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Der Student der Rechte Otto von Bismarck war auf seinem Sitz im Gastzimmer der »Krone« zu Göttingen noch gar nicht warm geworden, als jemand mit der Tür hereinbrach, daß der Flügel krachend gegen die Wand schlug und der Mörtel aus dem Rahmen rieselte.
Der Kanarienvogel am Fenster fiel von der Sprosse und blieb betäubt im Sand sitzen. Dortchen, der Kattunbesen hinter dem Schranktisch, fuhr herum. Der plötzliche Schrecken wich in Wut. Wenn der Pokal, an dem sie eben säubernd wischte, nicht das Stammglas des Herrn Bürgermeisters gewesen wäre, so hätte sie ihn am liebsten fallen lassen und gesagt, der Schreck habe ihn ihr aus der Hand geschmissen.
»Manieren! Manieren!« zeterte sie.
»Ruhig, Schweinchen,« der wüste Gast streckte sich, »ist ein p. t. Bismarck angekommen?« Dann blinzelte er durch die schräge Wand von Maisonnenstäubchen nach der dunkleren Ecke, wo etwas saß. Mit ein paar langen Schritten war er da, ergriff mit beiden Händen eine Stuhllehne, beugte sich vor: »Bist du es wohl?«
Der junge Bismarck erhob sich, schlank, mit schmalen Schultern, ein wenig beklommen. In das Kindergesicht klomm die Röte seiner siebzehn Jahre. »Ich heiße Otto von Bismarck.«
»Schon recht. Bist uns angezeigt.« Er reckte die Hand hin: »Schlag ein! Bist unser!«
Zögernd langte Otto über den Tisch. Es war ihm, als unterwerfe er sich mit dem Erfassen dieser feuchten Finger einer unbekannten Macht. An dem polnischen Schnürrock, den langen Haaren, dem bloßen Hals, den ein angegrauter, zerknitterter Kragen rahmte, erkannte er den teutschen Patrioten; aber hier war das Harmlose irgendwie gelöscht, ein Brennendes war in Blick und Haltung.
»Bist angezeigt, Bruder, wie gesagt. Wir wissen schon, daß du kommst. Sollen dich hüten, daß du nicht unter die Lämmer gerätst, sondern dorthin, wohin ein honoriger Bursch gehört. Bist immatrikuliert? Hast Bude?«
Dortchen senkte von hinten wütende Blicke in des Burschen Pekesche. Man kannte diese Zucht! Das schwor auf Teutschtum, Christentum, Freiheit und Keuschheit und rüpelte sich mit diesen Grundsätzen durch die Welt. Dabei waren sie irgendwie in gefährliche Dinge verstrickt, von denen man den Bürgermeister sagen hören konnte, es müßte und müßte ein böses Ende nehmen. Jetzt schnappte der teutsche Grobian das junge Gemüse und schleppte es fort, und so war es nichts mit den paar Tagen Schäkerei, die sie sich mit dem hübschen Kerl erwartet hatte. Nun wurde er in die Grundsätze eingebacken und damit Adjöh!
Und wirklich, schon hatte der Wildling den Burschen beim Wickel. Dortchen lief ans Fenster. Da gingen sie draußen; der Ältere hatte dem lieben Jungen den Arm eingeschlagen und redete in ihn wie der Hufschmied in ein krankes Pferd. Ein kleiner enttäuschter Seufzer flatterte hinterdrein. Dann kehrte Dortchen zu klapperndem und klirrendem Glas zurück. –
»Ich bin der Hartvogel,« sagte der Patriot, »vielleicht hast den Namen schon gehört? Nein … So wirst ihn künftig behalten. Man hat mich aus Jena hergeschickt, daß ich ihnen ein bißchen ins Feuer gieße.« Er lachte offen und lustig. »Ja, mein Lieber, jetzt bleiben wir nicht mehr länger hinten, jetzt blasen wir Tusch, muß alles Farbe bekennen, da hilft kein Ducken.« Er rüttelte den Arm des Begleiters. Dem hätte die frische Gradheit des teutschen Gesellen nicht übel gefallen, wenn sie sich in einigem Abstand von ihm entfaltet hätte. Aber es war ihm nicht gegeben, sich so nahe auf den Leib rücken zu lassen, und so hielt er sich kühler und fremder, als es so viel Offenheit verdienen mochte.
Der Patriot war kein Schweiger, es sprudelte nur so aus ihm: »Ja, mein Lieber, hier sind die Hosenmätze und Schissiers zu Haus. Nennt sich auch Burschenschaft! Daß Gott erbarm! Was die teutsche Burschenschaft ist, das wissen die Germanen zu Jena, dorthin muß man gehen, wenn man was wirken will. Ins teutsche Volk muß mit Brandfackeln geleuchtet werden, nicht mehr mit Öllämpchen, wie die Jungfern in den Spinnstuben haben. Was hat dich eigentlich nach Göttingen geschlagen, Bruder?«
»Ja … es war mehreres! Es hätte mir ja auch eine andere Stadt besser getaugt. Aber da war Bonn zu weit an Frankreich, und anderswo war die Cholera, und in Heidelberg war der Wind zu scharf. Ein Freund riet zu Göttingen …«
»Was den scharfen Wind angeht, der soll auch da bald anheben. Wetten, Bruder? Darum bin ich da, von Jena herüber, daß die Arminen zu Göttingen endlich dahinter kommen, es sei an der Zeit. Es sind ja auch ganz brave Burschen, schlafen nur gerne ein bißchen lang. Wer Deutschland will in den Sattel heben, der darf nicht damit anfangen, dem Gaul erst die vier christlichen Tugenden beizubringen. Übers Vorbereiten sind wir hinaus. Zu Frankfurt auf dem Burschentag ist's beschlossen. Jetzt geht's ans Herbeiführen. Aber die Arminen sind hier ins Bockshorn gejagt worden. Im vorigen Jahre hatten sie Feuer angefangen. Es war ganz schön angegangen. Der Adel und die englischen Hosenbändler auf dem Thron! Wie kommt solches Gesindel nach Deutschland? Ja – wie gesagt, mit Mut und Geschrei hat's angehoben. Eine Nationalgarde und eine Revolutionsregierung, das ist schon etwas, alle Achtung! Aber dauern hätte es müssen. Acht Tage später rücken ein paar hannöversche Regimenter ein, und da läuft die Revolutionsregierung auseinander und die Nationalgarde kriecht in den Busch, daß man nur die Stiefelsohlen und die Hosenböden gesehen hat. Mit ein paar Klapsen war's vorüber. Jetzt paßt die Universitätsdeputation scharf auf und hat ihnen Schlösser vor die Mäuler und Kettenkugeln an die Beine gehängt. Frei ist der Bursch! Ja … er darf die Bänke in den Hörsälen mit dem Hintern polieren und darf ochsen. Und wenn er seine Pfeife auf der Straße rauchen will, darf er seinen Taler pro poena zahlen.«
Bismarck lächelte; dem guten Hartvogel schienen sie noch kein Schloß vor das Maul gehängt zu haben, und er hätte diesem Revolutionsmann, der so ungedämpft sprach wie ein Ausrufer, kein Geheimnis anvertrauen mögen.
Sie gingen die Weender Straße entlang, und es war zu merken, daß sie Beachtung fanden. Das waren Studenten, die da herumstanden, sich nach ihnen umsahen und sie mit den Blicken verfolgten. Ein großer Kerl, der sich vorne bei einigen anderen hielt, sagte seinen Kommilitonen ein Wort, schob sich über die Straße und kam ihnen auf demselben Gehsteig entgegen. Es war ihm sogleich anzusehen, daß er etwas im Schilde führte. Seine von einem Hieb gespaltene Nase, die einigermaßen an den Hautlappen eines Truthahns erinnerte, baumelte über den breiten Mund. Graue Augen fixierten.
Hartvogel zog seinen Arm hervor und stemmte ihn in die Hüfte. Das nahm sich ungemein scharf aus, wie er jetzt auf dem Rand des Gehsteiges geradenweges auf den anderen zustelzte, der auch den Rand einhielt. Man sah, wie die Gegner steife Beine bekamen, gleich großen Fleischerhunden, die miteinander anzubinden wünschen.
Jetzt standen sie einander auf den Füßen. Der Fleischlappen des Gegners hing Hartvogel fast auf die Stirn.
»Weichen Sie aus, mein Herr!« sagte Hartvogel zornbebend.
»Weichen Sie aus, mein Herr!« Die grauen Augen waren voll glitzernder Nadeln.
»Ich habe links, mein Herr!«
»Das ist mir Wurscht, mein Herr!«
Da geschah es auch schon. Hartvogel neigte die Schultern, um den Gegner zu rammen, der wich ein wenig zur Seite, machte eine Bewegung wie ein Lastträger, der einen Sack auf die Achsel wirft, und dann flog der dicke Hartvogel, flog beinahe im Bogen in die Gosse hinaus.
Die ganze Straße lachte, alles war ein großes Gelächter, sogar die Fenster zitterten vor Lachen, und die Haustore waren wie grinsende Mäuler.
Nur Bismarck lachte nicht lange mit. Hartvogel bot keineswegs einen kläglichen Anblick; es war ihm anzusehen, daß er mit schwerer Mühe seinen Zorn niedertauchte. Das Ursprünglichste wallte in ihm hoch: Hinspringen, dreinschlagen! Aber etwas anderes duckte und dämpfte. So war diese Niederlage dem feineren Blick doch eine Art von Sieg.
Er hob sein Barett vom Boden, blies den Staub ab und setzte es auf.
So peinlich es war, sich ihm zu gesellen, Bismarck erachtete es als seine Pflicht, jetzt nicht bei den Lachern zu bleiben. Sie gingen wieder nebeneinander. Der teutsche Patriot war sehr blaß, und die Muskeln unter der gekörnten Wangenhaut sprangen. Bismarck sah die Schwellung der Strähen den bloßen Hals hinab verlaufen. Der Mann war kein Feigling.
»Ich kenne den Kerl,« sagte er, als sie ein hübsches Ende gegangen waren, »es war ein Hannoveraner.«
»Was wollte der von Ihnen?«
»Ja – Bruder, das nennt man Gossenrecht. Wer die Gosse links von seinem Weg hat, darf behaupten, der andere muß weichen.«
»So hätte er weichen müssen.«
»Ja, er hätte es sollen. Wenn aber einer recht bübisch und gemein darauf ausgeht, Partien zu fangen, so rempelt er einen anderen ins Gossenrecht hinein.«
»Sie hätten kontrahieren müssen,« sagte Bismarck nach kurzem Bedenken.
»Ja … bei des Teufels Großmutter, Bruder! Das hätte ich sollen.« Er griff in die scharlachroten, mit goldenen Tressen besetzten Pumphosen, mit jeder Hand in einen Sack und rückte sie den Leib hinan. »Und das hätte ich getan, wenn ich bei diesen verräucherten Lämmerschwänzen von Arminen nicht hätte schwören müssen, das Duell als einen unmoralischen, barbarischen Akt zu meiden. Das ist so Arminensatzung! Wäre mir das in Jena begegnet, heilige Schockschwerenot, dem hätte ich das Leder gegerbt. Aber jetzt steht Höheres aus dem Spiel. Es kann mir schlecht passen, jetzt gegen die Satzungen zu verstoßen.«
Gewiß, das war ja aller Ehren wert, daß man der Satzung treu blieb, nach der zu leben man nun schon einmal auf sich genommen hatte. Aber Bismarck fand unter der Anerkennung eines solchen Verhaltens in sich selbst doch irgend etwas Heißes, ein Zucken von Blut und konnte sich nicht verhehlen, daß ihm dies in solchen Augenblicken wohl in die Zunge oder in die Fingerspitzen gefahren wäre.
Seinen Begleiter hatte der Vorfall mürrisch gemacht. Er sah herausfordernd um sich und blähte sich, wenn er an einem Studenten vorüberkam, als wünsche er nur eine Wiederholung solchen Betragens, um aller Satzungen ungeachtet ganz anders abzuschneiden. Aber sie kamen unangefochten in die Rothe Straße und zum Hause Nummer 299, wo man schon ein Logis für Bismarck ausgesucht hatte.
Eine Hühnerstiege hinan und eine wackelige Holzgalerie an der Hofmauer entlang, durch deren Fugen man unten das maigrüne Gras zwischen den Pflastersteinen sah, dann war man an der Tür des braven Bürgers Schumacher. Es war eine Glastür, deren untere Hälfte mit einem alten Tibettuch bespannt war. An der oberen Hälfte klebte ein dickes Gesicht. Das war der brave Bürger Schumacher, der nach seinem Mieter ausschaute und jetzt beflissen hervorstürzte. Leider hatte sich ihm der Rockärmel in der Eile des Anziehens an einem Knöpfchen des Hemdes verhakelt, und als er den Ellenbogen jetzt submissest und gewaltsam in seine Hülle zwang, ging ein scharfes, langes Reißen durch das Unterfutter.
»Wir haben für dich gesorgt,« sagte Hartvogel und schloß auch den Budenkoffer in seine Gönnerschaft. »Der Monsieur Schumacher ist die Arminen gewohnt. Er ist erprobt und treu befunden. Wenn es mal was Geheimes gibt, hier ist keine Gefahr.«
Schumacher zwinkerte Verständnis. Sein Mund ölte sich gleichzeitig mit Ergebenheit. Auch die Hände blieben nicht müßig, während die Linke sich mit gekrümmten und gespreizten Fingern nach unten streckte, um so viel unverdiente Ehre von sich abzuleiten, legte sich die Rechte warm aufs Herz.
Die Bude entsprach dem Wesen ihres Eigentümers. Es war irgendwie etwas öliges an ihr, obzwar man auf die flüchtige Prüfung hin sagen mußte, sie scheine rein zu sein; etwas Unausgelüftetes, obzwar die Fenster offen standen, etwas Gedrücktes, obzwar der Widerschein der Sonne in ihr war, die prall auf der Mauer gegenüber lag.
»Lassen Sie das Gepäck holen, Schumacher, der Bruder logiert in der ›Krone‹,« ordnete Hartvogel an.
Bismarck hatte erwartet, sein Begleiter werde ihn allein lassen und ihm Zeit gönnen, sich einzurichten. Aber Hartvogel wich nicht, lümmelte über jedes Möbelstück hin, das es im Zimmer gab, und warf sich schließlich gestiefelt und gespornt auf das Bett. »Laß dich nicht stören,« sagte er, »ich warte nur, bis sie deine Sachen bringen, dann gehen wir gleich.«
Inzwischen erzählte er Universitätsklatsch und zog die gute Georgia Augusta bis auf die Unterhosen aus. Da war der Dahlmann, das große Tier von Göttingen, der meinte, zuerst komme Dahlmann und dann Dahlmann und dann noch einmal er, und dann vielleicht der liebe Gott, aber dann schon ganz gewiß niemand mehr. Der Gustav Hugo mit seiner Rechtsenzyklopädie, die man aber gerade so gut Linksenzyklopädie nennen könne, weil sich das Recht bekanntlich nach beiden Seiten drehen lasse. Amadeus Wendt, der dem Weltgeist die metaphysischen Bandwürmer abtreibe. Ludwig Göschen, von dem schon der Name sage, was an ihm das bedeutendste sei. Und der liebe Herr Thibaut, dem man unlängst die Fenster eingeworfen und dafür mit Ölfarbe ans Tor geschrieben habe, er solle sich welche von Horn machen lassen, wozu ihm seine Frau das Material liefern werde. Über die Brüder Grimm sei nichts zu sagen, die und vielleicht noch Dahlmann seien gut gesinnt und freiheitlich und verstünden etwas von altteutschem Wesen.
Jetzt krachte und schnob es draußen über die Holzgalerie und dann kamen die Koffer; Schumacher und ein dürres Weibsbild mühten sich mit Begeisterung, jedes an seinem Ende.
»Pack aus! Pack aus! Ich bin nicht da!« sagte Hartvogel, legte ein Bein über das andere und wippte. Er war aber doch da, stand nach einer Weile auf und schaute zu, wie Bismarck in die Tiefen drang. »Fein! Fein!« sagte er, »viel zu fein, du hast ja Wäsche, beinahe wie ein Franzos, Kamerad. Was ein rechter Bursche ist, hält nicht viel auf solche Alfanzereien. Auf den Geist kommt es an und auf die Fäuste, nicht auf die Hemden.«
Bismarck entwand sich der kritischen Betrachtung: »Ich glaube immer, nicht das Kleid macht den Mann, weder das bessere, noch das schlechtere. Ein staubiger Rock ist noch kein Beweis für einen tüchtigen Kerl.«
»Recht! Recht! Ich neide dir's nicht, das kannst mir glauben. Und gute Wäsche hat den Vorteil, daß der Jude mehr dafür gibt, wenn du später einmal Möser brauchst.«
Der Kofferdeckel krachte zu, das Schloß schnappte ein. »Genug,« sagte Bismarck, »den Rest kann ich morgen wegstauen.«
Hartvogel streckte die Arme zur Decke, dehnte sich gähnend, daß die Schultern knackten. »Dann wollen wir gehen.«
Der Abend ließ über die Stadt Göttingen seinen feinen Aschenregen sinken, in den die Sonne noch brandrote Kleckse auf Fenster und Hausgiebel malte. Auf der Leine trieben verlorene Scheiben Sonnengold. Ein kleines Papierboot segelte dahin, dem ein Junge Steinchen nachwarf. Der Maiabend hatte allen jungen Menschen etwas Liebes zu sagen, sie konnten nicht in den Häusern bleiben.
Bismarck sah mit hellen Augen um sich, alles drang ihm durch Kleid und Haut unaufhaltsam in seine freudige Seele und machte seine Lippen vor Fülle des Glückes zittern. Unter den Haustoren standen sie, Hand in Hand, und als ob eine Welle von süßen Bangigkeiten von jedem Liebespaar ausginge, schritt der junge Mensch durch eine tiefe Flut.
Aus den Fenstern kletterten Lichtstrahlen, die es in den Zimmern nicht aushalten konnten, auf die Straßen herab. Ein Student ließ seine lange Pfeife ein Stockwerk tief herabbaumeln und spuckte bisweilen kräftig auf die Gasse. Zwei Bürger standen schwer und breit an der Ecke, der eine hielt einen hübschen Spazierstock mit Elfenbeinknauf und kleiner bunter Quaste zwischen den auf den Rücken gelegten Händen im Pendelschwung. Ein flinkes Schneidermädel lief mit einem Pack vorbei. Aus dem grünen Tuch sah ein lustiges Gewirr von Falbeln und Rüschen, und das war sicher ein Ballkleid oder ein Hochzeitsstaat, der noch am Abend an seine rechte Stelle mußte.
Hartvogel brachte seinen Gesellen zum Rischenkrug. Der lag zwischen Bäumen vor dem Tor und war ein Bauwerk, dem alles Mögliche zuzumuten gewesen wäre, wenn es irgendwie im dicken Walde gestanden hätte. Freilich ging es hier an den Beutel, aber nur wenn man beim Bierramsch hineinsauste. Freilich floß hier Blut, aber innerhalb der kommentmäßigen Kreidestriche. Freilich gab es hier sogar eine Totenkammer, aber nur für friedlich röchelnde Bierleichen.
Als Bismarck und Hartvogel ankamen, qualmte die Spelunke aus allen Fugen, der ganze Mensurboden war ein Krater, der Kanasterwolken spie und in dem sich Bruchstücke von Menschenleibern umtrieben. Es waren in diesem Qualm wohl an hundert Burschen versammelt, durch die Bismarck von seinem Begleiter gelotst wurde, bis man ihn an einem schweren Pfahl von Lüneburger vertäute. Der Lüneburger hatte ein Gesicht wie Gottes Langmut und sprach mit einer sanften Eintönigkeit, die sich beim Hörer in Fingerprickeln umsetzte. Otto wurde da und dorthin in den Rauch hinein vorgestellt, hörte Namen zurückkommen, von deren Trägern er nur einen Nebelschwaden sah. Hände streckten sich vor und schüttelten die seine, manche Gesichter blieben stumpf, bei andern war es, als besännen sie sich auf etwas. Jemand in Ottos Nähe sagte etwas sehr Vernünftiges: macht doch die Fenster auf! Aber man entgegnete ihm, das ginge nicht an, weil man sonst draußen jedes Wort vernehmen könnte.
Hartvogel, der auf eine Weile verschwunden gewesen war, kam aus dem gelben Qualm zurück: »Ich habe vergessen, Bruder … du verpflichtest dich mit deiner Ehre und durch Handschlag, von dem, was du heute hier sehen und hören wirst, keiner Menschenseele, nicht durch Wort und nicht durch Schrift, auch nur das Geringste zu verraten.«
Bismarck ergriff die Hand.
»So wahr ich ein ehrlicher Bursche bin!«
»So wahr ich ein ehrlicher Bursche bin!!«
Nach einer Weile sagte jemand irgendwo im dicksten Rauch: »Silentium! Liebe Brüder. Wir sind zusammengekommen, um zu beraten, wie wir uns zu verhalten haben gegenüber der Einladung, das geplante Fest zu beschicken, und ich erteile dem Bruder Hartvogel das Wort, uns über Ziel und Zweck der Kundgebung aufzuklären.«
Sogleich hörte Bismarck die scharfe, hohe Stimme seines Begleiters einschnappen. Jedes seiner Worte schien von einer kleinen, im Innern verborgenen Feder losgeschnellt zu werden. Er sprach einen großen, klaren Stil. Dieser ungepflegte Mensch mit den schlechten Manieren stieg im Sprechen zu einer ganz anderen Bedeutung, pflanzte sich selbst über seine gewöhnliche Art hinaus.
Auf der Wartburg habe man freilich Zopf, Uniform und Korporalsstock verbrannt, aber damit habe man diese bösen Geister aus dem teutschen Vaterlande noch nicht ausgetrieben. Es sei ärger als zuvor. Wenn man große Gelegenheiten ungenützt Vorbeigehen lasse, so wendeten sie sich um und würden des armseligen Zauderes grimmigste Feinde. Die große Gelegenheit von 1813 habe man versäumt. So sei sie jetzt des heutigen Geschlechtes grimmigster Feind geworden. Schwerer als je drückten die Fürsten die Throne, beschränkter als je sei die Freiheit des Geistes, weiter entfernt als je die Einheit des deutschen Volkes. In Wien sitze einer –
»Metternich! Metternich!« schrie es aus dem Qualm, »Ein Pereat!«
– nach dessen Pfeife tanze Europa. Was habe man alles versprochen, als man die Studenten und die Bürger gegen den Feind gebraucht habe. Wer mitgekämpft habe, der solle alle Kollegien frei haben und bei Ansprüchen auf Stipendien, Freitische und dergleichen als nächster Anwärter allen anderen vorgezogen werden. Der gediente Student solle bei allen Anstellungsgesuchen zum Staatsdienst vor den übrigen Supplikanten berücksichtigt werden. Und was sei von all den schönen Versprechungen gehalten worden? Man habe denen, die sich auf solche Reskripte und Proklamationen berufen zu können glaubten, höhnisch ins Gesicht gelacht.
Der Lüneburger Pfahl wandte sich Bismarck zu. In seinen groben Zügen stand aufrichtige Betrübnis. Er nickte: »Nur zu wahr!«
Die Fürsten Europas, so sehr sie sonst durch ihre Interessen geschieden seien, in diesem Belange spielten sie alle unter einer Decke. Sie fühlten sich durch die Demagogen bedroht. Niemand habe die Demagogen gemacht als sie selbst. Bilden die Fürsten die heilige Allianz der Reaktion, so wollten Studenten und Bürgerschaft die heilige Allianz der Völkerfreiheit bilden. Dieser heilige Bund der freien Geister wolle sich erweisen und den Fürsten sein Halt entgegendonnern. Darum habe man für den 27. Mai nach dem Bergschloß Hambach ein teutsches Maifest berufen, in dem der Wille des. Volkes machtvoll an den Tag dringen werde. Sache der Burschenschaft sei es, das Ihre dazu beizutragen, und darum solle man heute beschließen, daß dieses Fest zu Hambach zu beschicken sei.
Der Rauch verdünnte sich. In dem Maße, in dem die Köpfe wärmer wurden, wurden die Pfeifenköpfe kühler. Bismarck sah den Redner auf seinem Platz oben im Saal, einen Arm auf den Rücken geschoben, den andern ausgelegt wie ein Fechter. Keines seiner Worte ging verloren. Von den Federn in ihrem Innern hinausgeschleudert, schienen sie körperlich gegen die Stirnen der Hörer anzuspringen und dann in ihnen zu verschwinden, um in den Gehirnen weiterzurollen. Leib an Leib saßen die jungen Menschen da, in einer starken Gemeinsamkeit des Fühlens und Denkens, noch nicht bis zur Tat erhitzt, aber schon glühend vor Begierde, unter einem mystischen Bann von Wahrheit und Freiheit.
Bismarck sammelte dies alles in einen Blick. Der Strom ging auch durch ihn. Aber er durchfloß ihn nicht ohne Hemmnis. Er fühlte die heilige Not der Jugend, aber er sagte sich, daß da schwere Wetter aufzögen. Diese Arminen waren gar nicht die sanften Lämmchen, als die sie dem Jenenser erschienen. Er sah welche, die glichen mit ihren offenen, freien Gesichtern, den langen Locken und den predigerhaften Augen einem aufgeschlagenen Gebetbuch. Daneben saßen andere, ganz struppige Gesellen mit Räuberbärten, die sahen aus wie richtige Ziegenhainer Stöcke, deren Knorren man zum Überfluß noch mit Schusterzwecken beschlagen hat. Daß aber auch die Sanften und Gelockten die Faust zum Hammer machen und die Besonnenheit preisgeben konnten, wenn es den Haß galt, stand außer Zweifel. Auch der Student Ludwig Sand, dessen Bild Bismarck seit kurzem kannte, hatte so ein offenes und kindliches Dreinsehen gehabt, und doch hatte er den Mord auf sich genommen, mit dem er der großen Sache zu dienen glaubte.
Indessen hatte die Verhandlung ihren Fortgang genommen.
Einer hatte sich erhoben, der sprach so leise, daß man ihn kaum verstehen konnte. Nur Bruchstücke wurden ans untere Ende des Saales gespült; man nahm ihm die Schlagworte ab, einer reichte sie dem andern. Gerade diese stimmlose Jüngling schien aber ganz und gar zu denen zu gehören, denen das Äußerste gerade recht war.
