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Die zweite Nacht

Der andere Tag hatte vom Morgen bis zum Abende gleichsam an der Schwelle der Nacht gelegen. Wie ein blasser Bechermund hing die Sonne in der Höhe und goß schwere Nebel über alles aus, daß die Erde zur Wolke im Gewölk wurde. Als ich die sanfte Lehne gen Wecknitz hinanschritt, sang der Turm von Naspenau mit seiner tiefen, alten Glocke Abendsegen. Die Klänge fielen kraftlos durch die Luft und erloschen im Grase. Nachdem die Erde den letzten Ton eingesogen hatte, kam ein Schimmer, eine machtlose Heiterkeit über sie. Freilich sah ich davon nichts als das schwache Leuchten der Wiesen ein wenig rechts und links vom Wege, denn ich ging gesenkten Auges hin und wollte meinen Blick erst im Birkenwäldchen zu dieser späten Schönheit erheben, um die volle Überraschung zu genießen. Indes ich so Fuß vor Fuß setzte und halbe Betrachtungen durch mich hinschwanden, näherte sich mir auf dem Wege das dumpfe Stoßen von Schritten. Da träumte ich versonnen in mich hinein: das könnte ja das Poltern sein, das dem Webstuhl eines Wecknitzer Häusleins entlaufen sei, weil es sich nicht mehr von dem plumpen Holze hin- und herschlagen lassen, sondern in die weite Welt laufen wollte, um dort auch etwas zu lernen.

Aber ich war nicht imstande, den sonderbaren Einfall zu Ende zu spinnen, denn das Poltern war mir ganz nahe gekommen und hielt dicht vor meinen Füßen. Ich hob lächelnd mein Gesicht, um zu erfahren, in was für einem Leibe es stecke und sagte fragend und überrascht: »Nun?« Es nahm mit ungewöhnlich langen Armen seine alte Mütze vom Kopfe, machte etwas wie eine Verbeugung und sagte dann: »Ach, Sie wern nämlich woll verzeihn, ich bin nämlich Plaschke aus der Wecknitz. Plaschke Thaddees.« Und weil es mir nicht gelang, das Lächeln zu unterdrücken, fuhr das Poltern fort: »Ich bin ein eenfacher Mann, freilich. Es is au nich wegen mir. Sie sein doch der Herr Lehrer Kastner aus Raspe, der de gestern bei unserm Herrn war?« Ich nickte. »Nu sehn Sie, do sein mer ja! Nämlich, meine Älteste, de Liese, is doch bei 'm aso fir Wirtschaftern, mecht ma sprechen. Na und das is Ihn ein komsches Mädel, vo der erschten Windel an, of deutsch gesagt. Sie hat Ihn aso een ganz andern Geist, wie mir Plaschke-Leute alle, daß ees wahrhaftig manchmal denken muß, sie zwirnt doppelt. Wissen Sie, aso koplischant und konzise is sie und auch mangolsch, mit eem Worte, versponnen. Da mochte unser Herr Lehrer ein Auge of sie gekriegt haben in der Schule. Und dernachern leid't er nich, daß sie spult, sorgt fir Kleeder. läßt sie das Kochen lernen in Siebenhuben beim Klemt-Gastwirt, alls. Nach, eene solche Guttäte soll ma sich doch suchen dahier in der Welt! Au sonst hilft er uns da und dort, wenns amal hapert. Mich schmeißt nämlich der Herrgott mit Kindern. Und Meine, nämlich gutt is sie ja, alle ponähr, nä, da mißt' ich liegen. Aber sie is doch, wie ma spricht, ein Pfriemer, dar de in Essig getaucht is. begiehts, beißt und sticht, manchmal tagelang. Was soll ma da machen?«

Plaschke hatte den Faden verloren und stach mit dem Stock im feuchten Sande des Weges umher. Dann sah er mich erwartungsvoll an.

»Sie wollten mir von Ihrer Tochter erzählen«, sagte ich und sah prüfend über ihn hin, über seinen vierschrötigen, zusammengesessenen Oberkörper, der auf langen, dürren Beinen balanzierte und auf sehr kurzem Halse einen ungemein ausdrucksvollen Kopf trug.

