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10

Nach dieser erfolgreichen Nacht wendete sich alles im Mandelhause wieder den alten Geleisen zu. Einige Tage später hatte Christoph Eusebius ein Paar Hosen im Hofe des Bauern Tautz auf dem Ranser abzuliefern. Zu manch anderer Zeit hätte es dem Meister den Atem ein wenig abgeschlagen, mit dem Manne einen Handel abzuwickeln. Denn es war ein Kerl, grobgedübelt wie ein Kühschaff, der größte Fläz auf dem Ranserberg, und das will was sagen in einem Ort, wo sich die Männer ihre Meinungen mit den Peitschen um die Ohren hauen. Man hieß den Tautz allgemein den schiefen Scholzen, und das war sein Groll. Denn an seinem mageren, langen Körper war alles in Ordnung bis auf den Bauch. Der stand als ein blasiger Auftrieb, eine Art riesiger Gallapfel, nicht über der Mitte des Beinschlusses, sondern weit ab, etwa über der linken Hosentasche.

Der Meister glaubte sein Werk geraten und stocherte während des Gehens spielend mit dem Pfefferrohrstock in dem aufgeweichten Wege, wie es etwa die Art junger Burschen ist, die fortwährend der Übermut juckt. Als nun der Schneider in des Bauers Stube trat, schimpfte der gerade seine Frau aus, weil sie die Hühner des Nachbars in seinem Garten dulde, und schwor, dem Federgezücht nicht einen Knochen im Leibe ganz zu lassen, wenn das noch einmal vorkomme. Dann ließ er sich die Hosen aus der Wachsleinwand packen, sah prüfend an ihnen hinunter und verschwand im Nebenraum. Die Frau setzte sich indes zu dem Meister und versuchte ein freundlich Gespräch, denn sie hatte ein zartes, stilles Gemüt und bemühte sich, den schlechten Eindruck zu verwischen, den ihres Mannes Gepolter hinterlassen hatte. Als aber drinnen ein Paar Stiefeln gegen die Wand flogen, erhob sie sich und ging hinaus. Mandel zählte die Scheiben an den Fenstern und lächelte. Gerade war er über der letzten, da flog die Tür auf, und Tautz kam in Wut heraus und stellte sich breitbeinig vor Eusebius auf. »Vierundzwanzig«, sagte Mandel und ahnte nicht, daß er laut spreche.

»Nein, hundert«, brüllte der Bauer, »hundertmal seid Ihr nicht gescheit, Schneider.«

»Warum schreit Ihr denn so? Wenn brüllen Klugheit wär', dann ständen auf allen Kanzeln Ochsen statt Pfarrern«, antwortete Mandel mit der freundlichsten Miene der Welt.

Auf diese unvermutet scharfe Entgegnung wurde Tautz etwas umgänglicher, und weil niemand in der Stube war, vor dem er sich mit Nachgeben lächerlich machte, sagte der Bauer ganz manierlich, die Hosen seien ja insoweit ganz gut, aber um den Leib säßen sie nicht.

Eusebius merkte zwar gleich, daß er den Hosen den Bauch an einer anderen Stelle gewölbt hatte, als des Bauers Leib es zugeben konnte, nämlich an der rechten, statt an der linken Seite, schüttelte aber den Kopf, machte ein sehr bekümmertes Gesicht und sagte endlich, es sei alles ganz und gar richtig, wie es sein solle, aber Tautz müsse krank sein. Denn als er ihm Maß genommen habe, sei sein Bauch auf der rechten Seite gewesen. Allein, solcherlei Sachen und manchmal noch schlimmere passieren eben auf der Welt. Es gäbe ja Nieren, die wandern; warum könne sich nicht auch ein Bauch verschieben? Da müsse er mit dem Arzt sprechen. Wenn er aber die Erfahrung eines vielgereisten Mannes nicht gering anschlage, so rate er ihm, ein heißes Siegellackpflaster auf den erkrankten Teil zu heften und so lange liegen zu lassen, bis es von selbst wieder herunterfalle. Das sei billig und würde dem Leibe die alte Ruhe und Festigkeit wiedergeben. Natürlich müsse er sich während der Zeit aller Erschütterung und Aufregung enthalten. Denn nichts schade bei solchen inneren Leiden mehr als Zorn und Schreien. Darauf sah er dem schiefen Scholzen in die Augen und bedeutete ihm, es sei wirklich in seinem Bauch nicht richtig, denn er habe eine quittegelbe Nickhaut. Das alles sprach Christoph Eusebius mit ruhiger Überzeugung aus, so daß der Bauer anfing, ein wenig bestürzt zu werden.

