herzen, durch den soff ein Unhold das Blut. Untrüglich war es, daß die Frau am Beginn des Weges ohne Wiederkehr stand. Schon fielen die langen Schatten. Ferner klang die Welt an diesem Bett.
»Ja … Ademar … ich bin nicht schöner geworden …« ihr Lächeln brannte Wunden, »die Haare gehen mir aus. Ich habe die ganze Zeit Eis auf dem Kopf. Da sterben die Wurzeln ab. Oder aber die Hitze in meinem Kopf versengt sie … wenn ich mit der Hand hinfasse, ganze Strähnen gehen mir aus … Sie sind gekommen, mich sterben zu sehen.«
Bismarck trug Zuversicht zur Schau: »Nein … Ihretwegen wäre ich nicht so rasch wieder aus Schönhausen gekommen, Marie. So ein bißchen Fieber ist kein ausreichender Anlaß. Ich muß meinen Pachtvertrag über Kniephof abschließen, der soll in diesen Tagen perfekt werden.«
Unbeschwertes Kinderlallen quoll durch das Haus, vergnügtestes Krähen, das nichts vom Jammer des Sterbens wußte.
Die Hand hatte sich von der Deckenlast befreit, zitterte armselig über die Federwölbung, zu schwach beinahe, um einen Eindruck zu hinterlassen. »Warum mich Gott wohl sterben läßt?« sann die Kranke. »Ich bin zu weltlich. Ich habe mein Herz zu sehr an Moritz und das Kind gehängt. Gott ist darüber zu kurz gekommen. Nun nimmt er mich fort, er will nicht, daß wir uns an diese Welt zu sehr verlieren. Aber warum hat er uns dann die Liebe gegeben, wenn wir sie nicht üben sollen?«
»Marie, Ihre Sterbegedanken sind Unsinn.«
»Nein, Ademar – aber was bedeutet das? Ich weiß, daß mein Erlöser lebt. Und ich bleibe doch bei euch, meine Lieben.«
Hinter Maries Rücken winkte Moritz zum Fortgehen. Gehorsam und weh erhob sich Bismarck, mit einem Scherz, der Pächter erwarte ihn, er könnte ihm inzwischen hinter die Kniephöfer Unzulänglichkeiten kommen, wenn er zu lange ausbliebe.
»Wie findest du sie?« fragte Moritz draußen.
Mit einer Lüge entwand sich Bismarck; nach den Berichten, die man ihm gesendet habe, sei er auf Ärgeres gefaßt gewesen, und in Maries Augen sitze das Leben, es getraue sich nur noch nicht so recht frisch hervor.
»Lausig … lausig … gemein … lausige, hundsgemeine Welt,« murmelte er, als er auf dem regentriefenden Wäglein durch die pommersche Landstraßentunke schlabberte.
Der Pächter aber hatte nichts zu lachen. Dem setzte Bismarck die Daumen aufs Auge und drehte ihm so harte Bedingungen an, daß der Mann einen eilenden Boten aussandte, um einen Berater und Beistand zu holen, von dem er wußte, daß er Bismarcks persönlicher Gegner und schon darum geneigt sei, kräftig Widerpart zu halten. –
Es kam wieder einiges Licht in die Welt.
Die Schatten um Frau Marie schienen aus ihren Winkeln zu weichen, das Herabgleiten auf dem dunkeln Weg hielt ein, Herzschlag und Kopf wurden freier, der alte Doktor Fanninger besah den Urin im dünnen Glas mit väterlichem Wohlgefallen.
Auch die Haare werden wieder wachsen, meinte er, als sei mit dieser Versicherung etwas Wesentliches für den Gesundungswillen getan. Bismarck erzählte, er habe seinen Pächter an den Marterpfahl gebunden und werfe mit Vertragsparagraphen nach ihm, die seien noch schneidiger als die indianischen Kriegsbeile. Den Rechtsbeistand, der sich mit hämischen Bemerkungen liberaler Herkunft Kniephof herabzusetzen erdreiste, werde er demnächst zufällig in die Senkgrube befördern, damit er endlich zu dem ihm einzig anstehenden Gerüche komme.
Alles wollte mit helfen, um Marie wieder in diese Sündenwelt herabzuziehen. Aber ihre Seele, die schon zu weit weggewesen war und nur in einer letzten Rückschau noch gezögert hatte, schien sich endgültig zum Verzicht entschließen zu wollen. Die Besserung hielt nicht an; je weiter es in den November ging, und je kürzer die Tage wurden, desto welker lag die Kranke, schwand immer öfter ins Dunkel der Sinnlosigkeit, als gewöhne sich ihr Geist, den Körper zu verlassen.
Es gab nach Regenwochen Frost, auf den Straßen knisterten braune Krusten, in den tief eingepflügten Geleisen schossen weiße Strahlengebilde an, Krähen hockten völkerweise im kahlen Baumgespreiz.
Marie hielt Bismarcks Hand: »Wir waren Ihnen treue Boten, Ademar,« sagte sie, und nach jedem Wort pfiff der Atem durch die Lungen, »wir haben keinen Ihrer Gedanken getrübt. Alle sind rein und unverstellt vor Johanna gelangt. Und sie … sie meint, sie sei noch immer harzkrank.« Ein ergreifender Rest von Schelmerei wankte durch ihre Züge.
»Ich sterbe leicht … Ademar. Mein Gott wird mir gnädig sein. Wenn Sie still und heiter werden wollen, reichen Sie Gott die Hand. Er wird helfen …«
Der Doktor kam mit seinem weichen Schritt, trug den bedeutenden Bauch auf kurzen Beinen zum Bett, Bismarck mußte den Platz räumen … –
Kaleb, du wirst verkauft! Wirst Ackergaul! Vor den Pflug gespannt, wirst du schwere, pommersche Erde brechen für grüne Saaten, die aufschießen müssen und reifen, um dich zu nähren, daß du von neuem vor den Pflug gespannt werden kannst.
Kaleb, nicht mehr oft wird mich dein Rücken tragen!
Die Stalllaterne schwankt über den Boden, Kaleb schnaubt am Zügel, stolpert in den Stall. Kaleb, wie oft ist Schwermut in deinem Sattel gesessen und wie oft Übermut, heute hast du den Gedanken an ewige Trennung getragen!
Die Kniephofer Zimmer waren kahl geworden; was es Liebes und Trautes gab, war an die Elbe geräumt, dort baute sich nun das neue Leben auf. So sah sich Bismarck von nichts umgeben, das den schweren Hang seiner Gedanken durch zärtlich begütigendes Stummsein gemildert hätte, so warf die Brandung in seinem Gemüt den ganzen Schwall gegen die Grundpfeiler seines Wesens. Schon ein liebes Ding in die Hand zu nehmen und still zu betrachten, ist Wohltat. Bismarck sehnte sich nach einem Schimmer von Trost. Er drang, am Fenster stehend, durch die Herbstnacht nach Reinfelden; dort war jemand, ihm gleich gesinnt, mit der Entfernten bangte sein Herz um die Freundin.
Wenn Eltern sterben, so ist das der natürliche Verlauf der Dinge, und eine ruhige, nur leise spannende Trauer bestätigt Gesetze des Weltgeschehens. Aber dieses Hinsterben war Unrecht und Unsinn. Es nahm einen Menschen fort, der so reich war, daß er jedem etwas zu geben hatte; so mußte eine Leere bleiben.
Ein Pfeifen schrillte durch das öde Haus. Johann hatte Liebeskummer, er bannte ihn durch einen Schottischen, und was darin an falschen Tönen war, das gab im Symbolischen die Falschheit der Geliebten, die einen Stellmacher vorgezogen hatte. So stieß der kleine Schmerz unmittelbar an den großen. Wer übrigens hatte das Recht zu sagen, sein Schmerz sei der größere?
Und wer durfte sich herausnehmen, zu sagen, dies sei Sinn und jenes Unsinn? Wo war Schwelle und Staffel, von denen aus man ins Unendliche blicken konnte? Wer zählte die Welten des über alles Großen und des unmeßbar und unwägbar Kleinen?
Ein Ringen brach Felsen auseinander, in flüssiger Glut strömte der Kern des Wesens dahin. So mochte die Erde ihren heißen Leib durch plötzlich geöffnete Spalten entladen. Ein Ungeheueres, Brausendes sengte. Es bildete einen Namen, Klang, Kristall, gewölbte Halle, Ton von sprühenden Steinen, drängte sich immer inniger in alles Dasein … Gott!
Ziehende Wolken, bekränzte Wagen, Rufen von Heerscharen, ein unendliches, mildes und unaufhörlich wechselndes Gesicht … Gott!
Gott – laß sie nicht sterben!
Bist du Barmherzigkeit, Gnade, Herz der Welt, dann laß sie nicht sterben! Du hebst den Finger, Meere brüllen auf, die Angeln der Ewigkeit zittern, du strömst einen Tropfen Licht dahin; im Kuhfladen regt der Wurm den Anfang einer unabsehbaren Lebenskette, Erzengel stehen mit strahlenzitternden Flügeln auf den Zinnen des Seins, eine Blume duftet sich in der Hand eines Mädchens zu Tod.
Gott – laß sie nicht sterben! Aus meinen Tiefen hebe ich mich zu dir, nimm mein Gebet, gib ihr die Kraft, das Leben zu halten. In deinen Händen liegt die Macht … ich weiß, du bist, du bist …
Ich fühle dich in mir, und hingegeben bin ich dir, dein Mantel fließt und umhüllt mich ganz, Gott …!
Hingeworfen fand sich der kleine Mensch, vor Ergriffenheit zerwühlt. Nacht braute und Einsamkeit rauschte. Was war geschehen? Ein Gebet war zu Gott gegangen, ohne Willen ausgesandt, jenseits der Vernünftigkeit entstanden, jenseits alles Grübelns, aus Drang und Angst und großer Gewißheit der Stunde.
Der Krampf wich, eine stillergebene Ruhe sänftigte alle Herbheit, nun war alles dem Einen anheimgestellt. Die Nacht bettete den Müden in den Rest ihres Dunkels. –
Mit dem Morgengrauen war ein Kardeminer Bote da, blassen Gesichts; der Herr von Bismarck möge nur schnell kommen.
Kaleb trabte durch Rauhreif, sein Herr wußte alles.
Still, zwischen hohen brennenden Kerzen lag Marie, schmal und leicht, alle Weltlichkeit war von ihrem Gesicht gewischt. Bismarck stand aufrecht, beide Hände auf das Bettende gestützt, dachte einer Stunde, wo er, über Dächer reitend, den ersten Blick auf eine Tote gewann.
Der alte Thadden, der zum drittenmal in wenigen. Wochen den Schnitt der Sense vernommen hatte, und Moritz waren gefaßt und liebreich gegen den Freund, dessen stumme Erschütterung sie wie ein Beben des eigenen Selbst empfanden.
»Dies ist das erste Herz,« sagte Bismarck, »das ich verliere, von dem ich weiß, daß es warm für mich geschlagen hat.«
»Gottes Wille geschehe,« murmelte Moritz mit glanzleerer Stimme.
»Amen!« beendete der alte Thadden.
Bismarck wandte sich und zog den Freund an sich. Die riesigen Glieder zuckten in der heiligen Marter des Schmerzes.
Im Lande der Kassuben, nahe der polnischen Grenze, wo im Winter noch die Wölfe bis an die verschneiten Bretterzäune heranheulen, wurde dem alten Herrn von Puttkamer auf Reinfelden eine Überraschungsbombe in den Weihnachtsabend geworfen. Sie kam aus der Posttasche, in der die Briefe von Stolp gebracht wurden, und sah gar nicht anders aus wie jeder andere Brief. Hohe, feste Züge steilten den Namen von Johannas Vater auf den Umschlag, denn daß es sich nicht etwa um oeconomica des Gutsherrn Puttkamer oder um politica des Abgeordneten Puttkamer, sondern lediglich um ihn in seiner Eigenschaft als Vater handelte, wurde klar, sobald das Siegel mit Klee und Eiche erbrochen war.
Der wilde Bismarck warb um Johanna.
Der Falke stieß auf die Taube nieder.