»Richtig, nee, nee. Ma vermärt sich aso. Ich bin nämlich hinterm Webstuhl afir, of gut Glücke naus geloffen, die is gleich hinter mir.«

»Die Liese?« fragte ich.

»Ebens, ebens. Sie will nämlich patuh nich mehr beim Herrn Lehrer blein, uf und darvo in de Welt nei.«

»Warum denn nun?« fragte ich weiter, weil Plaschke verstummte und ratlos an mir vorbei ins Leere sah.

»Ja, da kann ich nich gescheide aus ihr wern. Die verführt Reden, die kann keens verstehn. Und da dacht ich ebens, wenn Sie ihr den Kopp zurecht setzten. Sie sein gestudiert, und wie man hört, hält unser Herr Lehrer große Stücke vo Ihn. Da sagen Sie ihr, sie soll sich ihren Packs nehmen und soll wieder munder giehn. Nich wahr, Sie sein a so gut. Ich denke, Sie wern sie in den Birken treffen, und da nehmen Sie amol keen Blatt firs Maul. Sie kann doch nicht mir nischt dir nischt fortlaufen.«

»Was ich tun kann, will ich tun«, entgegnete ich dem armen Aufgeregten, der meine Hand ergriff, sie heftig preßte und dann mit den Worten: »Na, da dank ich Ihn recht schön. Ma muß halt das Leben kaun, und wenn eem de Zähne vollends gar ausbrechen«, an mir vorüber auf dem Wege nach Raspenau zu eilig fortstolperte. Seine Schritte klopften noch eine Weile durch den Dunst; dann verloren sie sich plötzlich, als seien sie von der Erde eingeschluckt worden. Daraus entnahm ich, daß er sich in einem Graben in den Hinterhalt gelegt habe, um seine Tochter abzufangen, wenn sie ja etwa, trotz meiner Einsprache, auf der Flucht bestehen sollte. Das war mir eine Beruhigung, und eiliger setzte ich meinen Weg fort. Die Birkenkronen, die erst als durchsichtiges Grüngewölk am Boden zu liegen schienen, schwebten, als ich die letzte Bodenfalte hinter mir hatte, nur wenige Schritte entfernt, gerade vor mir, gleich grüngoldigen Flammen auf den schwanken Alabasterleuchtern ihrer Stämme, denn eben wurden sie von dem schrägen Golde des letzten Lichtes getroffen. Und dort erspähte ich auch schon den dunklen Kopf Lieses. Sie saß auf einem begrasten Steine zwischen zwei Birken, leicht an einen der beiden Stämme gelehnt, das ziemlich umfangreiche Bündel neben sich. In der Haltung eines tief Versunkenen wandelte ich an die Wartende heran, das Gesicht abgewendet, als habe ich nur Äugen für den Flug Krähen, die über dem Wald des Feistelberges fort sich in dem Dämmern immer mehr verloren. Da grüßte mich auch schon ihre leise, wohllautende Stimme, und als ich mich umwandte, erhob sie sich in der ihr eigenen demütigen Art von dem Steine und bemühte sich in der Verlegenheit, das herabgeglittene helle Kopftuch aus dem Nacken über das reiche braune Haar zu ziehen.

»Ach, das ist ja die Liese!« rief ich mit gut geheucheltem Erstaunen. »Wo wollen Sie denn noch so spät hin, nach Raspe oder wieder in die Schule? Da können wir ja zusammengehen.«

Sie bewegte verneinend den Kopf, und mit geschlossenen Augen sagte sie leise: »Nich nach Raspe und nich nach Hause. Ich habe plötzlich einen Gang, und es is möglich, ich komme zum Abende nich nach Hause, vielleicht auch morgen nich, ma weeß eben nich.«

»Und das Bündel, da neben Ihnen?« fragte ich.

»Das sein meine nötigsten Sachen«; antwortete sie, die Augen zu Boden geschlagen.

