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5

Das Türlein, durch das unser Leben im Schlafe zu dem Traume hineinschlüpft, hat so niedrige und eng gestellte Pfosten, daß von der lauten und weiten Last des Tages nur das Allerheimlichste, Kostbarste, was dem Herzen zu allernächst liegt, Eingang finden kann.

So blieb die Not und der Kummer des Amadeus um seinen Vater, um seine Mutter, die ganze schwere Sorge wegen der Fremdheit seines Lebens an der Schwelle des Schlafes liegen, und sein nacktes, süßes Seelchen nahm nichts mit in den Traum hinüber als die Ereignisse des Abends, da er mit seiner Stimme die ganze Welt in sich hineingezogen hatte. Die lange Nacht wurde ihm eine einzige Reise durch bunte Verwandlungen: bald flog er über den Wipfeln eines blauen Waldes; bald wehte er so nahe über die Wiese hin, daß die Blumen ihn berührten; bald lag er wunschlos in der höchsten Weite des Himmels verloren, und nichts war um ihn als das Licht der Sonne. Das rann immer an ihm nieder wie ein unaufhörliches, goldiges Wasser. Aber alles, was er im Fluge streifte, mit seinen Händen berührte oder auch nur mit seinem Blick umfaßte, ertönte wie eine Harfe, durch deren Saiten der Wind streicht. Alle Dinge traten aus der Verschlossenheit ihres Wesens hervor, und die Gebärde ihrer Gestalt, ihre Farben offenbarten sich ihm in Klängen, die gleich einer hörbaren Verklärung um sie standen.

Beim Erwachen am andern Morgen jedoch riß dieses klingende Seil, das ihn mit allem verbunden hatte, und bei sehenden Augen sank das Bewußtsein seiner geheimnisvollen Gewalt in ihn zurück. Das Traumtürlein schloß sich vor seiner Seele, und er stand wie am Tage vorher in einem Wirrsal unerklärlich schweigsamer Dinge, mit denen ihn nichts verband als ein Ahnen von einer tönenden Buntheit, die verwunschen in allem schlummerte.

Und Amadeus hätte vielleicht wieder eine Reihe schwerer Tage an finsteren Wundern gelitten, wenn Mandel nicht, durch die Unruhe seines Knaben recht gewiesen, sich seines Versprechens an ihn erinnert und dadurch dem Luftnähen, wie er es in Gedanken nannte, ein Ende bereitet hätte.

 

*

 

An einem der nächsten Morgen fand Amadeus neben seinem Töpfchen das Geschenk des Vaters, wodurch sein Schweifen gebunden werden sollte, eine Schiefertafel und einen säuberlich gespitzten Stift darauf liegen. Mit stillem Ernst, Hunger und Durst vergessend, ging er an die Untersuchung dieses Gerätes, stellte die Tafel auf das Töpfchen und ließ sie ein Dach sein, unter das er zwei Pferde und einen Wagen schob, alles aus Brot zurechtgebrochen. Eusebius duckte sich auf seine Arbeit und gab sich den Anschein eines übereifrigen Mannes. In Wahrheit schielte er nach seinem Jungen und dachte, nun muß es sich zeigen, ob ein Herr in ihm steckt. Natürlich war er darauf gefaßt, daß Amadeus kurzerhand den Stift fassen und das ganze Abc und noch mehr auf den Schieferstein schreiben würde, und sein Erwarten tat ihm ordentlich weh in der Seele. Da er ihn die Tafel als eine Wand an den Stuhl lehnen sah, machte er vor freudiger Bestürzung schon zwei lange, tiefe Stiche, weil er sich sagte: »Der Mordskerl überlegt wie ein Alter!« Die Sache mit dem Dache, die dann wieder an die Reihe kam, war dem Eusebius nicht ganz klar, und er räusperte sich. Als aber nun gar der zukünftige Herr die Brotbrocken mit Hott und Hü unter dem Dache hin und her führte, ließ der alte Mandel die Hübnerjacke fallen, ging hin und unterwies sein Söhnlein über die Bedeutung des Tafelsteines und des Griffels, legte dessen Fingerchen um den Stift und leitete seine Hand auf und ab. So wurden richtige Berge auf der Tafel, und Amadeus freute sich darüber, was alles in dem Stift steckte. Am Ende zeigte ihm der Vater, wie man das »i« schreibt, und immer, wenn er es fertig hatte und zum Punkte kam, rief er den Namen des Schriftzeichens, lang und mit einer fröhlich-dünnen Stimme, daß es einem Krählaut nicht unähnlich klang.

»Ist das ein Hahn?« fragte Amadeus nach einigem Hinsehen.

»Warum ein Hahn?« lautete des Vaters verdutzte Gegenfrage, und es war ihm anzumerken, daß er sich ein klein wenig gekränkt fühlte.

»Weil er schreit wie Schnallke-Bauers junger, weißer Hahn«, antwortete Amadeus und wußte es sich nicht zu erklären, warum es wie auf Mausfüßchen zornig um des Vaters Nase zitterte.

»Ein Hahn!« rief Eusebius endlich höhnisch aus, »ein Hahn! Ein Buchstabe ist das, Junge, merk dir's!«

Amadeus suchte den Stab und fand keinen, und weil sein Vater so grob geredet hatte, traute sich der Junge nicht mehr, etwas zu sagen.