Im ersten Schrecken wünschte sich der fromme alte Herr Fausti Mantel oder Fortunati Wunschhütlein oder sonst ein rasches Beförderungsmittel, auf die Gefahr hin, seinem gottgefälligen Wandel durch teuflisches Zauberzeug einen unaustilgbaren Klecks anzuhängen; nur um augenblicks in Schönhausen zu sein und dem Junker den Kopf waschen zu können, ehe noch die Seife seines Zornes zu schäumen aufgehört hätte. Dann aber schlug es ihn aus dem Brief an wie Glockengeläute unter Wasser, wie aus einer versunkenen Märchenstadt grüßte es, und langsam, als sei der Tiefe Erlösung gegeben, stieg es aus der Verwirrung und Tollheit empor zum Licht der Sicherheit über sich selbst.
So konnte der alte Herr von Puttkamer, nachdem er den Brief auf sich wirken lassen und mit Frau Luitgarde bis in die Beistriche und Punkte hinein beraten hatte, und nach ernstlichen Unterredungen mit der ungeratenen Johanna nicht anders resolvieren, denn daß dem Herrn auf Schönhausen eine Antwort zu geben sei. Die fiel denn auch so aus, daß man den Inhalt auch in einem halben Schock bedenklicher Hms hätte zusammenfassen können, und war im ganzen wie ein wohlgeratenes diplomatisches Aktenstück, bei dem man auch vorn und hinten nicht genau unterscheiden kann und nicht weiß, ob es letzten Endes ja oder nein bedeutet. Nur ein kleiner Finger war darin dem Schönhausener entgegengestreckt, die Möglichkeit eines Besuches in Reinfelden in Aussicht gestellt, und Bismarck war nicht danach angetan, sich so ein Fingerlein entgegenkommen zu sehen, ohne sogleich die ganze Hand zu fassen.
Er meldete seinen baldigen Heereszug auf Reinfelden, und von dem neuen Wandkalender dieses Jahres 1847 waren noch gar nicht viel Tagesblättchen ins Vergangene abgerissen, als man schon wußte, der Werber komme angerückt. Er kam durch Winter und mannestiefen Schnee, durch das Land der Kassuben und der Wölfe, wo die Flüsse an die Wälder festgefroren waren.
Jeder bereitete sich auf seine Weise zum Empfang.
Herr von Puttkamer durch viele Zwiegespräche mit Gott, durch angstvolles Zukunftdeuten; wenn es nach ihm gegangen wäre, so hätte er das Ganze als eine Bußangelegenheit aufgefaßt, die in Sack und Asche zu erledigen sei und in ein strenges Beten und Fasten münden müsse.
Frau Luitgarde betete mit ihm, aber gegen das Fasten sperrte sich die Hausfrau in ihr, die einen Teil ihrer Seele in weltlichen Obligationen angelegt hatte, von der Art, die zwar im Himmel keine Zinsen tragen, aber hier auf Erden pupillarmäßige Sicherheit geben, es sei in Küche und Keller alles wohl bestellt. Ihre Kränklichkeit war bis auf weiteres erledigt, sie scharwerkte bei Wurst, Schinken und Rauchfleisch für zwei Gesunde.
Johanna aber bestellte ihr Herz, indem sie alle Kammern öffnete, als sei es nicht Winter, sondern lichter Frühling und man könne nicht genug Luft und Glanz einlassen, so daß der Vater immer wieder verwundert vor ihr stehen blieb, wie schön sein Kind geworden war. Es erging ihm mit ihr, wie mit einem Schreibtisch oder Sekretär, einem Möbel, das man jahrelang kennt, bis in alle tiefsten Fächer und Laden hinein, und eines schönen Tages drückt man an eine unscheinbare Feder und etwas Verborgenes springt auf, ein allertiefstes, geheimes Fach, in dem etwas ganz und gar Unerwartetes zutage kommt.
Der Wintermorgen ballte Schneewolken über das Kassubenland, vermummte Zäune und Bäume noch tiefer, der Hausherr trug seine Sorgen ruhelos durch das Haus, das so sauber gemacht war, wie eine Kirche zur Pfingstzeit, und wenn er irgendwo Johanna begegnete, so blieb er stehen und sah ihr immer wieder kopfschüttelnd nach.
Die Heimliche! Die Verschwörerin! Die Maskenträgerin!
Als er sie im blauen Zimmer traf, wo sie über den großen Mahagonitisch einen weißen, buntgestickten Läufer zog, ihrer Hände Arbeit, Frauenschuh und Herzblümlein in grünem Gerank, da fing er sie beim Arm und fragte zum zweiunddreißigsten Mal: »Kind! Kind! Wie ist das nur gekommen?«
Und Johanna hatte das blaue Leuchten: »Wie die Sonne kommt, Papa! Sie geht auf und ist da!«
»Mein Kind, meine Johanna!« lamentierte der Vater, »wenn ich dich nur nicht in den Harz gelassen hätte.«
»Es wäre doch gekommen! Wenn jemand gegen den Osten auch eine Mauer baut, so geht die Sonne ja doch auf!« Sie strich das Läufertuch glatt, über Frauenschuh und Herzblümlein strich ihre Hand.
»So bist du mir in Leidenschaft verfallen … Kind!« klagte Puttkamer.
Das Wort Leidenschaft hatte für Johanna übeln Geruch und Klang. Leidenschaft, das ging wohl in Gegenden des Herzens vor, die sie nicht kannte, ihre Liebe war ruhiger Glaube und Fröhlichkeit. Jungfräuliche Scham wehrte ab: »Nein, Papa … es ist nicht Leidenschaft. Aber ich vertraue ihm.«
»Dem wilden Kerl? Dem …« er fing noch zu gutem Glück ein paar haarige Worte gerade beim letzten Schwanzzipfel.
»Wenn er mit mir gesprochen hat, war es Ernst und tiefer Sinn.«
»Wann, wann hat er so gesprochen?« Der Vater beklagte gewährte Gelegenheiten.
»Im Harz, in Mondscheinnächten, wenn unser Gemüt ganz voll war von Gottes Schönheit und Güte. Und früher schon, in Pfingsttagen … zu Kardemin. Aber da kamen wir uns nicht so nahe. Zuletzt dann noch in Zimmerhausen.«
Herr Heinrich reckte den festen Schädel zum Himmel, zwischen tiefen Denkerwinkeln lief eine spitze, glatte Haarzunge in die starke Stirn aus: »Ja … die Kardeminer Zwischenträgerei!«
»Papa, diese beiden besten Menschen haben es zu unserem Glück vermeint. Es ist mir, als sei unser Bund durch unsere arme Marie geheiligt. Sie haben uns immer näher gebracht.«
Schlittenläuten schien in den stäubenden Flocken zu hängen, seit dem frühen Morgen war es in Johannas Ohren. Aber vom Fenster sah man nur die weiß bepelzte Welt, in der auch des Gutes Alltagsarbeit gedämpft war. »Sie haben unsere Gedanken und Gefühle einander wissen lassen, und dafür steh' ich in ihrer Schuld. Wie schön hat Moritz einmal geschrieben, als er einen Briefbogen zerteilte und jedem von uns eine Hälfte sandte: wollte Gott, daß ich euch beiden noch einmal auf undurchschnittenem Briefbogen schreibe.«
Der alte Herr räusperte sich, Verlegenheit nahm ihm das Wort, eine Tote stand verklärt vor ihm, nur Gutes war dem Herzen dieser Frau entflossen.
»Und hast du nicht seinen Brief,« fuhr Johanna fort, Anwälterin ihrer Liebe, »hast du nicht zum aufrichtigen Bekenntnis seiner Verfehlungen auch das seiner Einkehr, seiner Rückkehr zu Gott durch das Gebet? Man mag ihm nachsagen, was man will, das werden ihm die grimmigsten Gegner lassen müssen: seine Wahrhaftigkeit steht über allem Zweifel.«
Der Vater deckte den Rückzug: »Es mag ja sein, daß er selbst daran glaubt.«
»Nein, Vater, er prüft sich ganz genau. Er würde es sonst nicht geschrieben haben. Gottes Finger hat ihn erweckt. Und im Himmel ist mehr Freude über einen Bekehrten, als über neunundneunzig Gerechte.«
Da blieb nichts übrig, als das Feld zu räumen, aber während der alte Herr dem Ankleidezimmer zuschritt, um sich umzuziehen, traf ihn die Erkenntnis, daß seine Bedeutung vor diesem Wildfremden gesunken war. Die sanfte Johanna redete wie ein Advokat, sie formte Gründe und hielt sie gegen ihn als Waffen. Und so war unzweifelhaft zu ersehen, daß sie das Leben von Vater und Mutter und Reinfelden wegführen würde und sie würden fortan hinterdreinfahren wie arme Bauersleute, während Johanna vorn im Wagen des Glückes saß. Des Glückes? Wer gab Bürgschaft? Der alte Herr stand in bitterer Not. Wenn es nicht anders ging, so war die Angelegenheit wenigstens hinauszuziehen.
Er suchte seine Frau, fand sie in der Küche vor einem Bratenblock, so groß, daß sich des Königs zwölf hungrigste Grenadiere hätten an ihm ersättigen können, und erklärte, jetzt sei er entschlossen und aus des Herrn Bismarck Plänen würde nichts.
Pro primo: wegen des Herrn von Bismarck bemakeltem Vorleben, das nicht durch acht Seiten eines vernünftigen Briefes aus dem Krummen ins Gerade gebogen werde; zweitens, weil man doch wisse, daß es dem Junker auf seinem elbischen Sandhaufen nicht zum besten gehe, und daß es ihm eher gelingen könnte, sich des Wassers als der Schulden zu erwehren; drittens, weil sonst Johanna Reinfelden verlassen müßte; und viertens bis zehntens: überhaupt.
Frau Luitgardens Entgegnungen, die darauf hinausliefen, es vielleicht doch zunächst im Verhandlungswege zu versuchen, schnitt er auseinander, wie sie selbst die Kalbskeule, und jupiterte die Stiegen hinauf, um seinem Nein durch Anlegung der Festkleidung mehr Gewicht zu geben. Auch Frau Luitgarde mußte jetzt das Küchenregiment abtreten, um ins Schwarzseidene zu schlüpfen, und sie war noch am Zuschnüren, als das Schicksal unten mit Schellengeläute in den Schloßhof fuhr.
Herr von Puttkamer donnerte herbei: »Fertig?« und dann rückten sie beide über die Hintertreppe ins blaue Zimmer, während sich Bismarck vorn im Hausflur aus Pelz und Decken wickelte. Sie nahmen ihre Plätze ein, Frau Luitgard auf dem roten Sammetsessel unter dem Spiegel, Herr von Puttkamer im schwarzen Frack gegen ein Wandtischchen gelehnt, das in einem Füllhorn aus Porzellan porzellanene Blumen emporhielt. Alle seine Orden waren an den Aufschlag gereiht, und wenn dadurch der drohende Ernst des feierlichen Rockes ein wenig ins Bunte gemildert war, so wies die Kravatte, die ihm von den Schlüsselbeinen bis zu den Unterkiefern reichte, deutlich, daß für den Werber nichts zu hoffen war.
Bismarck trat aus der Winterkälte, in der ihm die Wangen rot und der Kopf klar geworden waren, in eine kaum geringere Kühle, die ihn so heftig angriff, als sollte seine warme Neigung sogleich Frostbeulen bekommen. Wenn bei der Mutter noch ein unruhiges Rücken und eine Unentschlossenheit zu bemerken war, so sah man dem Brautvater seines Sinnes Härte außer an der Kravatte auch an der Stellung an.
Er hatte ein Bein über das andere gekreuzt, die linke Hand auf den Rücken gelegt, die rechte vorn in den Aufschlag geschoben und das Kinn gesenkt. So erwiderte er auf die Verneigung des Werbers in gemessenem Ton: »Mein lieber junger Freund. Ihre Werbung war uns in unserer Einsamkeit hier eine Überraschung. Keine heitere, denn so sehr wir uns geehrt fühlen, so muß ich doch gleich betonen …«
Es war Bismarck nicht vergönnt, zu erfahren, was Herr von Puttkamer zu betonen wünschte, denn in diesem Augenblick ging die Tür auf und Johanna stand da, im einfachen Mullkleid, das liebe, erregte Gesicht von leise bewegten, schwarzen Locken umhangen. Ein Zucken ging durch die beiden jungen Menschen, eine Verständigung der Geister und der Leiber, das gleichzeitige Aufflammen in einem Licht, wie wenn die Sonne mit einem langen Wellenschlag zwei benachbarte, gleich hohe Gipfel trifft. Und dann geschah etwas, das in Papa Puttkamers Plänen ganz und gar nicht vorgesehen war.
