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21

Es konnte nicht ausbleiben, daß die merkwürdige Verwandlung des Mandelschneiders ebenso bald in der ganzen Gegend ruchbar wurde wie die Veränderung in seinem Hauswesen, und der Schein der Lampe aus den Fenstern der Schneiderstube zog die neugierigen Röhrsdorfer wieder an wie die Motten, die drinnen um den leuchtenden Porzellanschirm taumelten.

Mittlerweile war man tief in den März gekommen, und in dem abendlichen Kreise der Kunden und sonstigen Neuigkeitskrämer, der sich öfter und zahlreicher als zuvor im Mandelhause zusammenfand, strömte der Redefluß in diesem Frühjahr voller und heftiger denn je. Die Scholzenwahl hatte erbitterte Kämpfe heraufbeschworen, und auch nach dem Austrag dieses Rangstreites kehrte die Beruhigung noch nicht zurück.

Hitzige Parteigänger hatten sich zu langem Prozessieren verbissen, heimliche Gegner lieferten sich durch ihre Knechte auf den Tanzböden blutige Sträuße, die Entfremdung der vielen weit auseinander liegenden Teile von Röhrsdorf war jedem aufs neue zu Bewußtsein geführt und brachte eine Spannung über das ganze Gemeinwesen. Des Eusebius Spottvers hatte nicht am wenigsten dazu beigetragen, den einen der Hauptbewerber, den Ransener Tautz, so zum Gelächter der Dorfeingesessenen zu machen, daß ihm niemand die Stimme zu geben wagte.

Von anderer Seite war zum reinen Vergnügen gegen den anderen Kandidaten, den Sauerborner Müller, ebenso gewühlt worden, und als sich die allgemeine Verwirrung gelegt hatte und die ruhige Überlegung zurückgekehrt war, erstaunten alle über die eigene Torheit, den Bauer Frenzel auf der langen Lehne, diesen verzwickten, großtuerischen Sonderling zum Gemeindeoberhaupt gewählt zu haben. Und das Gespött über den »Herrn von Gackern«, wie er wegen seiner überstürzten Redeweise und blechernen Stimme genannt wurde, setzte von neuem ein, wenn auch erheiterter und schalkhafter durch die Wirkung der steigenden Frühlingssonne.

Im Mandelhause kreuzten sich die Klingen der Gegner in gedämpften Lauten noch einmal, und im Anschluß daran wurde manche Geschichte über das Wachstum oder den Verfall eines Bauernhofes aus der Vergangenheit gegraben. Eusebius verband durch kühne Kombinationen jene fast verschollenen Vorgänge mit dem Geschick der Nachkommen und deutete in das wirre Walten einen tieferen Sinn.

Der Bahnbau von Glatz herüber bis an die Landesgrenze beschäftigte die wortkargen Plauderer auch an manchen Abenden. Man rechnete den Bauern von Neudeck nicht ohne Grimm den Verdienst nach, der sich aus dem Verkauf der abgetretenen Ländereien von selbst in ihren Beutel schob, oder man erging sich über die Schwierigkeiten, die das Terrain dem Bau noch bieten würde.

Dann und wann spukte in vieldeutigen Ausdrücken oder vorsichtigen Umschreibungen aus diesem und jenem abendlichen Besucher eine Geschichte, in deren Mittelpunkt der Lehrer und Kantor Wudhof zu Neudeck stand, und von der alle, die im Vorbeigehen einen Mundvoll aufgeschnappt hatten, den rechten Verlauf doch nicht wußten. So viel stand nur fest, daß zwischen Kantor- und Pfarrhaus die Katze der Briefträger war. Denn Wudhof, ein Mann von mehr als dreißig Jahren, war unverheiratet, hatte sich aber aus der fernen Provinz, aus Pommern oder der Mark, aus der er vor drei Jahren nach Neudeck versetzt worden war, zu aller Erstaunen eine Wirtschafterin mitgebracht, die, was Alter und Aussehen betraf, ganz und gar nicht zu ihm paßte. Sie ging sonn- wie wochentags in einer Tracht einher, wie sie wohl die Art polnischer Mägde ist, hielt aber so wenig auf Reinlichkeit und Ordnung ihrer armseligen Kleidung, daß da und dort nicht nur der Weber, sondern sogar oft der Fleischer hervorguckte. Ihr Körper war nicht ohne Ebenmaß, aber mit einer welken Fülle überladen, und in dem blassen Gesicht hatten Alter und Leidenschaft deutliche Spuren hinterlassen. Dabei besaß sie keinen Anflug von Zurückhaltung und bedrängte bald nach ihrer Ankunft die Wirtschafterin des Pfarrers mit plumper, gleichmachender Vertraulichkeit. Diese, eine würdevolle sanfte Frau nahe am Matronenalter, geübt in der klugen, gütigen Hochmut klösterlicher Zucht, wies sie erst schonend ab, verwundete sie dann mit scheinbarer Schonung und wies ihr endlich kalt und hart das Haus.

