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Viertes Kapitel

Manchmal meinte er, sein Blut finge mit der neuen Lebensart wieder zu kreisen an, was in Paris nicht mehr der Fall gewesen war. Einmal hatte er auch öffentliches Glück, als vor der Tür des Bordells zwei Italiener aus Eifersucht auf eine Insassin zwei Zuaven erschlagen hatten. Da sah er auf kein Kommando, doch beim rasenden Versuch, die Mörder zu lynchen, eine Menge so außer sich, wie sie es sich sonst nicht erlaubt hatte.

Von überallher holte er Beweise, theoretisch hatte in seinen markantesten Köpfen das Jahrhundert sich schon zu gleicher Lebensauffassung wie er bekannt; praktisch sie aber nicht gelebt. Er notierte Flauberts Bekenntnis: Talent ist Riesengeduld, Originalität hingesunkene Betrachtung. Maupassants Ruf: Zivilisation zur Natur übertreiben! Und befolgte ihn. Suchte wie Courbet ohne bürgerliches Ideal und Religion zu sein. Ließ sich von seinem Posten bei gebärender Schöpfung durch Frühlingsstürme nicht vertreiben, band seine Staffelei an Stützen fest, die er in den Boden gerammt hatte. Trotzte in Arbeitswut allen Wettergewalten. Da Bäume in Buntheit lohten, wollte er einen richtigen Obstgarten der Provence, seine hinreißende Heiterkeit machen, die Sache mit des Sansculotten Frechheit hinlegen, das Eisen schmieden, so lange es warm war; denn nicht lange würde das Obst so blühen.

Freilich kamen Rückschläge in seiner Entbundenheit wie für jeden, der das Gefängnis verlassen, noch keinen Halt in der Freiheit hat. Dann begann der Magen in Pariser Weise sich ihm zu kehren, das Genossene auszuspeien. Nerven kochten und sträubten sich verzweifelter unter des Mistrals schneidiger Bürste.

An solchem Tag, da ihm die schon gehabte Gewißheit geschwunden und zerschlagen war, packte ihn der Taumel lüsterner Beziehungslust wieder. Seiner gemessenen Absicht griff er vor, warf Hals über Kopf sehnsüchtige Zeilen an Paul Gauguin aufs Papier, er sollte den kahlen Norden lassen, zu ihm in den Süden eilen, wo er tolle Prächte und Wunder schauen würde. Trieb in einem zweiten Schreiben den Bruder Theo an, Gauguin das zur Reise notwendige Geld auf verpfändete Bilder vorzuschießen.

Obwohl er sich am Beginn neuer Erkenntnisse sah, die, nicht zu Ende erlebt, nicht mitteilbar waren, riß dumpfe Brunst ihn aus Wegen der Vernunft, und als er sich durch des Mannes Gauguin maßlose Vorstellung in ein Chaos Leidenschaften verstrickt hatte, jagte er unter Zwängen nach eines Menschen nacktem Fleisch ins Bordell, wo er auf das erste feile Weib fiel.

Jetzt kam auf dessen besondere Wirklichkeit nichts an, nach einer Wolke warmen Bluts, eines andern Schweißgerüchen dürstete er, wollte das Weib und sich in bodenloses Loch stoßen. Da packte ihn der Dirne Blick eines Haustiers, das nur des Manns herrische Launen zu fühlen hündisch gewillt war, so mächtig, daß er flach ins Polster ihres Fleisches brach, unter ihren streichenden Händen erst seines Leibs Erschütterungen verebbten.

»Besser?« lallte sie mit Lächeln, das kicherte, sie begriffe auch das, und sei es ihr neu, so hocherfreulich.

»Das gibt's bei Männern auch?« sprach sie, und im Ton stand, sie hätte es in Mühsalen gehofft.