Allein der Schneider hatte zu lange keine Lust gehabt und war darum der Freude etwas entwöhnt. Als er darum des schiefen Scholzen gerunzelte Stirn sah, konnte er sich eines Lächelns nicht enthalten. Da merkte Tautz, daß Mandel nur einen Spott mit ihm getrieben habe, ging stockstill in den Nebenraum und kam nicht lange darnach wieder zum Vorschein. Sein Gesicht war blaß vor Wut. Er hieb die Hosen auf den Tisch, daß die Knöpfe klirrten und schrie: »Die Hosen nehme ich nicht! Sackt Eure Dummheit hinein, und wenn Ihr nicht schnell vom Hofe findet, lass' ich Euch mit den Hunden 'naushetzen.« Unter diesen Umständen war der Schneider eilig draußen. Als er aber den Berg hinunterstieg, kam gerade die Sonne heraus. Er sah sein Haus unter dem Ahorn liegen und mit glänzenden Fenstern zu ihm heraufschauen.

Da kam es über ihn. Er trat hinter einen Strauch und machte ein Freudensprünglein.

Unterwegs mußte er an dem Oberröhrsdorfer Gasthaus, an der Moser-Schenke vorbei, die hinter einer uralten Linde ein paar Schritte neben der Straße lag. Da standen drei Männer vor der Tür, fuchtelten mit den Händen, sprachen aufeinander ein und lachten dann überlaut. Als sie den Schneider erblickten, riefen sie ihm zu, er käme wie gerufen. So einen, wie den Mandel hätten sie gerade noch gebraucht, denn wo er hinkomme, seien auf einmal fünfzehn mehr da. Um ihren Spott nicht herauszufordern, ging er und setzte sich zu ihnen an den Tisch. Das Geplauder der Männer schaukelte sich spaßhaft hinüber und herüber, und der Meister, dem es war, als sei er in eine neue Sonne gekommen, blieb ihnen nichts schuldig, und bohrte ihm einer ein Loch, so schnitt er ihm zum Dank einen ausgewachsenen Narren. Endlich sagte der Ernsthafteste von ihnen, nun sei es genug mit dem Fetzpopeldrehen, nun müsse man in der Scholzenwahl fortfahren. In diesem selben Winter sollte nämlich der Wechsel des Gemeindeoberhauptes stattfinden. Nach einem alten Brauche eröffneten die Oberröhrsdorfer diesen Handel, der allemal eine gewaltige Bewegung in die Hütten und Höfe trug, mit einem Spottgedicht. Die drei Männer waren nun darüber her, für diesmal das Amt der Wahlsänger zu erfüllen und jedem der mutmaßlichen Kandidaten einen derben Schimpf anzuhängen. Sie drückten ihre Essigspritze gegen Sauerborn ab und lasen vor, was sie zustande gebracht hatten.

Wär ich der Müller von Sauerborn,
Da kriegt ich alle Tage ein Horn;
Denn während ich müller im Räderhaus,
Klopft meine Frau die Säcke aus.

Eusebius erzählte darauf den Spaß, den er mit dem Tautzbauer gehabt, zeigte die Hosen herum und spielte den ganzen Vorgang mit solch treffender Lustigkeit, daß die drei vor Lachen fast von den Bänken fielen.

Dann setzte er sich abseits und machte ein Verslein auf den schiefen Scholzen. Nachdem er fertig war, übergab er den dreien den Zettel mit der Bedingung, ihn, den Dichter, nicht zu verraten, und verschwand, während sie daran buchstabierten.

Die Zeilen lauteten:

Wär ich der Tautz von Ranserberg,
Steckt ich mir in den Bauch ein'n Zwerg.
Der kröch bald rechts, bald links herum;
Da hätt ich Bäuche um und um.

Sie liefen hinaus und riefen dem Schneider lachend nach. Der aber winkte nur aus der Ferne mit der Mütze und strebte seinem Hause zu.

So fuhr Eusebius wieder in den Segen seiner tausend krausen Verwandlungen hinein. Die Träume lösten sich aus den Schrotwänden und füllten das Mandelhaus mit ihrem unsichtbaren bunten Dampf; die Fenster sogen das Licht der spärlichen Herbstsonne und hauchten es über des Meisters emsige Hände.