Aber den Lehrer hatte seine Wirtschafterin anscheinend so in der Gewalt, daß dieser sich fast nie am Tage sehen ließ, nur des Nachts weite einsame Spaziergänge unternahm. Niemand hatte er zum Genossen als einen alten Junggesellen und dann und wann einen Rausch, den er sich oft mitten in einer lärmenden Wolke von Bauern antrank.

In der Schule war er meist unbeholfen, zerstreut und launisch und ließ achtlos das Mühlwerk des Unterrichts klappern. Stundenlang saß er auf dem Katheder und starrte wie verzückt in Fernen, während die Kinder um ihn tobten.

Manch einer von den Erzählern hatte ihn zur Nacht auf dem Grabenrande eines abgelegenen Weges getroffen, wie er erregt und leidenschaftlich mit seinem Rausch sprach und schmerzvoll stöhnte, als sei er hoffnungslos verloren. Nach solchen Verirrungen hielt er sich wieder wochenlang wie ein Klosterbruder in seiner Wohnung verborgen, und man hörte ihn bis tief nach Mitternacht musizieren, geigen oder Flügel spielen. In der Schule verkehrte er dann in wunder Sanftheit mit den Schülern und riß sie in eine Art schmerzvoll begeisterten Fleißes fort. Es ging das Gerücht, daß er aus guter Familie stamme, mit den besten Aussichten auf eine glänzende Laufbahn Musik studiert habe und dann unvermutet in diese krankhaften Zustände verfallen sei. Ein Mädchen sollte der Grund dieses leidenschaftlichen, hoffnungslosen Verfalles gewesen sein. Aber niemand wußte Genaues darüber, denn Wudhof selbst rührte mit keinem Wort an die Finsternis jener Zeit; und drang der gütige Pfarrer in ihn, sich doch durch eine klare Aussprache von diesem Alp zu befreien, so sah er stets vor sich nieder, schüttelte stumm das Haupt und ging achselzuckend davon, obwohl er doch wissen mußte, daß er nur dem Geistlichen sein Verbleiben im Amt zu verdanken hatte.

Alle diese Geschichten, die in unzusammenhängenden Stücken von dem stets wechselnden Kreise der Kunden und Neugierigen in das Mandelhaus getragen wurden, hörte der kleine Amadeus mit an. Er saß auf einen Stuhl im Dunkel gekauert, und kaum einer achtete auf ihn. Nur wenn sich das Gespräch mit Wudhofs Schicksal beschäftigte, sank es auf ein Augenzwinkern des Meisters zum Flüstern herab oder half sich durch verträumte Redensarten weiter. Denn der Schneider besaß aus einer eigentümlichen Kameradschaftlichkeit eine Ehrfurcht vor jedem Höherstehenden und Gebildeten und wollte nicht, daß dieses Gefühl in seinem Jungen beschädigt werde. Doch seine Sorge war unnütz; denn der kleine Amadeus lag mit seinem ganzen Leben so sehr in einer wunderseligen Ferne, daß ihn die Vorgänge unter der Lampe nur wie ein unbegreiflicher Spuk trafen. Ja, dem Jungen kam es oft vor, daß die Frauen und Männer da unter der Lampe gar keine lebendigen Menschen waren. Gleich Schatten hingen sie vor der graugelben Wand, hoben automatisch die Arme, wackelten mit dem Kopfe und schnappten mit dem Munde nach sinnlosen, dumpfen Lauten, die durch die Stube schwirrten. Je mehr Dunkles sie redeten und in sich einschluckten, desto schwärzer wurden ihre Schatten. Die Lampe verlor langsam ihren Schein, und wenn alles eine einzige rauchende Nacht zu werden drohte, erhoben sich die Männer. Der Vater sperrte ihnen die Haustür auf, und Amadeus hörte ihre gedämpften, groben Stimmen noch eine Weile draußen vor dem Hause. Er wartete auf dem Stuhle die Rückkunft seines Vaters ab, schlief dabei sehr oft im Sitzen ein, und wunderte sich am anderen Tage, doch im Bette zu liegen, in das Eusebius ihn getragen hatte.