»Zu Hunderttausenden erheben …«
»Die ausgehöhlten Throne müssen stürzen.«
»Der heilige Gewitterwind wird sie wegfegen …«
… »auch der beste Fürst ist noch ein Hochverräter …«
Der Widerstand wuchs in Bismarck. Er mußte sich irgendwie zu diesem Unsinn äußern. »Das ist nicht der Weg,« sagte er zu seinem Nachbarn, »wenn ich einen Kranken heilen will, so muß ich ihm doch nicht zuvor alle Knochen brechen.«
Sein Nachbar gab keine Antwort, und Bismarck sah erst jetzt, daß der Lüneburger starr vor sich hinschaute, wie einer, der sich sammelt. Und jetzt erhob er sich langsam zu seiner ganzen wuchtigen Größe. Es sah augenblicklich aus, als brande das Gewimmel um ihn an einem Pfahl empor. Die schläfrige Langmut war ganz aus seinem Gesicht gewischt, wie ein Landsknecht sah er aus, der im verlorenen Haufen fechten will. »Brüder,« sagte er in seiner langsamen, bedächtigen Art, »Frankreich hat uns bekriegt. Wir haben Frankreich besiegt. Darüber sollen wir aber nicht vergessen, daß uns der Gedanke der Freiheit von Frankreich gekommen ist. Wehe den Fürsten, daß sie uns immer wieder daran erinnern. Wie nach dem Jahre 1789, so fangen wir wieder an, die Freiheit von Frankreich zu erhoffen.«
Seine Worte hatten nicht die Federkraft wie die Hartvogels. Er zog seine Sätze wie ein Ackergaul den Pflug. Aber sie rissen Furchen, sie pflügten die Geister, sie warfen die fette Krume dieser Jugend um. Widerspruch und Beifall tobten durcheinander.
Bismarck war aufgesprungen, ohne nach dem Wort zu fragen, er schleuderte seine Entrüstung in den Saal. »Frankreich kann niemals unserer Freiheit Freund sein, so lange es noch einen Fußbreit deutschen Boden besitzt. Deutschlands Hader war immer Dung für Frankreichs Felder. Wir können von Frankreich nichts annehmen, ehe wir nicht Elsaß und Lothringen wieder geholt haben.«
Man hörte ihn nicht. Es schien, als habe sich der Rauch der Pfeifen nur verzogen, um einem noch dichteren Qualm der Köpfe Platz zu machen.
Hartvogel war wieder da, drängte die Massen zurück, schmetterte seine Worte hinaus, diese sprungschnellen, leuchtenden, mit Widerhaken versehenen Worte: »Wir lassen uns nicht länger hinhalten. Wir fordern die vereinigten Freistaaten von Deutschland. Es wird in Hambach über die Einsetzung einer provisorischen Regierung für das freie Deutschland zu verhandeln sein, die …«
Mehr hörte Bismarck nicht. Es war ihm gelungen, unbeachtet zur Tür zu kommen, und kaum war er hinausgetreten, so stand auch schon die Nacht da, ihm ihren Mantel von weicher, schwarzer Wolle um die Schultern zu hängen und die nasse Stirn zu trocknen. Wie weiland Münchhausen vermochte er den Hirnkasten zu öffnen und die unbequemen Dünste hinauszulassen, daß an ihrer Stelle eine köstliche Frische eindrang.
Die Bäume standen einsam im Dunkeln. Er ging hin und legte einem von ihnen die Hand an die Rinde. Sogleich begann der traurige und verlassene Baum zu leben, wurde heiter und schmiegte sich glücklich und vertrauensvoll gegen die Menschenhand. Wehes Glücksgefühl hob Otto fast ins Schweben. Ein Lied klang in ihm: »O Deutschland, heil'ges Vaterland, o deutsche Lieb' und Treue …« Das krampfte sich beinahe ins Weinen. Blaues Wetterleuchten flog bisweilen auf, es war, als quelle es aus den Giebeldächern von Göttingen. Bismarck stolperte in den Wegfurchen. Da ging es ihm ans leichte, glückliche Lachen; das war Deutschland: zum Himmel starren, wo Wetterleuchten fliegt, und dabei in nachtdunkeln Wegen herumfuhrwerken.
Auf der Stadtmauer saßen sie bei einer Windlampe, in einem Gärtchen, das mit grünen Latten ein wenig über den Graben hinausgespreizt war. Das Licht trieb allerlei Schelmenstücke mit den Schatten, die verzerrt von der Mauer herabsprangen. Sie sangen:
Ca donk, ca donk, ca donk, ca donk,
So leben wir alle Tage …
Auf einem Hemdärmel war das Licht in der warmen Mainacht zum weißen Klumpen geronnen. Dann stach es plötzlich einen spitzen Strahl durch die Rotweinflasche und riß ein Stück Purpur los, das es zwischen die Schatten warf. –
Die Vorbereitungen zum Hambacher Fest führten Hartvogel aus Göttingen fort, und er vergaß, jemandem eigens auf die Seele zu binden, er möge den neuzugewinnenden Bruder hüten. So kam es, daß niemand dem nach kurzem Auftauchen wieder Verschwundenen nachfragte. Nach dem Fest kehrte Hartvogel nicht mehr nach Göttingen zurück. Er bezog wieder sein geliebtes Jena, wo die Germanen darangingen, eine heroische Tat vorzubereiten, durch die das deutsche Volk wachgerüttelt würde.
Als sich der Lüneburger Pfahl nach einiger Zeit seines Nachbars erinnerte und in der Rothen Straße nachfragte, hieß es, der von Bismarck sei schon vor mehreren Wochen wieder verzogen.
Der Universitätsrichter beendete sein Gabelfrühstück, wischte mit der Serviette, die quer über jede der vier Ecken, schön in roter Wolle ausgeschlungen, die Worte: ›Guten Appetit!‹ wies, zweimal den Mund und legte sie dann sorgsam gefaltet in die Schreibtischlade.
Sein ganzes Gemüt war Milde und Versöhnlichkeit; an diesem Sonntag, an dem selbst fünfhundertjährige Mauern verjüngt erschienen, hätte er aus reiner Herzensgüte sogar geglaubt, wenn ihm jemand erzählt hätte, er habe die Quadratur des Zirkels erfunden.
Er hing an der Sonne und an einem guten Gabelfrühstück, und wenn beides zusammentraf, schien ihm die Welt in keinem Belang einer Verbesserung bedürftig.
Zwei kleine Bronzelöwen hockten auf dem Schreibtisch und hielten ein beschriebenes Blatt Papier in den Pranken. Der dicke, noch immer etwas fettige Zeigefinger glitt die Liste herab, stockte bei einem Namen. Unter buschigen Brauen suchte der Blick den Pedellen, der an der Tür stand und die Stirn in Falten gelegt hatte, die dazu dienten, die schläfrigen Augenlider hochzuhalten.
»Ist der Delinquent zitiert?«
» Per ordinem!«
»Herein mit ihm!«
Die Türe ging auf, und etwas Langes, Apfelgrünes erschien, dem etwas Weißes, Gelbes und Vierfüßiges mit ungeheuerer Gewalt nachdrängen wollte. Eine Art Kampf entstand in der Türspalte. »Hinaus, Ariel! Du bist nicht zitiert!« Das Weißgelbe auf vier Beinen flog, von einem Fußtritt befördert, heulend in den Korridor zurück.
»Entschuldigen, Euer Gnaden, es steht zwar draußen: ›Das Mitbringen von Hunden ist verboten!‹ – aber er kann nicht lesen.« Das Apfelgrüne verbeugte sich, keinen Zoll zu tief, so daß man keineswegs hätte sagen können, es sei ironisch gemeint.
Der Universitätsrichter betrachtete den apfelgrünen Delinquenten mit zunehmendem Erstaunen. »Sind Sie der Herr von Bismarck?«
Er war es, und er trug einen Frack, der nach Zuschnitt und Farbe zu den selbst für einen Universitätsrichter überraschenden Dingen gehörte. Der Bauart nach war dieses Kleidungsstück zum einen Teil zu der Gattung der Schlafröcke, zum andern aber etwa zur Gattung der Husarenuniformen zu rechnen. War er oben fest um die Brust geschnürt, so hing er von der Taille ab in einem hinten abgerundeten, faltigen Zipf bis zu den Fersen.
Von der Farbe aber war zu sagen, daß man von diesem Grün unerwachsener Kohlstücke oder unreifer Apfel niemals hätte vermuten können, daß es sich auf einen menschlichen Habit werde anwenden lassen.
Das Ganze kleidete einen sehr langen und sehr schmalen Menschen mit abfallenden Schultern und einem kleinen Kopf, einen Menschen, der irgendwie den Eindruck machte, er sei trotz seiner Länge noch immer aufs Wachsen eingerichtet.
Der Universitätsrichter griff hastig nach dem Papiermesser, legte es wieder hin, rückte das Tintenfaß heran, schob es wieder zurück, nahm einen Federkiel auf, prüfte am Fingernagel … er war, um es sich selbst zu gestehen, außer Fassung. Er rang um die Würde seines Amtes. Endlich kam er ins Gleichgewicht.
»Sie wissen, warum Sie zitiert sind?«
»Jawohl, Euer Gnaden!«
»Wegen groben Unfugs, begangen durch Hinauswerfen einer Flasche aus dem Fenster. Was haben Sie zu Ihrer Entschuldigung zu bemerken?«
»Daß die Flasche ausgetrunken war, Euer Gnaden.«
Der Richter biß die Unterlippe weiß. »Sie wollen sagen, daß sie nicht mehr das volle Gewicht hatte, also auch, wenn sie zufällig jemanden auf den Kopf getroffen hätte, wie dies ja dem Schneidermeister Röske gestern beinahe in der Tat passiert wäre … ja, also, daß sie in einem solchen Fall, wollen Sie sagen, nicht so viel Schaden hätte anrichten können.«
»Natur, Euer Gnaden!«
»Immerhin, mein Lieber, waren auch bei einer leeren Flasche, von der Sie selbstverständlich hätten annehmen müssen, daß sie bei ihrem Fall aus der Höhe des ersten Stockwerkes und bei der Härte des Straßenpflasters mit Wahrscheinlichkeit zerbrechen müsse, die herumspritzenden Glassplitter durchaus geeignet, beim Zusammentreffen unglücklicher Umstände Verletzungen herbeizuführen, die Ihnen hätten zur Last gelegt werden müssen.«
»Natur, Euer Gnaden!«
»Sie haben also die pflichtmäßige Obsorge versäumt und sich eines groben Unfugs schuldig gemacht. Können Sie vielleicht noch mildernde Umstände anführen? Zum Beispiel, aus welchem Anlaß Sie die Flasche beim Fenster hinausgeworfen haben?«
»Weil sich die nordamerikanischen Freistaaten unabhängig erklärt haben.«
Seine Gnaden der Herr Untersuchungsrichter hatte plötzlich dringend unter dem Schreibtisch zu tun. Er arbeitete eine Weile mit Beinen und Armen, und als er wieder hervorkam, hing ihm der Bart über die Lippen wie einem gutmütigen Walroß.
»Wollen Sie mir das nicht erklären?« fragte er schnaufend.
»Gern, Euer Gnaden. Ich habe einige amerikanische Freunde. Wir kamen gestern bei Mister Harrison zusammen. Es war der 4. Juli. Das ist der Tag der Unabhängigkeitserklärung der Union von Nordamerika. Harrison hatte ein Frühstück vorbereitet. Natur, wir essen und trinken. Es wird gemütlich. Motley hält eine Rede. America for ever! Die andern hauen ihre Gläser hin. Ich habe eben die leere Flasche in der Hand. Natur, ich schmeiße sie beim Fenster hinaus.«
»Das ist sehr einleuchtend!« sagte der Richter und blies die Backen auf, daß sich der Walroßschnurrbart sträubte. Seine Würde benahm sich wie Josef bei Potiphar. Sie war im Begriff, auszureißen und ihm einen leeren Mantel zurückzulassen. Dieser apfelgrüne Jüngling war ein prächtiges Kaliber, in aller Höflichkeit zeigte er sich der Lage vollkommen gewachsen. Es war Zeit zu handeln. Der Richter setzte das Barett auf, stemmte die Faust gegen den Kodex mit den Gesetzen der Universität und erhob sich:
»Im Namen des akademischen Senates der Universität Göttingen verurteile ich Sie hiermit wegen fahrlässiger Auswerfung einer leeren Bouteille aus dem Fenster, wodurch Sach- oder Personsschaden hätte entstehen können, zu einer Ordnungsstrafe von einem Gulden. Wünschen Sie gegen das Urteil Rekurs einzulegen?«
Der Verbrecher angelte hinten im Schoß des apfelgrünen Frackes. Eine kleine, perlengestickte Börse kam zum Vorschein, auf der sich zwei Tauben über einer Urne schnäbelten, ein Kätzchen von einer Börse, so schmiegsam wie das schwesterliche Händchen, dem er sie dankte. Sie gab aus dem Schlitz zwischen zwei Silberringen einen harten Gulden her: »Nein, Euer Gnaden, ich verzichte auf alle Rechtsmittel. Ihr Urteil ist gerecht.«
Der Gulden klapperte auf den Tisch. Die Sonne sprang auf ihn, aber schon klimperte er in eine Pappschachtel, die eine Vignette mit der Aufschrift »Strafgelder« trug.
»Aber lassen Sie sich noch eine Warnung erteilen, junger Mann,« sagte der Richter, ohne Bismarck anzusehen. »Keineswegs offiziell, sondern freundschaftlich, weil ich offene Menschen, wie Sie, liebe. Ich will annehmen, daß Sie sich Ihre … Ihren grünen Frack da nicht etwa eigens deshalb haben bauen lassen, um die Universitätsbehörden zu vexieren, sondern daß Sie ihn auch sonst auf der Straße tragen wollen. Nun das, mein Lieber, könnte einmal unliebsames Ärgernis erregen. Man könnte Ihnen nachlaufen, man könnte sich zusammenrotten. Die Zeiten sind unruhig, man weiß nie, was aus solchen Aufläufen herauswächst. Sie beginnen wegen eines apfelgrünen Frackes und enden mit einer Verhöhnung der Obrigkeit. Dann findet sich leicht jemand, der behauptet, Ihr auffallender Aufzug wäre nur Vorwand und Signal der Revolte gewesen.«
Auf Bismarcks bartlosem Kindergesicht stand maßlose Verwunderung. Dann ging ein lustiges Wehen durch seine Augen, wie ein Wind unter blauem Frühlingshimmel. In den Wangen zogen sich Grübchen ein: »Ich kann Ihnen auf Ehrenwort versichern, Euer Gnaden,« sagte er, »daß mein Frack keinerlei politischen Hintergrund hat. Weder einerseits noch anderseits. Mir ist von einer Kleiderordnung der Georgia Augusta bis dato nichts bekannt, und ich war mir nicht bewußt, gegen eine Vorschrift zu verstoßen. Wenn einem Frack ein verborgener Sinn unterzulegen ist, so ist es der der Freiheit in der Beschränkung und der Beschränkung in der Freiheit. Beides ziemt dem Studenten. Sie sehen die Beschränkung in der Art, wie mein Frack den Oberleib umschließt, so daß immer die Haltung gewahrt bleibt. Die Freiheit aber flattert in einem Schoß hinterdrein, und wenn sie sich auch ein wenig nach dem jeweiligen Winde richten muß, so kann sie mir doch niemals ganz verloren gehen, da sie mit der Beschränkung eng verbunden ist.«
Jetzt aber half kein Stäubchenblasen und kein Kielfederspitzenproben mehr, und es war auch zu spät, um noch unter den Schreibtisch zu kriechen. Die Würde war auf und davon und der richterliche Ernst beim Teufel, und nichts war zurückgeblieben, als das herzhafteste aller Gelächter. Der gestrenge Herr saß hilflos da, wurde vom Lachen gerüttelt und geschüttelt, die Tränen liefen ihm über die Backen. Es war, als ob er sich auf zehn Jahre hinaus Gallenfieber und Gicht vom Leibe lachen wolle.
Dabei blieb Bismarck immerhin bei einem respektvollen Ernst, und nur in seinen Augen saß dieses vergnügte Licht vollen Einverständnisses.
Als der Richter nur mehr eine Handbreit vom Zerplatzen und außerstande war, den Anblick des apfelgrünen Übeltäters länger zu ertragen, winkte er ihm abzutreten. Und das sah aus, als schlage er mit beiden Flossen heftig um sich wie ein Meerungetüm, das in einen Wirbel geraten ist.
Bismarck verneigte sich und ging bescheiden aus der Tür.
Ariel, der weißgelbe Köter, tat einen Satz und riß den jungen Mann, der ihn an der Leine hielt, in einem Zickzack von Bewegungen hinterdrein, so daß dieser den kläglichen Eindruck eines Menschen machte, der nicht gern möchte, aber muß. Die drei Dutzend amerikanischer Flüche, die Ariel an den Pelz flogen, hinderten ihn nicht, an Bismarck hinaufzuspringen und mit sehnender Zunge sein Gesicht zu suchen.
Erst als das Hundevieh seine Wiedersehensfreude dämpfte, konnte man fragen, wie es ausgegangen sei und was der Spaß gekostet habe.
»Einen Gulden und eine Verwarnung!« sagte Bismarck.
Man hörte drinnen noch immer den Wirbel von Lachen, Husten und Pusten, in dem der Gestrenge umtrieb.
»Was ist denn da drinnen los?« fragte Motley.
»Seine Gnaden erstickt an meinem apfelgrünen Frack,« sagte Bismarck, »es ist kein Ernst mehr auf der Welt.«
Sie traten aus dem alten Bauwerk, Bismarck als der Held des Tages zwischen Motley und Coffin, Ariel bald vorn, bald hinten, bald zwischen den Beinen, und ganz Göttingen gehörte ihnen. Eigens für sie hatte Gott diesen Julitag so strahlend herausgeputzt, die Spatzen waren so frech wie nie zuvor, und alle die Florbesen hinter den Blumentöpfen an den Fenstern trugen Verheißungen in den Augen und auf den Lippen. Und man war irgendwie in alles das verwoben, lachte sich aus der Welt nur immer wieder selber zu, durchaus heimisch in diesem lieben, bunten, tollen, beglückenden Dasein. Beim Rahmenmacher und Balgausstopfer Tuschmann am Fenster pfiff ein Star den hannöverschen Generalmarsch, die vielbemerkte Sophie vom Kaufmann Biereigl hatte eine reine Schürze vor dem vollen Busen, zwischen den Pflastersteinen war das Gras in saftigen Büscheln aufgedreht wie Lausbubenschüppel.
Es war schade, daß Motley und Coffin so viel Übermut ungenützt ins Kolleg tragen wollten.
»Ja, du,« sagte Motley, als Bismarck widersprach, »du bist ein Herr von Adel. Das genügt bei euch in Preußen, und auf Institutionen, Pandekten und Landrecht kommt's da weniger an. Bei uns drüben geht das nicht so.«
Coffin spuckte wildwestlich auf fünfzehn Schritte einen Spatzen vom Gehsteig herab. »Ihr Eifer lassen nach … Sie gehen ja bald nur zu die Heeren-Kolleg. Warum hören Sie denn da nicht lieber Dahlmann?«
Bismarck sah in den blauen Himmel: »Ach was, alle Welt läuft ja zu Dahlmann. Das Selbstverständliche trifft bald einer. Dahlmann ist in Göttingen das Selbstverständliche.«
»Sie wünschen also zu sein gebraten ein … wie heißen das … Extrawurst?«
»Ja – immer eine Extrawurst, Coffin!« lachte Bismarck.
Dann gingen die Amerikaner ins Kolleg und Bismarck blieb mit dem Sommervormittag und dem Aufsehen, das sein Frack auf dem Göttinger Marktplatz erregte, allein. Er spazierte noch dreimal rundherum, und dann waren richtig alle Fenster und alle Ladentüren mit grinsenden Gesichtern besetzt. Bismarck genoß das Vergnügen, aufzufallen, mit einem naiven Eifer. Er trank es mit der Sonne und der Luft, die über den roten Ziegeldächern und dem Pflaster schon mittäglich durchwärmt wurde. Ariel jagte Spatzen und schaute, immer von neuem verblüfft, den Davonflatternden mit triefendem Maul nach.
Als Bismarck sich nach einer neuen Runde umwandte, sah er an der Ecke der Weender Straße einen kleinen Trupp von fünf Studenten.
Noch immer zählten Kappe und Band zu den verbotenen Dingen, der Göttinger Revolutionsschrecken vom vorigen Jahr saß den Behörden noch in allen Knochen. Die akademische Freiheit hatte den Hexenschuß bekommen und konnte sich noch immer nicht aufrichten. Was da an Korps war: Lüneburger, Hildesheimer, Ostfriesen, Bremenser, Braunschweiger, Hannoveraner, Mecklenburger, Hessen und Westfalen, lebte dahin wie ein Schlittenpelz. Unscheinbar nach außen, die rechte Seite nach innen gekehrt. Geschnürt und gedrückt durch Verordnungen und Reskripte, unter der Vormundschaft der Universitätsdeputation, zu allerlei Umständlichkeiten verpflichtet, konnte man sich nicht auf den Straßen in seinen Farben weisen und trug seine Kraft nur auf Kneipe und Mensur. Immerhin begann schon wieder ein erstes, frühlingsmäßiges Knospen und Blühen der Farben. Durch das dunkle Erdreich der Philisterröcke kroch wieder die Buntheit des Studentenlebens. In kleinen Maschen, die an den Knopflöchern saßen, bekannten sich die Korps schon wieder zu ihrer heiligen Dreifarbigkeit.
So sah Bismarck an den Knopflöchern der Fünf, die an der Ecke der Weender Straße standen, daß er es mit Korpsiers zu tun hatte.
Und daß er es mit ihnen zu tun bekam, war ihm klar, als ihm ein Chorus von Lachen entgegenschwoll. Die Fünf hatten sich eine besondere Art von Chorgelächter eingeübt:
Wuthmann lachte: »Ho-Ho-Ho!« Dammers lachte: »Hu-Hu-Hu!« Georg Haccius lachte: »Ha-Ha-Ha!« Gustav Scharlach lachte: »He-He-He!« und Stietencron lachte: »Hi-Hi-Hi!« Dieser Chor war sehr wirkungsvoll, aber die Schutzpatronin alles Musikalischen, Sancta Caecilia, mochte über ihn die Hände ringen, sobald er zum Himmel aufstieg. Und dieser Vokalchor brach jetzt an der Ecke der Weender Straße los, und es war klar, daß er nichts anderem galt, als dem apfelgrünen Frack.
Bismarck schwenkte sogleich von seinem Rundgang in einer steilen Kurve zu den fünf Lachkünstlern ab. Da klang der Chorus noch lauter über den Göttinger Marktplatz hin. Bismarck aber schritt unentwegt durch den Vokalspektakel hindurch und nahm höflich seine Mütze ab. In diesem Augenblick sah er einen guten Bekannten unter den Fünfen. Den Studiosus mit der lappigen Nase, der Hartvogel so regelrecht in die Gosse angerempelt hatte. Hallo! Es wurde auf einmal ganz kühl in Bismarck, als habe er unter Haut und Fleisch einen Kern von Eisen.
»Wünschen die Herren vielleicht etwas von mir?« fragte er.
Der Student mit der Lappennase nahm die Führung. Er steckte die Hände in die Taschen, klappte die Fußspitzen auf, so daß er auf die Absätze zu stehen kam, klappte nach vorn, so daß er auf den Fußspitzen stand und die Fersen in der Luft waren, und wiegte dergestalt vor Bismarck hin und her. »Wir wünschen zu wissen,« sagte er, nachdem er das Manöver eine Weile hatte andauern lassen, »nämlich wir haben uns gefragt, was Sie wohl in Ihrem Grashüpferkostüm auf dem Marktplatz studieren mögen … und überhaupt!«
Bismarcks Kindergesicht blieb vollkommen höflich und ernst, nur die Augen waren blauer, lodernder Stahl: »Ja, meine Herren … ich habe unlängst in einem Buch über Göttingen gelesen, die Bewohner würden eingeteilt in Studenten, Professoren, Philister und Vieh, welche vier Stände doch nichts weniger als streng geschieden seien. Das studiere ich.«
Das Wippen des Lappen wurde bedrohlich. »Und was haben Sie gefunden? Und überhaupt?«
»Ich habe gefunden, daß man die Professoren und Philister von den Ochsen ganz wohl unterscheiden kann, bei den Studenten wird es einem aber manchmal ganz unmöglich gemacht – und überhaupt sind Sie, meine Herren, alle miteinander dumme Jungen! Ich heiße von Bismarck und wohne im Turm an der Leine, wo, wird Ihnen Herr Adolf Jäger schon sagen können.« Damit zog Bismarck wieder höflich die Mütze und ging die Weender Straße entlang, vom heißgehetzten Ariel mit hängender Zunge gefolgt.
Die fünf Hannoveraner sahen einander an, als habe Gott aus dem brennenden Dornbusch gesprochen. »Donnerwetter,« sagte Wuthmann, der Lappige, »der Kerl geht schneidig los.«
»Kinder, Kinder, hat der eine Schnauze. Das ist ein Preuße!«
Dammers schob die Mütze zurück und klopfte mit dem Stock das Straßenpflaster: »Ik komme mir blamoren vor.«
»Warum?«
»Wie denn nicht? Lassen wir fünf alten Esel uns von diesem blutigen Finken da vom Fleck weg kontrahieren. Machen nicht das Maul auf … einfach kontrahieren. Wie stehen wir da? Was soll meine Mutter von mir denken?«
»Er hat recht,« meinte Georg Haccius, »wenn wir mit diesem Bohnentrieb antreten, so wird das ja der reine Kindesmord von Bethlehem.«
Wuthmann zog den Schnurrbart unter der Nase vor: »Der Kerl gefällt mir! Gefällt mir! Und überhaupt! Wir haben ihn herausgefordert. Er hat schneidig kontrahiert. Habt Ihr was gegen ihn? Nein! – Fühlt sich jemand beleidigt? Nein! – Wie wär's, wenn wir Jägern hinschickten. Den scheint er zu kennen. Der soll fragen, ob er seine Kontrahagen nicht revozieren möchte.«
»Kann man das tun?« fragte Scharlach, der Jüngste, zweifelnd: »Ohne sich was zu vergeben?«
»Gewiß kann man das. Wir sind im Unrecht. Was geht uns sein Grashüpferkostüm an? Wie laufen denn die Burschenschafter herum? Wir hacken doch dieses Grünzeug zu Spinat. Wir sind die Stärkeren, wir dürfen nachgeben.«
Adolf Jäger wurde aufgetrieben. Adolf Jäger berichtete. Er wohnte im Vorderhaus, und hinten in einem achteckigen Turm an der Leine wohnte dieser Otto von Bismarck. Amerikaner und Mecklenburger gingen bei ihm ein und aus, sogar ein paar edle Polen waren schon gesehen worden, von der Sorte mit hängenden Schnurrbärten und tiefliegenden Augen, denen das Weibsvolk nachschmachtete.
