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Zehntes Kapitel

Schließlich schlug er Reste mystischer Frömmigkeit, das Stück Mönch, das in letzten Jahren aus Untiefen seiner Natur gegärt hatte, in sich tot, als er aus runder Anschauung des Weltganzen des Malers größte Siege über den Schöpfungsgipfel, den Menschen und sein Porträt erfocht.

Er malte den Oberwärter, der während zweier Choleraepidemien im Marseiller Spital ein ungeheures Menschensterben gesehen, das Andenken daran als weiche Schatten in seinen Raubtierschädel gedrückt hatte, malte weit über das von Menschen an solchen Kreaturen bisher Begriffene, Irre in ihren Nöten und Seligkeiten.

Malte in Wind und sengender Sonne, die ihm das Haupthaar wegsengte, des Oberwärters Frau, die verwelkt, ein staubiger Grashalm, dem Tod so nah war, daß sie auf das Letzte verzichtet hatte, füllte aus diesem menschlichen Schatten die Leinwand noch bis zum Bersten, daß es in Schwarz und Rosa ein Bild höchsten Ranges war.

Zum Letzten, für ihn Erreichbaren, fühlte er sich reif: Paul Gauguins Bild zu malen! Eines Tags fragte er den Chef der Anstalt, Herrn Peyron, der auf Tage nach Paris ging, auf Leben und Tod:

»Was sagten Sie, schlüge ich vor, mit Ihnen zu gehen?«

Und als, wie Vincent erwartet hatte, der Arzt sagte, das ginge zu schnell, war er mit der Antwort doch zufrieden, weil er aus Peyrons Bescheid Zustimmung zu baldiger Abreise hoffen durfte.

Die in ihm feststand. Nachdem er sie künstlerisch bewältigt hatte, war er mit seiner Umgebung fertig, meinte, er kennte seine Pflege gründlich genug, sie auf Reisen befolgen zu können; überall aber gäbe es für vorübergehende Anfälle die Tobsuchtszelle.

Zwischen Glück, Unglück, Gesundheit, Krankheit sah er keinen Unterschied mehr. Beide waren, bewiesen seine Bilder, notwendig gewesen. Hauptsache, daß festgestellt worden war, der Olive Grün war vielmehr Blausilber, Erdboden ein für allemal rosa, veilchenblau, orange bis zum stumpfen Ockerrot. Und daß er nie den Christ im Olivenhain, nur immer die Oliven selbst, die südlicher Länder Charakteristisches gerade so wie Weizen das der nördlichen Himmelsstriche sind, malen würde. Trotz eines Anfalls, der vorüberging, wurde seine Haltung so frei, daß Doktor Peyron erklärte, da des Patienten Führung logisch sei, habe er gegen dessen Verlassen der Anstalt nichts mehr einzuwenden, und da Theo zustimmte, brach, von einem Wärter begleitet, Vincent am fünfzehnten Mai 1890 nach Paris mit der einzigen Sehnsucht auf, beim Wiedersehen des ihm nahestehendsten Manns durch letzten Aufschwung einen Fleck auf seines Lebens silberblanker Fläche auszuwischen.

Es kam nicht dazu! Paris und alles, was mit der Stadt zusammenhing, erschlug ihn schnell und so unmittelbar, daß Trauer, die ein einzelner Mensch nicht tragen konnte, ihn bis in die letzte Nerve übermannte. Da war noch immer trotz seines unsäglichen Aufstands, zäher Opfer vom Morgen zum Abend alles, was er bekämpft und in sich ausgerottet hatte, selbst im nächsten Freundes- und Verwandtenkreis lärmend, auftrumpfend beieinander, auftrumpfender, siegesbewußter noch. Und ohne Rest inneren Widerstandes wußte er plötzlich, mit seiner andersgearteten Anbetung des Schöpfers und der Schöpfung war er darum ein trauriger Narr, weil er gegen des jetzigen und kommenden Jahrhunderts knechtische Verehrung eines bis in Nuancen festgelegten offiziellen Heils und Unheils, klischierter Verzweiflungen und vorgeschriebener Ekstasen ohnmächtig bleiben mußte.

Noch brachte er es über sich, sich abends spät vor Paul Gauguins erleuchtetes Fenster zu schleppen, doch da er die schlotternde Hand auf die Klinke der Haustür legte, erhellte ihn ein Höllenfeuer des Grauens, auch aus des liebsten Freundes Schnauze müßte er die sauren, tausendmal aufgestoßenen Gemeinplätze riechen, den immer wieder ausgespuckten zähen Schleim von der Belebung des Nichts durch des Menschen Genie schmecken, und daß ihn das auf der Stelle töten mußte.