Nach dem Frühstück machte sich das Büblein auch darüber her, das »i« zu schreiben. Aber das waren komische Dinge, die aus dem Stift kamen, wenn man ihn in die Hand nahm und darauf drückte. Sie kletterten auf allen Linien umher, hingen bald oben in einer Ecke und krochen bald unten in einen Winkel. Jetzt lagen sie platt wie die Kinder vor der Hildesheimer Mauer, nun standen sie aufrecht wie ein Glockenturm. Wenn man auf den Topf sah und dann den Stift laufen ließ, so fuhr er rundherum, und es wurde, was er sich dachte. Das dünne Steinstänglein kannte den Ofen und den Stuhl, den Tisch und den Trichter. Amadeus fand gar kein Ende, den Zauber zu versuchen, der in dem Stift verborgen war. Als ein unbegreiflicher Kundschafter führte er das Knäblein in die Heimlichkeit aller Dinge zurück. Und immer, wenn er aufgestanden war, um etwas anderem nachzugehen, hörte er den Stift ganz leise picken, als rufe er nach ihm. Sah Amadeus dann hin, so lag er zwar noch, wie er ihm aus der Hand geglitten war; sobald er ihn aber zwischen den Fingern hielt, floß schon wieder etwas anderes aus ihm heraus. Nichts blieb dem Stift verborgen. Durch die Tür konnte er in den Hausflur sehen. Er wußte, was im Stall war, ohne ihn durch das Fenster schauen zu lassen, malte er alles, was draußen in der Welt stand. Gemach auch erlöste er die Leute, die in den Dingen schliefen. Das Traumtürlein in des Amadeus Seele öffnete sich. Das klingende Seil, das ihn an jenem Abend mit allen Weiten verbunden hatte, ging strahlend daraus hervor, und die tönende Verklärung, die in den Wesen der Erde schlummert, wurde in dem Herzen des kleinen, blassen Schneiderjungen erschlossen. Er ließ die Krähen durch das Blau der nahen Nacht tauchen und in Lüften Zwiesprach' halten. Seine andere Mutter kam auf der glänzenden Straße zu ihm aus dem Himmel gefahren, sein Vater war weder ein schwarzer Vogel noch ein windschiefes Männlein, sondern wanderte wieder mit dem König von Preußen umher, und alles, was Amadeus malte, sang er mit weicher, glockenheller Stimme.

Oft stand Eusebius auf und sah dem versunkenen Knaben über die Schulter, ohne begreifen zu können, wie von den Strichen und Ringeln, die wirr die Schiefertafel bedeckten, so wundersame Sachen in seine Seele und solch nie gehörte Lieder von seinen Lippen kommen konnten.

Dann saß er wieder auf seinem Platz und war oft nicht imstande, die Hände in gewohntem Fleiße zu rühren. Denn der Gesang seines Jungen brach den Bann des Schweigens und Verstummtseins, der seine Vergangenheit gefesselt hielt. Bunte Schleier stiegen aus vergessenen Schächten, und Lichter glommen aus Dunkelheiten seines Lebens. Der Hainwald, durch den sein Weib auf Nimmerwiedersehen gefahren war, hüllte sich in Schimmer, und einmal sah er Agathe gar selbst aus dem Schatten der Bäume auftauchen, leibhaftig, wie sie gewesen war: den Kopf geneigt, daß das lange, ruhige Gesicht unter der Bänderhaube nicht zu sehen war. Das Gebetbuch mit stiller Hand an die Brust gedrückt, und der Rock rührte sich langsam von ihrem festen, ruhigen Gange. So schritt sie daher, wie sie Mandel wohl tausendmal von diesem Fenster auf sein Häuschen hatte zukommen sehen. Als er aber klopfenden Herzens sich vorneigte, um die Erscheinung genauer zu erkennen, verschwand alles in nichts. Nur das Sonnenlicht zitterte eine Weile goldiger über der Stelle, wo sie gewesen war.

Durch dieses Gesicht wurde es dem Eusebius klar, von wem Amadeus die vielen Lieder empfangen hatte, mit denen er das Schneiderstübchen unter dem Ahornbaume zu Oberröhrsdorf erfüllte. Gerade so weich und leise hatte Agathe einmal gesungen, da Mandel als junger Bursche, hinter einem Kornfeld liegend, sie zu einem Lustgange durch die Wiesen erwartet hatte. In jener Spanne Zeit waren vor seinen Augen auch rote, glänzende Ströme über die Ähren gefahren von ihrem heranwandelnden, versonnenen Gesange. Hernach war zwar in den Mühen des Lebens der Gesang in ihrem Munde verwelkt und verdorrt; allein in ihren Augen wohnte unversieglich ein tiefer Klang, der erst mit dem Tode erlosch. Nun sang seines Weibes Seele, jene verschüttete ihrer fernen Jugend, aus dem Munde seines Söhnleins, so daß es ihm oft war, als sei alles so schön wie früher, und kein Grauses habe dies Stüblein je berührt, noch auch sein Herz, das in seiner Brust hockte, wie ein unflügges Vöglein im Nest, glücklich und überaus unruhig, weil sich die Welt vor ihm auftut.

Deswegen plagte Eusebius seinen Jungen auch nicht mehr mit dem »i«; denn er dachte: wenn Amadeus auch nicht »einer vom Gericht wird«, so führten doch tausenderlei Wege auf Erden an ein goldenes Ziel, wenn im Kopfe nur jeder Zwickel an der richtigen Stelle sitzt.


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