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Fünftes Kapitel

Hatte er gehofft, was er dem Bruder, den Freunden von seinem geänderten Leben schrieb, werde deren Jubel ernten, irrte er. Zwar blieb Theo gütig zustimmend; aus Antwortschreiben junger Dichter, bekannter Maler aber las er Spott. Sie schien nur sein Verkehr im Freudenhaus zu interessieren, den sie saftig beschrieben, über den sie im rüden Ton abgebrühter Montmartrebummler bis ins kleinste Auskunft wollten.

Schrieb er aber, er wollte auf einer Wiese mit Sonne und Bach zum Saufen die Gesellschaft anderer freier Gäule haben, dann donnernd sich entladen, rümpften sie die ästhetische Nase. Begriffen nicht, welches Wesentliche er in Arles für den erblindeten Menschensinn finden wollte, und warum es das in Paris, wo alles ein Gipfel sei, nicht geben sollte.

Und er selbst wußte nicht, wie seine Erkenntnisse in Worte stanzen, fürchtete Finten und Fallen der vermaledeiten Umgangssprache. An Gauguin wagte er außer ewiger verstohlener Aufforderung, des Zusammenseins Absicht nicht aufzugeben, überhaupt keine Silbe.

Was hieß »Freiheit« zum Beispiel, die Vokabel, die Völker, Gruppen und der Einzelne fortwährend im Maul wälzte, während er sich blitzschnell jeder befohlenen Meinung anpaßte? Ist Freiheit nicht: Beharren bei des Alls und jedermanns Ursprünglichkeit, hinter der des Einzelnen und keine Massenverantwortung steht; Behauptung des eigenen, Ablehnung eines Kollektivbewußtseins? Meist aber bedeutet sie des Stärkeren blinde Bestialität, der die Umwelt für seinen Willen niedertritt.

So faßte Vincent den Sinn aller heutigen Wirklichkeiten und Freiheiten, daß sie zwar keine Verantwortung für Kollektivurteile und Taten übernehmen, doch Erfolg, gleichviel mit welchen Mitteln, wollen. Die waren für Junker, Bürger, Proletarier nur die handlichste Form fürs Dasein in einer Zeit, die kein schwieriges Einzelgewissen doch Geschäfte, Massennepp, fettere Profite mit dem Schein des Rechts und der Vernunft brauchte. Niemand aber begriff, Profit mußte nicht nur Mehrwert aus Kapital, doch stets reinerer, reiferer Erkenntnis sein.

Wirklicher Umsturz zivilisierter Welt mußte über Kritik und Analyse des in Händen des Bürgers befindlichen Kapitals, über puren Geschäftsgeist an den tieferen Schlaf der Welt, den sie seit langem schnarchte, rühren. Eine Selbstverständigung der Zeit mußte nicht nur, wie Marx gewollt hatte, statt täglich neuer Auseinandersetzung mit Gott, wirtschaftlichen Klassenkampf bis aufs Messer, doch gegen blöde Vorurteile herrschender Klassen den geistigen Befreiungskrieg aller bringen.

Auch Abkehr von einem Gott, der bloßer Vertreter nationaler Ehrgeize, des praktischsten Prinzips der Welt, seine Gläubigen unter keinen Umständen verderben ließ, zu einem Schöpfer hin, der mit verantwortendem Bewußtsein in allen Menschen, aller Sprache, aller Schöpfung lebte.

Glauben und Wissen, die als Dogmen auftraten, hatten alles enthusiastische Selbsterkennen, das Vincent vor jeder Erscheinung genoß, jenen aus tiefen Quellen sprudelnden Instinkt getötet, der für Rätsel und Verwirrungen die schlichte Lösung gibt, letzte Geheimnisse entschleiert.

Ein vom Rabbinersinn des Paulus, von der Kirche umgestülptes Christentum aber, in dem durch Einen alles getan, durch das die Menschheit für immer erlöst ist, in dem man nur zu glauben, nicht verantwortlich dazusein und zu wirken hat, hatte, wie Staaten mit Untertanen zu der verpestenden Faulheit der Instinkte und Vernunft geführt, bei der die höchste Tugend – blinder Gehorsam heißt.