»Ob Jäger die Sache beilegen wolle?«
Der Senior nahm sich seine Leute erst einmal ordentlich vor, fluchte das Blaue vom Göttinger Himmel und die Ziegelsteine von den Göttinger Häusern herunter, und daß man immer solche Tunken anrühre, die er auslöffeln solle. Aber schließlich befand er auch, daß die Kontrahage-Affäre wohl am besten im guten beigelegt würde, und ging in Bismarcks achteckigen Turm.
Die Leine stank nach den vielen schönen Tagen ein wenig, noch mehr aber stank diese Geschichte, und Jäger, der Bismarck nur so obenhin vom Begegnen kannte, war keineswegs sicher, gut angelassen zu werden.
Bismarck, der schon Motley und den Grafen Schulenburg bei sich hatte, war sehr erstaunt, anstatt zweier waffenrasselnder Kriegsansager einen etwas verlegenen Friedensboten empfangen zu dürfen.
»Wollen Sie Platz nehmen?« Es gab mehr Bücher in diesem Zimmer, als man bei einem solchen Verächter der Kümmelei hätte vermuten dürfen. Ein großer Tisch war voll von ihnen, aufgeschlagene Atlanten lagen als zackig umgrenzte Farbenflecke dazwischen. Von dem Stuhl, den er für Jäger heranzog, flog erst ein Stapel einer Weltgeschichte auf die Erde.
Jäger tat alles, um den Rückzug in annehmbare Form zu bringen. Daß man keineswegs eine Verhöhnung seiner Person beabsichtigt, sondern daß dieses absonderliche Kleidungsstück gewissermaßen als Ding an sich, ohne Rücksicht auf die Person des Trägers, zum Lachen gereizt habe. Da nun anzunehmen sei, daß Herr von Bismarck in der Handhabung der Waffen nicht so geübt sei, während die älteren Semester, mit denen er zusammengeraten sei, bereits Dutzende von Partien hinter sich hätten, erlaube er sich im Namen der fünf Herren anzufragen, ob die Angelegenheit nicht freundlich geregelt werden könne.
Bismarck hörte die umständliche Rede mit einem gleichmäßigen Lächeln an.
Wegen der Handhabung der Waffen brauchten sich die Herren wohl keine Sorgen zu machen. Er nähme schon längere Zeit bei Christian Kastrop Unterricht im Fechten, und der Herr Universitätsfechtmeister sei mit ihm recht zufrieden. Da aber die Herren erklären ließen, daß sie nicht ihn gemeint hätten, sondern bloß den Rock, so wolle er gern seine Kontrahagen revozieren. Im übrigen sei er ein Freund des Lachens, und so hätte er sich im Grunde über eine solche solenne Art des Lachens eher gefreut als geärgert.
Damit war die Sache eigentlich erledigt und Adolf Jäger hätte gehen können. Er saß aber noch immer auf seinem Stuhl neben dem Berg von Schmökern, in denen die Weltgeschichte eingekocht war, und würgte an einem Wort. Die zwei Zeugen hinten im Zimmer waren unbequem. Aber was jetzt versäumt wurde, war vielleicht niemals mehr zu erreichen. Unter allem Formenkram und streifleinener Kommentpedanterie war ein frisches, rasches Verstehen zwischen ihm und diesem Herrn von Bismarck, ein warmes Sprühen aus den Augen und Herzen.
Endlich stand er, trotz Zeugen und Bedenken, mit beiden Beinen im Entschluß. Er erhob sich: »Mein Herr,« sagte er, »ich habe keinen Auftrag dazu, diese Frage an Sie zu richten. Aber Sie haben sich in dieser Angelegenheit so tadellos benommen, daß ich nicht umhinkann, Sie zu fragen, ob Sie geneigt wären, beim Korps Hannovera als Fuchs einzuspringen.«
Da kam die Hand herüber, ohne Übereilung und ohne Zaudern, das Kindergesicht trug heißes Rot: »Ich danke Ihnen sehr, mein Herr! Und ich bitte Sie um die Ehre, mich Ihrem Korps als Fuchs vorzuschlagen.«
Jäger verneigte sich: »Haben Sie besondere Wünsche in bezug auf die Person Ihres Leibburschen?«
»Wer ist der Herr mit der zerschlitzten Nase?«
»Er heißt Adolf Wuthmann aus Möhringen und ist Konsenior des Korps.«
»Wollen Sie ihm mitteilen, daß ich ihn sehr bitte, mein Leibbursch zu werden.« …
»Mensch,« schrie Graf Schulenburg, als der Bote draußen war, »jetzt hast du dich doch fangen lassen? Noch dazu von einem Korps, in dem es nicht einen einzigen Adeligen gibt.«
Motley streckte die Beine noch weiter von sich: »Lassen Sie. Er predigt schon lang, daß die Korps sein eine Schul für das Leben.«
Bismarck stand am Fenster, sah hinaus, die weißen Gardinen gingen nahe an seinen Schultern vorbei, zogen ihre Falten gegen die Fensterrahmen und breiteten sie unten wieder weiter aus. Er wandte sich mit einem jähen Ruck, zeigte sein leuchtendes Gesicht: »Ihr Wahlspruch gefällt mir – nunquam retrorsum! Nie zurück!«
Bei Harrisons kam das englische Kränzchen zusammen.
Göttingen war, so gut deutsch die hannöverschen Fundamente bestanden, obenauf und außenherum irgendwie englisch. John Lothrop Motley aus Boston nannte es halbenglisch, ein Beefsteak nach deutschem Geschmack, nur daß er meinte, was daran roh geblieben sei, das komme auf die deutsche Rechnung.
So kam es, daß sich auf dieser durch Gottes und der hohen Politik Gnaden mitten im deutschen Festland geschaffenen angelsächsischen Insel Angelsachsen von hüben und drüben des großen Wassers einfanden. Man genoß hier das Absonderliche und Anheimelnde des fremden Volkes und war dabei doch sozusagen daheim; man richtete sich nach der Methode ein, die England allgemach über den ganzen bewohnten Erdkreis auszudehnen begann: das Beste zu nehmen und nichts von sich preiszugeben.
Außer Motley gehörte noch Coffin zu dem englischen Kränzchen und Mitschell King aus Charleston, der durch Bismarck aus der Hannovera herübergebracht worden war. King war ausgezeichnet durch Schweigsamkeit und eine gewisse hartnäckige Gefräßigkeit, die er zu jeder beliebigen Stunde des Tages oder der Nacht entfalten konnte. Coffin hatte neben vielen vorzüglichen nur zwei weniger preisliche Eigenschaften: er konnte keine enge Öffnung sehen, ohne den Versuch zu machen, hindurchzuspucken, und keine Holzfläche, ohne mit seinem Federmesser einen Namenszug oder ein Herz oder einen Anker oder sonst irgend etwas Symbolisches hineinzuschnitzen.
Die Harrisonsche Wohnung zeigte die Spuren dieser freien Künste. Aber Harrisons nahmen diese Eigentümlichkeit mit in Kauf und freuten sich, daß sie den jungen Leuten den gastlichen Herd ihrer Ehe bieten konnten. Die Möbel rochen noch nach Tischler und Firnis, und es schien, als sei die Harrisonsche Ehe selbst nicht viel älter und auch an ihr sei der behördliche Leim noch nicht ganz trocken.
Die Jugend war ganz unter sich. Fred Harrison war jung und unbedeutend. Und Mary Harrison war jung und unbedeutend. Aber es zeigte sich, daß es eine besondere Bedeutung hat, wenn eine Frau unbedeutend ist, sobald sie nur einen weichen Schritt, eine feine, schlanke, weiße Hand hat, die sich über der Teeschale gut ausnimmt, und eine blonde Haarkrone, die sie trägt wie eine Königin ihr Diadem.
Das ganze englische Kränzchen schien nur zu dem Zweck zusammenzukommen, um Mary Harrison zu bewundern. Motley, der entschlossen war, entweder ein großer amerikanischer Dichter oder ein großer amerikanischer Diplomat zu werden, versprühte seinen Geist für sie. King schien zu schweigen, um seine Anbetung besser genießen zu können, und wenn er sich als Freßkünstler vorführte, so war das offenbar eine Art fanatischer Huldigung für ihre besonderen hausfraulichen Eignungen. Coffin spuckte für sie durch die Schlüssellöcher. Bis Mary Harrison eines Abends beim Tee sagte: »Bitte, Coffin, spucken Sie mir nicht die Türen voll.« Seitdem erhob sich Coffin jedesmal und wischte mit einem großen roten Taschentuch fort, was etwa daneben gegangen war.
Bismarck aber bemerkte dazu: »Willst du genau erfahren, was sich ziemt, so frage nur bei edeln Frauen an!«
Er selbst flocht aus seinen Siegen auf der Mensur ein Kränzlein und widmete es der schlanken, blonden Mary. Leider hatte sie wenig Verständnis für den Sinn der ritterlichen Übung und vermochte in den Schlachtberichten die Terzen von den Quarten nicht zu unterscheiden, und wenn Bismarck einmal mit einem Pflaster erschien, so stellte sie Räucherkerzen auf, um den »Blutgeruch« zu vertreiben. Immerhin nahm sie aus diesem blutrünstigen unverstandenen Kult, was ihr zukam, mit einem fraulichen Instinkt, der zu schätzen weiß, auch wo er nicht begreift.
Eines Abends aber ereignete sich etwas Ungewöhnliches. Mitschell King aus Charleston tat den Mund auf und sprach. Zwischen zwei Schlucken Tee sagte er, gerade Frau Mary ins Gesicht, die sich neben ihm über die Zuckerdose beugte: »Bismarck ist heute nachmittag abgeführt worden.«
Frau Marys Zuckerdose war ein Huhn aus Porzellan, das brütend auf einem Nest aus Porzellan saß. Was aber in diesem Nest lag, waren lauter weiße, von Kristallen glitzernde Zuckerstückchen. »O ja!« sagte Frau Mary ahnungslos, indem sie das Huhn wieder auf das Nest setzte.
Motley aber verstand besser, was diese Trauerbotschaft bedeutete. Er verließ seine bequeme Lage, beugte sich vor, spähte in Kings Gesicht: »Zum Teufel … Bismarck ist wütend?«
»Sehr!«
»War das gegen die Bremenser?«
»Biedenkamp!«
Mit Motley ging es eigentümlich. Er war als Amerikaner echtfarbig genug, um das ganze Um und Auf deutschen Studententums ein wenig lächerlich zu finden, und er war lange genug in Göttingen, um sich in diese Gebräuche eingelebt zu haben, so daß sie ihm bisweilen wichtig erschienen. Jetzt vergaß er ganz seine Haltung im englischen Kränzchen. Er schoß in Eifer: »Es hat einen verschärften Resturz gegeben.« Wenn es so etwas Studentisches gab, so fehlte das englische Wort und das deutsche mußte heran.
»Was ist ›verschärfter Resturz‹?« fragte Harrison.
»Die Bremenser haben die Hannoveraner beleidigt. Da muß jeder Bremenser mit einem Hannoveraner fechten. King, wie war es mit ihnen?«
»Ich habe abgestochen!«
Draußen brummte jemand, das Stubenmädchen gab eine Antwort, dann war Bismarck da. Auf seiner linken Wange saß, deutlich für die ganze Welt, die Abfuhr unter dem großen, schwarzen Pflaster.
»Ja, Pech gehabt,« sagte er, indem er die Hände schüttelte, »King hat euch erzählt?«
»King erzählt wie ein Laternenpfahl.«
Frau Mary machte ein ängstliches Gesicht; jetzt ging es wieder an, von Terzen und Quarten.
»Denkt euch: ich schlage im ersten Gang Doppelquart. Jedes Kind in Göttingen weiß das. Nun kommt mir dieser Idiot von Bremenser und schlägt mir in meine Doppelquart hinein, schlägt mir die zweite Quart mit. Ein Sauhieb! Seine Klinge springt im Hieb. Der Unparteiische hat entschieden: sitzt nicht. Aber das ist sozusagen metaphysisch. Ich habe das Rechtsbewußtsein: Biedenkamps Quart sitzt nicht. Aber in der Welt der Tatsachen sitzt sie doch. Man könnte darüber Philosoph werden und über den Unterschied zwischen Idealität und Realität spinnen.«
»Suspendiert?«
»Suspendiert! Nächstens geht es weiter!«
Der Göttinger in Motley war abgetan, der Amerikaner drängte vor. Motley lehnte sich zurück und sagte, ein wenig spöttisch: »Bismarck, es kommt mir immer vor, ihr nehmt diese Geschichten zu ernst. Irgendwohin müßt ihr mit eurer Jugend und Kraft. Das öffentliche Leben versperrt man euch. Wer sich mit der Politik beschäftigt, ist immer so etwas wie ein Hochverräter. Da bleibt nichts, als sich im Raufen auszutoben und Unfug zu machen.«
Bismarck nahm den Tee aus Frau Marys Händen. Er sah weich und besänftigt auf die feinen Finger, fühlte sich ins Behagen gebettet. So wie diese Frau sollte einmal sein kleines Schwesterchen werden, so fraulich und glückspendend: »Ja, Motley,« sagte er mit einem kleinen Seufzer: »Amerika, du hast es besser, als unser Kontinent, der alte. Das sagt Goethe!«
Frau Mary zog an einem gestickten Band, eine brüchige Glocke schellte über den Tisch. Das Stubenmädchen öffnete einen Türspalt. »Bringen Sie Herrn Coffin ein Stück Holz aus der Küche!« sagte die Hausfrau.
Coffin fuhr zusammen und versuchte das Messer zu verstecken, mit dem er an der Armlehne seines Stuhles zu schnitzen begonnen hatte. Seine Hand wischte über das eingeritzte Herz, als wolle er das geschundene Möbel wieder glätten.
»Wir haben noch keine Erziehung,« sagte Motley mit einem Blick auf den unglücklichen Coffin.
»Ihr habt auch keine Vergangenheit. Wir haben eine Vergangenheit und doch keine Erziehung.«
»Ich muß mich oft wundern,« fuhr Motley mit einem Blinzeln seiner klugen Augen fort, »daß du als Preuße und Adeliger für unseren Freistaat so viel übrig hast.«
»Gewiß, ich halte die Republik für die beste Staatsform. Ihr werdet nicht so viel regiert. Jeder wächst sich in seiner Art aus, das gibt tüchtige Kerle. Bei uns ist der ganze Lebensweg mit Verordnungen gepflastert. Hinter jedem Busch steht ein: links gehen, rechts gehen!«
»Warum ziehst du dann nicht mit der Burschenschaft?«
»Coffin!« sagte Frau Mary mahnend, und Coffin ließ, tödlich erschrocken, das Messer sinken.
»Ja, das ist etwas anderes, Lieber! Was für euch paßt, taugt nicht für uns.« Bismarck sah behutsam und verehrungsvoll Frau Mary nach, die mit weichen Schritten nach dem Eckschrank ging, um die Whiskyflasche zu holen. »Wir Deutschen haben zu viel Gemüt. Wir müssen immer an einer unglücklichen Liebe leiden. Unsere große unglückliche Liebe ist die deutsche Einigkeit! Aber einmal werden wir das Schicksal zwingen.«
Coffin hatte die Hände aneinandergelegt, daß zwischen den Daumen eine schmale Ritze entstand. Und auf dieser Ritze tat er jetzt einen gellenden Pfiff, daß Fred Harrison in seiner Sofaecke, wo er langsam zu schlummern begonnen hatte, wie unter einem Wasserguß auffuhr. »Hallo! Fred!« sagte er. Dann wandte er sich Bismarck zu und grinste breit und vergnügt: »Ich hab' genug von eurer Einigkeit. Nicht einmal die neun Korps in Göttingen können sich vertragen. Ich wette, daß Deutschland niemals einig wird. Niemals!«
Motley nickte. Bismarck sah im Spiegel, daß seine linke Backe unter dem schwarzen Pflaster immer mehr anschwoll, und kehrte Frau Mary seine gesunde Wange zu. »Na, Coffin, warten Sie nur. In zwanzig Jahren haben wir ein einiges Deutschland.«
»O, gut. Wollen Sie wetten?«
Wetten weckte alle Lebensgeister. Motley, King, Harrison rückten gespannt näher. In diesem Augenblick saß Bismarck ganz zusammengesunken da, als habe ihn der Schmerz seiner Wunde überwältigt. Langsam sagte er, mit einer bescheidenen Zuversicht: »Ich wette, Coffin. Was gilt es?«
»Zwanzig Flaschen vom besten Rheinwein! Für jedes Jahr eine. In zwanzig Jahren melde ich mich.« –
Als sie über den Göttinger Marktplatz gingen, im harten Schnee, sagte Motley: »Bismarck, du hast zwanzig Flaschen verloren.«
»Du kannst recht haben, John!«
Sie gingen weiter, und der Schnee sang, hart und knirschend. Ein paar Sterne waren da, wo der Himmel die Wolkenfalten auseinanderschlug, eine kümmerliche Saat. Bismarck drosch mit dem Stock einen Eiszapfen von einer Dachrinne.
Er schlang den Arm um Motleys Schultern: »John … manchmal … ich soll Beamter werden, Diplomat, will meine Mutter, ich kann nicht.«
Da war das deutsche Gemüt! »Hallo, Otto,« sagte Motley knurrig, »du hast den Spleen, weil du auf Mensur Pech gehabt hast.«
»Manchmal meine ich, mir wäre viel wohler, wenn ich Farmer sein könnte, bei euch im Westen. Das Größte ist doch die Erde! Aus der Scholle kommt unsere Kraft. Bei euch sind noch die unbegrenzten Weiten. Bei uns ist alles eingeteilt. Das gehört dem, und das dem und das meiste dem König. Nur noch die Luft ist frei, und auch die wird von den Fabriken verpestet. Ich will meine Ellenbogen rühren können. Wir sind fertig. Ein Volk, das eine Zukunft haben will, mußte alle Enge abschütteln. Alle Vorurteile von Landesgrenzen und Königtum und überhaupt …«
»Da ist das Auge Gottes,« sagte Motley vor einer rotverhangenen Tür, »komm, wir wollen noch einen Schoppen trinken.« –
In dieser Nacht kontrahierte Otto von Bismarck in der Weinschenke »Zum Auge Gottes« sechs Westfalen, weil sie gesagt hatten, die Preußen wären keine honorigen Burschen und ihr König könnte ihnen gestohlen werden.
Auf dem »Keyser« von dem Rheinhauser Tor wurde eine Mensur gerüstet.
Unten auf der Landstraße, im Schmelzwasser, ging der Schnarrposten auf und ab. Ludolf Fromme von den Hannoveranern, Ludolf Fromme aus Hardegsen. Er aß einen Apfel und schaute bisweilen nach den Fenstern des ersten Stockwerkes, wo es verdächtig klirrte. Bismarck hatte ihm einen Spottvers angedichtet, der ihm nun am Kragen hing, wie den Männlein auf den illuminierten Pergamenten des Mittelalters ihre Spruchbänder. Er lautete:
»Na warte nur aus Hardegsen, Juriste Ludolf Fromme,
Den, wenn der Weltgeist sehen tut, er ausstößt ein Gebromme.«
Formale Glätte und Gewandtheit des Ausdrucks ließ dieser Vers ja vermissen, aber irgendwie schien er doch das Verhältnis zwischen dem Weltgeist und Ludolf Fromme richtig zu treffen, denn er hatte großen Beifall gefunden.
Jetzt dachte Ludolf Fromme seiner Rache nach, während er im Schmelzwasser auf- und niederstapfte. Einen Vers, einen Spottvers auf Bismarck, wenn er heute als Mensurleiche vom Paukboden kam! Es war so sicher wie das Einmaleins, daß Bismarck von diesem Herrn von Röder abgeführt werden mußte. Handelte sich bloß noch um den Reim auf Bismarck. Aber auf Bismarck ließ sich mit sich aller Vergeudung von Hirnschmalz kein Reim machen.
Auch oben war die Stimmung keineswegs zuversichtlich. In dieser einen Mensur war der Extrakt von sechsen zu sehen; obgleich die anderen fünf Westfalen erklärt hatten, jene Äußerungen beim Auge Gottes im Zustand der Volltrunkenheit getan zu haben, beharrte Herr von Röder darauf, ganz nüchtern gewesen zu sein und die Verantwortung zu tragen.
»Er spielt sich als Revoluzzer auf, es ist ihm aber bloß um die Partie zu tun,« sagte Wuthmann. »Unser Baribal ist ja ganz tüchtig, aber der Röder hackt ihn uns auseinander. Wir können ihn nachher ins Schnupftuch binden.«
Gustav Scharlach, der das französische Prinzip vertrat, Gustav Scharlach, der Weiberkenner, meinte geheimnisvoll, es handle sich hier gar nicht um den König von Preußen, sondern um irgendeine Herzenskönigin von Göttingen. Nur in solchen Fällen sei man gar so entbrannt, sich mit dem andern zu messen.
Der große Saal, in dem Sonntags der Kuhschwoof stattfand, war so voll, daß man nicht verstand, wie in diesem Gedränge für eine Mensur Raum geschafft werden sollte. Alle Korps waren da, die langen Pfeifen qualmten, die Füchse schleppten Paukzeug aus dem Versteck herbei.
»Achtung!« schrie Wehner und drängte sich mit einer Schüssel heißen Wassers durch. Doktor Gans, der Bader, stand da und putzte mit Glaspapier den Rost von seinen Zangen. »Welcher Saukerl hat denn das Baderzeug so verschweint? Füchse stellen sich heute abend vor, ihr müßt ja das Besteck unter die Dachtraufe gelegt haben!«
In der Ecke saß der Hausknecht Thomas, das Mensurenorakel. Er hatte so viel Mensuren gesehen, daß der Mathematik dafür die Zahlen ausgingen. Wenn man ihn fragte: »Thomas, die wievielte?« dann hob er die rechte Hand mit der Fläche nach vorn zum Ohr, schlug mit ihr in die Luft und sagte: »E!« Es gab für ihn auf dem Mensurboden keine Überraschungen mehr, und wenn jetzt der Erzengel Michael mit dem Erzengel Gabriel angetreten wäre, so hätten ihm auch die himmlischen Finten nichts Neues mehr gebracht. Es kam vor, daß er einen naseweisen Fuchsen vorn am Knopf nahm und ihm sagte: »O du, der du dem du das soweit der Vorrat reicht.« Das war eine abgekürzte und Respekt einflößende Formel für die Unendlichkeit seines Wissens von den Dingen, von denen so ein grüner Fuchs kaum den Rand gesehen haben konnte.
Jetzt standen ein paar jüngere Bremenser in seiner Stammecke und ließen ihn orakeln. Thomas sagte: »E!« Und nur, weil sein Schüler Bornemann dabei war, fügte er hinzu: »Abgestochen natürlich!«
Wuthmann zog die krumme Klinge in den breiten Korb. Es war wie ein letzter Liebesdienst, den er dem Leibfuchsen erwies. Die Schraube wurde mit unendlicher Sorgfalt angedreht. Dann hielt er den Säbel vor sich hin: die Klinge saß fest und gerade. »Ich bitte Platz, meine Herren!« Die Waffe pfiff dünn und scharf.
»Ein Schmollis den Herren Hildesen,« rief ein roter Mecklenburger. Steinkrüge klapperten. Das klang dursterzeugend.
Bismarck wurde schon ins Paukzeug gespannt. »Ich möchte auch so was!«
»Der Kindskopf kriegt Bier!« schrie Dammers beflissen. Julia, der Kattunbesen, gleich Thomas kriegsgewohnt, rauchgebeizt, mit allen Salben geschmiert, schleppte herbei, was sie in Händen hatte.
Wenn die Vorbereitungen soweit gediehen waren, so kam über David Franz Christian Georg Rudolph Wehner aus dem Lande Hadeln immer eine seltsame Stimmung im Unterleib. Es mochte in ihm ein bedenkliches Erbe friedfertiger und beschaulicher Ahnen sein, das sich geltend machte und nicht nach Männertrank verlangte, sondern nach dem sanften, mit Zichorie gewürzten Kaffee. »Julia … du weißt schon!« sagte er.
Mit dem Bandagieren war man fertig. Die schweren Binden kamen nicht in Verwendung, Hals und Puls waren nur durch dünn gefütterte Seidenstreifen geschützt.
Bornemann von den Hildesen, der Unparteiische, tauchte auf. »Sind die Herren so weit?«
»Wenn mir der Kassube abgestochen wird,« flüsterte Wuthmann, »so schnapp' ich mir den Röder nachher selber.«
Vor Bismarck entstand eine Bahn. Er sah auf das Schlachtfeld und jenseits dessen auf seinen Gegner, der in den Bandagen steckte wie ein fetter, muskulöser Bullenbeißer in seinem Riemenzeug. Die Halsbinde drückte ihm das Kinn zu dem übrigen reichlichen, roten Fleisch des Gesichtes. Seine rechte Faust lag im schmutzigen Handschuh wie ein Feldstein auf dem Arm des Testanten.
Wehner klappte den Steinkrug auf, den ihm Julia reichte. »Mogelant!« sagte Dammers, denn aus dem Steinkrug dampfte das Blümchen des Kaffees.
Es war also möglich, daß für die Mensur Raum geschaffen wurde. Freilich ging es nicht anders, als daß, was in der Mitte wich, an den Rändern hinanstieg. So sah man also den Kampfplatz von einem ganzen Wall von Menschen umgeben wie eine richtige Arena. Doppelt und dreifach standen die Reihen an den Wänden, die ersten zu ebener Erde, die zweiten auf Sesseln, die dritten auf Tischen. Doktor Gans konnte an seinem Tisch nur mit Aufgebot aller Grobheit verhüten, daß man ihm seine mühsam erworbene Instrumentenordnung wieder zertrat.