Am andern Morgen brach er Hals über Kopf nach dem nahen Auvers an der Oise in das Haus des Arztes, Doktor Gachet auf, der ihm als selbst nervenkrank zum mitfühlenden Pfleger seines Zustands vielfach empfohlen war. Und wirklich fühlte er sich vom ersten Augenblick an in dieses ungehemmten Temperaments Nähe so wohl, daß er einige Wochen bis in den Julianfang mit ihm in geregelten anregenden Gesprächen verbrachte, die den seit dem Wiedersehen von Paris und seiner von Bürgern geheiligten inneren und äußeren Panoramen in ihm entschiedenen endgültigen Verzicht nicht wankend zu machen, Vereinsamung, in der er, von fremden Urteilen nicht mehr behelligt, weilte, nicht zu brechen suchten.

Statt Gauguin malte er Gachets zynische Entschlossenheit; stellte dessen Charakter als einen darin dem seinen ähnlichen ins Licht sehr heller Malerei, daß der auch eher verrecken als sich auf Kompromisse vergesellschafteter Menschen und ihrer öligen Verklärer einlassen würde.

Wer weiß, wie lange er in der gläsernen, gut abgedichteten Kameradschaft mit Gachet und dessen Tochter in Auvers das Leben gefristet hätte, wäre ihm zu anderen Anmerkungen über sein Werk in der Presse nicht die überraschende Kunde gekommen, der berühmte Kunstgelehrte, der durch seine glorreiche Wiedererweckung des El Greco gerade größtes Aufsehen gemacht hatte, hätte über ihn, Vincent van Gogh, an weithin sichtbarer Stelle die schallendste Fanfare, die ihn jäh in die Mitte alles europäischen Kunstinteresses rücken müßte, geblasen.

Trotz aller Alarme aus diesem Grund, auch von Gauguin kam ein erregter Brief, wollte Vincent auf des Aufsatzes Kenntnis, der ihm die schwer errungene Einsamkeit zu zerschlagen drohte, verzichten; Gachet aber bestand lärmend darauf, nach lauter Absagen an seine menschliche und künstlerische Sendung sei er, diese maßgebende, enthusiastische Prophetie, die seine große Stellung in der Kunstgeschichte aller Zeiten und Völker anbahnte, zu lesen verpflichtet.

Und er selbst war es, der am Morgen des neunundzwanzigsten Juli 1890 dem Widerstrebenden das erste große, kritische Gutachten, das schon in die Presse vieler Länder weitergeflogen war, pathetisch mit entzückt ausholenden Gesten vorlas:

»Beim Tun der gegenwärtigen Künstler, Denker, Politiker handelt es sich meist um den Versuch, ein vieldeutiges warmes Rätselsein zu Gewißheiten zu verkrusten, und so die atmende fruchttragende Natur in ein starres Totenfeld zu verwandeln. Vincent van Gogh aus Nuenen in Brabant aber, der neue Prophet der Malerei, hat sich als erster zurückbesonnen, daß Wahrheiten, Tatsachen, Erfahrungen samt und sonders Unsinn sind; er läßt sie im Stich und bildet, ein heilig Blinder, die Welt wieder geschlossenen Auges nicht nach Modell, sondern im Verfolg seiner höheren Einbildung.

Er will das All wieder märchenhaft, unwahrscheinlich. Seine Wirklichkeit verlangt Idee, Komposition, des Gottmenschen Arrangement. Er ist aus dem alten wiedererstandenen Heldengeschlecht und wir beugen die Knie.

Bei ihm soll die dargestellte Welt nicht sein, sondern scheinen. Weil er von sich aus eine höhere Wirklichkeit herrisch hinter sich her, in sich hineinzieht, weil er bestimmt, mit wem er umgeht, wissen wir genau, wer ist und ewig sein wird: Vincent van Gogh, wie wir Rembrandt und El Greco aus gleichen Gründen kennen.«

Und während Gachet begeistert endlos weiterschrie, Gemeinschaftsgefühl, Seelenbotschaft, Lobpreisung des Allmöglichen, Vibrieren, Symphonie, Krater, Lava dröhnte, brach Vincent plötzlich ganz in sich zusammen.

Nun war alles verloren! Hin der letzte Hort der Einsamkeit, Distanz zum umgebenden mitmenschlichen Chaos.

Der menschliche Blödsinn auch gegen ihn unwiderruflich mit Volldampf auf dem Marsch! Er stand auf, zuckte Achseln, ging in die Felder, schoß sich in den Bauch.

Wurde, da man ihn am Boden fand, heimgebracht. Der hertelegraphierte Bruder sah ihn noch lebend, flehte ihn mit Gachet, stark zu bleiben und, den Tod zu überwinden, lange Stunden an.

Vincent, Erlösung fühlend, erlosch in der Gewißheit: wie schon aus seinem Werk, würde man aus seinem Begräbnis und Andenken gigantischen bürgerlichen Kitsch machen!


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