So merkte er, der lange von ihm fanatisch verehrte Marxsche Freiheitsbegriff war paradox, autoritär wie Lutherischer Protestantismus vor ihm, setzte er, von Nichts als Nützlichkeitssinn, zentrifugaler statt zentripetaler Ökonomie geleitet, das Kollektivbewußtsein voraus, und auch der auf Humanität und Arbeitsgemeinschaft gestützte Umsturz Bakunins enthielt noch nicht jene vox humana wieder, die in der Menschheitsgeschichte schon gerufen hatte und sich bestimmt in Vincents Busen regte.

Da er seinen Atem freier spürte, brach er zu einem Ausflug ans nahe Mittelländische Meer auf, ließ sich ein paar Tage im winzigen Fischerdorf Saint Maries Brisen des Meers in aufgesperrte Nüstern brausen.

Veilchenblau und fuchsrot war die Düne, preußischblau das Buschwerk auf ihr. Die erste Nacht lief er am leeren Strand spazieren, hörte Stimmen der Natur, Wind, Gegenwind und hatte das Herz um die betrogene kultivierte Menschheit so überangefüllt, daß Tränen ihm aus den Augen strömten, er bis in seine Wurzeln zitterte. Auf blauem Himmelsgrund glänzten Sterne, grünlichgelb, weiß, rosa; diamantklarer als in Amsterdams Schleifereien die kostbarsten Solitäre. Warum schenkten Menschen sich diese Opale, Lapis, Smaragde, Rubinen und Saphire nicht, die sich strahlend anboten und nichts kosteten?

Hier merkte er, Afrika durfte nicht weit sein, wollte man die Farbe zum Äußersten heben, Person in sich gipfeln. Und er fragte sich, ob Gauguin, dessen Werk stets unvergleichlicher schien, auf gleichem Weg wie er oder wie zu seiner formidablen Kunst gekommen sei.

Zurückgekehrt, war er stark genug, abends nicht nur mit Roulin, auch mit einem jungen Zuavenleutnant Milliet zu plaudern. Roulin war Sozialist, doch beschränkte sich sein Sozialismus auf die gängigsten Schlag- und Schimpfworte. Phrasen sprach er, die glatt der sozialistischen Tradition entnommen waren, wimmelte Profitrate, Mehrwert, Klassenbewußtsein in alle Rede, und der Staat, die Republik, die er sabotierte, wo er konnte, war ihm der wüsteste Ausbeuter, mit dem er »tabla rabla« machen würde. Nie tat der Postbote mehr als die Vorschrift befahl, und das so lässig wie möglich, indem er alle Arbeit streckte, schmunzelte, als er erzählte, er streike nicht nur selbst die halbe Dienstzeit, sondern suche Kameraden, Vorgesetzte durch Geschwätz, Manöver dauernd nach Kräften von der Arbeit abzuhalten. So räche er sich für den Hundelohn, der seinen Kindern das Mark in Knochen zur Schwindsucht mahle. Fertigen Umsturz dachte er als bessere Kost, teueren Tabak und Wein, mehr Zeit, im Café zu schwatzen und mit Flüchen die Faust auf den Tisch zu fetzen. Er war eine schlichte, brave Haut: ideologische und religiöse Bedürfnisse hatte er nicht.

Milliet beschimpfte ihn; doch tastete auch er wie Roulin nur oberflächlich Gewesenes, Zukünftiges, Rassen, Klassengegensätze ab, spuckte viel, behauptete, er dächte heimlich sein besseres Teil.