Bismarck machte einen Schritt auf Johanna zu, breitete die Arme aus. Johanna stieß einen kleinen jauchzenden Schrei aus, wie eine Schwalbe, die sich in die Luft schleudert, und warf sich in die Umarmung des langen Menschen. So wuchsen sie in einem Kuß zusammen.
Zwischen Vater Puttkamer und Frau Luitgarde aber wanderten Blicke hin und her, die sagten einander eine herbe Wahrheit der Entsagung. Langsam nahm der entwaffnete Vater seine napoleonische Stellung auseinander, hob die Kreuzung der Beine auf und zog die Hand aus dem Rockaufschlag vor. Seiner Strategie war anstatt eines Jena mit vernichtender Schnelle ein Belle Alliance bereitet worden.
»Einverstanden?« lachte Bismarck, indem er vor ihn trat und unter dem Arm seiner Braut die Hand vorschob.
»Sie haben eine Art …« zögerte Puttkamer, »eine Art … ich muß sagen, eine merkwürdige Art, sich ein Einverständnis zu erzwingen.« Er dachte noch darüber nach, ob nicht doch ein Rest der Rede noch anzubringen sei, da war schon Frau Luitgarde im Schwarzseidenen herangerauscht, hob sich auf die Zehenspitzen und küßte den rabiaten Menschen auf die Stirn. So war der alte Herr von allen Truppen verlassen, und es ging ihm wie dem König Anno 1806, der auch nichts anderes tun konnte, als den Frieden unterzeichnen, nachdem seine Generale alle Festungen übergeben hatten.
»… sich den Segen zu erzwingen,« murrte er, indem er Bismarcks Hand drückte. Dann aber ging er, um noch einmal den Rheinwein zu prüfen, den er auf alle Fälle bereitgestellt hatte.
»Ich möchte Briefpapier!« bat Bismarck.
»Deine erste Bitte! Wem hast du zu schreiben? In der ersten Stunde?«
Otto lächelte bedeutend, geheimnisvoll standen die dichten Brauen über blauem Geleucht.
Das Schreibtischlein hatte schlanke Beine, es war aus zierlichen Zeiten und ächzte unter dem krummgebogenen Arm mit der Schreibfaust. An Bismarcks Schulter hingelehnt, sah Johanna, wie er den blauen Mädchenbriefbogen mit seinen grimmen Haken verunzierte. Nur wenige Worte stellten sich nebeneinander: »Reinseiden, den 12. Januar 1847. All right. B.«
»Wem gilt das?« Johanna tat mißtrauisch.
Er fing sie ums Hüftenrund, in das sich Johannas Schlankheit einwuchs. »Wem anders? … Malwine! … Ich wollt', ich könnt's auch noch einer anderen schreiben.«
Dann saßen sie im Sofa im roten Saal. Aus dem blauen Zimmer kam das freundliche Tafelgeläute, ab und zu orgelte des Hausherrn Baß, der sprach lieblichste Namen aus, Namen gefangenen Sonnenscheins vom Rhein.
Otto und Johanna saßen eng, waren in schmerzliches Gedenken versunken. Ihre Liebe brannte stiller, unter einem matten Sturz von Trauer.
»Liebes Vermächtnis!« sagte Bismarck und küßte die schlanke Hand. »In dir ist alles, was ich je an Frauen schön gefunden. Und mir ist, als hätte ich das alles aus ihren Händen empfangen.«
»Sie ist bei Gott!« sagte Johanna mit stillen Augen, die Weltenfernen sahen. Dann wieder, rasch zurückkehrend, ganz nahe und menschlich vertraut: »So hast du durch sie noch beten gelernt, Otto! Das ist in deinem Brief so wunderbar, so ganz schlicht gesagt, mir kamen die Tränen, und dem Vater brannte das Schluchzen im Hals.«
»Ich bin ein Lahmer, der noch straucheln wird.«
»Und doch … Gott hat dich nicht erhört. Marie mußte sterben. Hat dich das nicht verstört?«
»Dieser Tod war eine Vorausreise, so nahmen's alle. Und es kommt nicht darauf an, ob man erhört wird. Daß ich wieder beten konnte, Liebste … das war Fingerzeig und Wunder. Ich sah geradenwegs in die Ewigkeit. Ich glaube an sie … oder es hat Gott auch nicht die Welt erschaffen.«
Johanna löste sich von ihm und ging zum Flügel, der schwarz und schmal von der Palmengruppe weg ins Zimmer stand. Sie öffnete den Deckel und schlug ein paar Töne an. Plötzlich bekamen die Locken einen leichten Schwung, das Studentengesichtlein war da und neckte: »Du hättest auch einen Korb bekommen, Otto – so groß, daß wir den Marktschlitten hätten anspannen müssen, wenn du der alte Ketzer geblieben wärest!«
»Dann bin ich glücklich, daß mich Gott wenigstens durch das Schlüsselloch seiner Gnadentür hat schauen lassen.«
Das Mullkleidlein bauschte sich auf dem Drehstuhl, die ersten Takte schritten zaghaft. Johanna sah den langen Menschen an, ihr Blick fragte: erinnerst du dich?
»Beethoven …« flüsterte er, in sich zusammengespannt. Sie kam aber nicht weit in Beethovens F-moIl-Sonate, denn nun standen Papa und Mama Puttkamer deputativ in der Tür und luden zu Tisch, hinten glotzten zwei Kassuben in Livree, weiße Zwirnhandschuhe über den schaufelförmigen Pranken, und staunten den Bräutigam an.
Aus einem Kübel lugte ein Blütenstrauß von Flaschenköpfen. Ein Kork sprang, Sekt sprühte an die Lippen. »Bismarck,« sagte der alte Herr vor dem ersten Schluck, mit dem Rest von Gewissensangst, »ist denn auch alles wahr, was Sie uns … was du geschrieben hast, von deiner Wandlung und Umkehr?«
Bismarck lachte der Welt entgegen: »Ich bin viel umgetrieben worden. Ich habe die Freiheit zu ergründen versucht. Schließlich wird es klar, man hängt nicht als einziger im Weltraum. Ordnung muß sein, der unterwirft man sich: Gott im Himmel, auf Erden der König!«
Die Gläser gaben einen feinen, hellen Ton, wie eine lustige Fanfare der Zukunft.
Den Parisern war das Geblüte scharf geworden, und Deutschland kriegte davon das Jucken. In Paris sägte man dem Herrn Bürgerkönig den Ast ab, und in Deutschland wackelten unter dem Knirschen der Säge die Throne und Thrönchen. In Frankreich wehte eine scharfe Luft, die zog über den Rhein und ließ auch die schwarzrotgoldene Fahne in ihrem Hauche knattern. Frau Freiheit erwachte aus dem Traum, legte die Hand über die Augen, schaute über die Ardennen und Vogesen und erblickte Madame Liberté, wie sie, kurzgeschürzt und die rote Mütze auf dem Kopf, das Straßenpflaster aufriß und Barrikaden baute.
Da wurde ganz Deutschland auf einmal wieder jung und dumm und pudelnärrisch. Die alte Sehnsucht kam ins Blühen, bedrängte die Gemüter, riß den Unmut aus allen Winkeln, heiliger Frühling war da. Jetzt war der Tag gekommen, an dem man sich nehmen wollte, was bisher vorenthalten worden war. Die lange Bank der Versprechungen, auf die man die Erfüllung der Völkerwünsche bisher geschoben hatte, wurde kurz und klein gedroschen und flog ins Freudenfeuer. Der verstockteste Philister entdeckte im innersten Wesensschrein so etwas wie einen Schlapphut und eine schwarzrotgoldene Schärpe.
Das Wartburgfest und der Tag von Hambach redeten wie mit Glockenzungen über die Jahrzehnte weg, im Kyffhäuser schlug Barbarossa mit der Faust auf den Tisch, und die Zwerge zogen den Gaul aus dem Felsenstall.
Herr Joachim Biesenbrecht, Schornsteinfegermeister zu Tangermünde, nahm eine gründliche Waschung vor, denn diese großen Zeiten erforderten einen reinen und geläuterten Menschen, und hatte nach sieben Wassern seinen anschwärzenden Beruf abgespült. Dann begab er sich nach der Wiese hinter Rollwurms Krug »Zur Eintracht«, wo die Bürgerwehr mit Links- und Rechtswenden die Glieder schmeidigte und die Hände an die Gewehrläufe schlug, daß sich die Fingernägel bogen.
Die Frau Schornsteinfegermeisterin schritt neben ihm wie Thusnelda, und der kleine Joachim schleppte als seines Vaters Waffenträger das Jagdgewehr.
Es war ein Anblick, der einen begeistern konnte, alt und jung zur Wehrhaftigkeit gestimmt, und wenn auch noch nicht in Schritt und Tritt taktfest, so doch in Gesinnung und Tatendrang. Wenn man sich umwandte, so sah man von allen Türmen Tangermündes die schwarzrotgoldenen Fahnen flattern, und selbst viele der alten, krummgezogenen Giebel hatten die heilige Dreiheit vorgesteckt. Es war, als hätten diese Farben lange im Verborgenen geblüht, in den Kellern der Entsagung und Verdrossenheit, und nun stelle sie der erste Sommertag des Völkerfrühlings plötzlich ans Tageslicht.
Das ganze Land sollte die Weihe tragen, jedes Dorf die Schleife der deutschen Freiheit und Einheit anheften, und als man sich tüchtig mit »erstes Glied kniet« und Laufen im Kreis abgestrampelt hatte, trat Joachim Biesenbrecht herzhaft vor die Front. Es sei nötig, Gesinnung und guten Willen zu prüfen und in den Dörfern, nicht anders als in den Städten, von allen Türmen die Freiheit zu grüßen.
Das war ein verständiges und mannhaftes Wort, und sogleich trat man in Abordnungen zusammen, die Biesenbrechts Vorschlag ausführen sollten.
Er selbst rückte auf Schönhausen vor, und gerade dorthin, wo der Brennpunkt geistigen und politischen Lebens anzunehmen war, in den Gemeindekrug. Es war aber bloß der alte Ausgedinger Karl Stürzebecher anwesend, der triefäugig und von seinen fünfundachtzig Jahren schiefgedrückt in der Ecke saß, zahnlos an seiner Pfeife mummelte und keineswegs geeignet schien, die historische Größe des Augenblicks recht zu erfassen.
So sandte der Wirt den Kellerburschen Johann aus, um die Gemeindeältesten zu holen; dem Wirt trug die Begebenheit eine heimliche Freude zu, denn bewegte Zeiten, in denen zwischen Krug und Krug die Gemüter ihre Spannung entladen müssen, galten ihm für wirtsfreundlicher als die stillen, in denen nur ehrlicher Durst oder Gewohnheit unter die schwarze Balkendecke kamen.
Der Johann hatte es so dringlich gemacht, als es ihm aufgetragen war, und so kamen nach einer kurzen Weile ein Stücker zwölf Schönhausener Bauern von Feld und Stall und besahen sich mißtrauisch das fremde Wesen mit den dreifarbigen Kokarden an den Hüten und den Schleppsäbeln und Pistolen.
Joachim Biesenbrecht begann ihnen vorzutragen, um was es sich handle. Wie daß die Freiheit über Nacht in Deutschland eingezogen, daß jeder von heute an reden und schreiben dürfe, wie ihm das Maul gewachsen sei, und daß der König nicht mehr so ins Blinde hinein machen dürfe, wonach ihm der Sinn stünde, sondern daß das Volk in Zukunft gefragt werden wolle, und daß sein Nein gelten solle wie sein Ja, und auch wenn es um Steuern oder sonst wie ins Geld hinein ginge.
Das waren in Schönhausen ganz neue und unerhörte Dinge, und an der Sache mit den Steuern schien allerlei Verständiges zu hängen.