»Bier, die Herren!« rief Julia und reckte in jeder Hand fünf Steinkrüge.
Alles qualmte aus den langen Pfeifen darauf los, als gälte es den Raum mit Wolken anzufüllen, daß die beiden Kämpfer wie im Nebelreich miteinander stritten, nordische Sagenkönige auf irgendeiner Sageninsel. Es war erstaunlich: manche hingen mit einer Hand am Fensterkreuz und pafften doch darauf los, als wäre das ein Vergnügen.
»Raus mit dem Mensurbesen,« schrie Wuthmann, als ihm die eifrige Hebe wieder in seine Zirkel trampelte.
»Na – na, Herr Wuthmann,« sagte sie gekränkt, »Sie können Ihnen en anners mal noch eene annere suchen.«
»Leibfuchs,« raunte Wuthmann, »feste stehen. Er rennt gern den Kontrapaukanten übern Haufen. Wenn du dich auf den Hintern setzt, enterbe ich dich. Leg dich weit aus. Und wenn wo was offen ist, hinhau'n wie wie Blücher … und überhaupt …«
»Natur, Leibbursch.«
»Na, dann können wir ja anfangen.« Wuthmann spuckte hinter sich, das war sein Mensursegen. Er fuhr in den Stulp und Schurz, riß die Mütze am großen Schild über den Kopf, nahm den Speer.
»Wehner, komm mal her,« flüsterte Bismarck über den Testanten hinweg. Wehner sprang zu, denn jeder Paukant hat vor dem ersten Gang so kleine letzte Wünsche: eine Binde kratzt, oder eine Binde sitzt locker, oder man möchte noch ein Spitzgläschen Kirschwasser.
»Wehner aus dem Lande Hadeln,« sagte Bismarck leise, »ich weiß einen Vers auf dich:
›Was sind denn das für Leute dort in diesem Lande Hadeln,
Die, wenn ein Brander Kaffee trinkt, das absolut nicht tadeln?‹«
»Geh zum Teufel!« und Wehner setzte dem Dichter einen Puff zwischen die Rippen.
»Herr Unparteiischer!«
»Herr Unparteiischer!«
Hüben und drüben Mützenlüften, Neigen der Waffen, kriegerische Höflichkeit.
Der kleine, schwarze Bornemann von den Hildesen kletterte auf einen Stuhl. Was ihm an Größe fehlte, ersetzte der kleine Mann durch Scharfsichtigkeit. Mitten im Geflirr der Klingen konnte er jedem einzelnen Hieb folgen; Zweifel gab es nicht, alles war scharf in den Moment gespannt. Bornemann, der Schüler des Mensurorakels Thomas, hätte eine Professur der Mensurwissenschaft bekleiden können, wenn die »Georgia Augusta« eine solche Kanzel errichtet hätte.
Er hatte auch den richtigen, schneidenden Ton des Unparteiischen: » Silentium zur Austragung einer Ehrenangelegenheit zwischen Herrn von Bismarck, Hannoverae, als Herausforderer, und Herrn von Röder, Guestphaliae, als Geforderten. Vierundzwanzig Gänge mit kleinen Mützen. Die Herren Sekundanten haben das Kommando!«
Bismarck und Röder rasselten von ihren Stühlen hoch. Die verdorrten Blutkrusten auf den Paukhosen knisterten, und knarrend rückten sich die steifen Riemen zurecht. Man sah erst jetzt, wie lang dieser Brandfuchs der Hannoveraner eigentlich war. Aber sein Kindergesicht stak sonderbar zwischen dem Halskragen und dem Mützenschild, daß sogar Julia Mauskuchen, der mensurgehärtete Kattunbesen, in ein mitleidiges Sinnieren über den Wert der Jugend verfiel.
Mit einem Schritt war er in der Mensur. Nägel im Fußboden zogen den Kämpfern die Grenze. Ihm gegenüber duckte sich der Bulldogg Röder zum Sprung. Die vorgestreckten Klingen berührten sich zum erstenmal mit einem hellen, freudigen Klang, die Schneiden zuckten zusammen.
In diesem Augenblick fuhr Bismarcks Linke zum Kopf und riß die Mütze mit den Farben des Korps von den blonden Strähnen. Im Bogen flog das bunte Ding in die Corona hinein. Sogleich flog ihr die Mütze von Röders Kopf nach.
Ein Wispern und Raunen ging um. »Doller Kerl!« »So 'ne Idee.« »Der hat wohl 'n Kopp von Blech?«
Wuthmann sah unter dem Mützenschild seinen Paukanten an.
»Die Herren Sekundanten haben das Kommando!« schnarrte Bornemann auf seinem Stuhl.
Jetzt war keine Zeit zu Betrachtungen. »Binden Sie die Klingen!« rief Wuthmann.
»Gebunden ist!«
»Sie hauen aus!«
Da sprang auch der Westfale schon vor, mit einem Hieb, als wolle er den Gegner in zwei Hälften spalten. Man sah Bismarcks Parade kaum, aber sie mußte geglückt sein, denn schon sprang Röder zurück und Bismarcks Riposte sauste ihm nach, surrte die Klinge entlang, dröhnte auf den Korb.
Hinten an der Tür sagte das Mensurorakel: »Mit dem Abführen ist's Essig – soweit der Vorrat reicht.« Das Wort lief um, die ganze Corona entlang, änderte im Nu die ganze Stimmung. Dieser Bismarck war kein Schlachtopfer, er wies ein gutes, scharfes Gebiß.
Die Gegner lagen aus. Bismarck hatte sich ein wenig gestreckt: Leib, Arm und Säbelklinge bildeten eine flache Kurve auf des Gegners rechtes Auge zu. Er sah nichts als dieses feindliche Auge und das heilige Rot-Blau-Gold des Korbes, aus dem die breite Klinge wuchs, dreiunddreißig Zoll lang und dreiundzwanzig Lot schwer. Jetzt blitzte es auf ihn zu, doppelt, links und rechts, er fing das Funkeln in seinem Korb, holte aus, schlug aber nicht diesen schweren Jagdhieb gegen die schon emporgezogene Deckung, sondern ein kleines, unbedeutendes, harmloses Hieblein nach der anderen Seite. Es klatschte auf die Armbandage, ganz sacht und gemütlich.
Ringsum tiefes Atmen und Schnaufen. Unerhört! Dieser Brandfuchs nahm die Sache nicht ernst genug.
Drüben traten die Mensurunken an den Westfalen heran. Jeder wisperte irgendeinen Rat; Röder fauchte wie ein bissiger Köter entgegen.
Wuthmann drohte seinen Leuten mit dem Sekundantenspeer: »Maul halten!« Jäger verschluckte eine Abführpille, die er Bismarck hatte darreichen wollen.
Der nächste Gang. Jetzt war der Gegner in sich zusammengeduckt, stand lauernd, nach einem leichten Geplänkel fiel das Halt der Sekundanten.
Selbst der unbegabteste Fuchs hatte erfaßt, daß die Entscheidung nahe war. Alle Hälse streckten sich, hinten brach ein Stuhl zusammen, auf den zu dreien noch ein Vierter steigen wollte.
Bismarck begann mit einer geraden, festen Quart, die steil nach Röders Schläfe gemessen stand. Gleich darauf war ein fürchterlicher Anprall, ein Aufschreien der Klingen, vier, fünf Hiebe sausten gegen- und zum Teil ineinander, Ausfall und Deckung schlugen zusammen, und mitten aus dem Wirrwarr löste sich etwas Prachtvolles, ein stählerner, kühler Hieb, den jeder sah und der nur auszuführen schien, was Bismarck gleich zu Beginn des Ganges vorgezeichnet hatte.
Ein feiner roter Strich war auf Röders Schläfe. Jetzt zogen sich seine Ränder auseinander, und es quoll in langsamen Stößen aus ihm hervor, wie von einer Pumpe getrieben. Rot, helles Rot auf Gesicht und Hemd, das Gewebe trank Blut, über die alten, rostbraunen Krusten sanken die weinfarbenen Kaskaden, große Tropfen klatschten auf den staubigen Boden. Ein Klumpen Menschen schoß um den Westfalen zusammen.
Man hörte Bornemanns helle Stimme: »Herr Röder, Guestphaliae, erklärt sich im vierten Gang für abgeführt. Mensur ex!«
Schon hatte Wuthmann Bismarck abzuschirren begonnen. Er quetschte ihm die Achseln, drückte ihm die Daumen in den Oberarm, puffte ihn in den Rücken. »Leibfuchs … Leibfuchs! Kerl! … Kassube! Die Klinge muß ich haben. Die hänge ich mir übers Bett. Wenn dein König was wert ist, bedankt er sich bei dir und schickt dir zwei Körbe echten Französischen.«
Bismarck hatte viele Hände zu drücken. Auf seinem Kindergesicht stand ehrlicher Stolz. Als er aus der Rüstung geschlüpft war, fuhr er mit der Rechten in den rechten Hosensack. Er tastete nach einem kleinen Stückchen eines schwarzen Sammetbandes, das ihm weich durch die noch steifen Finger glitt.
In den Pfingsttagen machte sich die Welt so weit und herrlich auf, daß es in dem Göttinger Häuserschatten nicht auszuhalten war.
Der Himmel hatte die Hannoveranerfarben eingezogen, war morgens rot, mittags blau und abends gold, und die Erde steckte sich ein paar Blütenbäume an jede Hügelfalte. Die mürrischsten alten Zäune setzten irgendein paar grüne Zweiglein auf, die bemoosten Ziehbrunnen krächzten nicht mehr, sondern versuchten sich in einer Art Gesang, so gut er eben Ziehbrunnen gehen wollte. Auf den Bleichen blähte und bauschte sich die Wäsche und wurde so blendend weiß, wie noch nie zuvor in diesem Jahr, als sei sie für nichts als lauter jungfräuliche Unschuld bestimmt. Selbst Frau Gotthelfs, der Stadthebamme, Nachtjacken versuchten da mitzukommen und mühten sich ins blütenfarbene Weiß. Die Hühner legten den ganzen Tag Eier, eines um das andere, jedes von ihnen wollte das größte gelegt haben, und selbst bei Nacht sprachen sie noch davon in dem Traume. Aus dem Göttinger Straßenpflaster quoll das Gras in ganzen Büscheln, auf den Ziegeldächern hockten die blechernen Dachrinnendrachen, und wenn es niemand sah, schlugen sie mit den Flügeln und richteten sich auf den Schwänzen auf, um davonzufliegen.
Da trugen sie ihre Sehnsucht und ihre Wanderlust in das deutsche Land hinaus: Bismarck selbneunt, mit Wuthmann und Jäger, Oldekop und Rautenberg und ein paar guten Bekannten von den Braunschweigern.
Die Ranzen waren nicht schwer, die Knoten lagen fest in den Fäusten, die Stiefel waren derb gesohlt, die Pfeifen sauber geputzt, und vorn baumelte der Tabaksbeutel mit den Schnüren in den Korpsfarben.
In den Dörfern liefen die Kinder zu den Zäunen, wenn die Wanderburschen kamen, Lied und Schritt im selben Takt, und die Wirte schoben sich aus den breiten Toren. Alle diese Löwen- und Bären- und Lamm- und Grüne Kranz-Wirte nahmen die Sammetkäppchen ab und legten sie vorn auf die Schürzen, und da die Studenten ein gutes Herz hatten und in diesen Tagen ein großer Durst in den Sternen stand, gingen sie auch selten an einem Haus vorbei, wo der Herrgott den Arm ausreckte. Wie es einem ordentlichen Geographen auf die Wasserläufe ankommt, so ergänzten die Pfingstwanderer die Wissenschaft vom deutschen Land durch Untersuchung der Bierläufe und der trinkbaren Weine.
Die Wälder rauschten ihnen in ihren Weg, und es kam vor, daß sie ganze halbe Tage verloren, indem sie auf Waldblößen lagen und auf die blauen Falten hinaussahen, die Deutschland warf. Das war Thüringen, das Herz Deutschlands, wohin alles drängte, was ins Blut des Volkes wollte. Von hier aus gingen tausend Adern bis in die entlegensten Hütten, wo man noch deutsch verstand und deren Nachbar schon russisch oder polnisch oder dänisch oder französisch oder welsch oder ungarisch sprach. Was hier an Säften gekocht wurde, das floß im großen unsichtbaren Netz, ungehindert durch die Grenzen und Grenzlein bis zu den Wartenden und Hoffenden, die nicht irre werden wollten.
Hier im Herzen Deutschlands hatte Luther Eisen in sein Blut getan und Schiller Feuer und der Große, der im vorigen Jahre erst gestorben war, das Lächeln der Weisheit.
Bei Luther begannen sie und die Wartburg war, als ob in ihr alles ans Licht gestellt sei, was wort- und gestaltlos in ihren Seelen gelegen hatte. Da war alle Heimlichkeit von altem Winkelwerk, in dem man bergen konnte, was man nicht sehen lassen wollte, da war die mühevolle Arbeit in Stein und Glas wie liebe Gedanken, an denen man hängt, weil sie eben so mühevoll sind, da waren enge Stuben, und bisweilen sprang irgendein geschnitzter oder gemeißelter Kobold vor, wie einem manchmal ein derber, übermütiger Spaß einfällt; über allem aber standen die Türme, wuchsen aus Giebeln und Zinnen, zum Blick übers Land.
In Luthers Stube kratzten sie ein wenig Mörtel von der Wand, dort, wo das Tintenfaß getroffen hatte, das nach dem Teufel geflogen war. Der Kastellan ließ es lächelnd geschehen, er meinte, der Tintenfleck müßte ohnehin alle paar Jahr einmal erneuert werden, aber es könne nicht schaden, wenn recht viele Deutsche meinten, sie hätten das echte Lutherpulver im Sack.
Freilich sei auf der Wartburg auch ein anderes Pulver bereitet worden, das sei weniger gut für das deutsche Volk, denn es gehe vorzeitig los, wie sich vor kurzem im Anfang April auf der Frankfurter Hauptwache gezeigt habe.
Bismarck lächelte, der Kastellan möge es nur gehen lassen, so recht er habe, vielleicht sei doch etwas Gutes an dem Wartburgpulver, man könne das nur noch heute nicht so wissen. Dann, als sie wieder im Schloßhof standen, sagte er mit einem Besinnen: »Es fällt mir eben ein. Ich bin genau so alt wie die Burschenschaft. Wir sind beide im Jahre 1815 geboren.«
Auf dem Inselsberg fanden sie in geschützten Mulden noch Schnee. Da gab es unter der heißen Sommersonne noch eine kleine Winterschlacht; die Ballen klatschten auf Röcke und Gesichter, Jägers schöner Pfeifenkopf aus Meerschaum fand den Heldentod, Ariel raste wie besessen zwischen den Beinen von Freund und Feind, warf sich schließlich, als das Gefecht schon beendet war, im Schnee auf den Rücken und rieb sich krampfhaft hin und her, mit verrenkten Beinen und verdrehten Augen, als sei er abgestochen worden.
Über Gotha und Erfurt kamen sie nach Weimar. An der Ilm war da ein lustiges Winkelwerk zusammengeschachtelt, nur das Schloß hielt sich die gedrängte Bürgerschaft ein wenig vom Leib. Mitten in der Stadt aber, mit der braven Alltäglichkeit zu Nachbarn, lag ein Haus, geräumig und doch nicht übermütig, vor dem wurden sie alle stumm und befangen.
Es wies sich, daß sie Glück hatten, die Besitzer waren verreist, und man gestattete ihnen die Besichtigung.
Bismarck trennte sich von den andern und ging ein Stück hinter ihnen drein. Sie zogen doch eine Schleppe von Fragen und lautem Wesen nach, drängten den Räumen ihre Jugend auf, und da war es, als müsse man sich auf sich selbst zurückziehen, wenn man etwas von dem Geist empfangen wolle, der hier lebte. Dieses Haus war aus dem Einfachen ins Große gezogen, das Freundliche war dem Feierlichen eng benachbart; man sah die Schätze, die ein reiches Leben zusammengetragen hatte, und gleich neben den Zimmern, in denen die Welt zu Goethe gekommen war, lagen die engen und dürftigen Stuben, in denen das Gestalt gewonnen hatte, was er der Welt sagen wollte.
Was ein lautes und starkes Leben sei, glaubte Bismarck zu wissen, hier war er bei einem stillen, aber noch stärkeren Leben zu Gast.
Mittagsstille brütete im Garten. Eine schwarze Katze stieg mit weichen Pfoten über den flirrenden, gelben Sand, schaute mit schiefgehaltenem Kopf nach einem Baum, in dessen Gezweig eine schwarze Amsel hopste, verzog sich zwischen Reseden und Buchsbaum. Durch das offene Fenster des Arbeitszimmers kam eine Biene, schwirrte mit glashellen Flügeln, sank dann auf das Tintenfaß, von dem der Führer gesagt hatte, es stehe noch so da, wie es Goethe verlassen habe. Das kleine Flügelwesen kroch den Rand entlang, zu beiden Seiten des braunen Körperchens war ein heftiges Schwirren, als seien ihm hier zwei Stückchen Sommerhitze an den Leib gewachsen. Eine alte griechische Sage fiel Bismarck ein, von einer Biene und einem Helden, selig lächelte er über seine Ungelehrtheit, die ihm den Namen barg. Als stünde er vor den Augen eines gütigen und verzeihenden Lehrers, der sich nicht darüber erzürnte, wenn den anderen sein großes Wissen fehlte.
Irgendwo, in einem anderen Raum des Hauses hörte er die Kameraden rumoren. Das war aber gar nichts Störendes, das war nur ein abgetrenntes Stück dieser Harmonie, das nach einem Umweg wieder zu ihr zurückkehren mußte. So mündete alle Unruhe wieder in Ruhe und seliges Einssein.
Es war ganz seltsam, aus den vielen großen und guten Büchern, die den Namen dieses Mannes trugen, aus den hundert Worten und Geschichten, die noch von ihm im Umlauf waren, hatte er sich jetzt keines einzelnen entsinnen können. Ein Unzertrennbares war dieses Ganze; dieser Hauch der Mauern, der starke, herbe Duft der Arbeit, der in diesem Raum lag, das Schwirren der Biene, der goldene Sonnenstaub, alles floß in eine beglückende Gewißheit zusammen. Auch diese Gewißheit hatte keinen Namen, sie drang in ihn und quoll gleichzeitig aus ihm empor, war sein Blut, seine Nerven, sein Hirn, Farbe und Licht der Welt.
Hier schlug – das – Herz – eines Volkes.
Hier war sein Innerstes, sein Heiligstes.
Bismarck verlor alles Begrenzende; tief ergriffen, erschüttert, überwältigt faßte er den Rand des großen Tisches, an dem er stand, an dem Eckermann geschrieben hatte, fühlte das feste, harte Holz. Aber dieses Holz lebte, es lebte wie die Bäume, die noch den Saft der Erde trinken, es pulste unter seinen Fingern, der Geist war in ihm, es war durchtränkt von Ewigkeit …
Bismarck biß die Zähne zusammen, des Menschentums strahlende Heiligkeit dunkelte in seinen Augen …
Hier – schlug – das Herz – der Welt …
Die englischen Kränzchen nahmen ein Ende mit Schrecken.
Das Harrisonsche Familienidyll schloß mit einer Explosionskatastrophe.
Kein Mensch hatte eine Ahnung gehabt, daß das Behagen unterminiert sei, daß die Gemütlichkeit so jäh in die Luft fliegen könne.
Eines Tages erschien zum Nachmittagstee ein älterer Herr, ungeladen, zog eine Hundspeitsche unter dem Rock hervor und schlug mit ihr auf den Tisch, daß die dünnen, japanischen Tassen auf die Erde sprangen.
Frau Harrison war beim Anblick dieses Mannes in Ohnmacht gefallen. Mister Harrison war schreckensbleich aufgesprungen und hatte beschwörend seine Arme vorgestreckt. Der ältere Herr aber benahm sich wie ein Cowboy, fuhr fort mit der Hundspeitsche zu fuchteln und drohte, er werde das nichtsnutzige Frauenzimmer schon durch ein paar Jagdhiebe zu sich bringen.
Darauf begann Coffin mit den Augen zu rollen, spuckte ins Ofenloch und ging auf den älteren Herrn zu, indem er ihn fragte, was ihm lieber sei, sofort die Tür von außen zuzumachen oder seine drei besten Backenzähne zu schlucken. Bismarck näherte sich dem Lärmmacher von der anderen Seite und wünschte zu wissen, ob er die Konsequenzen dieses unglaublichen und empörenden Vorgehens tragen wolle.
Der ältere Herr aber ging weder auf den Göttingenschen, noch auf den wildwestlichen Komment ein.
Es stellte sich heraus, daß dieser ältere Herr Mister Frank Harrison war, der Vater von Mister Fred Harrison, und daß die Dame, die noch immer in Ohnmacht lag, keineswegs Frau Harrison war, sondern Miß Mary Stevens von der Eden-Hall in London. Die Verbindung der beiden jungen Leute war weder in näherer, noch in fernerer Vergangenheit durch den behördlichen Leim zusammengefügt worden; Frank Harrison war nach den geltenden moralischen Normen vollkommen berechtigt, entrüstet zu sein, wenn auch die Hundspeitsche ein vielleicht etwas starker Ausdruck dieser Entrüstung war.
Am nächsten Morgen war der Harrisonsche Haushalt aufgelöst; Fred Harrison wurde noch einmal, bleich und düster, an der Seite seines Vaters im Postwagen erblickt, Frau Mary aber mußte schon vorher bei Nacht und Nebel abgezogen sein.
Zu dieser Enttäuschung, die von Bismarck mit dem Gefühl getragen wurde, hier sei an den geltenden moralischen Normen etwas nicht ganz in Ordnung, kam noch ein anderer Verdruß.
Ein Steinchen war ins Rollen gekommen, eine Lawine war niedergefahren.
Auf dem Mensurboden war ein Streit entstanden, irgend jemand sollte irgend jemanden gestoßen haben. Da war man mit dem Verruf angerückt, und im Seniorenkonvent der Göttingenschen Korps trennten sich die Parteien. Lüneburger, Mecklenburger, Hannoveraner, Bremenser, Hildesen und alle anderen fuhren einander in die Haare wie ihre Vorfahren anno Völkerwanderung. Der Lärm war groß, und dem Göttinger Philisterium, dem alle akademischen Angelegenheiten in Kopf und Tasche wirkten, klangen die Ohren. Der Senat aber mußte davon Kenntnis nehmen, daß die Korps da waren, sehr gegen alle Verordnungen und gar nicht als die harmlosen Vereinigungen zu wissenschaftlichen und geselligen Zwecken, wie sie höchstens hätten sein dürfen, sondern mit Saufen und Raufen, Farben und Mensuren und allem staatsverdächtigen Unfug.
Denn von Hambach und Frankfurt, wo man die Hauptwache gestürmt hatte, war eine Wetterwand über Deutschland herangewachsen, und es war auch in Göttingen schwül geworden für Schuldige und Unschuldige.
Es kam ans Licht, was da an verbotenen Dingen geschehen war.
Die meisten Korps hatten fortbestanden, obwohl sie die vorgeschriebene Anmeldung unterlassen hatten.
Es hatte Vorfallenheiten gegeben, bei denen zwei Personen, mit den Waffen in der Hand, auf ungesetzlichem Wege, in Form eines Duelles sogenannte Ehrenangelegenheiten ausgefochten hatten.
Und die Senioren der Korps waren gegen alle strengen Verwarnungen zu einem Seniorenkonvent zusammengetreten.
Die meisten Vernommenen wußten von nichts, hatten niemanden gesehen, waren nirgends gewesen, verstanden nicht, was man von ihnen wollte.
Einer aber sagte Ja und das und das sei geschehen und er nehme als Senior seines Korps die Verantwortung auf sich. Das war Otto von Bismarck. Es war ihm aus dem Harrisonschen Familienbrand ein Grauen vor aller Unaufrichtigkeit verblieben, das Geheimniskramen auf der einen und das Wichtignehmen auf der anderen Seite schien ihm in keinerlei Verhältnis zur Bedeutung der Sache selbst zu stehen. War man denn – zum Himmeldonnerwetter – eine Verschwörerbande, daß man sich ducken mußte, und daß die Universitätsdeputation, der die Untersuchung solcher hochpolitischer Angelegenheiten zustand, die ganz große Inquisitorenmiene aufziehen durfte? Was war geschehen? Die gebotene Anmeldung zu Semesterbeginn war unterblieben! Man hatte mit den Waffen in der Hand, in Form eines Duells, und so weiter …! Gut, hier stand Otto von Bismarck, Senior der »Hannovera«, bereit, die Strafe auf sich zu nehmen.
Man bekam das consilium abeundi, und zwar gleich doppelt, einmal wegen Teilnahme am Duell, das andere Mal wegen Zugehörigkeit zu einer verbotenen Verbindung, man erhielt im ganzen sieben Tage Karzer, saß vier davon ab, die »Hannovera« löste sich auf. Aber es schadete keinem der Beteiligten.
Dann aber kam das Niederträchtige.
Auf dem Karzer fand man neben dem Namen des Jüngstgesessenen Otto von Bismarck von fremder Hand ein Wort: Petzer. Das war ein Wort mit Widerhaken und Stacheln, das sich wie eine Zecke an die Seele fraß und ein Geschwür erregte, das war ein glimmendes, heimtückisches Wort, wie Zunder auf eine offene Wunde.
Damals erschraken Bismarcks eigene Korpsbrüder vor ihm.
Er suchte den frechen Beleidiger, wühlte die ganzen Göttinger Korps um wie eine Maulwurfswiese, siebte seine Freunde und Feinde siebenmal, nahm das Ehrenwort zu Hilfe.
Und als er den Verleumder nicht fand, war ihm Göttingen verleidet, so daß er sich entschloß, die Stadt zu verlassen.
Der Abschiedskommers fand im September statt, draußen in Weende, wo man sich vor Büttel und Pedell keinen Zwang anzutun brauchte; denn es sollte noch einmal ins Tolle und Volle gehen, alle Quellen sollten aufspringen und die Freundschaft mit Wein getränkt werden.