Vincent sah, in beiden kochte Ressentiment. Das herrschende, genießende Pack beneideten sie, der eine um ideelle, der andere um materielle Schätze, wollten mit den Besitzern tauschen. Bestätigten das Urteil, das er sich bei belgischen Bergproleten, überall, wo er Ausgebeutete hatte leiden sehen, von der Revolution, die im Marsch war, gemacht hatte: Auch sie wie alle gewesenen würde nicht wirklicher Umsturz sein, weil sie, wenn Wesentliches, nur äußere Umstände hochgespülter Klassen ändern, sie sonst in gleicher geistiger Finsternis lassen würde. Keinen hatte er gekannt und sah hier niemand, dem, die Welt mit eigener Inbrunst und Urteil zu kennen, Religion war. Auch die größten Geister aller Zeiten hatten nie wuchtig genug auf diese erste Pflicht des Menschen gewiesen, sie ihnen über alle Begriffe eingebläut. Wütend war er, las er bei dem geliebten Delacroix sogar fade Tagebuchseiten im Ton letzter Erkenntnis aufgemacht: »Der Mensch macht Fortschritte in jedem Sinn, befiehlt aller Materie, nur lernt nicht, sich selbst befehlen.«

Welche Verkennung des Grundsätzlichen! Darüber trösteten auch des großen Malers Sätze nicht, die richtig die Folgen der Revolution von 1789 in Frankreich schilderten: »Die Revolution, die sich jetzt in den Massen auswirkt, bringt nur Parvenüs an den Tag. Was heute Welt heißt, ist denkbar größte Langeweile. Welches Vergnügen soll man, zu reich gewordenen Schiebern zu gehen, haben, die ihre Ladenschwengel in Fräcke stecken, damit sie mit ihren Damen tanzen. Ich ziehe die Gesellschaft von Bauern vor.«

Zudem war auch das nicht klar gesagt: »Bauer« mußte Subjekt Kern in solchem Satz, gegen Gesellschaftslügen seine Ursprünglichkeit mit Delacroix' ganzer Verantwortung ausgespielt sein. Besser hatte von derselben Epoche Heinrich Heine gesagt: »Die Verkleinlichung aller Größe und radikale Vernichtung des Heroismus verdankt man jener Bourgeoisie, die durch den Sturz der Geburtsaristokratie in Frankreich zur Herrschaft kam und ihren engen nüchternen Krämergesinnungen in jeder Sphäre des Lebens den Sieg verschaffte. Ich will bei Leibe das alte Regiment adliger Bevorrechtung nicht zurückrufen, doch das neue Regiment ist noch fataler.«

An Stendhals Worte dachte er: »Ein Höchstmaß Ideen muß mit dem Mindestmaß Ausdruck gesagt sein: Sich zum Prinzip machen, sich nicht genieren, nie Literatur reden.« Kurz: niemand durfte die Enträtselung ursprünglicher Natur zum Vorwand noch so erhabener Entwürfe mit ihr machen.

Ziel und übergenug mußte es bleiben, sie, wie sie erkannt war, zu lieben und zu pflegen.

In der neuen französischen Kunstgeschichte, urteilte Vincent, hatten vor vielen Erleuchteten, Beaudelaire und Maupassant diese demütige Hingabe an das Vorhandene erreicht und dauernd durchgehalten. Von ihm Nahestehenden, schätzte er, wollte nur Gauguin über ihn van Gogh hinaus, dem Dasein gegenüber die von Menschen verlorene Redlichkeit wiedergewinnen.

Das Wichtigste: da er gesehen hatte, alle Welt war nur rein und gut und schön zugleich, bestand sie auf sich selbst, wagte er, er zu sein, darüber zu denken, zu sprechen. Die in ihm steckende Krankheit zum Beispiel, die er ängstlich aus dem Bereich seiner Wahrnehmung gestrichen hatte, wurde sein Eigentum, das er mit Talent und vielfachen Kräften als notwendigen Ausgleich eines oft unbezähmbaren Übermuts, gewisser bäuerischer Vierschrötigkeit besaß. Allem menschlichen Modell lieh er gerührtes Hinsehen und Hören, das nicht durch die am Objekt wahrgenommenen »Tugenden«, doch durch dessen Treuherzigkeit gepackt war. Je mehr einer von sich besessen war, je weniger Umschweif er mit sich machte, um so mehr liebte ihn Vincent. Zog Roulin Milliet vor, weil des Briefträgers Worte von keiner Lust, als gehört zu werden, geballt waren, während ihm der Zuave Beweise seines Takts, Erziehung und trotz verachteter Rasse, Überlegenheit über andere geben wollte.