Daß er manchmal mit der Maruschka auf den Boden steigen und durch die bunte Scheibe sehen durfte, machte dem Eusebius auch kein kleines Vergnügen. Und wie alle Menschenlust am ungetrübtesten ist, von der niemand was weiß, so behagten dem Schneider diese Ausblicke in die Gegend, wo Adam und Eva ihr Tänzchen drehen, deswegen ganz unbeschnitten, weil von den Späßen, mit denen er sich an die Stumme verlor, nichts störend in seinen Tag widerklingen konnte. Nichts Unrechtes hing um ihn. Ja, es dünkte ihm, sein ganzes Leben sei ein einziges hohes Gelingen. Es ging ihm wie dem Wanderer, der am Ziele seiner Reise jedes Ungemach vergoldet und alle Enttäuschungen als Erfüllungen sieht. Er hatte die Hübnerjacke nicht verdorben, sondern sie ein dutzendmal unter immer neuen Umständen als gelungene Arbeit abgeliefert. Die erfolglosen Streifereien in den wirren Wochen erschienen ihm wie ein einziger Siegeszug seiner meisterlichen Geschicklichkeit. Man hatte sich um ihn gerissen. Er sah in der Erinnerung die Bäuerinnen mit kosendem Wesen um seine handwerklichen Dienste bitten und hörte sich über das Feld hin von allen Männern angerufen. Und alle Geheimnisse, die er aus seinem Leben erfuhr, alle Wunder, die er genoß, lagen wohlverwahrt in der zwiefachen Nacht dieses Weibes, die mit keinem Wort dies Traumwandeln zerriß, sondern von den Einbildungen des Meisters nach seinem Gutdünken geformt werden konnte. Ohne daß er es wußte, war das Gesicht seines Amadeus an ihm wahr geworden, er hing wirklich mit der Stummen in einer roten Kugel über der Erde, zu der er allein den Weg wußte.

So glaubte Eusebius wenigstens lange Zeit. An einem Tage aber erkannte er, daß das eine Täuschung war.

Sonst schlich sich der Schneider nur bei Nacht zu der Stummen. An diesem Nachmittage hatte Maruschka am Ofen zu tun. Sie öffnete das Türchen, und die Glut des Feuers lief ihr über die Arme, den offenen Hals und flimmerte in ihrem Gesichte. Dem Schneider kam sie so schön vor, wie er es gar nicht für möglich gehalten hatte, und obwohl sein Junge in der Stube war und spielte, winkte er ihr verstohlen zu, bis sie das Scheitlein Holz hinlegte und hinausging. Nach einem schicklichen Weilchen tat auch Mandel seine Arbeit auf die Seite und folgte ihr. Beim Hinaufsteigen über die Bodentreppe ertönte ein Klingen um seinen Kopf, das sich wie die Stimme des Amadeus anhörte. Der Schneider hielt es für das Tönen großer Lust in seinen Ohren und ging weiter. Beim Wiedereintritt in die Stube aber sah ihn sein Junge mit schreckhaft-forschenden Augen an. Das Spielzeug war ihm aus der Hand geglitten. Er saß furchtsam und wagte sich nicht zu rühren.

Eusebius wurde von den Blicken des Amadeus merkwürdig tief getroffen, daß er zum Fenster hinausschauen mußte. Von nun an merkte er genauer auf und erkannte, daß Amadeus durch sein Lied an seinen verborgenen Unternehmungen teilnahm: sooft er hinaufschlich, um bei Maruschka zu liegen, klangen selbst die gedämpftesten Schritte im Rhythmus der kindlichen Stimme, in den Schindeln und Sparren sauste auf geheimnisvolle Weise sein Lied und einmal gar, als Mandel nach einem glücklichen Gesetzlein lag und in wohligem Schwachsein die Bretterwand anschaute, sah er auf dem altersgrauen Grunde der Holzbretter, wie aus einer Nebelweite heraus die Gestalt seines gestorbenen Weibes auftauchen, mit vorwurfsvollem Kummer nach ihm hinschauen und verschwinden.

Immer wenn dem Schneider dergleichen passierte, zerbrach die bunte Scheibe, durch die er auf sein Leben sah. Das geheime Glück zerfiel, und es kam ihm vor, als sei er nur durch die wirren, schweren Wochen gewandert, um auf einem Häufchen Unrat in einer lichtlosen Tonne zu sitzen.