So rollten die Tage bis in den Sonnabend vor Lätare. Vom Morgen ab hatte sich das Wetter durch allerhand widersprechende Anwandlungen geworfen, ohne jedoch mit seinen trübsten Einfällen ganz aus seiner sonnigen Laune zu kommen. Seine drohenden Wolken leuchteten an den Rändern, und seine müde Helle schimmerte in heimlicher Verzücktheit.

Aber kaum daß der Neudecker Kirchturm dem scheidenden Tage den letzten dumpfen Glockenton nachgeschleudert hatte, sammelte sich über dem Langen Busche, ungefähr dort, wo der tiefe Klang sich in das Verfinstern über den Wipfeln eingegraben hatte, eine bockschwarze Wolke. Sie sammelte sich eigentlich nicht, sie schoß heraus wie eine Teufelsfaust, stutzte eine Weile und klofferte sich dann jäh auseinander, daß im Nu ihre fünf Schattenkrallen über den ganzen Himmel griffen. Als das geschah, lief es wie ein schrilles Reißen durch die Luft. Der Hainwald stieß einen leisen Klagelaut aus wie ein krankgeschossenes Stück Großwild. Der Ahorn über dem Mandelhause duckte sich, daß seine Zweige hörbar auf dem Schindeldach zitterten, und dann brach das Wasser aus dem Kronerloch mit dem Gewieher Trunkener los, die bergab ins Laufen kommen. Das Mandelhaus jappte ängstlich ein paarmal mit den Holztürchen seiner Dachluken, und Eusebius warf schnell den Zwirnstern, den er in der Hand hielt, auf den Tisch und rannte auf den Boden. Ehe er sich aber noch völlig über die Stiege in der Dunkelheit hinaufgetastet hatte, fuhr die Hausmutter aus dem Schloß und hieb donnernd gegen die Wand. Wütend arbeitete sich der Meister an die Luken, riegelte die Türchen ein und klomm die Treppe hinunter. Bei jeder Stufe sagte Eusebius »Vermaledeit«, und als er glücklich unten im Flur stand, riß sich die Tür abermals aus dem Schloß und krachte gegen die Schrotwand. Da blieb dem Meister selbst sein Hausfluch im Halse stecken, und er spie nur bösartig in den Regen, der prasselnd vorübergepeitscht wurde. Es schien ihm wohl, als mummele ein Schwarzes um den offenen Eingang, aber er hatte einen solchen Zorn gegen die Unflätigkeit des Wetters, daß er nichts auf die halbe Wahrnehmung gab, sondern brummend nach der Klinke suchte, um die Tür sorgfältig zu verwahren. Eben als er den Griff erfaßt hatte, spürte er einen Menschen neben sich, und eine regenfeuchte Hand legte sich über die seine, die auch im Finstern nach dem Griff gefaßt hatte. Eusebius ließ vor Angst sogleich die Klinke fahren, trat einen Schritt zurück und wußte nicht, solle er um Hilfe schreien oder loswettern. So kam er nur zu einem tiefen Atemzug des Schreckens. Der Eindringling, den der Schneider als überwältigende Masse vor sich stehen fühlte, mußte dieses furchtsame Atempfeifen gehört haben und sagte mit gutmütigem Brummlachen:

»Ach, Schneider, geh du ruhig rein, ich werd' die Türe schon zubringen, es ist ja ein sakrisches Wetter.«

»Bist du's denn, Schilling?« fragte Eusebius sich fassend.

»Freilich. Aber ob ich all's beisammen hab', weiß ich nicht«, antwortete der Ankömmling.

Als die beiden die Stube betraten, fanden sie schon zwei andere Männer unter der Lampe sitzen: den Handelsmann Finger und den Holzschläger Pfitzner. Der erstere, ein langer dürrer Mann, saß, als sei er kerzengrade auf den Stuhl geschraubt, der andere hockte mit auf die Knie gestemmten Ellenbogen regungslos und drehte nur die Augen aus dem bärtigen Gesicht nach den Eintretenden.

Ehe Eusebius Zeit finden konnte, mit einem schalkhaften Wort sich aus der Beklommenheit zu retten, setzte ein neuer Wetterstoß ein. Das Häuslein bebte in den Fugen und die Tropfen gingen nieder, als regne es Eggenzinken. Deswegen begnügte sich Mandel, kopfschüttelnd in seinen Schneidertisch zu steigen.

Amadeus schaute ganz vertieft in die Sturmnacht und rührte sich nicht.

Um seine Überlegenheit zu beweisen, sagte Mandel: »Es geht zu, als ob die Knechte den Bauern hau'n.«

»Und dazu mit Flegeln«, setzte Schilling hinzu.