Am höchsten schätzte er die Dirne Martha, zu der er wiederkehrte, unten im Café einen Schwarzen mit ihr zu nehmen. Die ihm ihres Lebens Bild so deutlich machte, daß es ihm das Herz ein über das andere Mal schwellte.

In diesem Dasein war alles denkmalhaft bündig gewesen, von ihrer um das zehnte Jahr erwachten Wollust an, die vor des Erlösers blankem Leib nicht Halt gemacht, seine Glieder mit süßen Sehnsüchten umspielt hatte. Wie sie, weil ihr Leib zur Speise der Liebe reifer wurde, in sich selbst, ihre Brüstchen und Dingerchen vernarrt gewesen war, nicht mit eingebildetem Verlangen das Männliche geliebt hatte, doch weil es, wie es war, vollendet schien. Alles hatte sie vom Mann gelitten, rasende Liebe, die in ein öffentliches Weib von Heeren Sehnsüchtiger und Enttäuschter entladen wird, Grausamkeit, Verachtung dazu.

Doch hatte sie alles in allem einen guten Tag gehabt, weil sie ihn so andächtig erlebte, daß sie ihn, würde sie als altes Weib Reißig im Wald sammeln, eine Bedürfnisanstalt spülen, noch spüren würde. Über die Schöpfung klagte sie nicht, fand, der Schöpfer habe seine Sache bunt und verständig gemacht. Vincent malte das Caféinnere mit Dirnen, Zuhältern in qualmigem Rauch bei Nacht, zeigte es ihr. Er sei ein guter Mensch, weil er nicht eingebildet sei, sagte sie dazu.

Schlafen könnte sie nicht mehr mit ihm, weil er keine Pinke, sie zu zahlen hätte, und der Wirt, täte sie es heimlich, sie hinausschmisse. Er erwiderte, er hätte, da er Vollkraft zur Arbeit brauchte, kein Bedürfnis.

Da aber meldete sich ernstlich Gauguin. Von Krankheit genesend, wollte er nach Arles kommen, und Vincent, Feuer und Flamme, traf für des bedeutungsvollsten Mannes Ankunft Vorbereitungen. Vor allem bewog er den Bruder zu Vorschüssen an Paul, dessen Brief Verzweiflungsschrei, er stecke bis zum Hals in Schulden, war. Darüber hinaus bekam er eine Summe von ihm, zwei Betten rohes Gerät zu kaufen, das er bemalte, und mit dem er des erwarteten illustren Gasts Zimmer schmückte.

Wände strich er hellviolett das Bett buttergelb, den Boden rot, Fenster grün, Türen lila. Die viereckigen Möbel drückten klotzige Treue aus, die Vincent bei jedem Pinselstrich für den großen Maler Paul Gauguin gelobt hatte.

Ein Kranz riesiger Sonnenblumenbilder schmückte die Hauptwand, rahmte vier prangende Leinwände aus dem Garten des Dichters ein, von denen er die letzte erst am Vorabend der Ankunft des Ersehnten vollendete.

Reihen steiler Zypressen bäumen zum rosa Himmel mit hellzitronenfarbenem Halbmond. Im Vordergrund ein Stück Boden, Sand und Disteln. Zwei Verliebte, der Mann bleichblau mit gelbem Hut; mit rosa Mieder, schwarzem Rock die Frau.

Und er wünschte, aus der beschwörenden Geste, mit der hoch der Mann zum Herzen griff, möchte Gauguin bei seiner Ankunft spüren, so feurig schwöre Vincent van Gogh dem verehrten Freund Beistand für die gemeinschaftliche große Sache!

 


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