Vincent aber sah, sich hochrichtend, ihren von Seuchen zertrümmerten Leib, noch blühende Euter mit prachtvollen Karminen und Violetten der Warzen, stolzes Königsblau der Milchadern und stammelte: »Vor unserem verleugneten Selbst, verleugneter Welt seid ihr letzte Zuflucht, weil ihr euch, für diesen Zweck namenlos zu sein, entschlosset. Nur vor euch, die ihr abtakeltet, brauchen wir uns des Hochverrats an aller Schöpfung nicht zu schämen. Bei dir und deiner Selbstvergessenheit kommt der geschundenste Kommis, ausgemergeltste Idiot vor sich zur Geltung.« Und da sie nicht begriff, küßte er sie auf die Lippen, daß sie Augen vor Entzücken kugelte; dann streckte sie sich, selig schmatzend lang, seufzte, floß in Wellen, kolossalen Rucken hin.

Er malte sie in aufgespreizte Decke wie in eine Muschel geduckt, nur mit Strümpfen und ihren mächtigen Haarfließen. Die Busen, riesige Beutel, deckten die Brust bis zum Bauch. Aus dem, auf die im Nacken gekreuzten Arme, gestützten Schädel sahen Augen menschlich den Beschauer an.

Nun hatte er in nächsten Tagen Angst, Gauguins Annahme seiner Einladung möchte so schnell folgen, daß, auf die außerordentliche Begegnung sich geziemend vorzubereiten, keine Zeit blieb. So würde das Zusammentreffen Katastrophe werden, da er gerade erfahren hatte, mit dem armseligsten Gegenüber war er der Auseinandersetzung nicht gewachsen. Glücklicherweise wich der Aufgeforderte aus, vertröstete ihn auf später.

Also prüfte Vincent seine inneren Bestände, sah, welchen Schlingen und Fallen er schon entgangen war, hatte er den unaufhörlichen Schwindel, der von »Führern« mit Menschen getrieben wird, bis in Programme der großen Sozialisten, so Proudhons, durchschaut; der gerade wie bürgerliche Philosophen vorher die Wirkung der Kunst von ihrer Unterwerfung unter bürgerliche Ideale abhängig gemacht, sie als ideale Darstellung der Natur hinsichtlich vollkommener Leiblichkeit und Moral bestimmt hatte. Wobei natürlich der Begriff »vollkommen« sich mit »sozial« decken sollte. Er wog seine Worte. Die wenigen, die er mit Roulin und dessen Frau tauschte, waren die einzigen, die er täglich sprach, und er verkehrte so mit Welt weiter, daß Farben die Sprache, mit der er sich ausdrückte, blieben: Zink, silberweiß, veronesergrün, chromgelb, zinnoberrot, preußischblau, kobalt und ultramarin hießen seine Vokabeln; Begriffe wuchsen aus ihren abgeprobten Proportionen.

Dabei ging ihm auf: in seinen Farbsätzen gab es die zufälligen und gewollten Irrtümer nicht, die in neueren Sprachen sich darum häuften, weil ein in alten Stämmen mitübernommener Vorsinn heutige Ursprünglichkeit der mit ihnen gebildeten Worte hindert. Dafür war ihm die in romanischen und der englischen Sprache mit der Vorsilbe »con« gebildete umfangreiche Gruppe stärkster Beweis, die in allerwichtigsten Begriffen betonte, daß ein Gewissen – conscience, die Überzeugung – conviction, Entscheidung – convulsion, Betrachtung – contemplation und viele andere nur Geltung hatten, weil sie nicht vom Redenden aus sondern con – cum mit aller ausschlaggebenden Welt bedeuteten. Vincent lachte, als er zu anderen Entlarvungen der verlogenen Gesellschaft diese als großen Fortschritt auf seinem Weg des Umsturzes entdeckte.

Doch auch der Mönche noch fortdauernde Flucht wie seine Einsiedelei in Paris hatte nur theoretischen Protest gegen des Zeitgenossen ausschließlichen Anpassungswahnsinn bedeutet, immer die Tat, die vieler Nachfolge verbürgt, gefehlt, während er hier die für alle sichtbaren Beweise schaffen wollte, an denen mit offenen Augen keiner vorbei konnte. Auf seinen Leinwänden standen schon Ausschnitte der Natur, die Fraktur und kein Rotwelsch sprachen. Das war beständig, solid, nicht wie der Boulevards und Verträge Jargon trügerisch deutbar. Nur noch in so frappanten Werken wollte er reden.