Zum Zeichen aber, daß die Bauern begriffen hätten, nun wäre die neue Zeit für Deutschland angebrochen, sollten sie die drei Farben der deutschen Einheit auf ihren Kirchturm aufziehen: Schwarz, Rot und Gold, wie sie auf den Kokarden und Schärpen hier wären.
Darüber wurden die Schönhausener stutzig, denn Farben schienen ihnen so eine Art von Geschriebenem, und mit Geschriebenem konnte man nicht vorsichtig genug sein, man brauchte seinen Namen nur irgendwohin zu setzen, und sogleich zog einem jemand das Fell über die Ohren. Was denn diese Farben vorstellten? fragte der Deichschulze Knautke.
Sie hätten es doch schon gehört, es seien die Farben der Einheit, und jetzt sei es auch aus mit der erbärmlichen Kleinstaaterei und Zerrissenheit Deutschlands, und wenn die Völker die Freiheit hätten, so würden sie auch bald alle Grenzen wegwischen und erfüllen, was der Zollverein vorzubilden begonnen habe: ein mächtiges, geeintes Deutschland.
Aber die preußischen Farben, warf der Deichschulze ein, seien doch Schwarz und Weiß, soviel er wisse.
Der Schornsteinfegermeister murrte etwas, das klang sehr nach Knüppelholz, und sagte: es handle sich eben nicht mehr um Preußen, sondern um Großdeutschland, und wenn sie etwa noch keine schwarzrotgoldene Fahne hätten, so habe er ihnen eine mitgebracht. Damit schnürte er ein Paket auf, und es erschien die farbige Dreieinigkeit in einer Ausgabe, die ausreichte, um vom Schönhausener Kirchturm als recht auffallende Zunge in die Welt zu blecken.
Die Männer von Schönhausen hätten also nur zuzugreifen brauchen, und wenn sie nun trotzdem noch zusammentraten und gewichtig untereinander sprachen, so war einem aufgeklärten Städter, wie dem Schornsteinfegermeister Biesenbrecht, damit wieder nur erwiesen, daß man ebensogut einem Ochsen etwas einreden könne als einem Bauern. Zuletzt kam der Deichschulze aus dem Haufen, und sie möchten doch noch vorher Herrn von Bismarck befragen.
Der sei wohl bei ihnen so eine Art Gott, meinte der Schornsteinfeger.
Nein, aber da sei die Sache mit dem Fischbecker Qualmdeich gewesen, wo er vier Bauern gegen die Regierung ihr Recht verschafft habe, und ein andermal hatte er ihrer Dreißig oder Vierzig, die sich durchaus nicht hätten vertragen wollen, in einem halben Tag auf gleich gebracht, mit dem Deich sei seit seiner Hauptmannschaft auch alles in Ordnung und überhaupt, wenn einer, so verstünde es Bismarck.
Der Schornsteinfegermeister ließ die anderen Mitglieder seiner Abordnung, durch Winken und Nicken merken, so eine Einfältigkeit sei selbst für dörfliche Verhältnisse zu arg. So …, brach er los, und ob sie denn in ihr gottvergessenes Nest niemals ein Zeitungsblatt bekommen hätten, aus dem sie hätten ersehen können, wes Geistes Kind dieser ihr Herr von Bismarck sei. Wie er im vereinigten Landtag durchaus mit den Rückschrittlern und Finsterlingen, den Junkern und Königstrabanten an einem Strange gezogen habe. Wie er am liebsten die Sonne mit Lehm vermauern würde, daß die Welt kein Licht mehr bekäme. So sei es denn durchaus verfehlt, sich bei einem solchen Reaktionär in Sachen des Lichtes und der Freiheit Rats zu holen.
Aber die Bauern hatten nun einmal einen Entschluß gefaßt, und es nützte Biesenbrecht nichts, daß er ihnen etwas anderes in die Köpfe hämmern wollte.
Da wurde es ihm vor Zorn ganz schwarz und rot und gelb vor den Augen, also daß er auch so wieder die deutsche Farbendreiheit zu sehen bekam, und er schlug mit der Hand auf den Tisch, daß es knallte. So sollten sie denn in drei Teufels Namen zu ihrem verdammten Herrn von Bismarck gehen. Aber, er stieß seinen Schleppsäbel auf den hartgestampften Lehm, wehe, wenn es nicht nach seinem Willen gehe. Dann würden sie aus Tangermünde mit Verstärkung wiederkehren, die Fahne selbst aufpflanzen und den Bauern schon beibringen, was unter deutscher Freiheit zu verstehen sei.
Seine eigenen Genossen besahen sich den Schornsteinfeger mit Verwunderung. Sie kannten ihn als einen stillen, durch seinen beruflichen häufigen Aufenthalt im Röhrenförmigen etwas langgezogenen Mann, der, obzwar durch die Schwärze seines äußeren Menschen, die weiß rollenden Augen und die lange Leiter ein Kinderschreck, doch im Innern ein Friedfertiger war. Auch auf der Bierbank hatte er zu den gutmütigeren Streitern gehört, die sich schon lange ärgern mußten, um zu einem härteren Wort zu greifen. Und nun erwies es sich, wie große Zeiten den Menschen wandeln können, wenn die Berufung an die rechte Stätte kommt. Joachim Biesenbrecht war vollkommen ins Berserkerhafte geschossen, stand dräuend unter der niedrigen, rauchgebeizten Balkendecke, und die Kriegsfurie fletschte ihm aus den Augen.
So kamen die Bauern etwas eingeschüchtert zu Bismarck.
Sie fanden ihn mit Bellin rechnend, die Kosten der langen Hochzeitsreise wollten eingebracht sein, weiße und graue Wolken wühlten um sein Haupt, aus der großen Pfeife qualmte der Nachschub. Er besah sich den Aufmarsch mit einigem Erstaunen. Der Deichschulze sprach sein Gesetzlein … und was nun eigentlich zu tun sei?
Zuerst dröhnte ein breitmächtiges Lachen, aber hinterher flog ein Buch auf den Tisch, daß die Rechnungszettel vor Bellins Nase ins Wirbeln kamen. Die Augen schossen einen scharfen Blick, Bismarck schritt die Reihe ab. Da war keiner, mit dem er nicht schon einmal in Arbeit und Not auf dem Deich gestanden hätte. Er hielt an und faßte einen der Männer am Hornknopf:
»Engelbrecht, warum haben Sie mich damals auf dem Rücken aus dem Wasser getragen?«
Der Mann sah neben Bismarcks Hand auf seine großen Treter herab und hätte ums Leben gern ausgespuckt. »Ach, Herr Deichhauptmann, das hätte jeder von uns gern getan; weil wir doch wissen, was wir an Ihnen haben!«
»So, wißt ihr das? Wir sind gegen's Elbwasser zusammengestanden, Männer, wir wollen auch gegen diese Überschwemmung zusammenstehen. Das mit der Freiheit, das ist so eine neumodische Erfindung, die euch nichts angeht. Das ist etwas von Stadtleuten und für Stadtleute, Bauern lassen am besten die Hände davon. Und so frage ich euch, ob ihr euch wehren wollt!«
Da schlug ein »Ja« von allen zusammen.
»So schmeißt erst mal die Kerls aus dem Dorfe raus, dann wollen wir weiter sehen.«
Da war allen der Mut wiedergegeben, und sie zogen ab, indem sie einander verständnisvoll angrinsten und spürten, wie ihnen die Fäuste schwer wurden. Bismarck aber wandte sich zu seinem Getreuen: »Laufen Sie, Bellin, zum Küster. Ich weiß, es ist irgendwo in der Kirche eine alte Fahne, schwarz und weiß, mit dem eisernen Kreuz darauf. Die soll er suchen und beim Turmfenster herausstecken.«
Inzwischen war das ganze Dorf auf die Beine gekommen. Man hatte sich vor dem Wirtshaus zusammengerottet; Weiber und Kinder starrten nach dem Fenster, an dem Biesenbrecht mit Schlapphut und Schärpe stand. Die Burschen und Männer nahmen den Anlaß wahr, in die Schenke zu schlüpfen, und so kam es wenigstens doch dem Wirt auf das heraus, was er sich von dem Ereignis versprochen hatte.
Niemand wußte, um was es eigentlich ging; aber es liefen Gerüchte um, die Unruhe stifteten. Der König hänge in Berlin an einer Straßenlaterne! Die Minister hätten den Bauern alle Schulden nachgesehen! Die Tangermünder wären da, um alle Burschen zum Militär mitzunehmen!
Langsam kamen die Abgeordneten durchs Gedränge. Die Weiber und Mädchen hingen an ihnen, um etwas zu erfahren, aber die Männer hatten ihren Auftrag in sich hineingeschlossen.
Joachim Biesenbrecht trommelte in die Scheiben. Auch im Musikalischen hatte er sich für Mars entschieden und anstatt der sonst so geliebten ›Letzten Rose‹ war es jetzt der Generalmarsch, den seine Finger an das Glas wirbelten. Er genoß Siegervorgefühle; über seinem Haupte schwebte Viktoria mit einem Kranz: Freiheit und Einheit.
Er sah die Abordnung im Schwarm der Weiber. Plötzlich streckte sich etwas in seinem Blick: aus dem Turmfenster gegenüber kam etwas Walzenförmiges hervor, schwarz und weiß gebändert, darüber erschien der rote Schädel des Küsters; der knetete an dem tuchenen Wurm herum, bis er ins Wachsen kam und eine Fahne wurde, schwarz und weiß, mit einem Kreuz darin …
»Zum Teufel, was soll das heißen?« schrie der Schornsteinfeger die Eintretenden an.
Der Deichschulze aber sah von einem Tisch zu andern, und überall saßen ein paar handfeste Gesellen.
»Wir sollen die Kerls zum Dorf rausschmeißen, hat er gesagt!«
Die Schönhausener Köpfe mochten sonst nicht aufs schnelle Begreifen eingerichtet sein, aber diesmal war es wie beim Pulver: Funke und Knall waren eins. Und ehe Biesenbrecht noch Gelegenheit hatte zu erproben, ob seine strategische Begabung mehr von der zugreifenden oder von der hinauszögernden Art sei, fand er sich schon draußen und den Weibern in die Arme geworfen, die vollendeten, was die Männer glorreich begonnen hatten. Es war eine richtige, wonnevolle Prügelei, und jeder Hieb ging ganz warm und frisch begeistert vom Herzen durch die Faust hinaus, denn man prügelte sozusagen mit obrigkeitlicher Bewilligung, unter den Auspizien des Herrn Deichhauptmanns, der auch die Polizeigewalt hatte.
So entschied sich die Schlacht von Schönhausen mit der Niederlage der Tangermünder, und mittags hielt Herr von Bismarck Musterung und Waffenschau und freute sich, daß er ein halbes Hundert Jagdgewehre zählen konnte, die mit seinen eigenen auf die Siebzig anwuchsen.
»Wir fahren!« sagte er dann zu Frau Johanna.
Ihr Leib war gesegnet, man sah die Spuren auf ihrem Gesicht, in das gelbe Flecken geraten waren, die Stirn stand in ein wenig starker Wölbung, aber in ihren Augen leuchtete das junge, angstvolle Glück. Ihr Leben war in seines verschränkt, grenzenlos lag ihr Vertrauen zu seiner Kraft und Klugheit. Ihre Hand drückte nur einen Augenblick seinen Arm. Dann verstand es sich von selbst: das Gehorchen.
Sie fuhren in die Dörfer, und überall weckte Bismarck Kämpfer für den König. Die schweren Menschen reckten sich; wenn Bismarck rief, waren sie bereit, nach der Hauptstadt dem König zu Hilfe zu ziehen.
Am späten Abend waren sie wieder daheim. Ganz ermüdet, aber klaglos lehnte Frau Johanna in einem alten Stuhl, die Beine zitterten ihr noch, das Rot ihres Schals war ihren Nerven widerwärtig, aber sie konnte sich nicht entschließen, aufzustehen, um einen anderen zu holen.
Bismarck saß im Lampenkreis, barg die Stirn in der Hand. Als er dann nach Johanna hinübersah, schien er ihr in ernsten Gedanken gealtert.