»Das steckte schon den ganzen Tag in den Büschen«, meinte Pfitzner, »die Silberquelle an der nassen Stiege kochte schon zu Mittag über.«

»Ja, ja, mein Hund fraß um den Abend Gras«, bestätigte Finger mit seiner hohen, betenden Stimme.

Auf diese Weise drehten sich die Männer ins Plaudern. Schilling erzählte von dem alten Teuber aus Kaiserswalde, der mit Farnsamen Gewitter gemacht habe. Einmal sei er dabei doch umgekommen, weil er das letzte Körnchen habe fallen lassen. Finger berichtete von einem Bauern, der dadurch zu großem Reichtum gekommen sei, daß er unter sein Saatgut Körner aus dem Kröpfe eines schwarzen Hahnes gemischt habe.

Plötzlich kehrte sich Amadeus vom Fenster ab und trat mit leuchtendem Gesicht an den alten Mandel.

»Kann ein Haus ein Schiff werden?« fragte er erregt.

»Nein«, antwortete Eusebius.

»Aber es kann fahren, wenn ein großer Wind geht!« behauptete der Knabe, und man sah ihm an, wie wichtig ihm die Einbildung war.

»O ja, Jungla«, antwortete Schilling, »es könnte schon fahren, aber auseinander.«

Alle lachten unbändig über den Witz, und Eusebius sagte ärgerlich über des Amadeus Niederlage: »Geh und setz du dich lieber!«

Der kleine Mandel, der mit dem Laut des Sturmes entrückt über alle Berge geflogen war, während er am Fenster dem Wetter zugesehen hatte, wurde rot, hockte sich auf seinen Stuhl ins Dunkel und versuchte hartnäckig weiter, ob ihn der Wind mit auf eine Reise nehme. Aber es wollte nicht mehr gelingen, und so überließ er sich wie an allen anderen Abenden einem versonnenen Hinhorchen. Das Gespräch schwankte dumpf von einem zum anderen. Pfitzners Stimme klang, als rolle ein Stein in einer Holzrinne. Finger sprach wie ein singendes Huhn. Schilling schnarrte wie ein Wachtelkönig. Aber alle redeten gedämpft, eintönig, wie aus einem geschlossenen Kasten. Das Toben des Wetters, ob es auch etwas nachgelassen hatte, machte die Stimmen noch bleierner, leerer; die Stille der Stube lastender, daß dem kleinen Lauscher auf dem Stuhle alles grau und verschwommen vorkam. Es sog ihn förmlich aus. Endlich konnte er das nicht mehr aushalten.

»Vater«, sagte er zwischen das Geplauder; der Schneider hörte es nicht. »Vater«, rief das Kind.

Das Gespräch stockte. »Was hat's denn, Amadeus?« fragte Eusebius.

Der Knabe sagte: »Wenn meine Beine jetze zu Stein werden und meine Arme und alles, alles, und ich bin ein Steinmann, was wird denn da?«

Niemand hörte, wie da eine Seele gegen das Fürchten rang. Die Männer sahen einander kopfschüttelnd an, und Schilling sagte endlich zum Schneider, nicht ohne Ironie: »Na, Mandel, du mußt es ja wissen, denn es is ja dein Junge.«

Eusebius spürte den Stich und kehrte sich mißgelaunt gegen das Kind: »Freilich, wenn du aus Stein bist, da ist auch dein Mund aus Stein und du störst uns nich mehr.«

Amadeus verstand nicht, was sein Vater sagte, hörte nur aus seiner Stimme den Unmut und sank wieder auf seinem Stuhl in sich zusammen. Nach kurzer Zeit war er eingeschlafen, und die Männer überließen sich weiter ihrem gemächlichen Neuigkeitskram.

Das Wetter hatte sich beruhigt und flatterte nur manchmal wie ein großes Tuch vorüber, und der Regen fiel strichweise, als streue ein müder Sämann Erbsen aus lahmer Hand.

»'s hat nachgelassen«, sagte Pfitzner, grub in seinem struppigen Bart und horchte.

»Ja«, sang Finger, lauschte auch und setzte nach einem Blick auf die Uhr hinzu: »'s is auch fast neune. Da wer ich geh'n, eh's wieder losgeht. Denn durch die Riegerhohle macht's sich sowieso schlecht.«

Er stand auf und zog seinen versessenen, mageren Körper auseinander.