Der Abend war herbstlich überreift, manche saßen im Mantel um die ins Freie gestellten Tische. Die Lichter in den Flaschenhälsen machten lange Zungen, kauerten sich dann wieder klein zusammen oder krochen gar verängstigt die Flasche hinab. Man kämpfte mit Wein wacker gegen die Kühle, aber trotzdem drang es von außen her immer wieder erkältend ein. Alle Freunde Bismarcks waren da, auch die nicht zum Korps gehörten. Unten saßen Motley und Graf Keyserling als Nachbarn. Bisweilen sahen sie zwischen zwei fauchenden Flammenzungen das Gesicht Bismarcks, der oben neben Dammers präsidierte. Es war in flackerndes Licht getaucht und sprühte selber Übermut. Er riß die Füchse hin, die brüllten und johlten ihm zu.
»Sie gehen auch nach Berlin?« fragte Graf Keyserling.
»Ja … ich will Savigny hören!«
»Es wird Bismarck lieb sein, daß er Sie auch dort in seiner Nähe hat. Sie kennen ihn gut.«
Motley lächelte fein: »Ich kenne ihn gut. Aber ich kenne ihn nicht. Es steckt viel in ihm. Wir haben manchmal ganze Nächte hindurch gesprochen, über alles auf der Welt. Aber hören Sie, ich weiß das von Grimm, Sie haben da so einen Sagenhelden, der heißt Dietrich von Bern, an den erinnert mich unser Bismarck immer. Er hat lange Geduld. Er trägt alles versteckt in sich, macht nichts daher, weiß es vielleicht selbst nicht – bis es auf einmal aus ihm herausbricht, dann aber gibt es kein Halten und keinen Widerstand.«
Der Graf umspannte sein Weinglas. »Prosit, Motley! Sie haben recht, es war ein Glück für den Kerl, der Bismarck einen Petzer genannt hat, daß er nicht gefunden werden konnte. Auch ein Glück für Bismarck. Diesmal wäre es ohne Pistolen nicht abgegangen.« Er sah, im knackenden Gartenstuhl zurückgelehnt, in den Nachthimmel. »Wissen Sie, Motley, ich habe auch alle Lust, nach Berlin auszuwandern. Mich geht's nichts an, ich bin Russe und kein Korpsier. Aber der akademische Senat hat mir hier seit Frankfurt die Hosen zu voll.«
Halbwegs zwischen Himmel und Erde brach ein wüstes Gepolter los. Etwas kam aus der Finsternis angesaust, fuhr mit Donnergetöse über eine schiefe Ebene, zwischen Zweigen durch, setzte im kurzen Schwung durch die Luft, fiel wie eine Bombe an der Tafel nieder, Wehnern aus dem Lande Hadeln mit zu Boden reißend. Der nächtliche Luftspringer war Otto von Bismarck, der in einem Futtertrog über das Dach des Schweinestalles herabgefahren war. Und jetzt donnerte es hinter ihm drein, er hatte den Füchsen neue Bahnen gezeigt. Es wurde eine Volksbelustigung: man stieg hinten herum auf einer Leiter auf den Schweinestall und fuhr auf dem Futtertrog über das Dach.
Stietencron erhob sich, eine Weinflasche in der einen Hand und ein Licht in der andern. Er hielt eine Rede auf die Gravitation in ihrer besonderen Anwendung durch Bismarck. Seine Sätze waren nicht mehr ganz fest im Scharnier; er fuchtelte mit dem Licht … dieses Licht, das auch Columbus aufging, als er Amerika entdeckte, war durch Bismarck wieder in die Welt gekommen … es war nicht anzunehmen, daß er es jemals wieder mit seinen eigenen Worten zu einem annehmbaren Verhältnis bringen werde, und so mußten die Beziehungen zwischen Columbus, Bismarck und der Gravitation, trotz des Lichtes in Stietencrons Hand, wohl ewig dunkel bleiben.
Der Wirt kam suchend herbei und lockte Bismarck durch heimliche Winke hinter die Büsche. Jemand sei da, der ihn zu sprechen wünsche.
Ein Fuchs fuhr eben mit einem brennenden Besen über das Schweinestalldach. Etwas Geducktes näherte sich. »Die Herren sind lustig,« sagte Leib Seelenfreund, »einmal möcht' ich so lustig sein für mein Geld.«
»Sie wollen Ihr Geld, Leib Seelenfreund?« sagte Bismarck, »Sie sollen es haben.«
»Gottes Segen über Sie, lieber Herr von Bismarck, so soll ich leben und gesund sein.«
»Sie kriegen Ihr Geld, Seelenfreund, aber nicht gleich.«
»Was heißt, nicht gleich? Warum nicht gleich? Wann denn? Ich komm' heraus nach Weende, damit ich mein Geld krieg'. Denn wenn ich komm' morgen, so liegen Sie noch im Bett, und wenn ich komm' übermorgen, so heißt es, Sie sennen gegangen, wegzufahren nach Berlin.«
»Leib, Sie bekommen Ihr Geld, sag' ich Ihnen. Jetzt kann ich es Ihnen nicht geben.«
»Warum nicht, Herr von Bismarck? Hat Ihnen Ihr Vater nicht Reisegeld geschickt? Er muß Ihnen haben geschickt. Was macht's Ihnen aus: nehmen Sie die zweihundertfünfzig Gulden davon; geben Sie mir das Geld und mir ist geholfen.«
Bismarck lachte leise: »Sie glauben doch nicht, Leib, daß Sie der einzige sind?«
»Aber ich bin der einzige, dem Sie werden gleich bezahlen. Hab' ich Sie nicht immer gut bedient?«
An der Kneiptafel entstand ein Gedröhn. Sie schlugen mit den Knoten über die Tische und brüllten dazu tut Zweitakt: »Bis–marck … Bis–marck …«
»Herr von Bismarck, geben Sie mir zweihundert Gulden … wenn Sie mir dann noch schicken sechzig aus Berlin, wart' ich Ihnen noch zwei Monat!«
»Bis–marck … Bis–marck!«
»Da steckt er,« sagte Dammers, indem er um den Busch bog. »Wen hast du denn da? Seelenfreund? Apage satanas!« Dammers zog den Freund mit sich.
»Herr von Bismarck,« lamentierte Seelenfreund nebenher, »so soll ich leben …«
»Schsch!« machte Dammers, »Seelenfreund, Abzug! Ich schrei's sonst aus, daß Sie da sind. Und die Füchse sind heute scharf. Hören Sie nur!«
»Bis–marck, Bis–marck!«
Leib Seelenfreund blieb in Nacht und Dunkel hinterm Busch zurück, Dammers und Bismarck bogen ins Geflacker und Gejohle. Man sah Stietencron mit Weinflasche und Licht, hoffnungslos in die Schwierigkeiten seiner Rede verstrickt.
»Otto,« sagte Dammers leise, »ich muß dir auch noch von Herzen danken, daß du diese böse Geschichte auf dich genommen hast. Wenn's herausgekommen wäre, daß du gar nicht Senior warst, sondern ich, so wär' ich geflogen. Das Konsilium hatt' ich schon. Das war ein braves Stück von dir.«
»Dammers,« sagte Bismarck wie aus einem anderen Lande her, »und jetzt … jetzt ist es aus. Jetzt geht die Streberei an und dann das graue Elend bei den Perrücken. Ich möchte wenigstens irgendwohin an den Rhein. Und wie mich die Manichäer in den Klauen haben, hast du ja auch gesehen.«
Wuthmann kam mit der langen Pfeife, schielte in den Kopf, stopfte mit dem Finger nach. Er machte sein allergrimmigstes Gesicht; die Nase hing ihm wie ein nasser Lappen nieder. »Leibfuchs,« knurrte er, »hast du deine Schreibklaue mit? Du mußt mir was ins Album schreiben.« Er packte ein kleines Tintenfaß aus, das die Form eines Apfels hatte und in zwei Hälften auseinandersprang, wenn man an einer Feder drückte. Und ein ganz nagelneuer Kiel kroch aus dem Wams, ein scharf geschnittener Kiel mit einem schönen, weißen, ein wenig zerzausten Bart.
Auf Bismarcks Platz lag ein kleiner Strauß von Astern.
»Eine zarte Spende,« bemerkte Gustav Scharlach. Wuthmann legte sein Stammbuch vor den Leibfuchsen hin, ein schmales und längliches Büchlein, dessen Einband die Farben Rot-Blau-Gold wies und die verschlungenen Initialen: Vivant fratres hannoverani conjuncti. Bismarck blätterte langsam bis zur ersten leeren Seite.
Wuthmann sog an der kalten Pfeife. Er nahm Stein und Stahl aus der Tasche, legte den Zunder kunstgerecht an, hieb einen kleinen Funken los, zog den Brand in den Tabak ein. Mit leisen Strichen begann Bismarck zu schreiben:«
»Stahl und Stein!
Schlag drein,
So hast du Wärme, hast hellen Schein!
Härte dir Hand und Herz in Ruh,
Stahl sei du!
Gott schickt dir schon die Steine dazu!«
»Leibfuchs!« sagte Wuthmann. Er nahm sein Glas. »Einen Kuhschluck.« Der Wein schwand, das Glas flog im Bogen durch die Nacht, man hörte es nicht niederfallen, es war, als sei es von der Finsternis verschlungen worden.
Jemand weinte in der Nähe. Das war Stietencron, der saß da, den Kopf in den Händen, und seine Rede löste sich ihm ins Tropfbarflüssige.
Bismarck sah aus. Stine, die Wirtstochter, stand im halben Schatten, zwischen dem Haus und der lärmenden Tafel. Mit einem leisen Nicken dankte er für die Astern.
Unten begannen sie zu singen, es schwoll um die Tische und hüllte Bismarck ins Brausen:
»Wenn alle untreu werden, so bleiben wir doch treu …«
Wenn etwa einer von Kniephof nach Rom wollte, dann ist es so: bis Naugard geht's, aber dann zieht sich der Weg.
Sehr ähnlich ist es, wenn ein Kniephofer Junkerlein preußischer Diplomat werden will: bis zum Regierungsreferendar in Aachen wär' es es ja gegangen, aber was dann noch kommt, das ist gewiß weiter als von Naugard nach Rom. Und wenn schon das, was vorher lag, den pommerschen Landwegen auf ein Haar gleicht, mit Gerumpel und Steckenbleiben und Steifebeinekriegen, mit Schwitzen und Fluchen und Langweiligkeit, wie mag das erst sein, was man noch zu erwarten hat. Nach des Herrn Ministers Antillen Rat und Wunsch, der bei einem solchen gebietenden Herrn nicht viel anderes als ein Befehl ist, kommt dann erst noch die Einführung in die Zollvereinsgeschäfte, ehe man in die deutsche Diplomatie Preußens eintreten kann. Denn um die Befähigung zum Dienst in der europäischen Diplomatie zu haben, dürfte man kein preußischer Landjunker sein, sondern etwa der Sohn irgendeines am Hofe zu Berlin angeschriebenen fremdländischen Gesandten, eines Franzosen oder Russen. Im Grunde kommt es gar nicht darauf an, ob man ein warmes Herz und ein klares Hirn hat, in denen das Vaterland und seine Dränge lebendiges Gefühl und scharfer Begriff werden, sondern ob einem das Maulwerk gut mit dem französischen Schmieröl gesalbt ist. Es macht auch nichts aus, ob man etwas zu berichten hat, was Hand und Fuß hat, wenn der Bericht nur in einem eleganten Französisch geschrieben ist, also, daß man nicht etwa zu schreiben braucht, was das Wichtigste wäre, sondern das, wofür einem die geschmeidigsten Phrasen zur Verfügung stehen.
Das war Otto von Bismarcks Abrechnung, und so oft er das Exempel überprüfte, es kam nichts anderes dabei heraus.
Ein langer Weg, und am Ende der Laufbahn würde man etwa den Greizern oder den Lippe-Detmoldern in die Töpfe gucken dürfen, anstatt aus dem großen europäischen Kessel für Preußen ein paar anständige Brocken herauszufischen.
Solche Bilanzen beflügeln den Eifer nicht, und wenn nicht einer aus Königsberg einem so ein niederträchtig scharfes friderizianisch-preußisches Eisenpulver in den inneren Menschen gestreut hätte, so möchte man am liebsten den ganzen Quark mit einem Hallo herunterhudeln und in das rheinische Leben hineinlaufen.
Es ruft und singt und knallt ja vor den Fenstern, als sollte die königlich preußische Regierung in lauter Lustbarkeit aufgelöst werden.
Bismarck ließ den Akt des Schuldenparlaments, der von der Bestallung eines neuen Lehrers in Vossenack und von der Notwendigkeit der Reparatur des durch Regen schadhaft gewordenen Schuldaches handelte, auf dem Schreibtisch liegen und trat an das Fenster. Die Badeverwaltung, stets bemüht, dem Aachener internationalen Publikum Unterhaltung und Abwechslung zu bieten, sandte einen Aufzug durch die Straßen. Der Übermut steckte sich den Anlaß eines Sommerfestes vor, und in dem Zug unten war genug guter Laune, um irgendeine andere, schwerere preußische Provinz vollkommen auf den Kopf zu stellen. Da kamen zuvörderst sechs Herolde auf breiten Pferderücken, die bliesen auf Blechinstrumenten so mörderisch falsch, daß man sogleich verstand, warum ihnen keine nervösen Renner gegeben worden waren, sondern müde Frachtpferde, die nach des Tages Arbeit zu Eskapaden keine Lust mehr hatten. Dann folgten vierundzwanzig flinke Stubenmädchen, mit Häubchen und Schürzchen und klappernden Stöckelschuhen, das sauberste Franzosenzeug, das in Aachen aufzutreiben war, die taten so, als fegten sie mit Besen die Straße rein. Was da hinter ihnen herkam, dem sie den Weg bereiteten, das war ein schwankendes Gebäude aus Pappe, Holz und Leinewand. Es lief auf Rädern, hatte einen schwarzen, walzenförmigen Leib, schob seitwärts einen langen, gelenkigen Arm auf und nieder und stieß aus einem hohen, schlanken Zylinderrohr schwarzen Rauch hervor. Hinter sich her zog das Ungetüm eine Art Postwagen auf gelben Rädern, in dem hatten sich alle Nationen zusammen gefunden, so wie man sie in den Witzblättern abgebildet sehen konnte. Der lange Engländer in tariertem Anzug und Feldstecher, Reisebuch und Schleier, das kokette Frankreich als junge Dame mit einer Jakobinermütze, der Russe mit struppigem Bart, Pelzkappe, Knute und Wutkiflasche, der Italiener mit Radmantel, schwarzem Kinnbart und spitzem Banditenhut. Am besten war auch hier wieder der edle Pole weggekommen; man hatte nicht das Herz gehabt, die unglückliche Nation zu verspotten, und so genügte es, daß ein hübscher junger Mann im polnischen Schnürrock ein wehmütig-tränenfeuchtes Gesicht machte.
Die Zuschauer wußten sogleich, worauf der Spaß hinauslief.
Das Fahrzeug, in dem diese internationale Gesellschaft von zwei Paar Pferden dahingerüttelt wurde, war nichts anderes, als eine Darstellung der neuen Dampfschienenbahn. Besonders zwei Gestalten der figurenreichen Gruppe erregten den Beifall zu lautem Gelächter. Die eine war ein kleiner, untersetzter Mann, der vorn auf der Lokomotive saß und unaufhörlich mit einer Glocke läutete, und jeder Mensch in Aachen erkannte sogleich Herrn David Hansemann, den bekannten Vorkämpfer der Dampfbahnen wie aller Neuerungen überhaupt. Die andere aber war ein Bäuerlein mit rotem Regendach, Wasserstiefeln und heraushängendem Schnupftuch, das niemand Bestimmtem glich und doch allen gut bekannt war. Es fühlte sich ohne Zweifel in dem Wagen hinter dem schwarzen Ungeheuer höchst unbehaglich, schrie wie am Spieß, streckte Arme und Beine aus dem Fenster wie ein Ertrinkender, und das bedeutete wohl nichts anderes als das Mißtrauen und die Angst der Landbevölkerung. Bisweilen gelang es dem Bäuerlein, aus dem Wagen zu entkommen, aber dann eilte sogleich der falsche David Hansemann herbei, läutete mit seiner Glocke und trieb den widerspenstigen Passagier, während man ihn von hinten an den Schößen zerrte, gewaltsam wieder in das Vehikel zurück.
Hinter dem schmerzensreichen Dampfdrachen kam noch ein langer Zug, über dem man allerlei Puppen baumeln sah; hohe Wagen, aus denen Garben von Blumen in die Menge flogen; dazwischen wirbelte und flog es von raschen, schlanken Jungen in prall sitzenden, gelb und schwarz gestreiften Flügelgewändern, in denen sie Wespen vorstellen mochten, und die machten ein Schäumen und Prickeln in der Menge wie die Perlen im Champagner.
»Den Teufel merkt das Völkchen nie, und wenn er sie beim Kragen hätte,« sagte jemand hinter Bismarck, und das war der Herr Präsident Graf Arnim, der aus seinem Bureau getreten war. Die Kollegen duckten sich und schlichen als ertappte Sünder zu ihren Schreibtischen zurück.
»Sehen Sie, Herr Graf,« sagte Bismarck und deutete auf den Zug hinunter: »Das sind wir in der Vorstellung der Aachener.«
Da kam eben ein absonderliches Monstrum vorbei, das hatte einen ungeheuren Bauch wie eine Sparbüchse und einen Kopf wie ein Kamel mit einer Perücke! – Angetan war es mit einem Gewand aus Papierfetzen, auf denen überall zu lesen war: Verordnung, Reskript, Gesetz, Erlaß; in dem Sparbüchsenbauch war ein Schlitz angebracht, über dem geschrieben stand: Steuern. Ein Mann stand auf dem Wägelchen vor dem Moloch und fütterte ihn durch den Steuerschlitz mit großen runden Silberstücken; damit man aber auch sehe, was aus dem guten Geld werde, flatterten am andern Ende des Monstrums aus einem ähnlichen, nur unbeschriebenen Schlitz unausgesetzt Papiere hervor, Reskripte, Erlasse, Entscheidungen, Memoranda, Berichte, Verordnungen.
Mit keinem Wort war darauf hingewiesen, aber jedermann wußte es ohne Erläuterungen, daß man in diesem Mondkalb die königlich preußische Regierung vor sich hatte, und wo das Ding vorbeizog, zeigte der johlende Zuruf, daß man die Anspielung zu schätzen wußte.
»Man amüsiert sich auf unsere Kosten,« sagte der Vizepräsident von Mallinckrodt, der einen halben Respektsschritt hinter dem Grafen stand, »es wird notwendig sein, den guten Leuten zu zeigen, daß wir unserer Aufgabe gewachsen sind.«
Bismarck schien etwas entgegnen zu wollen, besann sich, daß es ihm nicht zustände, und verbiß das Wort.
»Sprechen Sie nur,« sagte der Präsident, der Bismarcks Regung bemerkt hatte, »was meinen Sie, sollen wir dreinfahren oder gewähren lassen?«
»Wenn es mir vergönnt ist, meine Meinung zu sagen, so will ich nicht verhehlen, daß ich glaube, wir sollten lieber weniger regieren als mehr. Das Volk hier hat ein leichtes und flüssiges Blut, Jahrzehnte lang hat es eine Regierung kaum gespürt; es giebt viele, die der vergangenen französischen Herrschaft noch heute nachtrauern; die ältere Generation sagt noch jetzt, sie fahre nach Deutschland, wenn sie über den Rhein fährt, und die Rekruten freuen sich wenig, wenn sie zu »den Preußen« müssen. Wir sind hier in einem Prozeß der Amalgamierung begriffen, den wir durch Gewaltmaßregeln nur stören können. Ich glaube, wenn wir etwas erreichen wollen, so wäre es gut, daß sich eine königlich preußische Regierung sozusagen von ihrer liebenswürdigsten Seite zeigte.«
Auf des Herrn von Mallinckrodt gelbem Gesicht stand der helle Ärger. »Sie haben seltsame Ansichten von den Aufgaben einer Regierung, Herr Referendar. Wenn es nach Ihnen ginge, so lüden wir die ganze renitente Bande alle Wochen einmal zu einem Champagnerfrühstück. Die Regierung hat keinen Anlaß, liebenswürdig zu sein, ehe hier nicht alles bis auf die Knochen preußisch ist.«
»Ein circulus vitiosus,« erlaubte sich der Referendar lächelnd zu bemerken.
Der Graf hob die feine Hand. »Genug, meine Herren, heute abend lösen wir die Frage nicht mehr. Vergessen Sie nicht, Herr von Bismarck, daß heute Montag ist. Um acht Uhr, wenn ich bitten darf.«
Dann ging er hinaus, vom Herrn Vizepräsidenten mit kleinen Schritten im gebührenden Abstand gefolgt.
Auf der Treppe sagte Mallinckrodt im leisen Nachbeben des Ärgers: »Unser Referendar hat viel für die lustigen Rheinländer übrig. Er meint, wir müßten ihnen zuliebe französischen Charme lernen. Sie müssen lernen, sie, von uns … was das ist: Pflicht und Ernst, das müssen sie lernen.«
»Lassen Sie nur!« Der Präsident trat vor das Haus und sah die Straße entlang, auf der dem großen Festzug noch kleine Wellen lachender Menschen nachzogen. »Sie sind leichter als wir, aber sie sind nicht weniger tüchtig. Sie sind es nur in anderer Art. Was hier geleistet wird, ist nicht wenig; geben Sie acht, Lieber, in diesem Rheinland wächst etwas heran. Wie sich diese Menschen auf alles Neue stürzen, das ist ein Schauspiel, das zu denken gibt. Sie leben hier noch in der Enge und wollen doch in die Ferne wirken, sie sind Kleinstädter und Weltbürger zugleich. Es ist, als ob die Erde unter ihnen bebte und als ob der Dampf ihre Seelen spannte. Sie beschleunigen sozusagen das Tempo unserer Entwicklung, indem sie uns zwingen, mit ihnen Schritt zu halten.«
Aber Mallinckrodt hatte sich in den grünen Referendar verbissen: »Was Herr von Bismarck vertritt, das sind sehr liberale Anschauungen. Er holt sie aus ganz seltsamen Quellen, und ich glaube; das Lehrgeld, das er zahlt, steht in keinem Verhältnis zu dem, was er dafür gewinnt.«
»Haben Sie Ungünstiges gehört?«
»Man spricht eben dies und das. Aachen ist doch, wie Sie selbst sagten, auch Kleinstadt, und das scheint Herr von Bismarck immer zu vergessen. Ein Beamter soll den Mäulern keinen Anlaß geben, sich mit ihm zu beschäftigen.«
»Ich weiß, man bemerkt, daß er für das Ungewöhnliche einige Vorliebe hat. Er guckt hinter die Kulissen des Theaters und benimmt sich manchmal etwas auffallend im Parkett. Aber bedenken Sie, daß er den Studenten noch nicht weit hinter sich hat. Da siegelt es sich eben noch ein bißchen leicht; aber das ist bei ihm nicht etwa Mangel an Welt – denn er hat Welt, mein Lieber –, sondern das Bedürfnis, dem Spießbürger bisweilen eins hinter die Ohren zu geben. Aus solchem Most wird der beste Wein.«
»Ich wünsche es, Herr Graf,« sagte Mallinckrodt beflissen, »Wenn nur nicht etwa das Pflichtgefühl darüber den Schimmel kriegt.«
Da wurde der Chef wieder ganz unnahbar: »Haben Sie mir vielleicht amtlich eine Beschwerde zu melden, Herr Vizepräsident?«
Erschrocken lenkte der Tadler ein: »Nein … nein … es ist ja soweit alles in Ordnung. Er bewährt sich ja recht gut, und im Militärwesen hat er sogar Zufriedenstellendes geleistet. Wenn er sich einmal an gewissenhafte Pünktlichkeit und den strengen Geist des Dienstes ganz gewöhnt haben wird, so kann ein sehr brauchbarer Beamter aus ihm werden.« Und Mallinckrodt versenkte den Ingrimm bis auf gelegenere Zeit in sich und hob ein gefälligeres Gespräch über eine unter den Badegästen vielbemerkte russische Fürstin an die Oberfläche.
Im Amtszimmer des Schuldepartements wurden der Szene am Fenster subalterne Bemerkungen angehängt.
»Der Alte war ja heute sehr gnädig!«
»Mit Herrn von Bismarck ist er immer sehr gnädig!«
Und ein mühsamer Kletterer auf der Beförderungsleiter fügte für seinen Nachbar hinzu: »Junker und Junker … eine Krähe hackt der andern kein Auge aus.«
Bismarck antwortete nicht, ließ die schwierige Frage, ob das Vossenacker Schuldach einer Herstellung bedürftig sei, unerledigt und ging in den Juliabend hinaus.
Überall hingen Wünsche in der Welt, und hoch über ihnen, unerreichbar, standen die Erfüllungen, schmerzlich spannte die Sehnsucht. Er ging so langsam, daß er von einem Amtskollegen eingeholt wurde, der mit seiner Frau am Arm vorüberkam. Es war eine junge, hübsche Frau mit einem guten, stillen Gesicht, und das war das Hübscheste an ihr, wie sie abends immer in der Nähe des Amtsgebäudes auf ihren Gatten wartete. Aber Bismarck kannte auch die Leiden dieser jungen Ehe, die trotz ihrer kurzen Dauer schon in Schulden stak, er wußte, wie das Elend mit Aufgebot allen Stolzes getragen wurde. Er sah der jungen Frau nach, sie ging leicht und schön neben ihrem Mann, aber ihre Kleidung war dürftig, und Bismarck war einmal über einen Blick erschrocken, der zu sagen schien: »Warum kann ich nicht besser angezogen sein? Habe ich nicht ein Recht darauf?«
Da mußten alle Zukunftswünsche verblassen und verstummen. Schon einmal waren sie nach langem Kampf eingesargt und begraben worden. Und auch dieser neue Frühling mußte verdorren und verderben.