»Ich glaube, daß der König nicht mehr frei ist. Wenn er frei wäre, so hätte er nicht den Befehl gegeben, daß die Truppen nach Potsdam abrücken. Welcher Wahnsinn! Die Truppen waren siegreich, noch ein solcher Tag wie der achtzehnte, und die Revolution wäre ausgeblasen gewesen.«
Er erhob sich und stand im Zimmer, horchend, als lausche er in die Ferne auf Schüsse und Geschrei. Dann begann er zu wandern, sein Schatten kreiste um ihn, lief einmal voraus und dann wieder hinterdrein, das glitzernde Klinkerzeug des Venetianischen Glaskronleuchters klingelte.
»Jetzt ist der König ohne Schutz im aufrührerischen Berlin. Um ihn spinnt der Verrat, oder die Leute müssen den Kopf verloren haben.«
Nun stand er vor Johanna und sagte weich und gut, indem er jedes Wort so zart als möglich formte, daß es seiner Frau nicht allzu schwer eingehe: »Ich will morgen früh nach Potsdam!«
Sie erschrak, das Herz verdrehte sich ihr im Leibe, sie konnte nichts dafür, daß ihre Hände auf den Lehnen des Armstuhles ins Zittern kamen. Aber schon hatte sie sich gefaßt, der Atem kehrte zurück, ergeben neigte sie das Haupt.
Waffen und Uniformen spiegelten im Kanal an der Potsdamer Plantage, stumpf standen die Mannschaften bei den Gewehrpyramiden. Die Häuser hatten verschlossene Tore, blinzelten bösartig durch schmalgeritzte Fensterladen. In Berlin war Blut geflossen, und auch hier duckte sich die Empörung zum Sprung.
Bismarck kam den Kanal entlang, hielt bei den ermüdeten Truppen. Sein prüfender Blick fand die harten Arbeitsgesichter der Bauern, wenige Städter waren unter diesen Gardeinfanteristen.
»Warum hat man euch aus Berlin genommen?« fragte er.
Der junge Soldat, an den er sich gewandt hatte, gab gar keine Antwort. Seine Schulter warf die Frage mit einem Ruck beiseite. Ein anderer, mit frischen Augen, nahm sie für eine Herausforderung. »Geht Sie das etwas an?«. Und er stellte sich dem Fremden keck gegenüber.
Bismarck lächelte in das hübsche Jungengesicht: »Ich bin keiner von den Schreiern! Mir ist es um den König zu tun.«
Einer, der einen jungen Grashalm zwischen den Zähnen hielt, rief dem Kameraden zu: »So sag ihm doch das Geheimnis, er wird auf den Rücken fallen, wenn er's hört.«
»Wir wissen es nämlich nicht. Niemand weiß es.«
»Nicht einmal der General von Prittwitz weiß es,« rief einer mit einer Baßstimme aus der hintersten Reihe.
»Nichts zu beißen und nichts zu nagen! Den ganzen Tag stehen.«
»Und dann, wie 's erst recht losgehen soll – – zurück!«
»Man soll uns gegen das Gesindel führen!«
»Traut sich ja niemand!«
»Und der Prinz von Preußen ist auch ausgerissen.«
»Wir wollen ihnen beibringen, Barrikaden bauen.«
»Wir wollen nach Berlin.«
»Lauter Verräter hat der König bei sich.«
»Nach Berlin!«
Bismarck sammelte die Rufe, die ihm zuflogen. Unter der Lavakruste der Ermüdung glutete noch die Erbitterung der Straßenkämpfe. Man hatte die Truppen verhöhnt und beschimpft, dann endlich hatten sie die Waffen gebrauchen dürfen; den Erfolg aber, das siegreiche Vordringen gegen die Menge, die da auf den Straßen zum gehaßten Feind geworden war, hatte ihnen ein unbegreiflicher Befehl genommen. Bismarck fühlte dunkles Leid. Da wütete Kraft gegen Kraft, die eine so schlecht geleitet wie die andere, das Volk zerfleischte sich. Wenn es gelänge, beide Mächte zu vereinigen und einem Ziele zuzuwenden! Es hing ja doch vielleicht nur daran, Verstehen und guten Willen zu wecken, vielleicht einte ein gemeinsamer Feind!
Der Frühling hatte den Kanal schon mit grünen Rüschen besteckt. Durch Friedrichs des Großen Park knirschten die Schritte auf dem Wegekies. Friedrich Wilhelm, der Vierte, glich seinen Ahnen nicht, er hatte kein Eisen im Blut, er war ein bürgerlicher Schwärmer. Er trocknete seine Schnupftücher und Socken eigenhändig am Ofen des kleinen Kabinettes, das er allen anderen Gemächern vorzog, und dabei schwebte ihm die blaue Blume seines romantischen Ideales von Politik und Leben vor. Nichts Ganzes, weder im Guten, noch im Bösen, ging aus seinen Händen, seine Minister waren Künstler in Halbheiten, im Geschmacke ihres königlichen Herrn. Und auf der anderen Seite drängte die Sehnsucht eines halben Jahrhunderts empor, ein Aufjauchzen neuer Zeiten schwoll, das Volk war zu einem neuen Begriff von sich selbst gelangt.
Aber es war viel Blindes und Unbändiges da, das haßerfüllt gegen die Ordnung stieß und sich selbst vernichtete. Das Vaterland stand auf dem Spiel, das war mehr als die alberne Zwiespältigkeit nach Verfassung oder Absolutismus, nach liberal oder reaktionär.
Der kurze Spaziergang ließ Kühle in Bismarcks heiße Gedankenwelt. Er wandte sich zum Schloß, das beruhigend dastand, in edlen Formen, gebändigt durch Maß und Ordnung. Auf seine Frage nach der Prinzessin von Preußen führte man ihn gleich im Erdgeschoß weiter. Eine kahle Tür ging auf, die Prinzessin schrieb an einem kleinen Tischchen. Es war ein Dienstzimmer, in das man Bismarck gebracht hatte; von der fröhlichen Innenpracht des Schlosses war hier nur eine sehr geringe Verdünnung; ein paar Stuckschnörkel, weiße Mullvorhänge am Fenster, ein abgetretener Laufteppich machten es eben nur noch wohnlich.
Die Prinzessin sah von ihrem Briefe auf und ließ sich, während sie zögernd die Feder hinlegte, durch den Kopf gehen, was sie von diesem Menschen schon alles gehört hatte und was von ihm zu halten war. Sie erinnerte sich, der Prinz hatte Gutes von ihm gesprochen, bei Hofbällen liefen Anekdoten von diesem Junker um, im Landtage hatte er liberale Zornstürme erregt. Tiefer als das alles, was doch danach angetan war, Vertrauen zu erwecken, bestand eine unbegründete Abneigung, irgendwie in ihrer Weiblichkeit verankert, ein Widerstreben, dem sie ohne jedes Nachdenken und Prüfen Entscheidendes überließ. Es war wirklich nur eine Strömung unter der Schwelle des Bewußtseins, vielleicht eine Sache des Geruchs oder der Nerven, aber Auguste kämpfte nicht gegen sie, und so wurden oft die besten Männer ihrer Umgebung von ihr vernachlässigt und beleidigt.
Der Diener, der Bismarck hereingeführt hatte, war noch nicht bei der Tür draußen, als die Prinzessin, schon im Tone eines, der in wichtigen Geschäften unterbrochen wird, fragte: »Nun, was bringen Sie?«
»Königliche Hoheit!« sagte Bismarck, »Berlin ist außer Rand und Band. Der König scheint ein Gefangener in seinem eignen Schloß zu sein. Ich suche den Prinzen von Preußen.«
»Was wollen Sie vom Prinzen?«
»Ich muß wissen, wo er ist.«
»Müssen Sie das? – – – Nun, er ist auf dem Wege nach England. Der König hat ihm einen Auftrag für die Königin erteilt.«
Jemand lief draußen polternd über die Treppen. Der Gleichmut verließ die Prinzessin, sie fuhr von ihrem Stuhl, man sah, daß sie diese letzten Tage arg mitgenommen hatten.
Bismarck begann wieder: »Königliche Hoheit, ich muß wissen, wo der Prinz ist; man weiß, daß er sich noch nicht auf dem Wege befindet. Er hat die Nacht in Spandau zugebracht. Ich war beim General von Prittwitz, ich habe mit den Truppen gesprochen … niemand weiß, wer den Befehl zum Rückzuge erteilt hat. Aber alles ist empört. Die Truppen waren im Vordringen … man hätte noch ein paar Salven abgegeben, und das Gesindel wäre auseinandergelaufen. Eine Wankelmütigkeit und Schwachheit sehr zur unrechten Zeit …«
»Üben Sie Kritik am König?«
»Wenn der König den Befehl erteilt haben sollte, dann war es nicht minder eine Schwachheit. Er hat sich dadurch den Aufrührern ausgeliefert.«
»Was wollen Sie denn vom Prinzen?«
»Die Truppen müssen Befehl erhalten, wieder in Berlin einzurücken. Prittwitz soll partout den Besiegten spielen, die Rolle liegt ihm nicht, ich habe ihm ein paar Hundert bewaffnete Bauern angeboten als Zuzug, er braucht sie nicht, er braucht Proviant und Geld. Jemand muß dieser Verwirrung ein Ende machen … Es muß gehandelt werden. Sagen Sie mir, wo ich den Prinzen finde.«
»Ich kann Ihnen nur sagen, der Prinz ist fort. Das Volk haßt ihn, sie glauben, er habe den Befehl zum Schießen gegeben.«
Vor dem Fenster, ganz unten am Rand, wanderte etwas Schlankes, Spitzes, Glänzendes vorüber, das Bajonett des Wachpostens, das in den Glanz der Nachmittagssonne stach. Drüben im Lustgarten, in einer Kastanie, deren kahle Zweige pralle, klebrige Knospenkeulen schwangen, war ein Schwarm Spatzen eingefallen; die verübten einen heillosen Spektakel, als sei es der Natur darum zu tun, recht laut hinauszuschreien, sie habe mit den menschlichen Kämpfen nichts gemein und ihr Frühling sei anderer Art. Wenn man beim anderen Fenster hinaussah – das Zimmer lag im Eck des Gebäudes –, so ging der Blick über die lange Brücke ins leichte Grün der Freundschaftsinsel. In blauen und schiefergrauen Platten und gedrehten Wirbeln, die etwas von den Zierlichkeiten des Parkes von Sanssouci gelernt zu haben schienen, glitt das Wasser der Havel unter der Brücke fort.
In Bismarck erregte das alles nur die Erinnerung an den großen König, unter dessen flammenden Augen einst Havel und Park und Schloß gelegen hatten.
»Königliche Hoheit, die Sache ist dringend. Hier darf sich keiner verstecken, der nach vorn gehört. Im Namen des Vaterlandes, sagen Sie mir, wo ich den Prinzen finden kann.«
Die schöne Frau wuchs vor Bismarck. In ihren Zügen formte sich eisige Abwehr. Sie zog die grüne Seidenmantille um sich her. »Verschonen Sie mich doch mit Ihren Sachen. Die Staatsraison erfordert es, daß der Prinz nicht hervortrete. Der König ist unbeliebt, er hat sich zu einer Komödie bequemen müssen, den Märzhelden seine Reverenz zu erweisen, nun hat man ihm zum Teil wieder vergeben. Aber wenn der Prinz etwas unternimmt, so ist die Dynastie in Gefahr.«
In diesem Augenblicke kam Bismarck der Gegensatz zum Bewußtsein, der zwischen dieser Frau und dem Dienerzimmer bestand, in dem er sich aufhielt. Lag in diesem äußeren Verzicht auf die Pracht, dem kein innerer entsprach, vielleicht ein Versuch, das Schicksal durch den Anschein von Demut umzustimmen? Auch in ihrer Kleidung war etwas dergleichen, in diesem schwarzweiß gestreiften Bauschrock, an dessen Mittellinie ein bescheidener Aufputz von Maschen hinunterlief, in dieser unscheinbaren grünen Mantille.
»Die Dynastie und das Vaterland sind eins,« sagte Bismarck, »es handelt sich jetzt darum, ein Mann zu sein. Faust und Kopf müssen zusammengehen.« Seine Worte waren ohne Schwung.
