Theodor Storm
Zur Chronik von Grieshuus
Theodor Storm

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Zweites Buch

Das siebzehnte Jahrhundert war vorüber; es saßen andre Leute auf Grieshuus.

Viele Jahre hindurch war niemand dort gewesen als ein gerichtlicher Verwalter, denn man wußte nicht, wem das Gut gehörte, ob dem Abwesenden, der jeden Tag sich wieder einstellen könne, ob dessen Tochter, einem schwächlichen Mädchen mit blaugeäderten Schläfen und dünnem blondem Haupthaar, das zu Schleswig im Kloster in der Hut einer entfernten Verwandten auferzogen wurde. Als sie mündig geworden, hatte sie von dieser sich getrennt und sich in der Nähe des Klosters eingemietet; heiraten wollte sie nicht, obgleich dazu schon mehr als eine Anfrage an sie ergangen war, denn unter Vorbehalt der väterlichen Rechte war das Gut ihr übereignet worden. Gleichwohl hat sie gemeint, ihr Vater werde wiederkommen, und die Freier etwa so beschieden, indem sie hastig nach einer begonnenen Arbeit griff: »Zu danken für die erwünschete Gewogenheit! Aber mein Papa wird nicht so gar von seinem Hof und seiner Tochter lassen; sobald er heimkehret, wird er für mich zu reden wissen.« Das aber haben alle für einen Abschlag aufgenommen und von dem schon vergessenen Vater auch nur ungern reden hören.

Zu Grieshuus und überall im Lande hat es wüst ausgesehen; unser Herzog Christian Albrecht, nachdem er mit dem von seinem Vater ererbten Diplom des Kaisers Ferdinand die Universität zu Kiel gestiftet hatte, war vierzehn Jahre lang von seiner Residenz vertrieben; dessen getreue Beamte ließ der Dänenkönig verjagen oder gefangensetzen und die Kraft des Landes durch seine nie ruhenden Kriegsrüstungen erschöpfen. So mochte es auch zu Grieshuus nicht heimelig sein, und Jungfer Henriette, wie sie nach ihres Vaters Namen getauft worden, ist nimmer dort gewesen; das Archiv aber hat sie nach einem Zimmer in ihrem Hause zu Schleswig bringen lassen, und um Ostern und Martini mußte der Verwalter dort ihr Rechnung legen. Dann hat sie tagelang vor den großen Büchern dagesessen und über Kopfweh vor ihrer Magd geklagt: »denn«, hat sie gesagt, »es muß doch stimmen, wenn er wieder selbst regieren will.«

Aber der Junker Hinrich ist doch nicht gekommen. Zu Grieshuus blühte die Heide und verging; Sonnenschein und Schneewinde wechselten über den mächtigen Eichenwäldern; sie wuchsen, geschlagen wurde nicht darin, insonders seit die Vormundschaft zu Ende ging; das schlimmste war, daß das Unzeug sich in ihnen mehrte, Weihen und Falken, die in den Wipfeln horsteten, vor allen der Wolf, »de grise Hund«, wie ihn die Bauern nannten, der unter den Höhlen der mächtigen Eichenwurzeln im Dickicht seine Jungen warf. Noch jetzt zeigt man die Stelle, wo eines Tagelöhners Kind, das Dohnen in den Wald gestellt hatte, von ihm zerrissen worden; denn einen Jäger hat es zu Grieshuus nicht mehr gegeben, und bei dem Turmhaus hing die rote Pforte klappernd in dem Winde; der Verwalter wollte keinen neben sich. Oben im Herrenhause, in dem Gemache über dem Portal des Haustores und gegenüber in dem weiten Saale, lag fingerdicker Staub und totes Geziefer auf Simsen und Geräte. Und Junker Hinrich war noch immer nicht gekommen.