Er entließ seine Gedanken, sah ihnen eine Weile nach, wie sie auf kleinen Wölkchen zum Goldgebirge des Abends ritten, hinter dem der schwarze See der Nacht schwoll, und fuhr dann in den blauen Frack. Es war der Frack »Achundweh«, denn Bismarck hatte jedem Stück seiner Garderobe einen Namen gegeben, der das zusammenfaßte, was ihm bevorstand, wenn er es trug. Da war der braune, bequeme Rock »Juchheissassa«, der seinen Dienst hatte, wenn er in das grüne Hinterzimmer des »Großen Monarchen« ging, zu den leichten Stunden des Lebens mit Astley, Norcott, Savigny und Montebello. Der Rock, den er eben an Stelle des blauen in den Kleiderschrank tat, war an den Ärmeln etwas abgeschabt, um die Achseln verknittert, roch nach Staub und hieß »Beamtenelend«. Der tiefdunkelgrüne hinten im Schrank, der seit Monaten nicht mehr hervorgeholt worden war, hieß »Jelängerjelieber« und trug die bittersüße Erinnerung an eine unglückliche Liebe.
Der blaue Frack aber, der nur mit Seufzen angetan wurde, dieser Frack »Achundweh«, begleitete Bismarck in die große Welt der Empfänge, Teeabende und Hausbälle, und es war, als trüge er zwischen Stoff und Futter ein Pulver eingestreut, von der Art jener Gifte aus Tausendundeine Nacht, die, den persischen Königen im Kolben ihrer Ballschlägel oder zwischen den Blättern eines unschuldigen Buches beigebracht, Sinn und Wesen des Menschen vollkommen veränderten. So wurde auch Bismarck ein anderer, wenn er in diesen Frack fuhr, sein Körper rückte sich straffer zusammen, seine Zunge spitzte und schärfte sich, seine Augen schienen mit dem klaren Blick die härtesten Dinge ritzen zu können wie Glaserdiamanten, in seinem Gehirn arbeitete ein System kleiner Greifzangen, die erbarmungslos zupackten. –
Im Haus des Regierungspräsidenten Grafen Arnim war eine vornehme Würde daheim. Die Höflichkeit dieser allmontäglichen Empfänge wurde so kühl serviert, wie der vortreffliche Champagner, von dem es eine bestimmt abgemessene Anzahl Flaschen gab. So überstieg auch die Stimmung niemals einen gewissen Grad, konnte niemals zu rheinländischer Ungebundenheit ausarten, und wenn man nach Haus ging, so hatten die Aufgeschlossensten unter den Gästen das Gefühl, eine Annäherung sei versucht worden, aber auf halbem Wege sei man stehen geblieben. Das genügte für die Zwecke dieser Geselligkeit, denn man kam nicht ins Haus des Regierungspräsidenten, um Freundschaften zu schließen, sondern um einander kennen zu lernen. Nach einem bestimmten, vom Grafen sorgsam ausgearbeiteten Plan wurde alles in sein Haus geleitet, was Aachen an wichtigen Persönlichkeiten hatte, Industrie und Beamtenschaft, Adel und Bürgertum mischten sich hier für die Dauer eines Tanzabends, um nachher wieder in ihre streng gesonderten Betten zurückzufluten.
Die Gräfin, die für sich dem wärmeren Seelenklima zuneigte, empfing den Referendar Bismarck mit freundlich ungezwungenem Gruß. Dann fiel er sogleich in die mütterlichen Hände der weißhaarigen Gräfin Hompesch: »Wo bleiben Sie, Bismarck? Wo stecken Sie? Was treiben Sie? Warum sehe ich Sie nicht bei mir?«
»Das Examen, gnädigste Gräfin, man lebt nicht nur seinem Vergnügen.«
»Ich wünschte aber, mein Lieber, daß Sie das bißchen Vergnügen, das Sie sich gönnen, bei mir fänden. Aber ich bin Ihnen wohl schon ein wenig zu alt.«
»Frauen wie Sie werden nicht alt.« Es war aufrichtig, was Bismarck sagte, und die Gräfin dankte mit einem warmen Blick des Wohlgefallens.
Bismarck zog seine Bahn durch den Saal. An Mallinckrodt vorüber, der sich ein Lächeln des flüchtigen Bekanntseins um die dünnen Lippen zwang, an einem Dreimännerstein vorbei, auf dem der Graf Arnim, der echte David Hansemann und Ludolf Camphausen inmitten der Brandung der Gesellschaft standen. Sie sprachen von öffentlichen Dingen, und Hansemann hielt den Grafen beim Knopf, während er ihm die zehn Gebote des Freihandels in das Gehirn zu hämmern versuchte. Seine Glatze spiegelte das Kerzenlicht des Saales, und der Graf mühte sich, indem er den Kopf zurückbeugte, dem feinen Strom zerstäubten Speichels auszuweichen, der aus Hansemanns Mund sprühte. Bismarck konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Der aufgeregte David Hansemann stand vor ihm, der den widerspenstigen Bauern mit Gewalt in den Dampfwagen zerrte. Ludolf Camphausen mit dem Demagogenbart machte daneben den Eindruck mühsam gebändigter Ungeduld, er schien nur auf ein Atemholen Hansemanns zu warten, um sich durch die Lücke in die Debatte stürzen zu können.
Ein Blick lenkte Bismarcks Kurs, und Bismarck konnte nicht anders, als gehorchen, obzwar er heute durchaus kein Verlangen nach lauem Geplätscher von Worten und nach Parfüm hatte.
Isabella Loraine saß an dem schlanken Spiegel neben der Tür zum Speisezimmer. Sie hatte sich so gesetzt, daß man in dem Glas, dessen fließendes Silber von einer feinen, schmalen Girlande goldener Rosen umrankt war, ihre Seitenansicht vor sich hatte. So sah man, wenn man mit ihr sprach, drei Viertel ihrer Gestalt, an der Natur und Schneiderin zu einem kleinen Wunder zusammengewirkt hatten. Der geblümte Reifrock hob sich von den feinen Füßen, über deren schöne Knöchel zärtlich gekreuzte Sammetbänder liefen. Die weiten Ärmelbauschen waren von den Schultern gesunken, die den matten Glanz von Billardbällen hatten, und den schlanken, leicht gebogenen Hals küßte eine weiche, flaumige Pelzboa. Um den Kopf aber lief eine Ferroniere, ein dünnes Goldkettchen, das eine große Perle mitten auf der Stirn festhielt, ein Schmuck, der seinen deutschen Namen »Sehthieher« zu recht trug, denn wer den Blick einmal hieher geheftet hatte, konnte ihn nicht sobald wieder befreien. Es war dem feineren Auge ein rätselvolles Spiel, dieses Gleiten des Lichtes von der Perle, die einen kränklichen Glanz zusammendrängte, aus die etwas müde Haut des Gesichtes wahrzunehmen. Noch standen die schönen, stolzen Brauen wie zwei leicht geschwungene Brücken aus Ebenholz, unter denen kleine Seen opalblauen Wassers schimmern, noch verlief die gerade Nase in einer wundersamen Leichtigkeit zur Stirn; aber dennoch war aus den fünfunddreißig Jahren dieser Frau ein feiner Hauch von Reife über ihre Haut geweht. Sie konnte ihn gerade noch als vielleicht anziehenden Reiz gewähren lassen, ohne aufzuhören, jung zu sein, einfach jung, sie brauchte ihn nur mit einer unvorsichtigen Bewegung zu bemerken, um den Eindruck zu machen, sie stehe schon an der Schwelle zur zweiten Jugend.
Sie bewegte den großen Federfächer: »Die Gräfin Hompesch hat Ihnen Vorwürfe gemacht, daß Sie sich so selten sehen lassen.«
»Wissen Sie vielleicht auch, was ich geantwortet habe?«
»Dasselbe, was Sie mir antworten würden, wenn es mir einfiele, zu fragen: daß Sie für Ihr Examen gearbeitet haben.«
»Sie aber fragen erst gar nicht?«
»Nein! Ich habe keine Lust, mich anlügen zu lassen.«
Bismarck sah über die nackte, warme Schulter der Frau hinweg auf das kühle Bild des Nackens, das er im Spiegel vor sich hatte. Die feine, weiche Linie des Rückens versank in den schwarzbraunen Pelz, wie ein Geheimnis, das einem dargeboten und dann doch wieder entzogen wird. »Ich glaube manchmal,« sagte er, »Sie … Sie meinen überhaupt, die Arbeit existiere in Wahrheit gar nicht, sie sei eine Lüge, eine Erfindung.«
Sie schlug mit ihrem Fächer die Luft: »Vielleicht nicht eine Lüge – aber eine Ausrede.«
»Sagen wir: berechtigte Notwehr.«
»Notwehr gegen seine besten Freunde? Wollen Sie mir sagen, ob sich das zusammenreimen läßt.«
»Es läßt sich vieles nicht reimen, was in der Welt der Tatsachen dennoch nebeneinander besteht.«
Der Pelzsaum in der Nähe des Mundes der schönen Frau flatterte von heftigerem Atem. »Sie sind unglücklich, Bismarck; Sie tragen eine Maske.«
»In der Tat, Verehrteste, ich zweifle daran, daß es eine Gerechtigkeit gibt. Weder in der Welt im großen, noch bei der königlich preußischen Regierung im kleinen. Man könnte ruhig beide miteinander vertauschen und die königlich preußische Regierung in den Himmel versetzen, es würde auf der Welt nicht um ein Haar anders. Nur daß die Schutzengel vielleicht Nummern bekämen und die himmlischen Heerscharen in Uniformen gesteckt würden. Alle Jahre einmal großes Manöver und dann Parademarsch vor dem allerhöchsten Kriegsherrn. Der göttlichen Weltvernunft aber wüchse der Zopf, den sie bis dato unsichtbar trägt, zu einem recht realen Ding aus und hinge aus den Wolken herunter. Vielleicht wäre das der Weg zum Mond.«
»Bismarck, Sie wüten gegen die eigene Natur.«
»Wenn Sie meinen, daß man unglücklich ist, wenn man klar zu sehen beginnt, so haben Sie recht. Die Säfte trocknen im Bureau ein, man muß bisweilen etwas Gift nachgießen, daß sich das Blut nicht zu Brei verdickt.«
»Als ich Sie kennen lernte, waren Sie von einem so schönen Ehrgeiz erfüllt. Ihre Laufbahn enttäuscht Sie?«
»Ehrgeiz, Verehrteste! O ja, ich kann einmal, wenn ich alt und dürr bin, etwas erreichen, ein Ämtlein, in dem man ein Dutzend oder zwei Dutzend anderer Unglücklicher nach Gefallen hin- und hersprengen kann. Aber lohnt so etwas das Opfer an Kraft und Unabhängigkeit, das man gebracht hat? Das Wohl des Vaterlandes? Ich bin nicht edel genug, an das Vaterland zu denken, wenn mir selbst die Hände in Eisen klirren.«
Der »Achundweh«-Frack schnitt in den Achseln. Er trug sich wie eine Zwangsjacke. Die Augen unter den stolzen Ebenholzbrücken nahmen das Bild ungebärdiger Jugend auf und bewahrten es mit einem leichten Schmerz.
Das gelbe, wilde Haar war widerspenstig über der Stirn aufgebäumt und sänftigte sich an den Schläfen ein wenig über die Wangen vor. Darin lag der Drang nach Freiheit und die mühsam getragene Bändigung, und zugleich war in diesem gelben Blond etwas von der Farbe reifender Felder unter weiten Himmeln, im Schwung der Locken über der Stirn das Aufspringen des Getreides unter einem Windstoß. Mund und Kinn wiesen einen Willen, der keinen Befehl empfing, als von dem stählernen Blau der Augen. Den Hals aber faßte eine hohe, schwarze Binde zusammen, wie nur je bei einem ganz auf das Allerkorrekteste bedachten Beamten älterer Grade.
»Sie verschwören sich mit Ihrem Unmut gegen das liebe Leben,« sagte Isabella leise, als wäre das etwas sehr Zartes, das sie ihm in die Seele legen wollte.
Bismarck sah wieder über ihre Schulter weg in den Spiegel. »Sehen Sie,« sagte er, »so ist das Ideal, wie dieses Bild im Spiegel. Das Leben ist näher und wärmer, das Ideal ist kühl und rein. Aber man kann es nicht anfassen, ohne häßliche Flecke zu hinterlassen.«
Längst war der Fächer im Schoß und machte keinen koketten Schlag mehr. Jetzt schaute die schöne Frau ein wenig ängstlich nach dem eigenen Bild und rückte fort, als wünsche sie keineswegs zum Ideal erhoben zu werden.
»Sie sind ein Romantiker. Lassen Sie das Spiel mit den Spiegeln. Das sind unheimliche Freunde und auch für Ideale etwas unbeständig. Sie heben nichts von dem auf, was man ihnen anvertraut.« Und dann, mit gesenkten Augen und Händen, deren Finger sich langsam zusammenschlossen: »Ich glaube, Bismarck, Sie lieben noch immer.«
Graf Arnim kam vorbei, mit seinen beiden Begleitern. Man hörte das Wort Schutzzoll, es platschte wie etwas Körperliches auf den Boden und wurde festgetreten. Bismarck sah den Herren nach und sprach hinter ihnen drein: »Vorbei, vorbei – Verehrteste, ich habe meine Verlobung aus sehr sachgemäßen Bedenken aufgelöst und muß noch heute einen Lobgesang auf meine Besonnenheit anstimmen. Ehestand, Weib und Kind, Windeln, Geschrei, Schulden, das gehört zusammen. Obzwar meine Frau das einzige Wesen auf der Welt ist, das ich mich entschließen könnte zu beneiden, sehe ich nicht ein, was mich dazu bestimmen sollte, einen Menschen so maßlos glücklich zu machen.«
»Eine Herzogsnichte! Bismarck!«
»Ja! Und ein königlich preußischer Referendar ohne besondere Aussichten und ohne Vermögen!«
Von ungefähr schob sich Savigny im Saal heran, und seine Blicke liefen vor ihm her. »Ihr Freund kommt,« sagte Frau Loraine und hob die Schultern zur Haltung der bewußten Schönheit, »ich glaube, er sucht Sie!«
Savigny suchte den Freund. Er kam mit einem Lächeln, huldigte mit ein paar gangbaren Höflichkeiten und zog Bismarck mit einem Lächeln – auf ein Wort – beiseite. »Otto,« sagte er hastig, »Lilian verreist morgen.«
»Verreist! Morgen! Wohin?«
»Nach Wiesbaden. Sie sind heute beim Großen Monarchen.«
»Ich danke dir.« Er kehrte zu Frau Isabella zurück.
»Bismarck, was hat Ihnen Savigny gesagt?« Der Fächer schlug wieder die Luft, aber es war nur so, weil die Hände etwas zu tun haben mußten. »Er hat Ihnen etwas Wichtiges gesagt. Ich habe gesehen, wie es Sie getroffen hat … was ist es, Bismarck? Sie haben die Augen zugemacht, Ihre Lippen haben gezittert.«
Die beiden großen Gesellschaftsräume der gräflich Arnimschen Wohnung standen zueinander im Verhältnis der beiden Abteilungen einer Sanduhr, deren Inhalt immer durch eine dünne Öffnung rieselt, um den einen Raum zu verlassen und den anderen zu füllen. Jetzt stand es so, daß der Menschensand durch die enge Einschnürung der Tür aus dem Tanzsaal in den Speisesaal sickerte. Nach einer Stunde würde die Sanduhr umgekehrt werden, und so maß man hier die Zeit. Alles mußte nahe an Frau Loraine und Bismarck vorüber, und es war unerläßlich, sich zu beherrschen. Sie sagte lächelnd, mit leise wallendem Schwung des Fächers, während ihre Stimme rauh und dunkel war: »Sie müssen mich zu Tisch führen, Bismarck! Hören Sie! Sie dürfen nicht fortgehen.«
Er heftete den Blick auf die Perle auf ihrer Stirn. Die Sanduhr maß die Gesellschaft in ihren zweiten Raum, und Bismarck empfand etwas Schicksalhaftes in diesem Schauspiel. Überall war eine große Hand, die Menschenleben und Menschensitten wie ein mechanisches Spielzeug abschnurren ließ.
»So sprechen Sie doch … ich bitte Sie …« Isabellas Stimme war dunkler Sammet, der schwere Falten warf. Alles Getändel der Dame war fort, ein Weib flehte um sein Urteil.
Mallinckrodt kam vorbei, mit einem kaum gemilderten malitiösen Schielen; seine Schuhsohlen schliffen auf dem glatten Boden, das war höfische Eleganz.
»Es ist also wahr … ich habe es nicht glauben können … aber es ist wahr, ich sehe es.« Aus den Augen brach der ungebändigte Kummer, die Perle war stumpf geworden, und auf eine unerklärliche Weise veränderte sich das ganze Wesen und Aussehen dieser Frau: der Glanz der Schultern verblich, der Mund wurde herb und alt, die Haut der Stirn war auf einmal von unzähligen feinen Rissen durchzogen.
Die gute Gräfin Hompesch rauschte durch den Sanduhrhals, lächelte unter weißem Haar: »Kinder, habt ihr keinen Hunger?«
»Jetzt weiß ich es, Bismarck … es ist also doch diese Lilian Westermore … Sie können nicht lügen … sie ist es … quälen Sie mich nicht länger. Sagen Sie die Wahrheit.«
Nebenan knallte die erste der bewußten Champagnerflaschen.
Bismarck riß den Blick von der Perle los, sah nach der Empore, auf der sich die Musikanten rüsteten. Einer hatte aus einem Notenblatt eine Rinne gefaltet, aus der er ein paar eben empfangene Geldstücke in seine linke Hand gleiten ließ. Ein anderer hielt ein Weinglas gegen das Licht, man sah einen Goldschimmer auf seinem Gesicht.
»Entschuldigen Sie mich, Madame,« sagte Bismarck und wandte Isabella den Rücken. Er ging durch den Saal, als hätte ihm jemand gesagt, die Decke könne jeden Augenblick einstürzen. Ein wildes, sinnloses Hasten war in ihm, das sich gegen alle Dämme der Besinnung warf. Die schöne Frau saß allein im Saal, starrte nach der Tür, und der weiße Fächer in ihrem Schoß zuckte wie der Flügel eines angeschossenen Vogels.
Lilian Westermore war mit dem Reverend James Westermore über den Kanal gekommen, um die europäische Welt zu sehen. Man hatte mit Brüssel begonnen, hatte in Paris fortgesetzt und war jetzt in Aachen, wo Gold und Schönheit in Umlauf waren. In einer kleinen Landstadt in Yorkshire hatte man nicht viel Kenntnisse vom großen Leben erworben, und wenn der Reverend am Sonntag von der Kanzel gegen das große Babylon donnerte, so war es mehr deshalb, weil es eben zu einer seelenstärkenden Predigt so gehörte, als daß er eine klare Vorstellung von dieser Verruchtheit gehabt hätte.
Der Teufel aber hat absonderliche Wege, um Beute zu machen, und wegen des Reverend Westermore ließ er eine alte Tante in Manchester sterben, so daß dem braven Mann eine kleine Erbschaft zufiel. Dieses plötzliche Einströmen von Geld in seine Taschen verwirrte ihn ein wenig, und anstatt daß er es ohne Zögern auf die Bank getragen hätte, um mit den Zinsen seine Einkünfte aufzubessern, beschloß er, einen Teil dazu anzuwenden, um sich mit eigenen Augen von der Niederträchtigkeit der Welt zu überzeugen.
So weit der Kirchturm sichtbar ist, hat der Teufel keine Macht über den Pfarrer. Aber kaum war das spitze Dach hinter den Hügeln von Yorkshire verschwunden, so sprang der Satan hinten im Postwagen auf und schlug die Klauen in Reverends Rockkragen. Er fuhr als blinder Passagier über den Kanal und trottete in Paris triumphierend auf allen Wegen hinterdrein. Sein Einfluß zeigte sich darin, daß der Reverend trotz eines heftigen Losziehens auf die Lasterhaftigkeit der Zeit nicht zu dem Schlusse kam, es sei besser, ihr aus dem Wege zu gehen, sondern daß er nach der Wahrheit: wer schimpft, der kauft, Verlangen trug, recht viel davon zu lernen. Sich selber sagte er freilich nur, es geschehe, um nachher so recht aus Herzensgrund und aus der Fülle der Erfahrungen heraus seine andächtigen Zuhörer warnen zu können.
Zwei Gründe verhinderten, daß das Schifflein des Reverend an des Teufels liebster Klippe zerschellte: der Frau. Er war nicht mehr in dem Alter, in dem diese Klippe ihre ganze Gefährlichkeit bewähren kann, und die Begleitung seiner Tochter Lilian zwang seinen Kurs weit außen um den bedrohlichen Gürtel herum. Aber das Meer des Lebens ist voller Tücken, und wer die Charybdis vermeiden will, kann leicht der Scylla verfallen. Ein gewaltiger Mälstrom war da, ein Mälstrom voll Gold, der kreiste um grüne Tische, auf denen die Karten fielen und Rot oder Schwarz über Schicksale entschied. In des Reverend Augen kam ein arges Funkeln und in seine Hände ein Zittern, als er das sah. Sein Herz flog in der Brust, und in seinen Taschen zog das Gold wie ein schwerer Klumpen. Es kam ein Abend, an dem er einen geringen Betrag zaghaft auf eine Karte setzte, und an diesem Abend zog der Teufel die Schlinge zu und ließ ihm nur gerade so viel Luft, um atmen und das Spiel fortsetzen zu können. Das kleine Erbteil versickerte an den Spieltischen von Brüssel, Paris und Aachen, und je mehr es schwand, desto hartnäckiger hetzte der Reverend hinter dem Glück her, denn er hielt sich jetzt für verpflichtet, Lilian zu ersetzen, was ihr seine bisherige Ungeschicklichkeit schon verloren hatte.
Lilian selbst gab sich keiner Täuschung über den Ausgang dieser Reise hin. Sobald sie einmal erkannt hatte, daß die späte Leidenschaft des Vaters nicht mehr zu zügeln sei, ließ sie Tränen und Vorwürfe und stellte ihre kühlen und klugen Gedanken auf das ein, was ihr dabei zu tun obliege. Sie machte sich klar, daß letzten Endes sie die Kosten zu tragen haben werde, und wußte, daß sie es könne, denn sie sah, daß ihre Schönheit hoch im Preise stand. Es waren freilich welche, die sie vom Fleck weg für ein hübsches Sümmchen gekauft hätten, aber solche Nachfragen hatten für Lilian keinen Wert, denn ihr Geschäft bedurfte einer soliden Grundlage. Sie prüfte sorgsam, was an sie herankam, und war nicht geneigt, sich an jemanden wegzugeben, bei dem die ganze Angelegenheit nicht unter Beistand der Moral hätte erledigt werden können.
In Aachen aber geschah etwas Unerwartetes. Ein junger Mann erschien, in dem war etwas, das sie bisher noch bei niemandem gefunden hatte, eine Kraft, die in sie eindrang, sie überflutete, eine heftige, verwirrende Zärtlichkeit, die so seltsam wirkte, daß ihr alle Pläne morsch wurden und zerbröckelten. Ihre Klarheit trübte sich, und sie versuchte wieder wie früher, mit Bitten und Tränen den Vater von den Spieltischen zu ziehen, um einzusehen, daß seine Seele zu sehr von Giften durchsetzt war, als daß sie noch Widerstände hätte aufbieten können. Sie fragte sich, ob sie es auf sich nehmen dürfe, den Weg zu verlassen, um einem Gelüsten ihres Blutes zu folgen, das sich zu so ungelegener Zeit meldete. Das war also das süße Rätselding der Romane, diese Anspannung, Unruhe, Gehobenheit, Versunkenheit und Verdunkelung des Blickes. Es gab Stunden, in denen sie die Finger preßte und tränenlos, mit ausgebrannten Augen vor sich hin schaute, entschlossen, den jungen Menschen nicht mehr zu sehen. Dann erhob sie sich, zog sich an und ging zum Brunnen, wo sie ihn zu treffen sicher war.
Der Reverend war in dieser Zeit ihrer Aufsicht weniger unterworfen als sonst und machte sich die lockere Hand zunutze, indem er an allen Spieltischen von Aachen dem rollenden Gold nachhetzte. Bis der Karren so gründlich in den Sumpf eingefahren war, daß man an kein Herausholen mehr denken konnte und machen mußte, daß man weiter kam. Was jetzt noch geschehen mußte, das wollte Lilian wenigstens nicht in Aachen vor sich gehen lassen. –
Bismarck fand, wie Savigny gemeldet hatte, seine kleine Gesellschaft im Hinterzimmer des Großen Monarchen. Es war nicht Lilians Schuld, daß sie noch einmal mit Bismarck zusammentraf, Norcott und Astley hatten bei einem ganz zufälligen Vorüberfragen im Hotel erfahren, daß der Reverend Westermore nach Wiesbaden verreise, und hatten sogleich landsmannschaftliche Rechte geltendgemacht, indem sie ganz nach Art der britischen Meerbeherrscher das Westermoresche Schifflein einfach enterten und in die Bucht eines Abschiedsabends lotsten. Lilian konnte es nicht verhindern, daß man Bismarck Nachricht zukommen ließ.
Nun stand er da, wie er aus der Gesellschaft entlaufen war, und mühte sich, den heiteren Ton zu treffen, der hier als erstrebenswert galt. Aber in diesem Raum, dessen Seele doch sonst ganz auf den liederlichen Frack »Juchheissassa« gestimmt war, und der nicht Staub, sondern Juckpulver abzusondern schien, war alles heute schwer und drückend. Norcott war, wie immer nach einem guten Essen, sehr laut und aufdringlich. Es sei höchste Zeit, daß Miß Lilian Aachen verlasse, nach dem letzten Ball hätten die Aufwaschweiber unter dem Tisch des Reverend drei gebrochene Herzen und zwei verlorene Eheringe hinausgekehrt. Der Reverend saß, wie immer, wenn er nicht spielen konnte, stumpf und gleichgültig dabei, Lilian unterhielt sich mit Astley, indem sie tat, als höre sie Norcott gar nicht.
Bismarck versuchte ein paar Scherze, aber sie fielen ihm von den Lippen wie Vögel, die noch nicht flügge sind, aus dem Nest, und verreckten elend auf den Wegen des Gespräches. Alles war so unsagbar traurig und entmutigend, und es schien, als hätte niemals auch nur das kleinste Einverständnis mit Lilian bestanden, als könne er sich nicht auf Worte berufen, die ihm selige Wunden geschlagen hatten, als wüßten die Wege und kleinen Pavillons um Aachen nichts von dem Geheimnis dieses Mundes. Lilian war unendlich fern. Es gab Zauberbrillen, die alles rosig machen konnten, und andere, die alles ins Aschgraue versetzten. Nun gut: es schien, als habe man ihm ein solches Zauberglas gereicht, durch das alles Nahe ins unerreichbar Weite gerückt schien, obzwar man es mit Händen hätte greifen können, wenn sie nicht durch den Bann gelähmt gewesen wären.