Erregung fleckte das schöne Gesicht der Prinzessin. Wie ein plötzlicher Ausschlag trat der Zorn sichtbar hervor, bis in den Halsausschnitt hinein, um den eine schlichte Bernsteinkette lief. Bismarck sah feindseligen Ansprung. »Ich bin Mutter, Herr von Bismarck … der König hat sich schwach gezeigt … der Prinz ist unbeliebt … es ist meine Pflicht, die Rechte meines Sohnes zu wahren.«
Sie ging ein wenig rauschend mit festem Schritte zu dem Tisch zurück, ließ sich nieder und legte die Hände zu beiden Seiten des Schreibens auf die Platte. Einen einzigen Augenblick lang mahnte sie mit ihrem nun schon wieder unbewachten Gesicht an eine ruhende Sphinx. Gleichgültigkeit floß von ihren Zügen, legte Weltenweiten zwischen sie und den Mann dort.
»Ich danke Ihnen. Es freut mich, Ihre Meinung gehört zu haben.«
Nun konnte Bismarck gehen. Die Tür wog so merkwürdig leicht in seiner Hand und hatte eine solche Neigung, in ihren Rahmen zu fliegen, daß sich Bismarck ernstlich und in aller Bestimmtheit besinnen mußte, es sei ja eine Frau in dem Zimmer verblieben.
Aber das blieb ihm unverwehrt, die Fäuste gegen den Potsdamer Himmel zu recken und dabei laut und deutlich zu sagen: »Himmelmillionenhakenquarten!« daß es dem Wachposten vernehmlich war.
Darauf ging Bismarck zu einem Barbier und ließ sich den blonden Vollbart abnehmen.
Was in Tangermünde und in Schönhausen wie ein guter deutscher Schwank ausgesehen hatte, der allemal in eine wohltuende Prügelei auslaufen muß, um vollständig zu sein, war in Berlin blutiger Ernst.
Die deutsche Freiheit hatte sich ein blutrotes Kränzlein aufgesetzt, die deutsche Einheit hatte eine Reihe von Helden zu sich entrückt.
Wo es um hohe Dinge geht, da läuft auch immer Gesindel mit. Die Roheit borgte der Begeisterung die Fäuste und nahm sich dafür aus, nach ihrer Art schalten zu dürfen.
Beim Handschuhmacher Wernicke Unter den Linden brannte ein hübsches Feuerchen. Man hatte ihm das Mobiliar aus dem Laden gerissen, und aus Papier und Stroh schleckten rote Zungen über Getäfel und Stuhlbeine.
»Wat nen richtijes royalistisches Jestelle ist, muß allzumal verbronnen sint,« sagte ein Gerber und brach einem Schubkasten die Rippen. Mit Fersen und Fäusten wurden die königstreuen Schemel, die Türen und Aushängeschilder zerkleinert. Von der aufsteigenden Hitze erfaßt, bewegte der Baum, an dessen Stamm die Flamme wie eine lebende Tulpe brannte, die gequälten Zweige. Ein hübscher Junge von Student hatte auf einem umgestürzten Karren Posten genommen und deklamierte:
»Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben?«
Zweierlei Handschuhe hatte er an den Händen, einen schwarzen und einen weißen, und die legte er abwechselnd mit gespreizten Fingern an die Brust und verdrehte die Augen.
Seine Zuhörer saßen und standen um ihn herum und spendeten johlenden Beifall. Der mochte einen krummbeinigen Mitkämpfer zur Nachfolge angeeifert haben. So hatte er sich aus den Wernickeschen Ladenbeständen zwei lange Damenhandschuhe ausgesucht, die er über die bloßen Arme aufzog. Als der spindeldürre Mensch, der er war, brachte er sie glücklich bis über die Ellenbogen, aber die Finger vermochte er nicht richtig unterzubringen. Er begnügte sich also damit, die Daumen durch das Loch in die Handfläche zu stecken, und ließ die leeren Handschuhfinger baumeln. Und weil ihm zu seinem Scherz kein passender Text einfallen wollte, so sprang er wenigstens zwischen den Kameraden umher und schwitzte ihnen die elastischen Finger ins Gesicht.
Berittene Bürgerwehr trabte vorüber, die Barrikadenkämpfer brüllten Grüße, der genialische Handschuhentjungferer tanzte eine Weile vor den Pferden her, wie ein Schembartläufer. An der Mündung der Friedrichstraße mußten die Reiter absitzen und die Gäule an die Zügel nehmen, denn hier war das Pflaster aufgewühlt und weithin mit Glasscherben bestreut. Schnaubend stiegen die Pferde über einen Blutfleck hinweg; dort hatte man ein Roß, das die Beine gebrochen hatte, erschießen müssen.
Geschrei und Gesang kam in einem geschlossenen Körper die Friedrichstraße herab. Ein halbes Hundert Arbeiter aus der Borsigschen Fabrik geleiteten drei polnische Jünglinge. Die schritten in der Mitte so stolz, als hätten sie den Sieg des Volkes entschieden, und eine weiße und rote Fahne, die Farben Polens, zuckte vor ihnen. An ihre Schnürröcke hatten Frauenhände Blumen gesteckt, erstes Frühlingsgewächs aus wohlbehüteten Treibhäusern, Nelken in rot und weiß. Sehr preisgegeben sahen die armen Blumen an den schmierigen Röcken aus.
Hinter dem Trupp kamen ein paar Männer, die gehörten zu den andern und hielten sich doch ein wenig für sich. Ein untersetzter Mensch von etwa dreißig Jahren sprach heftig mit den Händen. »Das neue Ministerium hätten wir ja … das wird nun wieder pfundweise ins Papier gehen. Wir müssen Garantien haben. Versprechungen können sie für sich behalten.«
»Der König wird sich hüten,« meinte einer mit einem durchlöcherten Filzhute. Eine Kugel war da einen Zoll über dem Leben hingefahren.
»Und wem wird es zugute kommen, wenn es sich doch ins Bessere wenden sollte? Den Bürgern, den Studenten … wir Arbeiter haben helfen dürfen. Wir sollten unsere Ansprüche feststellen. Wir dürfen uns nicht mehr wieder so unterkriegen lassen.« Die schweren Hände lebten mit jedem Worte. »Wir müssen endlich aufwachen! Wissen wir, was wir wollen? Nein! Die meisten wissen's nicht. Eine Partei müssen wir werden. Ein gleiches und allgemeines Wahlrecht muß her.«
Ein feingliedriger Mensch mit klugen Augen nickte immerzu. Er stand im Setzersaal einer Buchdruckerei, und viel Neues glitt durch seine Finger und sein flinkes Hirn. »Genossenschaften brauchen wir, staatliche Genossenschaften zur Gütererzeugung! Eigentum ist Diebstahl!«
Eine helle Stimme krähte hinein: »Kiek, dat is och en Franzos!« Ein schmutziger Berliner Schusterjungenfinger stach hinter einem Mann her, der eben vorbeigangen war. Mit einer schwarz-rot-goldenen Papierverbrämung am Schürzenlatz bekannte sich der Junge zur deutschen Einheit und zur Revolution. Der Fremde hatte etwas Verdächtiges an sich, trotz Schlapphut und Kokarde schien er an den Dingen ringsumher keinen Anteil nehmen zu wollen. Etwas Hochmütiges lag in seinem Gang, in diesem Geradeaussehen die Straßen hinab; daß er zu einer Zeit der Blusen und polnischen Röcke, der Pekeschen und Hemdärmel in einem Frack einherwandelte, nahm ihn von der Menge sehr absonderlich, aus und schließlich gab ihm der lange Knebelbart wirklich etwas von jenseits des Rheines. Alles das stimmte irgendwie nicht gut zusammen, der Knebelbart stand ihm nicht ganz zu Gesicht, etwas Abweisendes stemmte sich in seinem Wesen gegen den Jubel und Tumult der Straße.
Der untersetzte Arbeiter zog die Brauen zusammen, als sei es ihm um eine ferne Erinnerung zu tun.
»Wir können ihn ja gleich mal fragen,« sagte einer der Begleiter, »da wird er uns ja wohl sagen müssen, wat er für'n Jewächs is.« Und er setzte sich in Trab, um den Fremden einzufangen.
»Laß, Wolf!«, hielt ihn der Anführer zurück. »Aber ich will ihm doch mal nachgehen. Vielleicht erfahren wir da was Neues.« Die Kameraden wurden angewiesen, voraus zu ziehen und auf dem Sammelplatz zu warten. Man wollte an dem Umzuge teilnehmen, der eine Anerkennung der schwarz-rot-goldenen Fahne durch den König bringen sollte.
Geruhig und ohne sein Interesse an dem Manne vor ihm zu verraten, ging der Arbeiter hinterdrein, und aus Gestalt, Haltung und Gang wuchs ihm immer deutlicher die Gewißheit, wen er vor sich hatte. Ein paar Straßen weit dauerte die Verfolgung. Der Weg des Fremden strebte wieder dem Schloß zu. An einer Straßenkreuzung war es dem Späher, als schaue der falsche Franzose mit einer Wendung um und hinter sich. Dies eine fügte sich überzeugend zum Übrigen, daß der Verfolgte niemals den Schlapphut vom Kopf nahm, wenn ein Haufe siegreicher Barrikadenkämpfer vorüberkam, daß er keinen Gruß und keinen Wink erwiderte, als gehe ihn dieser ganze Rausch von Hoffnungen nichts an.
Der Gasthof Meinhard sah mit ein paar offenen Fenstern nach der Straße. Ein dicker Herr lag in einem von ihnen; von den gekreuzten Armen schien eine beträchtliche Fettschicht gegen das Kinn geschöpft, in der dem kurzen Hals das Atmen schwer wurde. Mit einem Ausdrucke von Behagen und Wohlwollen, dem auch die Schrecken einer Revolution nichts anzuhaben schienen, sah er zu, wie einige Blusenmänner einander eine Proklamation aus den Händen rissen.
Der Fremde blieb gerade unter dem Fenster stehen. Und ohne hinaufzusehen, flüsterte er: »Doktor … Doktor Fanninger!«
Hals und Kopf drückten sich noch tiefer in die Fettschicht. Furchen quälten sich in die Stirnhaut. Dann kam das Erkennen mit einem Sprung.
»Ach du meine Güte … Sie sind es … ja, so kommen Sie doch herein.«
Der Franzose klopfte eine Minute später an und trat ein; der Doktor streckte ihm die beiden weichen, weißen Händchen entgegen. »Ja … Bismarck … wie sehen Sie aus? Was hat Sie geritten? Sie sind ja ganz ins pariserische umgekrempelt!«
»Man kennt mich hier in Berlin zu gut!« sagte Bismarck, warf den Hut auf den Tisch und schaute ihn wutentbrannt an. »Ohne Maskerade kommt man hier nicht durch.«
Der Doktor schlang die Finger ineinander und stieß die Arme nach hinten, daß sich die verschränkten Hände zu einem Neste bauchten. »Ja … was sagen Sie dazu? Verdammte Schweinerei! Nicht? Ich habe einen schweren Patienten hierher überführt, da bricht der Tanz los. Nun bleib' ich vorerst da und seh' mir den Betrieb an. Man erlebt doch nicht alle Tage ein Stück Welthistorie aus solcher Nähe.«
»Ich möchte heulen … mit den Fäusten dreinschlagen.«
»Ja sehen Sie, mein lieber Freund, wundern dürfen wir uns nicht darüber. Wir hätten es nur eigentlich früher erwarten dürfen. Einmal mußte es so kommen … man hat das Volk zu lange an der Nase geführt.«
»Sie reden ja wie einer von den Recken da draußen. Nehmen Sie doch eine Büchse und stellen Sie sich auch auf die Barrikaden.«
Da war ein Kasten nahe am Fenster, der spiegelte Licht. Der Doktor trat an ihn heran und steckte die Nase dicht an die Politur, als gälte es eine schwierige Diagnose. »Ja, sehen Sie, in diesem Punkte denken wir eben nicht ganz gleich. Ich bedauere nur, daß es so hat kommen müssen. Und was machen Sie eigentlich in Berlin?«
»Ich muß … ich will … ich wollte zum König.«
»Ja, mein Lieber, bei dem haben jetzt die Herren »von« kein Vorrecht. Da gehen jetzt die Schneider und Redakteure ein und aus.«
»Es ist mir auch nicht gelungen. Ich habe mir ein Schreiben des Prinzen Karl in Potsdam ausgebettelt, um zum König zu gelangen, aber der Idiot von Bürgergardist am Schloßportal läßt mich nicht ein. Ich muß wieder abziehen. Und mit dem Prinzen von Preußen ist es auch nichts. Seine Gemahlin breitet die Röcke vor. Sie hat Angst, daß die Krone ihrem Sohne entgehen könnte. Sie denkt gewiß daran, die Regentschaft zu bekommen.«
Das alles war hingeschmettert, Schlag bei Schlag. Jetzt holte Bismarck tief Atem, die Hand fuhr ins gelichtete Haar.