Als aber mehr als ein Menschenleben so vorüber war, langten schwedische Völker vom Wellingischen Regimente aus dem Bremischen an; dabei ein Oberst, der wegen einer aufgebrochenen Wunde in Schleswig sich verweilen mußte. Er hatte sich in der Nachbarschaft des Klosters eingemietet, und die Dame von Grieshuus hatte ihm durch den Friseur ein sonderbar heilendes Wasser offerieren lassen, was er dankbar akzeptiert hatte. Als er sodann nach seiner Genesung seine Aufwartung machte und alsbald ihr seinen Eheantrag ausrichten ließ, hat sie nicht mehr den Mut gehabt, ins Ungewisse zu verweisen, sondern nur gesagt: »Ich hoffe wohl, mein Vater, der unter Karl X. jung gewesen ist, wird nicht dawider sein.«

So ist sie des Obersten Weib geworden, der seinen Abschied aus dem Dienst genommen hat; aber nach Grieshuus hat sie auch jetzo nicht hinüberwollen; »denn«, sagte sie ihrem Eheherrn, »die Wölfe kommen dort gar in die Küche, und über die Heide geht ein Spukwerk; – o nein!«

»Ei, Narretei! Wer hat dir das erzählt?«

»Der Verwalter; der wird's doch wissen!«

Der Oberst lachte: »Das wohl, er hat die Herrin nicht ins Haus gewollt!«

Sie wurde dunkelrot und strich das dünne Haar sich von den Schläfen: »Nein, nein; du glaubst mir immer nicht!«

»Nun, ich werde selbst dahin gehen und mich informieren, Henni.«

Dann ist er ohne sie dahin gegangen; er hat im Hause etwas räumen und mit den Bauern einmal die Wölfe treiben lassen; aber die Wälder sind zu dicht und die rechten Hunde nicht am Platz gewesen; sie haben keinen Wolf gesehen. So ist er nach Schleswig wieder heimgekehrt.

Und am Jahrestag der Hochzeit ist ein Kind geboren worden; ein Knabe, in welchem von des Weibes Eltern alle Schönheit aufgestanden ist. Es ist auch zur glücklichen Niederkunft gratulieret worden; aber die Mutter hatte doch all ihre Kraft dem Kinde hingegeben. Noch ein paar Jahre hat sie, meinst in Kammerluft, dahingelebt; dann eines Septembermorgens, da schon die gelben Blätter vor ihrem Fenster wehten, hat sie das Kind sich bringen lassen; und ihre magere Hand in seinen goldenen Haaren, hat sie gesprochen: Er ist doch nicht gekommen, Rolf, und ich sterbe nun; ich war nur eine schlichte Frau, aber du, mein schöner Sohn« – und der Knabe stand an ihrem Kissen und sah mit seinen durchdringenden Augen zu ihr auf –, »du wirst ihn sehen; grüß ihn von mir! Rolf! Vergiß nicht – –« Lallend hatte sie die letzten Worte gesprochen; ihre Hand fiel von des Kindes Haupt. Und als sei eine Weile so gelegen, hat der Knabe mit seiner Hand ihr in das magere Angesicht gegriffen; aber sie rührte sich nicht mehr. Da schrie er, und die Wärterin trug ihn hinaus.

Als der Oberst vom Begräbnis auf dem Klosterkirchhof, wo man seine Frau nach ihrem Wunsch bestattet hatte, heimgekommen war, nahm er seinen Buben auf den Arm: »Die Mutter hat hier schlafen wollen«, sagte er, »wir beide gehen nach Grieshuus; ich will nun selber deinen Hof verwalten; da sollst du reiten lernen!«

Und der Junge sah seinen Vater fest aus seinen dicht beisammenstehenden blauen Augen an; dann tat er einen lauten Lustschrei.

– – So ist der Oberst, da im nächsten April an den Waldrändern von Grieshuus die Schlüsselblumen blühten, da die Äcker gedüngt und die Wintersaaten gewalzt wurden, mit seinem Buben in das Herrenhaus dort eingezogen. Eine ältliche Verwandte der Verstorbenen, das Klosterfräulein Heide von der Wisch, ist mit dahin gegangen, um, wie sie sagte, bis die Flüttezeit vorüber, être la mère à ce pauvre enfant; sie ist aber dort hängengeblieben und nach dem Kloster nicht zurückgekommen, obwohl der Knabe nie nach ihrer Hand gegriffen hat.

Oben im Hause sind die ungeschlachten Möbel nach dem Boden hinauf oder in die Gesinderäume hinabgeschafft worden; im Wohngemache standen nun geschweifte Schränke und Chiffonerien, und auch ein Kanapee mit farbig gemustertem Bezuge, worüber neben dem vorgefundenen Bild der Urgroßmutter auch das der Mutter des Besitzers hing. Es pflegt so zu geschehen: das schönste, das Bild der Großmutter, fehlte zwischen beiden; sie war gekommen und gegangen, und keiner wußte noch von ihr.

Im wesentlichen wurde es auf dem abgelegenen Hofe nicht gar anders, als es im vorigen Jahrhunderte gewesen war. Denn Deutschland erhob sich eben erst aus wüsten Träumen. Die neue Koppelwirtschaft wurde freilich eingeführt; aber der Oberst war ein Melancholikus und litt an den Übelständen einer alten Wunde; überdies war er weder ein Landwirt noch ein Jäger, und beides war hier groß vonnöten. Für letzteren gab sich zwar ein hungriger Verwandter der alten Herrschaft, der nach Jahr und Tag sich zum Besuche eingefunden hatte und gleichfalls nicht wieder fortgegangen war; aber es hatte nichts Sonderliches zu bedeuten. Nur einmal, an einem Winterabend, war hinter dem Turmhaus ein Rehbock von ihm geschossen worden; allein zur Küche war er nicht gekommen, denn mit selbigem, daß das Tier zusammengebrochen, hatte ein dürrbeiniger Wolf sich darauf gestürzt und es an der Kehle mühsam fortgeschleift; der Vetter aber war mit erhobenen Händen durch die Heidemulde nach dem Hofe zu gerannt. »Hol der Teufel Eure Wölfe hier! Das ist nicht in der Ordnung!« hatte er im Hausflut dem Oberst zugerufen; der aber hatte nur gelächelt: »Freilich nicht, Vetter; jedoch ich meinte, das sei Ihre Sache.«

»Ei, das versteht sich, Oberst! Aber die Hunde! Ich soll nur erst die rechten Hunde haben.«

»Aber ich denk, Ihr habet ja den ganzen Stall schon voll davon.«

»Nun, nun; gehet nur hinauf und kramet die Karten vor; ich will mir nur den nassen Rock vom Leibe ziehen; dann wollen wir die vier Könige jagen.«

Und bald saßen sie sich gegenüber bei ihrem Pikett; und der Oberst war damit zufrieden.

– – Als der Junker Rolf im siebenten Jahre war, lehrte der Vetter ihn lesen und nach Adam Riese rechnen; das konnte er, sogar auch mensa und amo deklinieren und konjugieren. Der Knabe lernte leicht und rief mitunter: »Ich kann's doch besser noch als du!« Dann freute sich der Vetter und lief zu dem Vater: »He, Oberst, höret, was Euer philosophus da redet!« Und den Jungen, wenn er hintennach gelaufen war, bei den Ohren in die Höhe hebend, rief er: »Ich hab's dich doch gelehret, Tausendsakramenter!«

Des Knaben Freundin war eine alte Magd, die schon die Mutter als kleines Kind getragen hatte, die von hier zur Stadt und wieder von dort hieher zurückgebracht war. »Ich will Matten fragen!« rief der Bube, wenn er selbst nicht wußte, was er wollte. Sie hatte ihr Augenlicht fast ganz verloren und saß meist unten in der großen Gesindestube oder am Herde in der Küche, beschaffend, was einem blinden Menschen möglich war; und wenn er sie gefunden hatte und auf sie losstürmend sie an der Schürze riß, dann sagte sie wohl: »Kind, Kind, gib Ruh; was willst du denn? Bei Gott ist Rat und Tat!« und sah mit ihren toten in seine lebendigen blauen Augen. Und sie frug weiter: »Sprich, was willst du, Rolfchen?« Dann sprach er wohl ganz kleinlaut: »Weiß nicht, Matten – erzähl mir was!« Und sie legte das Messer, oder was sonst ihre Finger hielten, fort und frug: »Was denn erzählen, Kind?« Er war auf ihren Schoß gekrochen und rief: »Von Owe Heikens, wie du zuviel Holz gebrochen hattest! Nein« – und er flüsterte ihr ins Ohr: »Erzähl mir von der schönen Frau, da auf dem Meierhof; wie hieß sie doch?« – »Kind, Kind, das war ja deine Großmutter!« – Der Knabe sah ihr lange ins Gesicht: »Großmutter?« sagte er langsam. »War sie denn schon alt?« – »Alt?« Und Matten wiegte ihren grauen Kopf. »So jung wie Maililien! Wenn der Tod kommt, bleiben auch die Großmütter jung. Sei still und halt's für dich, so will ich dir erzählen!«

In einem aber war der Vater selbst des Buben Lehrmeister; er kaufte ihm erst einen, und, als er größer wurde, einen zweiten von den kleinen türkischen Kleppern und ließ draußen an der Ostseite eine Reitbahn richten; und die Peitsche des Obersten klatschte, und der Junge lag bald auf dem Rappen, bald auf dem braunen Klepper.

Plötzlich aber wurde es anders zu Grieshuus. Der Oberst, da an dessen Geburtstage der Junker mit einem unter des Vetters Anweisung gefertigten Glückwünschungsbriefe vor den herzallerliebsten Papa getreten war, hatte danach nichts Eiligeres zu tun, als durch seinen pastor loci einen Informator zu besorgen. Dadurch ist der Magister Caspar Bokenfeld auf den Hof gekommen, und mit ihm ein Mann, dem ich von nun an die Erzählung in eignem Namen überlassen kann.

Während der ersten Herbstvakanz in meiner Studentenzeit war ich daheim und wurde bei einem Besuche der Stelle von Grieshuus durch ein heftig Wetter in das Haus des Küsters in dem nahen Dorfe eingetrieben. Er war ein schon bejahrter Mann, den ich bisher nicht kannte; wir saßen uns bald am Fenster gegenüber, und ich sah auf die Ostseite der alten Felsenkirche, an welcher noch die schweren Eisenringe hingen, so daß ich ohne Umstand das Gespräch auf jene alten Dinge bringen konnte. Er hatte mir ruhig zugehört; als ich jedoch bekannte, daß mir die dortigen Ereignisse des achtzehnten Jahrhunderts minder klargeworden seien als die des vorigen, stand er auf und ging nebenan in eine Kammer, aus der ich das Auf- und Zuschließen eines Schrankes oder einer Lade zu vernehmen glaubte. Als er zurückkam, legte er ein vergilbtes Schriftstück in den mir hinlänglich bekannten Zügen des letzten Jahrhunderts vor mir hin.

»Klar ist das auch nicht«, sagte er; »aber es ist erzählt, was sich begeben hat. Der Autor war einer meiner Vorfahren und Pastor an hiesiger Kirche, nachdem er sich das als Informator auf dem Hof verdient hatte.«

Ich faßte mit Andacht das Papier; die alte Zeit begann ja selbst zu sprechen. Dann hab' ich's mit des Küsters Erlaubnis noch am selben Nachmittage abgeschrieben und bin erst nach Haus gekommen, als die derzeit einzige Gassenleuchte an der Hafenstraße schon von dem Nachtwächter ausgetan war.

Und hier ist es:


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