In dieser Frau und ihrer blonden Schönheit erneuerten sich ihm zwei frühere Abenteuer seines Herzens. Es war, als habe das Schicksal schon zweimal zum selben Ziele angesetzt, ohne vollenden zu können; dieses war der dritte Versuch, und Bismarck war entschlossen, sich an die Räder zu hängen und nicht nach Sinn oder Unsinn, sondern nach dem dunkeln Drang in seines Lebens Tiefe zu handeln.
Er starrte Lilian an, daß sie den Kopf noch mehr zu Astley wandte, um der Flamme zu entgehen. Norcott lallte mit Westermore über Gewinnsthoffnungen und Glück und Unglück im Spiel. Der junge Marchese Montebello ließ Karten bringen und führte einige Zauberkunststücke vor, die er von einem Landsmann, einem reisenden Professor der Salonmagie, gelernt hatte. Schon der bloße Anblick der Karten trieb dem Reverend die Trägheit aus und ließ ihn aufmerksam näher rücken.
Lilian aber wollte auch von diesen harmlosen Überraschungen der Karten nichts sehen und eiferte immer mehr gegen Astley, der für die Jagd schwärmte, während Lilian das grausame Vergnügen verwarf.
Bismarck saß zwischen beiden Parteien. Der Abend zerrann, schloß sich weder in Ernst noch in Scherz irgendwo ins Ganze. Müde und erschöpft ging man ins Hotel, mit summendem Kopf, denn man hatte getrunken, ohne sich befeuern zu können.
Es kam ein Augenblick, in dem es sich gefügt hätte, daß Bismarck mit Lilian allein gewesen wäre. Aber, als ob sie gewußt hätte, daß ihm das Wort siedendheiß vom Herzen schoß, rief sie Montebello heran, um ihn nach irgendetwas Belanglosem zu fragen.
Der Abschied war kühl, im Kreise der anderen reichten sie sich die Hände.
Die Freunde zogen noch weiter, ins lustige Aachen zu Tanz und Wein, schlugen sich durch die Nacht bis in den strahlenden Morgen hinein, und in allen diesen Stunden war für Bismarck nicht ein einziger dunkler Punkt des Vergessens, daß ihm Lilian genommen worden war.
»Es ist klar,« sagte der Reverend, »daß es eine Methode geben muß, um zu gewinnen. Wenn der oberflächliche Betrachter meint, beim Spiel sei alles Zufall, so ist zu entgegnen, daß es keinen Zufall gibt. Was der Mensch Zufall nennt, ist alles Fügung der Vorsehung, und deren Namen allein schon sagt, daß sie nicht blind ist, sondern schärfer und mehr sieht als wir armen Menschenkinder. Die Vorsehung wirkt nach bestimmten Gesetzen, die sie sich selbst gegeben hat und die uns nur zu verwickelt sind, um sie klar zu erkennen.«
»Sie meinen also,« erwiderte der Oberst Morris, indem er Westermore scharf ins Auge faßte, »auch beim Glücksspiel gebe es bestimmte Gesetze, deren Kenntnis sich erwerben läßt.«
Der Reverend nickte eifrig, in den Augen stand zwischen geröteten, von Nächten gebeizten Augenlidern fahler Glanz. Um den Mund lag noch ein karger Rest der Salbung des Kanzelredners, Augen und Stirn trugen schon grau in grau die Spuren der Entwürdigung und Verwüstung. »Ja … und ich bin auf dem Wege … Erfahrungen muß man sammeln … es lohnt sich, ein Vermögen zu verlieren … man kann zwei zurückgewinnen.«
Lilian kam mit dem Becher in der Hand vom Brunnen.
Der Oberst schlug mit der Peitsche gegen die Reitstiefeln, sein Gesicht trieb einen Glanz von Wohlgefallen hervor: »Schön, wie dieser Sommertag, Miß Lilian.«
Sie fiel ihm herb ins Wort: »Ich bin mit Ihnen nicht zufrieden, Oberst. Was haben Sie mir versprochen? Und nun sitzen Sie selbst mit meinem Vater die ganze Nacht am Spieltisch.«
»Sie haben recht, Miß Lilian, Wiesbaden ist ein Morast, obenauf schillern ein paar Fürstlichkeiten wie grelle Sumpfblüten, das funkelt von Orden, und jeder Lakai hat eine goldene Nase. Darunter ist dann der Schlamm des Gesindels. Herz und Geist gehen hier zugrunde. Man sollte nicht spielen. Aber wenn man da an dem grünen Tisch sitzt, da spürt man, wie das Leben kocht und braust. Jeder bezwingt sich, keiner sagt ein lautes Wort, aber man fühlt doch, wie Gewinnen und Verlieren heiß durch die Menschen geht und da will man seinen Anteil an der Leidenschaft.«
»Warte nur, Kind …« ergänzte Westermore, »nicht mehr lange sollst du dich beklagen müssen. Es geht aufwärts … warte nur.«
Die Säulen der Kolonnade standen stark und fest unter dem Dach des Wandelganges, eine wie die andere, in ihrer strengen und einfachen Schönheit durchgebildet, in sich beruhend und doch den andern zur Gemeinsamkeit gesellt, und Lilian war es wie ein Trost, als sie sich jetzt an eine von ihnen lehnen konnte. Durch den dünnen Stoff des Kleides spürte sie das Rund des Schaftes wie eine Versicherung gesunder Kraft.
»Um Gewinnen oder Verlieren ist es mir nicht,« hörte sie den Oberst sagen, »es ist die Leidenschaft, die mich anzieht.« Sie hörte das Klopfen der Reitpeitsche auf die Stiefelschäfte. »Sie verstehen das nicht, Miß Lilian. Sie sind kühl bis ans Herz hinan. Die Leidenschaft kann ein Studium sein, es gibt kein interessanteres, oder eine Medizin. Gift gegen Gift, der Belzebub gegen den Teufel, Spiel gegen die Liebe. Ich gewinne unaufhörlich, Miß Lilian!«
Das Leben dieses jungen Julitages war überquellend von unbedachter Heiterkeit. Wagen kamen vorbei, jeder mit einem lachenden Strauß von Spitzen und Volants, ein Reiter in veilchenblauem Frack mit goldenen Knöpfen und Hosen von weißem Sammet ließ zu Ehren der hübschen blonden Engländerin unter den Kolonnaden sein Pferd tanzen und steigen, kleine Eselchen trugen Kinder auf ihren Rücken, Häufchen von mit Glück gemischter Angst. Wenn dies ein Sumpf war, so war es offenbar ein sehr lustiger und blühender Sumpf, und wenn man sich ihm auch nicht anvertrauen mochte, so konnte man doch nicht leugnen, daß er hübsch anzusehen war. Ein wenig Weltfröhlichkeit und Leichtsinn wehte zu Lilian herüber und nahm etwas von der Last ihrer Gedanken. Gewiß: schließlich würde auch das zu überwinden sein, und nur in Romanen starben die Heldinnen an gebrochenem Herzen.
Zwischen Weiß, Blau und Rosa kam ein brauner Rock heran, das war der Frack »Juchheissassa«, und Bismarck trug ihn bedächtigen Schrittes und achtsamen Auges durch das Getümmel der Promenade. Er ging so vor, wie jemand, der ganz bestimmt weiß, wo er etwas verloren hat, und nun nach einem bestimmten Plan jeden Quadratzoll absucht, so daß keine Tücke des Versteckens nützen will.
Für Lilian liefen die Farben in ein breites Band zusammen, daß sich in bunten Streifen um sie drehte; sie glitt mit großer Schnelligkeit abwärts, einem unausweichlichen Zusammenstoß entgegen. Es riß sie mit einem jähen Schritt hinter die Säulen. Aber Bismarck hatte sie schon gesehen, kam heran, sein Gesicht tauchte aus dem Wirbel, seine Hand streckte sich vor …
Ja … und er habe vierzehn Tage Urlaub genommen, um einmal Wiesbaden anzusehen. Den Kopf ausrauchen lassen, nicht wahr. Es sei nötig, denn die Examenarbeit habe ihm einen wüsten Schädel gemacht. Alles durcheinander geschmissen: preußisches Landrecht und Code civil, Kommunalverfassung und Zollvorschriften, das müsse sich erst einmal ordentlich setzen. Dann erst konnte weiter gearbeitet werden.
Herr Oberst Morris – Herr Referendar von Bismarck.
Sie standen einander gegenüber, beide gleich groß, beide gut gekleidet und von gleich guten Manieren. Der Oberst mit einem leicht gewölbten Bäuchlein unter der geblümten Weste, Bismarck noch immer Spargelsproß, schlank, mit kleinem Kopf. Sie verneigten sich, reichten sich die Hände und wußten, sie seien Feinde.
Lilian zog das Gespräch weiter: vom Leben in Wiesbaden und was die Aachener Freunde machten. Es sei ja erst kurze Zeit her, aber in diesem lauten Trubel und Wirbel der Tage vergäße man einander so schnell.
Ein Reitknecht kam die Promenade entlang, einen schönen Rappen am Zügel. »Da kommt ›Hassan‹,« sagte der Oberst, »ich muß die Herrschaften verlassen. Er muß mich täglich spüren, sonst zerschlägt er mir den Stall. Er will meine Faust. Auf Wiedersehen denn mittags.«
Er saß auf und ritt grüßend davon. Bismarck sandte ihm Mord und Tod nach, etwas von Sturz und Halsbrechen. Eine Hand legte sich auf die seine, Lilians Lippen bebten. Da wich alles Böse, und die Dinge hatten alle goldene Säume und zarte Musik. Wo sich Baumschatten und Sonnenflecke durcheinanderwirrten, da schien es Bismarck, als sei dieses zarte Spiel von Dunkel und Hell der Sinn der Welt und man dürfe sich nur nicht irre machen lassen, wenn einmal ein Schattenfleck auf die Tage fiel. Sie gingen nebeneinander, hatten wenig Worte, und der Reverend zog schweigend hinterdrein, in seinem Hirn arbeitete das System der Wahrscheinlichkeiten des Gewinnens.
Der Mittag hielt sie voneinander fern und auch der Nachmittag mit seinem Kinderfest auf dem Main, zu dem man im gelben Omnibus nach Biebrich fuhr. Am Abend aber, als der Vater zitternd am Spieltisch saß und mit dem Obersten die Einsätze beriet, traten sie auf die Terrasse. Das Licht aus den hohen, schmalen Fenstern streifte die Wiese vor dem Kurhaus, und man sah einen dünnen, weißen Nebel über das Gras ausgegossen. Die alten Bäume des Parkes ballten Finsternis um sich und wölbten sie wipfelschwer als Klumpen unter dem Sternenhimmel.
Langsam, langsam über die Treppe, jede Stufe eine Entscheidung, der Nebel schmiegte seine Feuchtigkeit an die Knöchel, das Klopfen der Herzen war erst in den Fingerspitzen fühlbar. Langsam, langsam durch die Schatten der Bäume, Lilian wie ein helles Phantom neben Bismarck.
An einer Biegung des Weges in eine kleine Lichtung hinein wartete die Kurmusik mit einem feinen Widerhall, erfüllte die ganze Blöße mit Klang.
»Bismarck, warum sind Sie gekommen?« sagte Lilian klagend, und es war wie aus einer Elfenballade ihrer Heimat, von den Mooren Schottlands oder den Basaltsäulen der Fingalshöhle.
»Warum, Lilian? Warum? Soll ich zugrunde gehen? Nun kommen Sie zum drittenmal. Zweimal sind Sie mir entglitten, diesmal halte ich Sie. Zweimal habe ich dem Götzen der Besonnenheit geopfert. Diesmal hat das Scheusal keine Macht über mich. Mag mein Leben zerschellen …«
»Bismarck, was reden Sie da?« Lilian stand schlank und weiß unter den Sternen, von Schatten umringt.
»Ich bin nichts und ich habe nichts, Lilian … nichts als meine Liebe. Mag werden, was da will. Ich lasse dich nicht mehr.« Er hielt ihre Hände, war mit seinem Gesicht dem ihren ganz nahe: »Ich verlobe mich dir …«
Sie stand regungslos, überließ sich seinen Küssen. Ganz leise, traumhaft, wie ferne, singende Brandung schlug Musik in ihr Bewußtsein. Die kleine Lichtung wurde zu einem silbernen Eiland der Liebe, schützend stand der Wald herum … Tau sank ins Haar, heiß schlugen die Küsse darein, sengten die Bedenken hinweg. »Ich verlobe mich dir,« stammelte Bismarck … »Warum bist du gekommen?« klagte sie … ihr Wille war in seinem gelöst, wilde, nackte Nachtelfen tanzten im Nebel …
Als sie zum Kurhaus kamen, stand eine dunkle Gestalt auf der Terrasse. »Miß Lilian! Miß Lilian!« Der Oberst schwenkte ein warmes, wollenes Tuch. »Wie unvorsichtig! So im Nebel herumzulaufen! Wie leicht können Sie sich erkälten. Ja, ja, die Jugend hat noch Feuer in sich … das denkt an nichts, und auf einmal ist ein Unglück geschehen.« Er lachte rasselnd. Er legte das Tuch um ihre Schultern. Und Lilian erschauerte, als fühle sie erst jetzt die Kühle der Nacht.
Die rote Glut mußte sich unter der Asche der Tage bergen.
Der Vater hätte sicher nichts bemerkt, denn der sann seinem neuen System nach und erprobte es nachts an den Spieltischen. Aber der Oberst hatte seine Augen überall; wenn man ihn irgendwo ganz fest eingebacken glaubte, so fühlte man es plötzlich wie kalten Schleim auf der Haut, daß er seine Blicke auf einen geheftet hielt. Er vermochte, in einer Ecke des Saales sitzend, die beiden armen Menschen in der entgegengesetzten so einzuspinnen und einzuschüchtern, daß sie ihrem Alleinsein nicht trauten. Selbst wenn er ganz gewiß und bestimmt nicht zugegen war, schien er Mißtrauen und Angst in die Luft gesät zu haben, daß ihnen ihre Liebe nicht ins Helle und Freudige geriete. Längst war dieser Liebe Jubel und Zuversicht verloren gegangen; um so heißer brannten die Küsse unter dem Hauch von Gefahr; was an heiligem Feuer sonst in langen Stunden der Zärtlichkeit verlodern kann, mußten sie in kurzen Viertelstunden, in flüchtigen Minuten versprühen. Sie mühten sich, ihrem Beisammensein in den Meinungen der anderen die Unbefangenheit zu wahren, aber immer schwerer wurde es ihnen, den leichten Ton harmloser Unterhaltung zu treffen, und oft stockte zwischen ihnen ein verdächtiges Schweigen. Der Oberst richtete sein Betragen gegen Lilian auf eine zähe Vertraulichkeit ein, als habe er sich gegen sie Rechte erworben, und gegen Bismarck schob er eine Eismauer von Kühle. Er spießte ihn immer irgendwie von oben herab an ein spöttisches Lächeln, und in Bismarck schoß oft eine blinde Wut hoch, der schwarze Wirbel des Hasses, in dem er meinte, nun müsse die Faust entscheiden. Er hielt diesen Menschen für fähig, ihnen Aufpasser auf den Hals gesetzt zu haben, er meinte einigemal schon, einem tückischen Schleichen auf die Spur gekommen zu sein. Das Entwürdigendste aber blieb, daß er gezwungen war, auf diesem glatten, hochmütigen, höflichen Gesicht mit stetem Mißbehagen zu forschen, ob nicht ein Anzeichen zu finden sei, das übel gedeutet werden müßte. Manchmal schlug ihm alles das, dieses Heimlichtun und Ducken, in einem bösen Brodem zusammen, der seiner Seele den Atem versetzte und sie um freie Luft ringen ließ.
Anfangs September entschloß sich der Reverend Westermore, seine Zelte abzubrechen. Er hatte sein System noch immer nicht gefunden, obzwar er, wie ein Goldsucher des Mittelalters, reichlich Gold darangewendet hatte. Der Oberst, aus dessen Tasche die Westermoreschen Versuche bestritten wurden, hatte sich in die Familie eingekauft. Als Bismarck davon sprach, sich anzuschließen, fragte der Oberst: »Es war mir, als hätten Sie gesagt, Sie hätten bloß vierzehn Tage Urlaub genommen?«
»Es waren vierzehn Tage …« sagte Bismarck, und seine Lippen zogen sich zur Faust zusammen, »nun sind es mehr, meine Behörde hat mir den Urlaub verlängert.«
Die königlich preußische Regierung zu Aachen wußte aber nichts vom Verbleib ihres Referendars; der Vizepräsident von Mallinckrodt hatte das nicht unterdrückte Vergnügen, den Grafen Arnim darauf hinzuweisen, daß Herr von Bismarck mit seinem ganz unverständlichen Betragen nur bestätige, was seine, des Vizepräsidenten, von allem Beginn submissest geäußerte Meinung gewesen sei: ein Hochhinaus ohne Ernst und Pflichtgefühl. Es kam dazu, daß auf die Nachricht von des Referendars unerklärlichem Ausbleiben Schneider, Schuster und der Speisewirt zum Großen Monarchen ihre Bücher nach dem Namen des Verschollenen untersuchten und ihrer Taschen Ängste vor den Grafen trugen, auf daß er ihnen zu ihrem Gelde helfe; die Lawine, die von Göttingen auf dem Weg über Berlin nur gewachsen war, schwoll vernichtend an.
Inzwischen zog Bismarck nach Süden, zwischen Leidenschaft und Verzweiflung. Die Gelegenheiten, mit Lilian allein zu sein, waren auf der Reise karg, der Oberst maßte sich immer mehr Gewalt an. Und auf der Plattform des Straßburger Münsters wäre es zwischen ihm und Bismarck fast zu einem bösen Wortwechsel gekommen, wenn Lilian nicht beiden die geschärften Worte ängstlich lächelnd ins Harmlosere gewendet hätte.
»Jetzt sollen sie es wissen,« sagte Bismarck abends zu Lilian, »ich kann mich nicht länger selbst verachten. Sie sollen es erfahren, daß wir uns verlobt haben und daß du mein bist. Wenn ich nichts bin, so kann ich etwas werden. Nach Aachen gehe ich nicht mehr zurück, ich krieche nicht mehr in die Koppel, aber die Welt steht mir offen. Ich habe zwei harte Fäuste und einen harten Kopf. Ich kann nach Spanien gehen, in Indien brauchen sie Offiziere, ich kann mir ein paar tausend Taler auftreiben, in Syrien gibt es Landstriche, die man um einen Pappenstiel haben kann, ob ich meine Zigarren am Ganges rauche oder an der Elbe … wenn nur du bei mir bist! Heute noch sage ich es deinem Vater.«
Lilian schluchzte auf, schlug die Hände um seinen Hals, lag an seiner Brust, die Ellenbogen eng zwischen seinen und ihren Leib geschmiegt, als solle kein Teil ihres Körpers der Nähe des seinen nicht teilhaftig sein. Das wortlose Schüttern und Fliegen ihrer Schultern verwirrte ihn. Er schob ihre Stirn mit der Hand von seinem Mund, suchte ihre Augen.
»Was ist es mit dem Oberst?«
»Nichts … nichts.«
»Welches Recht hat der an dich?«
»Frage mich nicht! Frage nicht! Ich bin unglücklich genug. Schweige, wenn du mich liebst.«
Bismarck schwieg, er zwang einen Reifen um seinen Stolz, er beugte sich. Alles war grau eingewebt. So ein Kerl wie er – wenn er es mit einem solchen Kerl zu tun bekommen und das von ihm gewußt hätte, was er von sich wußte, er hätte sich bedacht, ob er ihn für honorig halten und ihm Genugtuung geben solle. Die wunderbare Flammenblüte seiner Liebe ging ein, und er tat so, als blühe sie noch. Er wollte zahlen, man gab es nicht zu, und er war im Grunde damit zufrieden, nicht zahlen zu müssen. Nach allen Seiten hin war alles zäh verfilztes Gestrüpp von Täuschung und Trug.
Man kam nach Bern. Wenn Bismarck auf den Balkon seines Zimmers trat und die großen und reinen Berge vor sich sah, so stöhnte er laut vor brennender Scham.
Der Oberst überschlug Soll und Haben. Er war kein böser Mensch, nur ein kluger Rechner, und er konnte von seinem Geld keinen besseren Gebrauch machen, als indem er seinem hereinbrechenden Alter eine Gefährtin kaufte, die ihm Schönheit bot und den Resten seiner Jugend ein Wohlgefallen war. Die Summen, die er der unersättlichen Gier des Reverend opferte, sollten ihm Zinsen von Behaglichkeit und Freude tragen. Während er den Alten einkreiste, duldete er die Liebelei Lilians mit diesem langen Preußen, weil er der Ansicht war, daß ihm diese Herzenswirrung schließlich das Mädchen nur um so sicherer zutreiben müsse. Er kannte die Frauen zur Genüge, um zu wissen, daß sie niemals geneigter sind, ihr Herz zu verraten, als wenn sie glauben, auf ihre Rettung bedacht sein zu müssen.
In Bern schien dem Obersten alles zum letzten Zug vorbereitet. Bisher war das Geschäft noch rentabel zu nennen, nun überschlug er, was er gegen den Reverend zu fordern hatte. Die Summe, die er ausgesetzt hatte, war erreicht, er wünschte nicht, sie zu überschreiten. Zudem begann der Preuße immer lästiger zu werden und spielte sich und seine Angelegenheit mit Lilian allzusehr ins Byronmäßige hinein. Die einst aufgedreht gewesene Locke hing ihm in die Stirn wie ein Stück Weltschmerz, in den Augen fror Menschenverachtung, um den Mund wetterleuchtete Gotteslästerung. Etwas in der Haltung dieses Burschen fing an bedrohlich zu werden, er konnte leicht irgendwie lästig fallen, wenn auch nur dadurch, daß er sich selbst aus der Welt wegknallte, und Lilian hing ihm dabei immer äffischer an.
Es war hohe Zeit, ein Ende zu machen.
Im Hotel des Alpes war eine kleine internationale Gesellschaft beisammen, ein paar Franzosen, ein schweigsamer Verschwörer aus Italien, ein englischer Baronet, und es war ganz selbstverständlich, daß auch hier wieder die bunten Hieroglyphen der Karten zu sprechen begannen.
Gegen Mitternacht erst gingen Bismarck und Lilian auseinander, denn für diese Nacht schienen der Oberst und der Reverend am grünen Tisch verankert.
Bismarck lag noch lange wach, der Spielsaal befand sich unter ihm, er sah das Licht auf einer gegenüberliegenden kahlen Mauer, er hörte die halblauten Rufe, die mit den Karten fielen. War das der Inhalt eines Lebens? Spielen, Trinken und die Betäubung in einer kaum mehr als ehrlich empfundenen Leidenschaft. Sein in Aachen und Wiesbaden zusammengepumptes Geld war an den Spieltischen geblieben, die er um des Reverend willen nicht gänzlich meiden konnte, seine Liebe neigte zu einem schalen Rest. Die blauen Berge seiner Zukunft, einst voller Duft und Sonnenschein, waren von häßlichem Gewölk verhüllt …
Ein Klopfen an der Tür riß ihn in den fahlen Morgen. Mit der Gewißheit, es sei etwas Entscheidendes geschehen, sprang er an die Tür. Der Reverend fiel ihm beinahe in die Arme, er sah leichenhaft aus, in den Augen sickerte eine trübe Feuchtigkeit, er wankte zu einem Stuhle, haltlos baumelte der Kopf. Die Hände schlugen mit einem schlaffen Ton immer gegen die Armlehne. »Bismarck … Sie müssen helfen … geben Sie mir Geld …«
»Was haben Sie?«
»Geben Sie mir Geld!« Die Unterlippe bog sich dem Reverend nach außen, dünnflüssiger Speichel tropfte aus den Mundwinkeln. Die Sonne kam herauf, und es war schrecklich anzusehen, wie ihr reines Rot auf das verwüstete Gesicht fiel. »Er will nicht mehr … er macht Schluß … er will sein Geld haben … Helfen Sie mir, Bismarck …« In einer verworrenen Hoffnung schielte er von unten her in Bismarcks Gesicht. »Ich habe verloren … und er will nun alles … alles auf einmal …«
»Wer? Der Oberst?«
»Sie haben doch ein Gut, Bismarck … man wird Ihnen Geld geben … man leiht Ihnen auf das Gut. Nehmen Sie Geld auf … Lilian …«
Dieser Name versetzte Bismarck in Wut. Lilian: ein Lockvogel, ein Spielerkniff. »Schweigen Sie!« schrie er. Hündisch, geschlagen duckte sich der Reverend, seine Hände klappten wieder schlaff gegen die Armlehne des Stuhles.
»Der Oberst will sein Geld …?« fragte Bismarck noch einmal, denn, obwohl er sogleich alles verstanden hatte, wünschte er doch ganz sicher zu gehen. »Wie viel brauchen Sie?«
Der Reverend zog ein Auge weit auf und drückte das andere zu; das war so widerlich schlau anzusehen, daß sich Bismarck empörte. »Es werden zehntausend Taler sein!« sagte er zögernd.
»Zehntausend Taler! Ich will nachdenken, ob ich Ihnen helfen kann! Aber gehen Sie jetzt zu Bett, Reverend … gehen Sie!« Bismarck zog den schlaffen Klumpen Mensch am Arm aus dem Stuhl und schob ihn auf den Korridor. Westermore sah sich noch einmal um, bittend und schlau, unterwürfig und unverschämt.
Bismarck warf das Hemd ab, fuhr mit dem Kopf ins Waschbecken, blieb so lange unter Wasser, bis ihm der Atem ausging. Noch einmal und noch einmal tauchte er unter, bis es war, als habe er seine Lungen mit ganz frischer Luft gefüllt. Er kleidete sich an, lief ohne Frühstück aus dem Hotel, rannte draußen vor der Stadt über die Höhen, warf sich hin, weinte ins Gras, starrte nach dem Reigen der Schneeberge. Er wich den Menschen aus, fastete, ohne Hunger zu bekommen, sah lange Zeit trägen Kühen zu, saß eine Weile auf einem bemoosten Felsblock mitten in einem Gießbach und ließ das kalte Wasser auf seine nackten Beine rinnen.