Die Stumme trieb unberührt ihr Gewese, lachte in schweigsamer Heiterkeit und blühte von einem Tag in den andern. Alles, was ihn bedrängte, hatte keinen Fug an sie. Da beschloß der alte Mandel, es ihr gleichzutun und sich mit Gewalt taub zu machen. Allein er mochte sich noch so sehr verschließen und auf den Jungen gar nicht achten, wider seinen Willen sog er gleichsam mit den Poren seines Leibes die Stimme des Amadeus ein und hörte sie dann aus dem heimlichsten Grunde seiner Seele als die Mahnung des Gewissens aufklingen.

Manchmal, wenn er den Jungen unauffällig betrachtete, um herauszubringen, was an ihm sei, daß sein Lied diese geheimnisvolle Gewalt besitze, sich in das Tiefste seines Lebens zu mischen, erschien ihm sein Amadeus als kein Kind, geschweige denn als ein Sechsjähriger. Er war größer und schlanker als alle Gleichaltrigen des Dorfes. Seine Bewegungen waren überlegt. Im Gang lag etwas wie predigerhaft Würdevolles. In den Augenblicken stillster Versonnenheit kamen Schatten in seinem Gesicht auf, wie sie nur aus den Räumen schmerzvoller Erfahrung über die Züge des Menschen fallen, und in seine Augen tauchte von innen her ein Feuer, daß sie nicht mehr blau, sondern fast schwarz leuchteten.

Die Verwandlung des Amadeus wirkte oft so stark auf seinen Vater, daß er diesem nicht als sein leibliches Kind, sondern wie ein Fremder erschien, der in sein Haus eingebrochen sei und dessen Ruhe und Sicherheit bedrohe.

Dann fuhr er auf den Jungen los, sobald er sich zum Singen anschickte, ja er duldete nicht einmal, daß Amadeus seine Lieder auf Papierstreifen schrieb und sie unter stummem Wiegen und mit verhärmtem Gesicht im Innern schwingen ließ.

»Laß das Gepunke sein«, schnurrte Mandel los, »du wirst dich inwendig noch ganz verdroseln mit dem Getue, und es wird einmal aus dir nich mehr als ein Bonifaz Windel, als ein Leiermann.«

Aber was soll ein Wind anfangen, den der Herrgott über allen Bergen der Erde ins Leben gerufen hat? Er kann nichts als über die Wipfel streichen, und der Knabe verkroch sich nur tiefer in seine klingenden Erleuchtungen und wurde um so inniger verschwistert mit ihnen.

In dieser neuen Not kam dem Meister seine Gabe zu Hilfe, in bunten Tüchern über sein Leben zu fahren und die Ereignisse und Heimsuchungen, die er, von der russischen Geschichte angefangen, erfahren hatte, fügte sein listenreicher Geist zusammen und gliederte sie seiner Weltfahrt als ein neues Abenteuer an.

Das war keine kleine Arbeit. Er führte Nadelschwünge, die sich wie das Ausholen zu Stockschlägen ansahen; ließ den Faden gleich einer angerissenen Saite klingen und hüpfte mit Stichen durch das Tuch, die Ähnlichkeit mit einem fortlaufenden Triller hatten.

Wenn der alte Mandel so in sein Leben hineindichtete, mußte Amadeus die Stube verlassen, und er hörte ihn vom Flur aus erregt sprechen, als streite er mit einem feindseligen Fremdling. Schlüpfte das Kind, von der Neugierde überwältigt, durch die Tür, um zu sehen, wer da sei, saß sein Vater mutterseelenallein mit gerötetem Gesicht vor seiner Arbeit, schüttelte mit verwundertem Lachen den Kopf oder sprang erregt aus dem Schneidertisch.

Endlich war Mandel mit der Geschichte fertig, und als er sie sich noch einmal überdachte, erkannte er, daß sie ihm gleichsam von seinem guten Geist beschert worden sei. Denn er durfte den Ausgang nur ein wenig verändern, und Amadeus mußte von dieser schädlichen Gewohnheit, die ihm den Kopf verdrehte, ablassen.

Es war ein heller Wintertag. Der Himmel stieg in bläßlichem Blau von dem silbrigen Walde des Langen Busches zur Höh'. Kein Lüftchen rührte sich, und die Flocken fielen vereinzelt gleich weißschimmernden Flämmchen vor den Fenstern des Mandelhauses nieder.

Da stellte Eusebius das Fußbänklein mitten in die Stube vor sich hin und hieß den Amadeus darauf Platz nehmen.

Der Junge folgte mit Beklommenheit dem Befehl, denn Mandel hatte kaum die Schneiderbank erklommen, so zog er die Brauen tief über die Augen und sah düster auf einen Ast der Diele, wie ein Pfarrer tut, wenn er mit der Predigt beginnen soll und den Kanzelspruch vergessen hat. Endlich atmete er auf, strich den grauen Haarsträhn zurecht und fing mit etwas unsicherer Stimme an:

»Siehst du, Junge, ich red' und predige, du sollst das Singen und ewige Dudeln sein lassen. Aber du folgst und folgst nicht, kriechst in den Holzstall und punkst auf Papier, bis dir die Hände blau werden vor Kälte, oder du steckst dich gar zu den Ziegen und singst ihnen was vor.

Nein, nein, mein herzer Junge, ich weiß alles.«

Amadeus wurde rot und sah verlegen nach dem Tanz der Schneeflocken vor dem Fenster.

»Bist du mir denn gar nicht gut?« fragte der Schneider, bitter über die Gleichgültigkeit des Kindes.

Amadeus senkte den Kopf und konnte vor Würgen im Halse kaum ja sagen.

»Sprich einmal Kolivansky, Ko–li–vans–ky.«

»Moli ...«

»Ach, Moli ... Koli ... Kolivansky. Sieh, da will ich dir eben die Geschichte erzählen, daß du's weißt. Mir schadet das Singen, ich werde krank davon.«

In des Jungen Gesicht kam jene Angst auf, mit der er seines Vaters Not gewahrte, als er ihn das erstemal in Maruschkas Arme gesungen hatte.

Mit Befriedigung nahm Christoph den Eindruck seiner einleitenden Worte wahr und fuhr fort:

»Ja, ja. Wenn ich mir's heute überlege, wäre ich balde an dem Kolivansky gestorben.

Na, da hör bloß zu, wie mir's gegangen ist:

Ich war noch nicht lange Meister in Oberröhrsdorf. Es mögen zehn Jahre her sein oder fünfzehn. Du warst noch nicht auf der Welt. Die Leute rannten mir das Haus ein, denn niemand in der ganzen Umgegend wollte sich von einem andern als dem Mandel-Schneider bekleiden lassen. Ich arbeitete den Tag zwölf Stunden und blieb oft wach, bis der Morgen wieder kam. Aber es half nichts, das Tuch auf dem Wandbrett nahm nicht ab. Da sah ich wohl ein, daß das nicht so bleiben könne, und wollte ich nicht meine Gesundheit zu Markte tragen, so mußte ich mich nach einem Gesellen umsehen. Aber es war dazumal gerade ein harter Winter, die Wege voll Schnee gesackt, daß kaum ein Pferd fort konnte, geschweige denn ein Mensch, und die Fensterscheiben hatten einen Pelz wie die Schafe vor der Schur.

Also wartete ich lange vergebens auf einen wandernden Schneiderburschen.

Da, eines Vormittags stand unvermutet ein Kerl vor mir, hager wie ein Schießprügel und schwarz wie einer, der aus des Teufels Tasche gekrochen ist. Ohne anzuklopfen, stand er vor mir, sagte in gebrochenem Deutsch den Handwerksgruß und sprach um Arbeit an. Ich fragte nach seinem Namen. ›Kolivansky‹, antwortete er. Und eh' ich ja oder nein sagen konnte, saß der unheimliche Mensch neben mir, warf ein Bein über das andere und verlangte, zu nähen. Erst zog ich gelinde Saiten auf und ließ ihn von weitem daran riechen, daß ich ihn lieber wieder an seinem Stecken auf der Straße sähe. Mein neuer Geselle tat, als verstehe er plötzlich kein Deutsch, schlug mit der flachen Hand auf das Bein und schrie: ›Hodne!‹ Ich wußte dazumal noch nicht, daß das ›schnell‹ hieß, dachte, er meinte damit hott, wurde ärgerlich und antwortete: Mir sei es gleich, ob er hott oder hü davonginge. Die Hauptsache wäre, er mache die Tür von draußen zu.

Kaum hatte ich ihm das unter die Nase geblasen, so geht ein Lachen in dem Kolivansky an, als klirre er mit Säbeln in seinem Maule, und seine Augen sausten ihm im Kopfe wie Flintenkugeln.

Da riß auch mir der Geduldsfaden, und ich drückte ihm durch ein paar kernige Worte den Daumen auf den Adamsapfel.

Nun sah Kolivansky, mit wem er es zu tun habe, und daß ich Mittel und Wege wüßte, an eine Tür zu pochen, die ihn verschluckte, mir nichts dir nichts, wie die Katze die Maus. Deswegen bequemte er sich und langte aus seinem Berliner das Gesellenzeugnis und alles, was ein richtiger Handwerksbursche an Papieren haben muß. Er stammte aus Solowitsch, tief in Rußland, wo man die Kinder noch mit Wolfsmilch aufzieht, und hatte in Moskau gelernt. Sein Paß war vom russischen Kaiser und dem Herrn Gufernement unterschrieben.

Nun habe ich schon gesagt, daß leisegott an jeder Schindel meines Daches eine Bestellung hing und meine zwei Hände hätten mit zwanzig Nadeln auf einmal nähen müssen, um alles fertigzubringen. War mir Kolivansky auch nicht angenehm, so überlegte ich doch, man könne ruhig ein Russe und dabei ein honetter Schneider sein. Vorsichtshalber sagte ich aber, er müsse mir erst einen Beweis seiner Geschicklichkeit liefern, ehe ich ihn einstellen könne, und fiel die Probe zu meiner Zufriedenheit aus, so würde ich ihn halten, bis das Osterlamm ausgeläutet sei und vielleicht noch länger. Darauf legte ich ihm Stoff vor und ließ ihn ein Paar Hosen machen, schön geräumig im Leib, gefirre in den Knien und hübsch geschwungen in den Waden. Die Maße ständen in meinem Buche. Darüber war es Abend geworden, und Kolivansky meinte, heute könne er doch nichts mehr anfangen, denn er sei müde und habe einen mörderischen Hunger. Morgen früh wolle er sich über die Hosen machen, und ich würde mein blaues Wunder erleben. Damit setzten wir uns an den gedeckten Tisch. Der russische Schneider hieb ins Essen, als habe er den Hunger von zehn Kosaken mit samt ihren Pferden, und hörte nicht eher auf, bis Brot, Kartoffeln, Butter und Käse, kurz alles, was auf dem Tische stand, in seinen Bauch gewandert war, und für uns andern war kaum so viel geblieben, daß wir uns die hohlen Zähne vollbeißen konnten. Als es ihm aufstieß, stach er das Messer in die Tischplatte, stand auf und legte sich auf den Boden, wo sein Bett aufgeschlagen war.

Die ganze Nacht schnarchte er, daß es einmal war, als fahre ein Brettwagen durch das Haus, ein andermal, als wimmere ein Tier, und kein Mensch. Dazwischen knallte er immer, als würfe jemand mit einem Stein an die Wand.

Am andern Morgen sackte er wieder ein Brot hinter seinen Hosengurt und machte sich dann über die Arbeit. Er sei gewohnt, nach der Odessaer Manier zu schneidern, meinte er, und wenn mir anfangs manches seltsam vorkommen sollte, so bäte er mich um der Mutter Gottes zu Czenstochau willen, kein Sterbenswörtlein zu sagen, denn er sei hitzig und könne Widerspruch für sein Leben nicht vertragen.

Anfangs ging alles, wie es sein mußte. Seine Hand war sicher, und die Bahnen flogen nur so aus dem Tuch. Deswegen ließ ich ihn machen und sah kaum mehr hin. Kolivansky selbst wurde immer lustiger bei seiner Arbeit, und zuletzt fing er gar an zu singen.

Du mußt wissen, Junge, die Russen singen wie die Engel im Himmel, und schon solange ich lebe, hatte ich mich gesehnt, ein russisches Lied zu hören. Kolivansky aber war ein Meister im Singen. Was sage ich? Ein Zauberer, und kaum hatte er das Maul aufgemacht, so war ich wie in einer anderen Welt. Die Stube wurde weit. Es war mir, als gingen allerlei Leute aus und ein. Vor den Fenstern wuchs eine fremde Stadt mit Essen, Fahnenstangen und Türmen, und ich wußte bei meiner Seele nicht mehr, ob ich in Röhrsdorf oder Moskau sei.

So verführte Kolivansky ein herrlich Musizieren drei Tage lang. Ich ging umher wie im Traume und weiß heute noch nicht, was ich damals alles angestellt habe ...«

Eusebius mußte hier seine Erzählung unterbrechen; denn Amadeus, der nun neben dem Fußschemel mitten in der Stube auf der Diele saß, war während der letzten Sätze langsam zusammengesunken und lag mit dem Gesicht auf dem Boden.

»Was hat's denn mit dir, Junge?« fragte Mandel. »Ist dir denn nicht gut?«

Amadeus bewegte verneinend den Kopf.

»Soll ich nicht weitererzählen?« fragte Mandel wieder. Allein der Knabe schien die Frage nicht zu hören. Ein Beben lief durch seinen Körper, als sei er der Spiegel eines Teiches, der unter einem nahenden Sturme zittert. Der Schneider glaubte eine bejahende Gebärde wahrgenommen zu haben und fuhr darum zu sprechen fort:

»Alle meine Brote wanderten von der Hänge in Kolivanskys Magen, und mein Verstand schien durch das Fenster in alle vier Winde gefahren zu sein. Endlich riß sein Gesang ab, und in meinem Hause war es so still wie in einer Totenkammer ...«

Bei diesen Worten schnellte Amadeus wie geworfen in die Höhe und setzte sich unnatürlich gereckt auf die Beine. Keine Muskel seines Körpers rührte sich, keine Fiber seines Gesichtes zuckte. Nur die Sterne der weit offenen Augen schwankten, als suche er damit irgendwo Halt.

Eusebius dachte, das Kind mit dem wilden Russen allzusehr erschreckt zu haben.

Deswegen sagte er begütigend:

»Nee, nee, Amadeusla, sei du ruhig. Kolivansky war gar nich schwarz. Du! Er war auch nich lang. Amadeusla!! Ganz klein war er. Junge, da hör' doch!«

Plötzlich bog es das Kind wie eine Rute, die der Sturm krümmt, und lautlos sank es wieder zu Boden.

Mit einem Satz sprang Mandel aus dem Schneidertisch und stand bei dem Knaben.

»Was fehlt dir denn?« stotterte er.

Aber kaum, daß er das Kind berührte, löste sich der Krampf, und Amadeus brach in ein wildes Weinen aus. Dabei klagte er immerzu: »Ach Vater ... ach Vater ... ach Vater ...«

Ratlos lief der Schneider aus der Stube, stürmte durch das Haus und rief nach Maruschka. Im Stalle fand er sie und geleitete sie gestikulierend herein. Die Stumme beobachtete das Kind, schüttelte lächelnd den Kopf und beugte sich, es aufzuheben. Als Amadeus ihre Hände an seinem Leibe fühlte, gebärdete er sich wie toll, rang wie in Todesangst mit Händen und Füßen gegen sie und schrie: »Geh weg, geh weg! Ich will zur Veronika!« Aber das große Weib drückte den Wimmernden wie ein Bündel zusammen und trug ihn in sein Bett.

Dort weinte er bis zur völligen Erschöpfung weiter. Die beiden standen dabei und ahnten nicht, was den sanften Knaben in diese Wildheit gerissen habe. Endlich lag sein Leib ruhig wie ein welkes Blatt.

Eusebius ging von dem Lager seines Jungen mit einem Mißvergnügen fort, das er zwar auf das Kind schob, das aber doch aus eigenen, tieferen Quellen seines Lebens stieg und sich steigerte, je mehr er eine Verantwortung ablehnte. Nach Stunden schon war es zu einem Grimm und Zorn ohne eigentliche Richtung geworden. Seine Lippen bebten, die Äuglein rannten spitz und zwinkernd unter den Falten der Lider hin und her, und er schnappte mit der langen Schere wild in die Luft, wie zornige Käfer wahllos mit den Freßzangen um sich hacken.

Amadeus aber lag blaß und schweigsam, kehrte der Stube und allem Leben den Rücken und sah mit fest zugekniffenem Munde und verzweifelten, großen Augen die Wand an. Weder nach Essen noch nach Spiel verlangte er, und es schien, als lange eine geheime Krankheit nach seinem Leben. Sein verschlossener Schmerz, seine stumme, scheinbar trotzige Abkehr setzte dem Meister immer härter zu.

Am zweiten Tage gegen Abend wandte sich der Knabe geräuschlos um, und nachdem er unbemerkt dem Schaffen seines Vaters zugeschaut hatte, blickte er wie prüfend in das grämliche Verscheiden des Lichtes. Sein Gesicht erschien gealtert und trug die Züge von jenem aussichtslosen, leidenschaftlichen Schmerz, wie er sich in die Wangen und die Stirn Zehnjähriger gräbt, wenn ihre schwärmerische Absicht das erstemal am Leben zerbricht. Und jetzt richtete er sich behutsam auf seine Knie und wartete mit einem sehnsüchtigen Bitten in den Augen, daß der Vater aufschauen und sein Harren bemerken möge. Dabei zuckte es um seinen Mund von Worten, zu denen er doch keinen Mut fand.

»Vater«, sagte er endlich leise und senkte den Blick. Eusebius hörte den Ruf wohl und spürte, wie sich die Seele seines Kindes ihm näherte. Aber um die Berechtigung zu einem »Exempel« zu vermehren, warf er doppelt grimmig mit Tuchflecken um sich, als sei er taub vor Wut.

»Vater«, wiederholte noch leiser und schüchterner Amadeus sein Verlangen.

Da ließ der Meister die Schere klirrend auf die Bank fallen, rückte sich das Metermaß auf den Schultern zurecht und sagte schnarrend:

»Na, hast du endlich ausgebockt, Junge, und willst du wieder artig sein?«

Amadeus senkte den Kopf im Schweigen noch tiefer und lächelte schmerzvoll.

»Was? He? Denkst du etwan, so ein Hinschmeißen is schön, so ein Schlagen und Schrei'n, du?«

Und während der alte Mandel dies sagte, hörte man im Flur die Stumme sich zum Eintritt in die Stube rüsten. Da stieg seine Erregung noch höher, und die Flut der Strafpredigt schwoll und wollte kein Ende finden. Amadeus aber hob den Kopf nicht. Sein Auge blieb trocken und sein Gesicht blaß. Auch als die Maruschka hereintrat und sich wie helfend neben den leidenschaftlich gestikulierenden Meister stellte, zuckte der Knabe mit keinem Gliede und wartete in gelassener Demut.

Zuletzt hatte der Schneider doch in ausschweifenden Worten alles ausgesackt und forderte seinen Jungen auf, ihn und Maruschka um Verzeihung zu bitten.

Das Kind zögerte, hob dann doch den Kopf, sah an der Stummen vorbei seinen Vater an und fragte:

»Mußt du wirklich sterben, wenn ich noch einmal singe?«

Mandel war auf diese Frage gar nicht vorbereitet und fragte deshalb zurück: »Was hat's?«

Der Knabe würgte, seine Lippen zitterten; aber er konnte nicht sprechen.

Doch inzwischen hatte der Meister begriffen.

»Ja, ob ich sterben muß?« fragte er noch einmal.

Amadeus nickte und schaute mit verzweifelter Aufmerksamkeit nach seines Vaters Munde.

»Jawohl«, antwortete Mandel und geriet in eine immer steigende Leidenschaftlichkeit. »Jawohl, wenn du dich nich hättst hingeschmissen, hättst du's gehört. Den Verstand verloren hab' ich von dem Kolivanskysingen. Mir ist keine Arbeit mehr gelungen, nicht einmal Hosen konnte ich machen, geschweige denn eine Jacke. Die Leute haben mich 'nausgeschmissen, und zuletzt bin ich aus lauter Angst am nassen Steige im Walde umgefallen, und wenn nicht zu gutem Glücke Leute dort vorbeigegangen wären, läg' ich vielleicht heute noch dorte.«

»Und Moli ... Moli ...?« fragte Amadeus totenblaß.

»Kolivansky. Was aus dem geworden is? Der Teufel hat ihn geholt. An einem Morgen war das Bett leer, und in der Luft um ganz Oberröhrsdorf her war es grau, als wenn ein großer Bofist geplatzt wär'.

Da weißt du's jetze. Laß du dei Gedudel sein. Die Leute lachen dich bloß aus, und sonst hat's auch keinen Sinn. Du wirst jetze ein Schuljunge und hast anders zu tun. – Na, und nun komm und gib mir einen Kuß und der Mutter auch, und alles ist wieder gut.«

Er trat ans Bett, und das Kind legte einen welken, kalten Kuß auf seine und Maruschkas Lippen. Dann sank es mit einem leisen Laut hoffnungslosen Schmerzes wieder in die Kissen.

Weil Maruschka in der Nähe stand, hörte der alte Mandel nichts und stieg wieder in sein Schneidergehäuse.


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