»Haben Sie Tinte und Feder? Ich will einen Brief schreiben.«
»Dort drüben, sehen Sie doch nach. Bitten Sie Gott, daß das Stubenmädchen eingefüllt hat.«
Auf dem tintenbefleckten Schreibtische wartete ein Porzellanbär auf. In dem kleinen Borstwisch, der in seinen Schädel eingelassen war, steckte eine Feder. Wenn man die obere Bärenhälfte abhob, so sah man die untere mit schwarzem Saft gefüllt, dem Unheilsaft, der die Eigenschaft hatte, sich auf den Straßen in helles, rotes Blut zu wandeln. Bismarck nahm ein Briefpapier aus der Mappe, tauchte die Feder ein.
»Bismarck,« sagte Fanninger im gleichen gelassenen, etwas fetten Ton, »ich glaube, man spürt Ihnen nach. Drüben steht einer, der läßt kein Auge vom Fenster.«
Der Schreibende gab keine Antwort, die Feder sprühte über das Papier, warf im Bogen Tröpfchen aus.
»Ich weiß, wenn man Sie warnt, werden Sie erst recht toll. Aber nehmen Sie sich in Acht, der Mensch drüben ist verdächtig.«
Schräg grub Bismarck seinen Namen in das fetzige Papier.
»Darf ich wissen, an wen Sie geschrieben haben? – Nämlich deshalb – damit, wenn man den Brief bei Ihnen findet …«
»An den König.« Bismarck stieß den Sessel unter den Schreibtisch, der wieder ins Ganze gebrachte Bär wankte. »Ich habe ihm meine Meinung mitgeteilt, daß die Revolution eine Angelegenheit der Städte ist, daß sie vom Proletariat gemacht wird. Die Bauern sind königstreu, wie meine Bauern sind sie alle, und wenn der König sich entschließen kann, Berlin zu verlassen, so ist er Herr in seinem Land. Wir wollen schon aufräumen. Das habe ich ihm geschrieben.«
»Bismarck,« sagte der Doktor, indem er auf den dünnen Beinchen seinen Bauch wieder näher zum Fenster trug, »drüben steht einer …«
Aber schon hatte Bismarck seinen Schlapphut ergriffen, rief von der Tür her seinen schönen Dank, und als sich der Doktor aus dem Fenster beugte, sah er ihn mit seinen längsten Schritten, nunmehr gänzlich unbedacht, davonrasen. Auch der Blusenmann auf der andern Seite der Straße trabte in gleicher Richtung und in gleicher Beschleunigung.
Ingrimm trieb Bismarck vorwärts, der Demokratenhut vertrug sich nicht mit dem Junkerschädel, der Knebelbart hing ihm am Kinn, wie ein fremdartiges Gewächs. Erbost trachtete er, seine Maskerade los zu werden.
Man hatte ihm gesagt, der Fürst Boguslaw Radziwill habe freien Zutritt zum König. Er lief die teppichbelegten Stiegen des Palais hinan, warf ein paar Diener, die den absonderlichen Fremdling für gefährlich hielten, aus dem Weg und drängte dem Fürsten seinen Brief auf.
Radziwills feines Lächeln über den ungestümen Eiferer hatte die Wirkung, daß Bismarck dachte, der König werde schlecht bedient und in seiner Umgebung meine es niemand so ganz ehrlich.
So ging er enttäuscht und ausgekühlt die Treppen hinab. Es war ihm klar geworden, daß es ihm nicht vergönnt sein werde, irgendwie in die Fäden des Geschehens zu greifen. Er fühlte sein eigenes Gewicht, das, in eine Wagschale geworfen, entscheiden konnte. Er war, wie eine Feder, die zusammengerollt eine ungeheuere Energie in sich birgt und erlöst sein möchte.
Als er vor das Palais trat, rührte eine Hand an seine Schulter.
Das Gesicht eines Menschen war nahe. »Folgen Sie mir!« sagte der Mann, »ich muß Ihnen etwas sagen.«
Bismarck sah um sich; die Straße war durch Schatten und Licht in zwei ungleiche Hälften geteilt, und es war im besonnten Teil trotz des späten Nachmittages so sommerlich heiß, daß der Posten der Bürgerwehr, vier Mann zu Fuß und zwei Reiter, sich nach der andern Seite hinübergezogen hatte. Da saßen und standen sie im Gespräch; einer, der an der Wand lehnte und zu schlafen schien, blinzelte einmal durch schmale Lidspalten nach Bismarck hinüber. Sonst waren wenig Menschen zu sehen, fernes Geschrei kam wie Qualm über die Dächer, sank in die Straße; das war wohl der Jubel, der dem Umzuge des Königs an der Spitze seiner getreuen, revoltierenden Bürger galt.
Bismarck folgte dem Mann, der mit sicheren Schultern, in die ein dicker Kopf etwas tief gesteckt war, und einem plumpen Hüftenwiegen vor ihm schritt.
Nach einigem Straßenumbiegen blieb der Mann unter dem Laden eines Uhrmachers stehen. Ein paar Steinstufen führten hinauf, der Laden war geschlossen, die Zeit war nichts für Uhrmacher, es wußte ohnehin jeder, daß die Stunde der Freiheit geschlagen hatte.
Der Mann, der um einen Kopf kleiner war wie Bismarck, sah ihm von unten ins Gesicht. »Reisen Sie ab,« sagte er, »Sie werden sonst verhaftet.«
»Abreisen!« Das war, als sollte man auf der Mensur abgeführt werden, sein Trotz schob Bismarck alle Widerstände zu.
»Sie fallen auf. Sie werden beobachtet.«
»Niemand hat das Recht, mich anzuhalten.«
Beinahe harmlos und jedenfalls sehr zuversichtlich lachte der Mensch. »O doch …! Reisen Sie ab. Was wollen Sie denn noch in Berlin? Ihre und Ihresgleichen Rolle ist ausgespielt!«
Bismarcks Kopf dröhnte wie eine Pauke. Die Klugheit erforderte Vorsicht, und dabei lagen in der rechten Handfläche mindestens ein Dutzend ungegebener Ohrfeigen. Aber im letzten Moment zögerte auch noch so ein leises Erkennen heran, nur die Umrisse einer Erinnerung, wie unter einem wollenen Tuch.
»Kennen Sie mich denn?« fragte er.
»Gewiß. Auch wenn Sie sich verändert haben. Man wird doch Bismarck kennen, der die schönen Reden im Landtage hält, nach denen alles beim Alten bleiben soll.«
»Also aus dem Landtage?«
»Nein, unsere Bekanntschaft ist viel, viel älter.«
Da war es Bismarck, als gerate der Schutt der Jahre ins Gleiten, der Hügel der Vergangenheit öffnete sich. »Karl!« sagte er, »Karl Blanck!«
Der Mann verzog das Gesicht, ein harter Blick wehrte alles Näherkommen ab. »Ja, und jetzt stehen wir so. Es hat Blut gegeben … das wäre nicht nötig gewesen, wenn ihr, die Junker und die Soldateska, weiter gesehen hättet, als eure Nase reicht.«
»Es fragt sich noch, wer den weiteren Blick hat, Karl!«
Der Handbewegung, mit der Karl Blanck die Einwendung beiseite schob, war anzusehen, daß sie bei ihm in häufigem Gebrauche stand. Die Handbewegung eines Versammlungsredners, der gelernt hat, Massen zu beherrschen.
Bismarck war zu weich gestimmt, um den Feind anzugreifen. Es war ihm, als ob er seiner eignen Jugend hätte Übels zufügen sollen, wenn er Karl Blanck richtig mit den glühenden Zangen seiner Worte gepackt hätte. Er zog es vor, einen kurzen Dank für die Warnung zu sagen und sich zum Gehen zu wenden.
Berlin hatte eine Stimme, eine brodelnde, johlende Stimme, die Bismarck den Jubel über den großen Sieg des Volkes nachrief.
Der Sommer hatte alle Potsdamer Wasser blau gemacht und drang in die Poren des Marmors, und alle die Götter und Göttinnen des Marmors von Sanssouci bekamen warme, leuchtende Glieder. Die kleinen Kaskaden klimperten Glasperlentöne, und alles Wachstum war so üppig ins Schießen geraten, daß die Gärtner Mühe hatten, es zu bändigen. Das Vogelzeug hängte seine allerschönsten Läufer und Triller an die Astspitzen, manche hatten so ein zackiges Geschmetter, mit dem flogen sie bis nahe unter den Himmel und ließen es dann zwischen den Wolkenritzen einfach zur Erde fallen.
Der Wind spielte mit den Schatten, er bog sie zur Seite und langte nach den glänzenden Kupfertafeln der Abendsonne auf dem Rasen oder den Terrassen. Es gab aber auch versteckte Winkel, zwischen dicken Hecken oder um das römische Bad oder bei der Fasanerie, in die der Sommerwind nicht recht hereinkonnte, dahin schickte er wenigstens ein Blatt, so einen armen, auf der Höhe des Jahres verstorbenen Sehnsuchtslumpen von Blatt. Das kam in seinem Geisterschritt angetänzelt, drehte und verneigte sich und bestellte einen Gruß vom Herrn Wind und er lasse sagen, man solle nur nicht glauben, es bleibe das ganze Jahr hindurch Sommer.
Es war überhaupt ein Sommer voller Güte und Milde, als wolle die Erde den blutigen Menschenfrühling vergessen machen. Die Bäume und Büsche bewahrten überhaupt keine andere Erinnerung als die an Sehnen und Dehnen und Blühen, und es konnte nachdenklicheren Gemütern beim Anblick eines solchen Baumes scheinen, die Natur habe ihn den Menschen als stilles Vorbild hingestellt, wie eigentlich Wachsen vor sich zu gehen habe, in getreuem Kräftesammeln und Geduld.
Die königliche Tafel fand in einem der Salons zur ebenen Erde statt, die Glaswände mit den vielen feinen Rähmchen, in denen die Scheiben saßen, vergitterten den Abend, man hatte aber die beiden hohen Türen geöffnet, und so konnte er doch an zwei Stellen ganz frei herein.
Es gab nur kleine Gesellschaft, außer dem Hausherrn, der Königin und den Damen und Herren vom Dienste nur zwei Gäste, einen trübseligen, den Minister von Camphausen, und einen widerspenstigen, den Herrn von Bismarck auf Schönhausen. Herr von Camphausen saß mit gekränkten Mienen, mit gelockerten Tränendrüsen, mit dem Märtyrermale des Opfers, das dem politischen Moloch zum Fraß vorgeworfen werden sollte. Er spürte, der Augenblick war nahe, wo er zu verschwinden hatte.
Bismarck aber aß mit einer geradezu unziemlichen Wut alles in sich hinein, was man in den Bereich seines Armes schob, als gelte es, unter den Augen seines königlichen Herrn den Beweis dafür zu erbringen, daß der ritterliche Grundbesitz in Not und Elend sei. Dabei schwieg er hartnäckig, so daß dem König nichts anderes übrig blieb, als selbst das Essensgespräch in Gang zu halten.
Das gelang ihm nicht so gut wie früher; seit den Märztagen war die Zuversicht in Haltung und Wort verschwunden, es floß ihm nicht mehr so leicht vom Mund, und allzu ängstlich hielt er bisweilen mitten im Satze inne, um einen etwa geäußerten Widerspruch sogleich abzufangen. Noch immer stand das romantische Ideal vor ihm, die Gralsburg seines großen Gedankens an die Heiligung des Lebens durch Christentum und Königsmacht. Aber er war nur mehr ein Taggläubiger, einer von denen, die nachts mit der Laterne suchen gehen, wie es steht, und bei solchen Streifereien des Zweifels fand er manchen Sprung in den Fundamenten seines Gebäudes, fand er manche Diebsleiter angelehnt und Abdrücke von schmutzigen Fingern an den weißen Wänden.