Erst gegen Abend kam er in das Hotel des Alpes, zu dem entschlossen, was er für seine Pflicht hielt: unter allen Umständen den Versuch zu machen, das Geld zu beschaffen.
Der Wirt teilte ihm mit, daß der Reverend Westermore mit Miß Lilian und dem Obersten Morris abgereist seien, ohne das Ziel anzugeben, und daß er die schönsten Grüße auszurichten hätte.
Nicht einmal einen Brief hatte Lilian zurückgelassen.
Aus Kniephof kamen Rebhühner nach Berlin geflogen. Mit der Stettiner Post natürlich, und in gebratenem Zustand; denn mit dem postmäßigen Fliegen ging es so langsam, daß die Würmer sonst reichlich Gelegenheit gefunden hätten, ihnen in dieser Sommerhitze auf den Weg allen Fleisches zu helfen.
Malwine rannte die dunkeln Treppen hinunter, Trine Neumann zählte dem Paketboten im Hausflur das Trinkgeld auf, und es war zum Erschrecken, wie das weiße Ding über die Stufen sprang, Trine anfaßte und mit ihr einen Indianertanz hopste.
»Immer verjnücht,« sagte der Postmensch und nickte dem wirbelnden Übermut zu: »Ja – wat so richtig jung ist. Na denn, en anneres Mal wieder.«
Er ging, und Trine drückte die Rebhühner an ihre Brust, wie der Ertrinkende den berühmten Strohhalm, während die Wellen von Malwinens Ausgelassenheit über sie zusammenschlugen und ihr den Atem nahmen.
Malwinchen war imstande, ein ganzes Haus von den untersten Kellerräumen bis unter den Dachfirst mit Lärm und Leben anzufüllen, daß die verräuchertsten Winkel freundlich dreinschauten und selbst über zerschlagene Fensterscheiben ein Schmunzeln ging.
Die Haustür tat sich noch einmal auf, und ein langer Gardejäger stand da. Er sah, wie Trine Neumann mit den Rebhühnern an der Brust im Begriff war unterzugehen; und da in das halbkreisförmige Fenster über der Tür fächerförmig verschiedenes Glas eingesetzt war, das jetzt von der Nachmittagssonne durchleuchtet wurde, war es zugleich ein höchst farbenprächtiger Anblick. Sie flog aus dem Blauen ins Grüne, und wenn ihr das Gelbe jetzt den Anschein gab, als sei sie ein verwesender Leichnam, so war sie gleich darauf im Roten, und das sah aus, als habe man sie eben aus dem Schmelzofen gezogen.
»Malwinchen!«
Das schnitt den Tanz entzwei, Malwinchen ließ Trine mitten im Schwung los und stürzte auf den Gardejäger los, der sie, so lang sie war, doch in seinen Armen noch ein tüchtiges Stück über den Boden rückte. Trine Neumann aber wurde von dem Rest der Drehungskräfte in den Winkel hinter der Wäscherolle geschleudert, wo sie, die geretteten Rebhühner an der Brust, unter einem Gewölbezwickel zusammensackte.
»Warte mal,« sagte der Gardejäger und hielt die Schwester in den bunten Fächer, den die Sonne über die Steinfliesen legte. »Wie ein Märchen …« sagte er. Das kleine Fräulein breitete das weiße Kleid aus, daß es recht viel Farbe auffange, drehte sich wie ein Pfau, war eine Prinzessin, in die der ganze Hof verliebt sein soll.
»Ja, es ist wie ein Märchen,« lachte der Gardejäger, »wenn man dich so anschaut, bist du eine dünne, weiße Raupe ohne Taille, und es braucht dich nur die Sonne anzuscheinen, da wird ein Schmetterling daraus.«
»Ach, du!« Die Raupe zeigte sich wehrhaft, spreizte Katzenkrallen nach des Bruders Augen.
Aus dem Winkel hinter der Wäscherolle schnob etwas heran, Trine Neumann, mit verschobenem Häubchen auf dem ergrauenden Scheitel und einem gänzlich zerknitterten Halskragen, aber das Rebhühnerpaket baumelte in der erhobenen Rechten. »Vom Herrn Rittmeister! Für die Frau Rittmeisterin!«
»Wie geht es der Mama?« Besorgnis saß in dem Ton der Frage.
»Immer gleich,« sagte Malwine und schwieg einen Augenblick in Schuldbewußtsein und Reue, daß sie hier unten toben und tanzen konnte, während die Mama oben lag und Schmerzen litt.
»Ist der Arzt heute hier gewesen?« Otto wandte sich mit dieser Frage an Trine, als erwarte er von ihr besonnenere und klarere Auskunft; das stach Malwine ein wenig ins kleine, eitle Schwesterherz.
»Es ist nichts Besonderes, alles so weit in Ordnung, ein wenig Schmerzen, dann kommt der Anfall von Hunger, der Tee wird fortgesetzt und die Umschläge wie früher.«
Otto nickte, das ging seit Wochen so, und während von Tag zu Tag nichts Besonderes vorfiel und alles beim alten blieb, war, auf Strecken hin gesehen, der Verfall unverkennbar. Die böse Geschwulst breitete sich aus, das heimtückisch fressende Krebstier zernagte das Leben. »Wir wollen hinauf gehen.«
Sie stiegen die Treppen hinan, hölzerne Stufen unter Wölbungen, die vom Alter flach gedrückt und schief schienen; an jeder Wendung war eine Nische in die dicken Wände gesenkt, als sei dieses Haus für ein Geschlecht unmäßig fetter Menschen gebaut, daß diese beim Begegnen einander ausweichen könnten. Jeder folgende Schritt hob sich schwerer auf die Stufe.
Die Geschwister durchschritten das Wohnzimmer, das Speisezimmer und den blauen Salon. Im nachmittäglich erhellten Krankenzimmer drang das Licht bis in den Alkoven, hinter dessen grünen Vorhängen das Bett stand. Die gelbe, abgezehrte Hand, die sichtbar war, erzählte von Leiden. Das vergitterte Eckfenster gegen den kümmerlichen Garten zu stand offen, und gerade in dem Birnbaum davor mußte ein Volk von Spatzen Krieg führen. Sie beschimpften und zausten einander durch alle Zweige von oben nach unten, kreuz und quer. Otto hielt zögernd mitten im Zimmer an, ungewiß, ob er den Schlaf der Mutter durch das Schließen des Fensters retten oder erst recht stören würde.
Die abgezehrte Hand bewegte sich, zog den grünen Vorhang zurück.
»Ich schlafe nicht, Otto, komm nur. Ich denke nur nach … wenn die Schmerzen weichen, kommen die Gedanken, das ist eine Kette, ein Glied sitzt am andern.«
Otto zog einen Stuhl an das Bett, faßte die kalte Hand und küßte sie. Die Mutter ließ es geschehen, mit einer Spur der Dame von Welt, die sich selbst dem Sohn gegenüber nichts vergibt. Von ihrer einstigen Schönheit war nur das Feuer der Augen noch da und der durch keinerlei Leiden zu verwüstende Zug strenger Hochgesinntheit. Aber es war ihm in dem Verfall des Fleisches doch auch allerlei Demütiges und Rührendes beigegeben, und wer dieser Frau in den Tagen ihres Glanzes fremd geblieben war, der hätte jetzt der Leidenden näher kommen können.
»Es ist schön von dir, Otto, daß du von Potsdam herüber kommst, so oft es deine Zeit erlaubt.«
Otto wies eine etwas krampfhafte gute Laune: »Das Nest! Alles schläft! Sie gehen alle auf den Zehen, um den alten Fritz nicht aufzuwecken, daß er nicht mit seinem Stock unter sie fährt. Sie müssen wohl ein schlechtes Gewissen haben, daß seine Arbeit verpfuscht worden ist. Dabei bimmelt's alle Stunden von der Garnisonskirche: ›Üb immer Treu und Redlichkeit‹. Mich juckt's nach Berlin.«
»An ein Krankenbett, Otto? Nein … du machst mir doch nichts weiß. Du kommst, weil deine Besuche gezählt sind.«
»Na ja, wenn ich mal in Greifswald bin, da springt sich's nicht so leicht nach Berlin.«
»Nicht deshalb! Ich meine – weil es doch nun mit mir bald zu Ende geht.«
Otto fuhr grobianisch auf, mit ärgerlicher Stimme: »Wer spricht davon?«
»Niemand! Das ist es! Niemand spricht davon, aber ich sehe es euch allen an. Das Geschwür frißt mich auf.« Die Rittmeisterin lag regungslos, die Augen auf den Betthimmel gerichtet, die Worte gingen ihr ganz leicht und ohne Qual vom Mund. »Mein Vater starb in meinem Alter. Die Mencken haben kein langes Leben. Hoffentlich gerät es dir nach den Bismarcks.«
In dem kleinen Erker, unter einem an drei Schnüren schwebenden Topf, aus dem grüne Ranken in wirrer Fülle herabhingen, saß Malwine zusammengekauert, wirklich wie eine weiße Raupe, die im Begriff ist, sich zu verpuppen. Das war peinvollstes Unbehagen für sie, so ein Gespräch von Leiden und Tod; da sah eine zudringliche, böse Fratze über ihre Schulter. Eine Heimsuchung, sagte Trine Neumann; wie sie dieses Wort schon haßte; gab es auf der ganzen Welt ein so häßliches Wort wie dieses?
Otto zog tief Atem ein. Dann legte er den Arm auf die Fußwand des Bettes, seine Fingerspitzen berührten die kühle, polierte Oberfläche und begannen leise, ganz von selbst zu trommeln: »Weißt du, Mama … ich weiß eine Medizin. Ich schicke dir zwölf Gardejäger her, die packen dein Bett und schleppen es über Land nach Kniephof. Eingekehrt wird nicht. Schlafen mußt du unter dem Sternenhimmel. Wenn du nach Kniephof kommst, bist du gesund.«
»Und der Professor, der mich jeden Tag sehen muß … mein Übel muß doch behandelt werden. Weshalb sind wir denn nach Berlin gekommen?«
»Das ist es ja eben. Ein Übel, das man alle Tage ansieht, wird nur immer ärger. Du solltest versuchen … wie das einschrumpft, wenn du dich mal ein paar Tage nicht darum kümmerst.«
Die Kranke fing an unruhig zu werden; man sah, ein Gedanke war in ihr aufgestanden. »Kniephof … das wäre keine Medizin für mich. Wenn man da zusehen soll. Alles zerrinnt unter den Händen. Was hat man da hineingesteckt an Geld und Arbeit – es liegt kein Segen darauf. Der Vater ist ganz grau geworden.«
Das waren die alten Klagen, die immer wiederholten Vorwürfe gegen etwas Unfaßbares, eine Schwere, ein Schleppen von Bedenken. Dieses Jammern, diese Anklage des Gutes traf Otto immer so, als ob einem lebenden Wesen unrecht geschähe: einem lahmen Pferde oder einem alten Hund, weil ihnen die Kraft ausging. Und es lag vielleicht gar nicht an dem Gut, es lag an der Verzagtheit der Hände, und unter einem anderen Herrn würde es rasch und freudig emporsteigen.
»Man muß mit dem Zeitgeist gehen,« fuhr die Rittmeisterin fort; sie wandte sich um und holte ein Buch vom Bord über dem Kopfende des Bettes. Ihr Eifer hatte sie Krankheit und Geschwür vergessen lassen, die Drehung des Körpers entzündete jetzt die beißende Flamme des Schmerzes. Während der Sohn den Deckel besah und die Titelseite las, lag sie ganz still, mit plötzlich eingefallenen Augen und kalkweißen Lippen. Es war ein Buch über die Rübenzuckerfabrikation. Otto zog die Brücke eines Blickes zwischen dem Buch und dem Gesicht der Mutter.
Ihr Geist überwand den Schmerz. »Da kann man noch eine Zukunft darauf bauen. Das ist etwas. Man müßte alles mit Rüben bestellen, eine Fabrik errichten. Es ist ja eine geniale Erfindung; wer hätte das für möglich gehalten, daß man aus Rüben Zucker herstellen kann. Der Mann ist ein Wohltäter der Menschheit. Eine Fabrik, in der wir Zucker erzeugen und Rum … das rettet Kniephof.«
Otto war aufgestanden und begann schwer im Zimmer zu wandern, mit Gardejägerschritten; sein Kopf arbeitete, sein Herz bäumte sich in der Brust. Unter dem Gerank des hängenden Gärtchens folgte ihm der weiße Wurm mit ängstlichen Blicken. Ihr war der Bruder ein Stück Herrlichkeit der Welt, sein Wort und seine Tat Offenbarung der Größe, ein geheimes Verstehen band sie eng an ihn.
Stöhnen kam aus dem Alkoven; die Frau Rittmeisterin preßte die Hände gegen den Magen, wälzte sich im Bett. Die Spatzenbande flirrte in einer Wolke aus dem Birnbaum nach dem Dach gegenüber und verfiel sogleich wieder ins Raufen. Aus einem der Nachbarhöfe drehte sich der näselnde Ruf eines Seifenverkäufers, ein Ruf mit Koloraturen und Verzierungen, wie eine gesungene, barock gewundene Säule: »Koofmroochreeneseefe.«
Kalten Schweiß trieb es der Kranken aus, wie ein Wolf wühlte es in ihren Eingeweiden: »Jetzt ist der Hunger wieder da!«
Otto schien nicht zu hören, seine Gedanken bedrängten ihn. Malwinchen kam zaghaft ans Bett: »Es sind Rebhühner aus Kniephof gekommen, Mama!«
»Ja … ja … rasch … Trine soll sie bringen … mein Hunger …«
Schon war Malwinchen draußen, polterte über die Stiegen. »Trine! Trine!« gellte die helle Stimme.
Die Frau Rittmeisterin zog den grünen Vorhang vor das Bett und begann sich anzukleiden, so rasch es gehen wollte. Der Hunger tobte in ihr, sprang wie ein boshaftes eingesperrtes Tier gegen die Magenwände. Er pflegte ganz plötzlich zu kommen, verdunkelte die Besinnung, lähmte den Willen, nichts blieb übrig, als die Gier, zu essen.
»Letztes Mal waren sie zu scharf gebraten,« greinte sie hinter ihrem Vorhang, »das Fleisch war ganz spröde und krachte zwischen den Zähnen.«
Malwine kam zurück und sah den Bruder vor dem schmalen Spiegel, dessen oberes Ende ein goldener Adler schmückte, der seine Flügel nach den beiden Seiten gebreitet hielt. Was den Bruder vor das Glas getrieben hatte, war keine Eitelkeit; Malwine verstand, daß ihm dieser Blick in den Spiegel etwas ganz anderes bedeutete, eine Musterung des ganzen Menschen, eine Heerschau über Gut und Böse. Das war als unklares, aber sicheres Empfinden in ihr und zugleich die Gewißheit, daß er jetzt vielleicht ein gutes Wort brauchen könnte.
Sie kam ganz leise heran, sah sich neben Otto im Spiegelglas auftauchen. Er fühlte das Warme, Reine, Zärtliche, dem seine besten und sonntäglichsten Wünsche galten, Vertrauen strömte ihm zu, er hielt das Kind fest an sich.
»Otto,« flüsterte Malwine, »die Mama.« Sie zog ihn zum Fenster, hob sich auf den Zehen zu seinem Ohr: »Ich habe solche Angst. Manchmal sitzt sie, starrt Löcher in die Luft und redet mit einem, den man nicht sieht.«
Er streichelte sie: »Laß nur, Malwinchen! Es wird besser werden. Nun kommt ja auch bald Vater aus Kniephof, mit allen Möbeln. Dann seid ihr hier alle beisammen, mit eurem alten Hausrat. Da gibt sich vieles.«
Trine Neumann kam zum Vorschein mit den Kniephofer Rebhühnern auf einer Schüssel aus Schönhausener Zeiten, dem letzten Überrest eines ganzen Services, von dem einst jedes Stück in kunstreicher schwarzer Zeichnung auf tadellos weißem Grunde irgendeine Ansicht aus Schönhausen gezeigt hatte. Die Kniephofer Rebhühner waren zwischen liebliche Häuflein weich gedünsteter Äpfel und tief purpurner Preiselbeeren gebettet; wenn man aber der ganzen Sache auf den Grund gekommen war, so hatte man das Schönhausener Schloß vor sich, und Trine hielt das für eine zarte Aufmerksamkeit, daß sie so bei guter Gelegenheit den gesamten Bismarckschen Familienbesitz im Eßbaren und Nichteßbaren als Erquickung für Leib und Seele vereinigte. Sie ging auf den Zehenspitzen, in dem Bemühen, möglichst wenig Lärm und Störung in das Krankenzimmer zu tragen, und da sie wenig von der Anmut Fanny Elßlers an sich hatte, sah es aus, als bemühe sich irgendein großer Watschelvogel ums Seiltanzen.
Der Spalt des grünen Vorhangs ging auseinander, und die Frau Rittmeisterin kam, ein wenig schwankend, in ihrem weißen, weiten Morgengewand, das an Halskrause und Saum mit einer gestickten Borde kleiner bunter Blumensträuße geschmückt war. Zu diesem Blühen und dem reich von Spitzen umzitterten Häubchen stand der Verfall ihres Gesichtes in arger Unvereinbarkeit. Ihre Blicke liefen hungrig zur Schüssel voraus, und kaum saß sie am Tisch, so fiel sie auch schon mit aller Gier über die Rebhühner her. Sie nahm sich kaum Zeit, die gebratenen Dinger der Ordnung nach zu zerlegen. Die Knochen splitterten unter ihren Zähnen, so daß Otto zur Vorsicht mahnen mußte, das Apfelmus sog sie schlürfend ein, ihre Hände zitterten über den Teller hin.
Etwas war an diesem Schauspiel, das Otto ergriff und mutlos machte. Aller Groll aus Kinderzeiten war längst verschwunden, er war der Mutter durch die Zone kühler Beherrschtheit längst ans Herz gedrungen, aber ihre Krankheit, Anblicke wie dieser stießen ihm immer wieder die Möglichkeit zurück, sich ihr ganz zu öffnen. Wie konnte er dieser Kranken mit den Wünschen kommen, die ihn aushöhlten und zersetzten und die den ihren so ganz zuwider liefen.
Ebenso plötzlich, wie er aufgetreten war, war der Hunger der Rittmeisterin gesättigt. Sie lehnte sich mit einem deutlichen Ekel um den Mund und in den Augen zurück und betrachtete das Bild des Schönhausener Schlosses, das nur von Resten der Preiselbeeren und zernagten Hühnerknöchelchen verwischt war. »Der Vater hat nicht geschrieben?« fragte sie. »Es müssen doch zwei Mahagonikommoden da sein … zwei ganz gleiche … er mag reden, was er will. Er soll sie nur beide mitbringen. Mein Gott … es kann doch nichts verschwinden, was einmal da ist.«
»Er wird sie sicher bringen!« sagte Otto beruhigend.
Wilhelmines Gedanken liefen wunderliche Kurven: »Daß ich hier in Berlin liegen muß … der teuere Chirurg, die Medizinen, das Leben hier … das richtet uns noch zugrunde, und es ist ja doch keine Hilfe.«
Über Berlin zog der Abend ein feines, apfelgrünes Seidentuch, das war ganz fleckenlos an einen hohen Himmel gespannt. Ganz ohne Röte sank dieser Tag, gläsern und klar, wie ein System kluger, scharfer Gedanken sich in sich selbst beruhigt.
»Bernhard kann ein guter Landwirt werden,« fuhr die Kranke fort, es reihte sich ohne erkennbaren Zusammenhang an das Frühere, »der Vater sagt, was er in Kniephof über die Bewirtschaftung geäußert habe, dem fehle weder Hand noch Fuß. Die Landwirtschaft interessiert ihn, er hat gesunde Ideen.«
Sie schob die Überreste der Mahlzeit von der Mitte des Tellers an den Rand und beugte sich vor, als müsse sie das Schönhausener Schloß ganz genau betrachten. »Weißt du, Otto,« ihre Stimme sang wie in früheren Tagen, den Tagen fester Entschlüsse, »Vater und ich sind übereingekommen, Kniephof an Bernhard zu übergeben. Es geht wohl nicht anders. Das Gut will eine junge Hand, und Bernhard kann es retten. Es ist zu viel für uns. Nun soll der Vater mit mir in Berlin leben … was würde da aus dem Gut? Zu unserer Sustentation muß Schönhausen ausreichen … Schönhausen.« Sie verfiel den Erinnerungen an Schönhausen, die Tage der jungen Ehe, die Franzosenzeiten, den hübschen, frivolen Offizier, dem der Rittmeister mit der Faust unter die Nase gefahren war …
Plötzlich zwang sie etwas zur Gegenwart, der Sohn stand da, den Widerschein des klaren Himmels auf dem freien Gesicht, und war kein Junge mehr, sondern ein Mann: »Mutter, Mutter, warum nicht auch mir?« Er legte beide geballte Fäuste auf die Brust. »Mutter, laß mich … mich auch. Mein ganzes Leben ist eine Sehnsucht … von allem anderen treibt's mich fort.«
Malwine faßte den Bruder mit großen Augen, ihr Herz stieß, das war ihr kühnstes Erleben, den Bruder so zu sehen. In unendlichem Glücksgefühl spürte sie seine Flammen auch in sich.
»Mutter … jetzt, wo ich Soldat bin, weiß ich es ja wieder, was das ist, Himmel, Luft und Erde, Erde, Mutter! Wenn wir daliegen, in der Schützenkette, möchte ich mich einwühlen … Maulwürfe haben es gut … Erde ist ihre Nahrung. Tausend Pfund Akten wiegen keine Schaufel Erde auf.«
Die Rittmeisterin schien gar nicht so sehr von diesem Ausbruch überrascht; sie sah den Sohn mit zuckendem Mund an, fühlte in diesem Moment wohl gar nichts vom Siechtum ihres Leibes, war mit der ganzen Seele darauf eingestellt, zu hören; sie öffnete sich und bereitete ihm den Weg.
Er, in dem Bestreben, nichts von dem Augenblick zu versäumen, überhastete sich: »Wie mich das ekelt … dieses Perückentum. Sie mögen notwendig sein, sie mögen bleiben. Der Staat braucht sie; es muß Leute geben, die rechnen und die Gesetze durchführen. Ich tauge nicht hin. Wie kann es mich befriedigen. Ich kann Präsident werden mit zweitausend Talern Einkommen … mein Lebensglück liegt nicht dort, Mutter! Mutter, du willst mich glücklich sehen.«
Trine Neumann zog die Tür auf, watschelte auf Zehenspitzen zum Tisch und begann das Geschirr abzuräumen. Sie beeilte sich, denn das Schweigen im dunkelnden Zimmer war nicht geheuer. Otto war wieder ans Fenster getreten, krampfte die Finger in das Polster, das Brausen in seinem Kopf ließ nach, nun stand er auf Mensur um sein Glück.
Die Tür klappte, die Stimme der Mutter sang: »Ich will dich nicht unglücklich machen, Otto!«
Er hatte sich gesammelt: »Meine Schulden reiten sie mir aus Aachen nach. Dem Mallinckrodt hat das gerade gepaßt, mich gleich bei meiner neuen Behörde in Potsdam zu verpetzen. Persönliche Angelegenheiten setzen sie auf den Amtsschimmel. Ich will mich beschweren; höheren Ortes sollen sie entscheiden, ob man so vorgehen darf. Aber der Bassewitz, der Leisetreter, beschwichtigt jeden Tag. Am Arnim liegt's nicht, der ist mir wohlgesinnt und hat nicht einmal aus der Urlaubsüberschreitung eine cause célèbre gemacht. Es liegt am System, es organisiert den Neid und die Kleinlichkeit.«
»Du warst leichtsinnig, Otto!«
»Ja, Mutter … stellt mich aber an meinen Platz, da will ich zeigen, was ich kann. Warum will ich nach Greifswald? Warum? Dort ist eine landwirtschaftliche Akademie, da kann ich lernen, was man braucht, darum will ich hin, mich umtun, Kenntnisse sammeln fürs Gut.«
Ein Schatten des feinen Lächelns von ehemals tauchte still auf Wilhelmines Gesicht: »Duckmäuser!«
»Ich will nach Magdeburg gehen, in einer Zuckerfabrik praktisch lernen, daß ich dem Gut dienen kann. Zwinge mich nicht, zu bleiben, Mutter! Laß mich meinen Abschied nehmen.«
Wilhelmine erhob sich vom Tisch, wieder einsetzende Schmerzen krümmten ihren Leib: »Ich will zu Bett!« Otto sprang zu und stützte sie sorgsam zum Alkoven hin.
Während sich die Kranke hinter dem Vorhang entkleidete, kam Malwine aus der Dämmerung. Ganz verklärt sah das Kind aus, seine Augen leuchteten, es wuchs still und begeistert am Bruder hinan.
»Otto!« Die matte Stimme hinter dem Vorhang rief.
Er saß am Bettrand, seine Rechte war von zwei schmalen, mageren Händen umschlossen.
Ein lieber Lebensplan versank der Kranken, ein mühsam errichtetes Werk zeigte die schweren Irrtümer des Grundes. Aber dafür stieg die Größe des Verzichtes; aus dieser Stunde baute sich eine andere Zukunft auf. »Ich will mit dem Vater sprechen. Deine Mutter soll nicht hindern, was du für dein Glück hältst.«
Dankbar neigte der Sohn den Mund auf die trockenen, kalten Mutterhände. –
Lachten die Straßen? Sie lachten!
Hatten alle Menschen Freude in den Mienen? Sie freuten sich.
Schwangen die Sterne über den Dächern Berlins? Sie funkelten und tanzten.
Wie wunderbar waren Trauer und Lust ineinandergeschmolzen, wie stark war so ein Menschenherz, daß es aus Wehmut Glück zu lösen vermochte. –
Wilhelmine lag stumm in ihrem Bett, Malwine mit ihrem Buch und Trine mit ihrem Strumpf saßen um den Tisch, die Lampe blaffte leise, jemand sang im Nachbarhaus.
Die Augen der kranken Frau waren weit aufgerissen und starr. Hatte sie ihr zweites Gesicht?
Sie nickte einem Unsichtbaren zu, einem Schatten: