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Zweites Kapitel

Vincents Los war seit seinem fünfzehnten, zwanzig Jahr hindurch wüst. Er auf das Knappe, das der auch mittellose Bruder, Angestellter bei dem Kunsthändler Goupil in Paris für ihn erübrigte, angewiesen. Aufstand gegen Sitten des dickbäuchigen liberalen Europas hatten ihn von früh auf aus dem ländlichen väterlichen Pfarrhaus in Brabant, gewonnenen Zufluchten stets wieder ins Vaterhaus gejagt. Mit Ekel stand er in bürgerlich satter Welt, mit der er keine Gemeinschaft wollte. So war er, den noch Unglücklicheren, die er getroffen hatte, bis zur Selbstopferung zu helfen, zufrieden gewesen, hatte am Rand des eigenen Untergangs in der Weltstadt aber begriffen, seine nachlässig geübte Kunst müßte nicht wenigen Vereinzelten doch aller stockblinden Menschheit Flamme sein, die ihr für verlogene, zufällige, zivilisierte gewichste Oberfläche, des Seins Ursprünglichkeiten in die Wahrnehmung rammte.

Aus dem Durchschnitt namenloser Zeitgeschöpfe fühlte er sich zur Bekräftigung großer Wahrheiten berufen und hatte den Geist zu einem Aufschwung vergewaltigt, der zu neu in ihm war, als daß er ihn nicht als Fieber in Adern, kreischenden Mißklang in Stimmen der Natur gehört hätte. Doch merkte endlich mit zusammengebissenen Zähnen Vincent die Faust an einem Steuer, aus Zufällen sein Persönliches in eine Bahn schwenken, die mit erzenen Schienen bergan lief, so daß er weit die Bremsen öffnen mußte.

Den in ihm und außer ihm ansetzenden Frühling sah er, der zielsicher sich reckend, durch heulenden Mistralwind, der des Menschen Inneres und die Landschaft fegte, noch zu Boden gepeitscht wurde. Im ganzen war ihm trotz der Sorge ums tägliche Brot das Gewissen blank, wie mit Kobalt und blonder Sonne Arles Himmel über ihm stand. Von Vorwänden, Vorurteilen, gesitteter, gesippter Menschen, historischen und zeitgenössischen frei, sah er nicht Denkmäler, Symbole, Andenken, Katafalke mehr, doch war Bauch an Bauch am All jeder Beichte der Natur gewachsen, zu seiner bis ans Ende gewillt, wirklichkeitslüstern.

Kein malerisches Vorbild ist ihm Führer und Veranlassung mehr, keine Anleitung der holländischen Lehrer Jaap, Maris, Mauve, keine der über alles geliebten Delacroix und Millet. Steht er, die Palette als Schild in gewappneter Faust vor Mannigfaltigkeit, ist er über ihr Wesentliches so im Klaren, daß er Farben ungebrochen, Kristall bei Kristall ohne Übergänge, die ihn Fälschungen dünken, setzt. Mit Gott sogar stimmt er freudig über sein Werk überein. Nur scheint aus eines heimlichen Zuschauers Aug von Zeit zu Zeit Bedenken, geblitzt, dazusein, gegen das er sich wehrt. Dieser Blick, der hinter ihm und in ihm aufbrennt, gehört, weiß er, dem Maler Gauguin, den er in Paris kannte, dessen Bilder er als selbständige unnachahmliche Meisterwerke bestaunte.

Mit welcher Freude er das Auf und Ab, Für und Wider menschlicher Meinungen entbehrt! Wie er Leben nicht mehr als leichte Anpassung komplementär und unbedingt beziehungssuchend in erster Linie doch als aller Kreatur originale Behauptung unbesorgt um der anderen Einfluß und Kritik erkennt!

Überall schallt als der Schöpfung erstes Gebot Mut und Übermut zu sich selbst, und wie er ihn gepackt aller Welt zugesteht, ertrotzt er ihn in Briefen an den Bruder nicht nur für sich, doch auch für den um ihn zu sehr Besorgten. Beschwört ihn, das Kümmern um sein, Vincents Wohl dürfe ihn nicht über die Sorge mit sich selbst besitzen. Und mit dem Rest der Kräfte kämpft er gegen das einzige innere Bedenken: was wohl Gauguin zu van Goghs Bildern und heutigem Leben sagen würde.