Dahlien sah er, hatten dunklen Purpur, stechendes Orange der Granatbaum, die Feige grün als Charakter und wußte, an ihm, Vincent van Gogh, geboren 1853 in Zundert in Brabant, war die Liebe zum betrogenen Mitmenschen wesentlich, und er mußte bis in den Tod für ihn um die leuchtende Wahrheit kämpfen; ein Asket Illusionen gegenüber, Prophet der Redlichkeit! Angenehmer wäre es zwar gewesen, täglich ein Weib zu umarmen, dem Ruhm nachzulaufen; doch kostete das Kraft, und die seine gehörte einem erkannten Ziel.

Dem Freund Bernard schreibt er: »Malt Delacroix, ist er ein Leu, der Fleischfetzen reißt. Dabei f... er selten, die seinem Werk geweihte Kraft nicht zu mindern.« Und: »Balzac lehrte uns Künstler, daß Keuschheit stärkt.«

Hinsichtlich seiner Besuche bei jenem Weib: »Die Hure hat mein Mitleid, meine Liebe. Wie wir Künstler von der Gesellschaft verfehmt, ist sie uns Genossin und Schwester. In dieser Fahne findet sie Freiheit wie wir, die herrlich ist. Wir täuschen uns, glauben wir, mit bürgerlicher Rechtfertigung, die muffig ist und mit der sie nichts anzufangen wüßte, ihr einen Dienst zu erweisen.« Und setzt hinzu: »Cézanne, wie die alten Holländer beweibt, gibt nur darum in seinem Werk Lebenszeichen, weil er trotz des Verheiratetseins nicht entmannt ist.«

Als er mit fortschreitender Erkenntnis mehr an das Zusammentreffen und Vergleichen großer beiderseitiger Erkenntnisse mit Gauguin denkt, wird ihm der trostlose Gasthof als Kulisse für solche Zusammenkunft verhaßt, und trotz der Qual, die ihm jeder vom Bruder über die Notdurft geforderte Pfennig macht, schlägt er die Gründung eines Heims für ihn Vincent, zweier Zimmer, zweier Kammern in Roulins Haus Lamartineplatz 2 vor, das er nur mit dem Notwendigen füllen will.

Dort soll für des Aufenthalts im Süden Dauer sein Hauptquartier sein, da will er von Greueln der Gasthöfe, die ihn zugrunde richten, frei werden. Das Haus, außen gelb, innen weiß getüncht voll Sonne, aus roten Ziegeln der Fußboden. Eine leichte Stiege verbindet zwei große Räume zu flacher Erde, die Atelier sein sollen, mit Kammern im Oberstock. Dazu liegt die Wohnung an einem nach drei Seiten freien Platz, so sichtbar aller Welt, daß Unterröcke, die er jetzt nicht braucht, den Eintritt bei ihm kaum wagen werden.

Nach Theos Zustimmung schlug er auf einer Matratze auf blankem Boden vorläufig sein Lager auf, begann, nur des Erdgeschosses Wände mit seinen leuchtenden Bildern und Skizzen zu schmücken. Da war ein Stilleben, das dem Winkel, in dem er an einem kleinen Kanonenofen die Mahlzeiten nahm, Glanz gab: eine Kaffeekanne in blauem Email und Gold, ein Milchtopf hellblau, weiß karriert, rechts eine weiße Tasse mit blauer und orangener Zeichnung auf einem Teller von graugelbem Porzellan. Ein Topf in blauer Majolika mit roter, grüner, blauer Zeichnung, endlich zwei Orangen und drei Zitronen. Der Tisch ist mit blauer Decke bedeckt, des Bildes Grund gelbgrün. Sechs verschiedene Blaus also und vier oder fünf ungebrochene Orange und Gelb.

Und Vincent sah vor der Malerei: hier war eine Etappe erreicht! Nie vorher wurde über willkürliche Einbildung hinaus Wesentliches allerdings bescheidenen Hausrats in so natürlicher Dichte wiedergeschaffen, ein Rätsel durch Liebe gelöst. In seinem Bild bestand dieser Dinge fromme Einfalt über Natur hinaus.

Das war mit wenig Fleischnahrung, viel Gemüse, keinem schlechten Wein, Schnaps, Tabak und wenig Frauen – mit großer Geduld von ihm gemacht!

 


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