»Stoß'm Schneider nich die Decke ein«, sagte neckisch Schilling. Finger verzog sein sommersprossiges Gesicht, das von mageren Büscheln eines roten Bartes unregelmäßig übertupft war, zu einem Lächeln und wollte etwas Launiges erwidern.

Da trieb in der Ferne mit dem schwachen Winde der Ruf einer hohen Stimme vorüber.

»Hör's doch«, mahnte der Handelsmann und ließ seinen Schurz wieder fahren.

»Uhu«, äffte der spottsüchtige Fuhrmann Schilling. Dann verstummten alle und lauschten.

Richtig, nun rief es wieder, aber näher, und man unterschied deutlich den Laut einer angstvollen weiblichen Stimme. Die Männer ballten sich am Fenster zusammen und horchten.

»Siehst du was, Mandel?« fragte Finger den Schneider, der sein Gesicht ans Fenster drückte.

Ehe Eusebius antworten konnte, tauchte die verzweifelte Stimme wieder auf und schrie zwischen gelles Weinen immer wieder den zweisilbigen Ruf, der sich wirklich wie »Uhu« anhörte. Die Stimme konnte nicht weiter als von der krummen Weide herkommen, denn wenn man auch kein Wort verstehen konnte, hörten jetzt doch alle das Gekeif eines zornigen, bösen Weibes, das vielleicht seinen trunkenen, verlaufenen Mann suchte.

»Die hat Messer und Sägen im Maule«, sagte Pfitzner grimmig.

Plötzlich ging durch das reißende Gewölk ein Lichthauchen über den Wiesenplan, und man sah die undeutlichen Umrisse einer Frau, zu der ein Mann trat und begütigend auf sie einredete.

»Ich hätt' ihr ein anderes Pflaster aufgelegt«, sprach empört der Holzhauer, »so ein Windsack von Mann.«

Die beiden draußen gingen auseinander.

Im nächsten Augenblick wurde die Tür des Mandelhauses aufgerissen, und der Maurer Nitschke, ein viereckiger, bartloser Mann in Arbeitskleidung, trat eilig und mit allen Zeichen vergnügter Aufregung in die Stube.

»Gu'n Abend, Schneider«, sagte er lächelnd, nahm sein Bündel vom Zollstabe, den er über der Achsel trug, und stellte beides neben den Topfschrank, dann reichte er allen die Hand.

»Warst'n du das?« fragte Finger.

»Freilich, aber nich alleine«, gab er zur Antwort, »verdammt, das is keine Gute. Na, daß sie nich hier zu dir reinkam, das haste mir zu verdanken, Schneider.«

»Wer denn?« fragte Mandel.

Nitschke schüttelte den Kopf und nahm Platz.

»'s is eigentlich nich zum Ladren«, sagte er dann, in Nachdenken verfallend, »na, es weiß doch ein jeder, wie's mit dem Lehrer Wudhof aus Neudeck und der Pfarrschwester steht.«

»Steht eigentlich nich«, unterbrach ihn Schilling, »wenn's och uns stände.«

»Nu ja, recht hast du eigentlich, was den Herrn Wudhof angeht«, gab Nitschke zu.

Alle begriffen und lachten vergnügt. Eusebius allein blieb ernst. »Laßt doch erst den Maurer erzählen«, sagte er ärgerlich.

»Also, es geiht eben rüber und nieber. Sie will, und er will nich. Und nu kann jeder eigentlich die Wut verstehen, die das Pfarrfräulein hat. Nich? Jung is se ja nich. Aber gegen das, geradeheraus gesagt, Mensch, das in der Schule Lehrersfrau spielt, na 's is doch nich anders, da is se doch das reene Püppel. Wie? Und wenn ich ein Haus bin, will ich doch gemauert sein. Aber der Herr Wudhof mauert scheint's lieber an der Kaluppe wie am Hause ... Hört doch? Da is sie wieder!«

Es war draußen läubelstill. Ganz fern rief es machtlos, schrill: »Herr Wudhof ... Herr Wudhof ... Herr Wudhof ...!«

Immer leiser wurde der Ruf und verklang schließlich tiefer ins Feld hinaus gegen die Berghäuser. Alle horchten dieser schmerzvoll untergehenden Stimme nach, und in ihre spöttische Lustigkeit tauchte ein Schatten nachdenklicher Beklommenheit.

»Die läßt nich locker, scheint's«, meinte Finger.

»Nee, die hat den Hammer beim Stiel«, nahm Nitschke wieder das Wort, »na, und wenn Weiber spielen und 's is vollends um een Mann, da hat die Woche keen Sonntag mehr, versteht ihr! Wie also das Pfarrfräulein sieht, daß der Herr Lehrer bei seiner Wirtin egal polnisch lernt und nich abrüstet, kriegt sie's mit der Wut, ich denk' mir's wenigstens so. Da legt sie bei ihrem geistlichen Herrn Bruder Feuer an und läßt nich nach, bis der lichterloh brennt. Das heißt, ich weeß das nich – aber's muß doch so was sein, denn heute morgen soll's der Wudhof mit der Post gekriegt haben, daß er aus Neudeck 'nausmuß, nich bloß aus Neudeck, nee, rausgeschmissen is er. Und wie der den Brief gekriegt hat, die Porzelten hat's mir erzählt, die von der Schule geradeüber wohnt, kaum eine Stunde nachher stürzt der Lehrer über die Schulstufen herunter blaß wie der Kalk, den Stock in der Hand, den Hut auf dem Kopfe, im Sonntagsanzug, und zum Dorfe 'naus. Na, nu weeß ma's nich, is er of die Bahne oder wohin. Denn aso verdreht und einirdisch wie der is, da kann doch alles passieren, wie? Arbeiten kann er nich, Geld kann auch nich zuviel da sein. Wenn eens da nich feste unterm Dache is, Herrgott noch amol, wie leichte hoppt sich's da an den ersten besten Baum.«

»Ach nee«, sagte spöttisch Schilling, »hä, hä, der ersäuft eher wo.«

»Nu hä, wär' das nich dasselbe?« erwiderte der Maurer erregt.

»Aber nich im Wasser«, vollendete der Fuhrmann. »Du mußt eenen ausreden lassen. Und außerdem is das ein Musiker. Da erwürgen immer achtzig vom Hundert am Propfen.«

»Hätt'st du bloß seine Wirtin gehört, dir wär' auch ein wenig anders geworden«, entgegnete Nitschke, der sich in düsteren Ernst geredet hatte, »das muß ich dir sagen. Als ich den Kirchberg 'rauf durch die Birken kam und der Wind ging los, da hab' ich meiner Seele hin und her gesehen, ob da nie einer am Baume hängt, den der Teufel vollends kalt läutet. Denn das muß doch ein jeder sagen, daß das Wetter nich der Herrgott gemacht hat. Is es jetze nich stille wie in einer Totenkammer und schwarz wie in der Hölle? Da sieh och 'naus, Schilling!«

Der Fuhrmann blickte mürrisch auf, stieß aber doch einen höhnischen Laut aus. Finger dagegen trat ans Fenster, wiegte den kleinen Kopf und sagte sanft:

»Ja, ja, als sich vor drei Jahren der Schindlerschmied in die Riegerhohle knüpfte, war's wie heute.«

Der Mandelschneider saß schweigend in sich zusammengesunken und rieb sich von Zeit zu Zeit die Nase, wie es seine Art bei schweren Gedanken war. Dann pickte er mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf den Schneidertisch, als bitte er sich Ruhe zu einer Bemerkung aus, und ließ seine Augen zwinkernd über den kleinen Kreis schweifen. Im nächsten Augenblick pickte es wieder, ebenso klein, ebenso zaghaft, aber in einer anderen Gegend der Stube, als sei der Laut unter dem Finger des Schneiders fortgehuscht und treibe als ein eigenes Wesen sein bescheidenes Rumoren weiter.

»Wer klopft denn?« fragte endlich Eusebius betroffen.

»Nu, du klopfst ja!« antwortete Finger.

»Ich? ... da sieh!« Der Meister hob beide Hände in die Höhe, aber das Klopfen kam doch wieder. Jetzt war es an die Tür gelaufen und tat, als knabbere es mit verhaltenen Mäusezähnen. Über alle Gesichter rieselte ein bläßliches Schauern. Der Fuhrmann Schilling allein bekam sich sofort wieder in die Hand und rief spöttisch: »Holla, macht die Pferde nich scheu!« und stand auf, um zu sehen, was sich im Hause rühre. Aber seine reißenden Schritte trugen ihn nur bis in die Mitte der Stube, da ging die Tür von selbst auf, und ein hoher Mann, geduckt von den niederen Pfosten, schob sich zaghaft herein wie ein Dieb oder ein landfahrender Stromer, der um Unterkommen bettelt. Die ganze Kleidung war zerwürgt, durchnäßt, beschmutzt, die blonden gewellten Haare hingen um eine mächtig ausladende Stirn, die sich nach unten in ein Gesicht verlor, das wie scheu zurückgekrochen im Schatten lag. Aber um den Mann hing wie ein blasser, heiliger Schein ein schwerer, verzweifelter Schmerz.