Deutlich wurde ihm der Langeweile Grund, die ihn in Paris bis in Räusche mit Gähnkrämpfen besessen hatte: auch er war von Zeitgenossen verführt worden, das Nurzuständliche der Gesellschaftsmorale, geformt Oberflächliche, der Sätze Flimmerleben, Allmögliches, Romantisches, Verschmelzungen, Auflösungen für packend, Zwänge, Dränge, Psychologien und Komplexe, Hysterien, alle Fälschungen in ein Kollektivbewußtsein hinein für möglich menschenwürdig zu halten. Er hatte die Rechtsabmachungen der Individuen geschändet, über verletzte Ehre, geraubte Jungfernschaften geulkt, das All mit schnöder Brunst angefallen, sich selbst geflohen und in Auflösungsdurst geflammt. Das Durchschnittliche hatte er angebetet, Einfältiges zu sprengen gesucht, war wie die meisten ein falscher Revolutionär gewesen, als er in wirbelnder Verschmelzung auch seine höchste Wirklichkeit suchte.

Erst dicht am Tod seines Ichs, als um ihn, in ihm alles unkenntlicher Schein, Schlamm, tonloser Wirbel war, des Lebens Trieb ein Bohrer in Formloses, hatte innere Neugeburt ihm das Geheimnis entschleiert: das fremde Nichtich sei nur der Widerpart, der dem Ich die Selbständigkeit besser zu kennen ermöglicht: auch die innigsten Beziehungen zum Nächsten vertieften nur das Vertrauen zu sich selbst und machten mit der eigenen auch der Mitkreatur kernige Seinsweise lobzupreisen, bereit.

»Ach hätte man mich nicht so in den Dreck geschleift!« schreibt er im Andenken an den groß- und kleinbürgerlichen Stumpfsinn, die Minderwertigkeitsextase, in der auch er trotz Gegenwehr gesteckt hatte, dem Bruder Theo nach Paris. Doch gleich darauf: »Ich werde aus alldem kommen, da es mich allein angeht und mir bewußt geworden ist. Ich nehme mir heraus, mich von meinem Nachbar zu unterscheiden.«

In Arles bot ihm nicht nur pflanzliche, auch menschliche Atmosphäre Kameradschaft, waren die Bewohner ganz zu sich Entschlossene, die aus Selbststolz den Nächsten schätzen, mit dem sie nicht aus Angriffslust, doch Anerkennung für seine ausgeprägte Eigenart verkehrten.

Er mochte seinen Hauswirt Roulin, der, Briefträger, sein Leben, Amt, Familie mit einer Wucht besorgte, als sei er und sein Geschäft für Frankreich und den Weltpostverein wichtig. Verbot sich zum Traum den leisesten Drang, der ihm nicht nur Quellen des eigenen Seins verstopft doch auch des Übrigen Charakter zu kennen, verhindert hatte; haßte, was Leichtfertige Wunder, der Bürger Reiz und Hemmungslosigkeit nannte, entsetzte sich über Vermischung mit dem Außerihm, die nur als Katastrophe eintrat, trieb es ihn selten in das stinkende Bordell am Rand des Städtchens, aus dem er beflügelter ins Alleinsein zurückfloh.

Auf dem Boden so gutbegriffener Unvergleichlichkeit hielt er soziales Zusammensein auch der größten Geister für ersprießlich und ökonomisch. »Auch Künstler werden nichts besseres finden«, schreibt er, »als daß sie sich zusammentun, ihre Bilder ihrem eigenen Verein geben, die erzielten Summen teilen, so allerdings, daß der Verein das Minimum für Existenz und Arbeit seiner Mitglieder garantiert. Machten Degas, Claude Monet, Renoir, Sisley und Pissaro den Anfang, sagten, wir geben jeder zehn Bilder und laden euch, Guillaumin, Seurat ein, euch anzuschließen.« –

Darüber hinaus stellte er fest: sei er aller Welt, der eigenen Gründlichkeit gewisser, bliebe es auch für ihn das Ziel, mit Menschen zu leben, die sämtlich unvergleichlich, in einer Wohnung, Küche und mit gleicher geistigen Haltung des materiellen Lebens Kosten und Beschwerden durch charaktervolle Gemeinschaft mindern würden.

Das Haupt dieses mönchischen Vereins müßte natürlich Paul Gauguin heißen.

 


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