»So sprechen Sie doch einmal etwas, Bismarck,« sagte der König. »Im Landtag sind Sie doch sonst nicht mundfaul.«
Es war verfehlt, diesen Scherz zu machen, denn da saß ja einer, dem dieser Landtag schon die Grube grub. Camphausen räusperte sich und schaute schmerzlich in den Park, als sähe er zwischen den Baumkronen die Vision seines geschundenen politischen Leichnams.
»Na, verzeihen Sie mir doch endlich,« fuhr der König fort, »daß ich Sie zu Tisch befohlen habe. Ich wollte Sie doch einmal sehen. Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt … Was glauben Sie wohl, was der alte Fritz getan hätte, wenn Sie ihm seinen Leibjäger mit der Botschaft zurückgeschickt hätten, Sie hätten keine Zeit, Sie müßten nach Hause reisen, Ihre Frau wäre nicht gesund? Der hätte Sie selbst geholt! Wie?« Er sah forschend in Bismarcks Gesicht, ob da nicht ein Unwille entstand. »Donnerschlag! Sie sitzen da im Potsdamer Gasthof … und ich muß das zufällig erfahren … und dann wollen Sie sich weigern zu kommen? ›Keine Zeit‹? Der alte Fritz wäre imstande gewesen, aus den vierundzwanzig Stunden des Tages achtundzwanzig zu machen, wenn er es für nötig gefunden hätte. Ich kann das leider nicht, aber von den vorhandenen vierundzwanzig Stunden können Sie mir immerhin zwei schenken.«
Er schob Bismarck die Wasserkaraffe hin, war sichtlich beflissen, ins Gemütliche zu leiten. Der Königin behagte das nicht, daß der König so um die Gunst eines Mannes warb.
Das Gespräch glitt ins Freie. Erwin von Manteuffel, der Flügeladjutant, der Bismarck nach hartnäckigem Bemühen doch aus dem Potsdamer Gasthofe an die königliche Tafel geholt hatte, und Camphausen hatten Polen vorgenommen. In Camphausen war ein dringendes Bedürfnis, sein politisches Testament zurückzulassen; es ging ihm wie den Schlupfwespen, die, wenn sie den Tod herannahen fühlen, sich beeilen, ihre Eier abzulegen.
»Was halten Sie von Willisen?« griff der König ins Thema.
»Dem Herrn Generalmajor von Willisen?« wiederholte Bismarck und sah den König flüchtig an. »Es hätte kein üblerer Kommissar für Posen ernannt werden können, Majestät! Der Mann ist mehr polnisch als deutsch gesinnt.«
Verlegen rückte der König auf dem Stuhl. Seine Frisur zerfiel in drei Teile, von denen zwei an den Schläfen nach vorn gerichtet waren, während der mittlere und oberste in die Höhe gedreht stand. Wenn er nun so wie jetzt nach einem Ausweg suchte, so nahm diese Frisur etwas Jungenhaft-Drolliges an, das entwaffnen und gutmütig stimmen mußte. »Aber der Willisen berichtet doch, daß er durch seine Bemühungen die Polenfrage friedlich gelöst hat.«
Eine geballte Faust lag zwischen dem königlichen Tafelgeschirr: »Und dabei liest man in den Blättern tagtäglich von Mord und Totschlag. Die sauberen Polen fallen über die deutschen Ansiedler her. Plünderung und Metzeleien allerorten. Und wissen Sie, Majestät, wer die Banden anführt? Das sind die Herren, die man im März nicht eilig genug aus dem Gefängnis holen konnte. Einen zweiten Bastillesturm hätte man beinahe ihretwegen unternommen. Im Triumph hat man sie in Berlin herumgezogen, mit Lorbeerkränzen und Fahnen. Und dieselben Herren im Schnürrock schlachten jetzt in Posen deutsche Frauen ab und brennen die deutschen Güter aus.«
»Wann werden die Deutschen endlich durch Schaden klug werden?« sagte Manteuffel wie in der Schule.
»So sieht die deutsche Kraft und Einheit aus. Warum hat sich denn die große Begeisterung nicht darin Lust gemacht, Frankreich das deutsche Land abzunehmen, das es uns gestohlen hat? Wir haben aber nichts Eiligeres zu tun, als uns schwärmerisch für das heilige Polen einzusetzen. Dabei glauben unsere Freiheitshelden überaus hellsichtig zu sein, wenn sie sagen, ein unabhängiges Polen wäre ein guter Schutz gegen Rußland. Wir brauchen keinen Schutz gegen Rußland. Wir sind uns selber Schutz genug.«
Der König neigte sich vor und schlug die Hände zu leichtem Klatschen zusammen, als habe er Bismarcks Rede im Theater vernommen. Dann grub er in der Seitentasche des Rockes nach dem gespitzten Federkiel, der ihm als Zahnstocher diente, und mit eifrigem, vom Bohren in den Zähnen unterbrochenem Kopfnicken schien er die Worte des Gastes nachgenießend zu verarbeiten.
Die Sonne münzte Gold aus Glas; ein langer, fein gemünzter Strahl unter Baumwipfeln her zielte nach einem Lancretschen Bild an der Wand und erweckte einen blonden, schlanken Frauenkörper; Wasserkühle kam durch die offenen Türen.
Der König hob die Tafel auf. »Kommen Sie, Bismarck.«
Auf der Terrasse stellte er sich bei einer Wendung an der Stelle, wo Friedrichs des Großen Hunde begraben liegen, mit einem Male vor den Junker: »Sie sind schlechter Laune, Bismarck!«
Bismarck sah ohne Zucken in die Augen seines Königs: »Ja, Majestät!« Dann sank der Blick zu Boden, wo man auf verwitterten Steinen zwischen Grasbüscheln in schnörkelhaften von Erde ausgefüllten Fugen Namen las: Phyllis, Ariadne, Diana …
»Sie sind gereizt?«
»Majestät, Ihre Behörden machen die Sache der Revolution zu der ihren. Man regiert kaum mehr im Namen des Königs, sondern im Namen der Gasse. Der zweite vereinigte Landtag ist ebenso eine Mißgeburt wie der erste. Ich habe kein Vertrauen mehr zum Beistand des Königs!«
Hinter der Flora, die mit einer koketten Hüftenwendung in den dunkelnden Park schaute, rauschte ein Seidenkleid vor. Die Königin funkelte den Kühnen an: »Das ist zu arg,« sagte sie kurzatmig, »wie können Sie es wagen, so mit dem König zu sprechen?«
»Laß nur, Elise,« der König nahm Bismarck am Arm und zog ihn fort, »ich werde doch mit so einem Unzufriedenen fertig werden.«
Ein Heckenengpaß schob grüne Wände zu seiten des Weges. Fern über Baumwipfeln bohrte der Strahl der großen Fontäne seine Wasserbolzen in den Abend, zerstäubte letztes Sonnenflimmern. Ein vergessener Sandsteinfaun, der aus niederem Geblüt und aus namenloser Künstlerhand hervorgegangen, fern von seinen marmornen, um die Fontäne gereihten, göttlichen Kollegen in einer Blätternische träumte, hörte Menschlichstes eines Königs.
»Jetzt sind wir freilich alle gescheiter. Auf der Stiege fällt's einem immer ein. Was nützt es jetzt, wenn ich Ihnen zugebe, wie ein Esel gehandelt zu haben? Was haben wir davon? Und – ich habe den Befehl zum Rückzug der Truppen nicht gegeben. Ich war eben nicht da … verstehen Sie! Man ist doch kein Wesen aus Äther und reinem Geist. Man ist eben manchmal nicht vorhanden. Man geht auf einen Augenblick beiseite, na ja … und inzwischen macht die Weltgeschichte einen Salto mortale.«
Sie kamen auf eine weite, freie Wiesenfläche, über die der Nebel eine Silberhaut spannte. Alle Gallendünste waren wie weggeblasen, Bismarcks Seele war ausgelüftet und hatte Raum für Güte und Verstehen.
»Wissen Sie,« sagte der König, »ich habe Ihnen für Ihren Brief zu danken. Ja … Ihr Brief hat mir wohlgetan. Er kam mir in bösen Stunden zu. Er war das erste Zeichen von Ergebenheit, und die brauche ich auch heute noch. Hingebung und tätigen Beistand, nicht Kritik.«
Die Nacht war sehr dunkel, der Nebel schien aus der großen Fontäne zu kommen und den ganzen Park zu überfließen, die Statuen mit den berühmten Namen waren formlos, der weißliche Dunst und die Finsternis schienen sich in ihnen zu Zwittergebilden vereinigt zu haben.
Ein Mann kam daher, stand erst dicht vor ihnen still. Es war Erwin von Manteuffel, der dem König einen Mantel brachte, durch den die Königin ihren hohen Herrn an die Abendkühle gemahnte.
Friedrich Wilhelm fuhr in den linken Ärmel. »Sie sehen, man schickt um mich,« sagte er. Im rechten Ärmel, dessen Eingang Manteuffel vor lauter Beflissenheit zu hoch hielt, hatte der König einen kleinen Kampf zu bestehen. Eine Weile hing der Stoffschlauch von der Faust leer herunter, von des Königs heftigen Stößen geschlenkert und geschüttelt. Manteuffel tanzte hinter ihm, beide Fäuste am Mantelkragen, und wußte vor Eifer nicht, welche von ihnen er loslassen sollte, um den widerspenstigen Ärmel zum Gehorsam zu zwingen.
Endlich war die Einfahrt geglückt. Der König schnaufte ein wenig und sah mit einem verlegenen Blick zur Seite. »Sie helfen mir also nicht?« sagte er.
»Es müßte ein Wille sein, ein eiserner, fester Wille, der durch alle Hindernisse fährt … eine Faust … der könnte mich finden, Majestät!«
Der König machte plötzlich ein paar lange Schritte, die ihn den anderen voranbrachten. Dann blieb er mit eins stehen: »Bismarck … – er hatte wieder etwas Glanz in der Stimme – »das soll ein Wort sein …!«
Als er zurückkam, zeigte es sich, daß die Königin gar nicht zufrieden war. Sie machte ihm gelinde Vorwürfe, weil er mit diesem ungehobelten Altmärker so vertraut getan hatte. Aber der König spitzte die Lippen und pfiff vergnügt einen Marsch, der bezüglich seiner Tonart nicht ganz im reinen war. Dann lächelte er behaglich und schlau, als sähe er Dinge vor sich, von denen er lieber noch nicht sprach, um sie nicht zu verscheuchen …
Langsam ging Bismarck durch den Heckenengpaß, durch den er vorhin mit dem König gekommen war. Der Weg weitete sich zu einem Wiesenfleck, der um einen einzelnen Baum gebreitet lag. Die Gräser feuchteten mit Nachttau Bismarcks Schuhe, vor dem blauschwarzen Himmel zackte manchmal ein Stück beflügelter Schwärze.
Tausend Dinge waren in diese Stunde zusammengedrängt, es war, als stochere ein Krückstock im Kies. Bismarck blieb stehen und legte die Hand an den Baum, durch Holz und Bast und Rinde strömte ihm die wundervolle magnetische Kraft der Erde, im gleichen Schlag des Pulses mit dem seinen, sie füllte seine Adern, seine Beine spürten den geweihten Boden, da wuchs Vertrauen und Zuversicht.
Hunderttausende von Bäumen standen so, Hunderttausende von Menschen nahmen ihre Kraft gleich ihnen aus Stein und schwarzem Erdgebröckel der Heimat. Keime zum Guten und Bösen wirbelte der Atem des Lebens, und alles zusammen fügte sich über Kampf und Haß und Erbitterung hinweg immer wieder zum göttlichen Wunder der Ordnung.
Nicht die Hände in den Schoß legen!
Durchfurcht und besät werden war das Los des Ackers der Zeiten. Pflügen und Umbrechen war das Los des Menschen.
Ende des ersten Bandes.