»Guten Abend!« sagte er mit einer fröstelnden, aber durchgebildeten Stimme.

Keiner von der Runde brachte vor Verdutztheit ein Wort heraus. Schilling tat die zwei Schritte zu seinem Stuhl zurück und flüsterte dem Maurer Nitschke ins Ohr: »Das is ja der Lehrer Wudhof.«

Das scharfe Gehör des Ankömmlings hatte die Worte des Fuhrmannes eher vernommen als Nitschke. Er sagte:

»Ja, ganz recht, Wudhof. Der bin ich. Ich hatte auf den Berghäusern zu tun, hab' mich da verweilt und bin in dem rasenden Wetter vom Wege abgekommen, von Gräben in Pfützen. Sie sehen ja, wie ich ausseh', und nun bin ich so müde, daß ich bei Gott zusammenbreche, wenn Sie mir nicht gestatten, hier ein wenig zu ruhen.«

Finger erhob sich, um ihm den Stuhl hinzutragen.

Wudhof dankte und setzte sich auf die Ofenbank, dort versank er, die beiden großen, langen Hände über seinen auf den Stock gestülpten, arg mitgenommenen Hut gelegt, sofort in einen Zustand, der dem plumpen, geräuschvollen Schlaf Trunkener gleicht.

Unter der Lampe regten sich die Stimmen wie raschelndes Laub. Da fuhr Wudhof von einem inneren Stoß getroffen auf, sah mit ratlos erstauntem Gesicht auf die Menschen, die in dem rötlichen Lichtdunstkegel hockten, und fragte mit bebender Stimme: »Wo bin ich denn?« doch so, als sitze er allein auf der Welt im Finsteren, und kein Mensch könne ihm antworten.

»Nu, Herr Lehrer«, antwortete Eusebius, »den Mandelschneider in Röhrsdorf kennt doch hier ein jedes Kind. Seh'n Sie, da und nirgendwo anders sind Sie.«

»Ich bin nicht mehr Lehrer«, sagte Wudhof mit bösem Lächeln, »ach, tun Sie doch nicht so. Das weiß doch schon die ganze Gemeinde.«

»Freilich, freilich. Aber warum sind Sie denn abgegangen?« fragte Mandel neugierig.

»Abgegangen. Ganz famos: abgegangen! Der Baum sagt, ich gehe ab, wenn ihn der Holzschläger losschneidet. Nicht, Pfitzner? Das ist doch der Vater von den Pfitznermädeln. Drei oder viere sind's.«

»Ja, ja, Herr Wudhof, das bin ich«, antwortete der Holzhauer betroffen, daß er angeredet wurde.

»Ja, ja. Abgegangen«, setzte Wudhof in einem wirren Flackern fort, »mich haben sie mit dem Küchenmesser losgeschnitten: In nomine domine.«

»Aber 's war geweiht«, warf Schilling ein, »da tut's nich so weh.«

»Weh tut es schon«, sagte Wudhof, »aber es schmerzt nicht. Der Pfarrer kann nichts dafür und seine Schwester auch nicht. Gott bewahre. Ich bin auf drei Rädern gefahren und mußte umschütten. Aber wer hat vier Räder an seinem Wagen und in jedem alle Speichen? Welcher Mensch? Nicht ein einziger. Warum mußte man mich herunterstoßen?«

»Weil Sie halt nicht alleine in der Kutsche sitzen«, sagte keck Schilling.

»Ja, und hätte ich mir Pfarrers Schwester hereingenommen, wäre das eine Gemeinheit gewesen. Nein, nein, das tut Wudhof nicht. Ich bin ein Mann von Ehre und habe meine besondere Art Stolz.«

Der Arme war in ein Lodern geraten, daß seine Worte wie über glühenden Gründen aus ihm herausbrachen.

Eusebius sah sein zermartertes, überreiztes Gesicht und winkte dem Fuhrmann ab, der eben wieder auf ihn einreden wollte.

»Ja, ja ... nein, nein, Herr Wudhof«, sagte begütigend der Mandelschneider, »Sie haben recht, und alle in der Gemeinde sind auf Ihrer Seite. Schlafen Sie jetze ruhig ein wenig, bis Sie wieder bei Kräften sind.«

Wudhof lehnte sich mit schiefem Oberkörper an die Ofenwand, und sein Gesicht sank in den Nacken, daß es der Decke zugekehrt war.

»Schlafen«, sagte er wie für sich, halblaut und dumpf, »wenn Schlafen eine Axt wäre, die uns erschlüge, wie gerne wollte ich schlafen.« Die Worte verloren sich in unruhiges schweres Atmen.

Doch schon nach kurzer Zeit der Ruhe wurde Wudhof aus diesem Hinsinken noch tiefer in sein Unglück gerissen, richtete sich auf und sprach dann mit beschwörender Stimme:

»Sie haben niemand auf der Welt, nicht tot, nein mehr als tot, zernichtet ist ihr Vater, dahin die Mutter. Laß sie nicht im Land umirren, Fürst, laß sie nicht betteln, Fürst, sie sind von deinem Blut.«

Den letzten Satz redete er in die Höhe, als spreche er zu Gott. Dann raffte er sich jach auf. Alles Zerbrochene, Unwürdige, Ziellose schien von ihm gesunken. Er ordnete mit leichtem Finger an seinem Anzug, als sei es ein Staatsgewand, und sagte mit überlegener, befehlend-gütiger Manier:

»Herr Mandel, ich danke Ihnen für die kleine Unterkunft. Bitte, leihen Sie mir jetzt noch eine Laterne, damit ich heil nach Hause komme.«

Eusebius hüpfte eilig aus seinem Schneidertisch und um Wudhof herum. Die Männer saßen geduckt über die verblüffende Verwandlung, die mit dem entlassenen Lehrer vorging.

Der kleine Amadeus saß jetzt auch aufrecht. Er war unter dem klingenden, wunden Strom der Ödipusworte Wudhofs wie von eiligen Händen aus schwarzem Schlaf gehoben worden und sah nun einen hohen Mann, schöner als der König von Preußen, in einem Tore von Licht vor sich stehen. Denn seinen Vater mit der Laterne hinter dem Rücken konnte er nicht erblicken.

Wudhof, die Stube ein letztes Mal überschauend, wurde nun auch seiner gewahr, wie er mit der ehrfürchtigen Spannung tiefster Ergriffenheit jeder seiner Bewegungen folgte.

»Ah, dich habe ich ja noch gar nicht gesehen, Kind«, sagte der Lehrer nähertretend. »Ist das Ihr Ältester, Herr Mandel?«

»Ja, Herr, mein Ält'ster und Jüngster«, antwortete der Schneider.

»Wie heißt du denn, liebes Weißköpfchen?«

»Amadeus«, hauchte der kleine Mandel verzagt.

»Seh mir einer den Schneider an«, sagte Wudhof verweisend und spöttisch zugleich. »Aber jedenfalls hat der Junge einen feinen Kopf, ich versteh mich auf so was. Ja, na adje, Meisterlein Amadeus ... Gute Nacht ... Ach, geben Sie mir die Laterne, Schneider. Ich schick' sie Ihnen morgen zu ... Gute Nacht!«

So, geräuschvoll, fahrig, schon wieder halb verstoben, schritt er über die Schwelle.

Eusebius folgte ihm bis zur Tür und sah ihn dann mit langen Schritten über den Steg an der krummen Weide dem Neudecker Kirchweg zustreben. Die drei anderen Männer traten auch zum Fortgehen gerüstet zu ihm und hörten den verhallenden Schritten nach. Als ihre letzten Laute von der hauchstillen Nacht verschluckt waren, kamen ihre Meinungen zaghaft wie Frösche aus einem Teich zum Vorschein.

Der alte Mandel antwortete auf nichts. Denn obgleich es doch schlagfinster war – er sah den Schatten Wudhofs immer tiefer ins Finstere hineinschreiten und dabei immer größer werden. Da ... jetzt löste er sich auf. Eusebius tat einen erleichterten Atemzug.

»So eenfach is das nich mit dem Herrn Wudhof«, sang gerade Finger.

»Na, ich meen's auch«, bestätigte der Fuhrmann, »aber wenn du mich bloß gelassen hätt'st, Mandel, da hätt' ich ihm's Gewinde noch mehr umgedreht.«

»Mich friert«, sagte der Schneider trocken und in einer Bedrücktheit, die er nicht verstand. »Gute Nacht.«

Er gab jedem die Hand und ging zurück in die Stube. Dort empfing ihn Amadeus mit leuchtendem Auge. »War das ein König?« fragte er. »Ein Lehrer war's und kein König«, antwortete Eusebius unwirsch und begann ihn auszukleiden.

»Kann ein Lehrer auch ein König sein?« fragte das Kind leidenschaftlich.

»Freilich, Amadeus, laß bloß das ewige Gefrage sein«, erwiderte Eusebius gereizt, »meinswegen ein Papst und ein Kaiser.«

Damit hob er ihn ins Bett und löschte die Lampe aus.


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