»Da wollen Sie wohl dem Herrn Lehrer fortlaufen?«

»Meinem Herrn? meinem Herrn?« fragte sie, und es klang wie erhaltene Beglückung. »Nee, aber ausweichen will ... will ich ... muß ich, nich auf lange.«

»Aber Liese ...«

Doch sie unterbrach mich, erhob ihr blasses, zartes Gesicht und heftete die großen Augen fest auf mich: »Gelt. Sie verstehn mich nich! Das glaub' ich schon. und ich wirde es auch nich gewagt haben, wenn ich nich wüßte, wie Sie mit meinem Herrn stehn. und daß Sie der eenzige Mensch sein, dem er vertraut da hier rum.«

»Hat es denn etwas gegeben?« fragte ich, da sie verstummte.

Sie errötete, glücklich lächelnd. »Ach. Sie meinen, er wäre böse of mich gewesen. Nee, das kann mein Herr nich. Aber sehn Sie, es reißt was Schweres an ihm. Er sagt nie was, zu niemandem. Aber ich hab's gefühlt, wie es auf ihn zukam, schon vorm Jahre, und nu is ganz über ihm. Ich weeß, er muß wohl fort von hier. Aber verstehn Sie, das halt' ich nich aus. Das könnt' ich nich ertragen, auf der Treppe zu stehn und zu sehn, wie er fortginge aus der Schule und aus Wecknitz. Sie müssen wissen, er hat an mir gehandelt wie ein zweiter Vater. Und deswegen zittre ich, wo ich geh' und steh', und es geht um mit mir bei helllichtem Tage. Deswegen will ich fort, irgendwohin in den Busch, wo die Menschen weit sein und ihre Häuser, wo ich nich amal den Rauch aus den Essen rich und keene Sonne seh', und da will ich liegen und warten, bis alles vorbei is, was ich nich versteh', und was doch sein muß. Dernachern will ich den Packs da nehmen und will wieder nundergehn zu meim Vater und will mich hinter den Webstuhl setzen, wo mich mein Herr hat afürgezogen. Und zwischen dem Poltern kann sich mei Auge dann und wann durchstehlen durch de Obstbäume zur Schule. Da wird wohl alles gehn.«

Um die Flügel ihrer dünnen, schönen Nase nestelte verhaltenes Weinen, und erschöpft sank sie auf den Stein zurück, faltete die Hände im Schoß und senkte Wieder das Gesicht.

Ich wollte fragen, ob sie ihren Herrn liebe, kam aber nicht dazu, sie mußte schon von meinem Gedanken getroffen worden sein, denn sie sagte unvermittelt: »Aber denken Sie nich etwan was anders. Ich hab's mit dem ersten Herrgottsleibe ein mich gelegt, daß ich ihm fir all sein Guttäte dienen will, aso lange sich eine Ader rührt in mir.«

»Aber warum gehen Sie denn fort?«

»Weil ich zitter; weil ich Angst Hab' und kann mir nich helfen, und wenn ich um ihn bleib', da könnt' er am Ende bloß aus Barmherzigkeit zu mir dableiben und doch nich mehr recht froh werden. Denn er hat schon amal, ich weeß ganz genau wegen mir, den Schröfel abbestellt und die Kiste wieder ausgepackt.

Nu hab' ich noch eene Bitte, Herr Lehrer, deshalb Hab' ich auch of Ihn gewart'. Gehn Sie nunder und sagen Sie meinem Herrn, Sie hätten mich getroffen, und das Plaschke-Mädel sei ein widerborstiges Ding, dumm und nich recht gescheidt und besteh' darauf, fortzulaufen. Reden Sie's ihm recht ein und helfen Sie ihm so viel wie möglich, daß er feste bleibt und fortgeht. Und nu gute Nacht ...«

Ihre Stimme schlug über. Sie wendete das Gesicht ab und riß mit zitternden Händen an dem Bündel herum.

»Aber liebes, törichtes Mädchen«, sagte ich tief ergriffen und zog ihre Hände von dem Bündel fort. »Liese, begreifen Sie nicht, daß Sie durch all das Ihren Herrn gerade dazu brächten, entgegen seiner Notwendigkeit zu handeln?« Dann setzte ich ihr auseinander, daß ihr Verschwinden im Dorfe nicht unentdeckt bleiben könne, daß die Aufregung, die darüber entstände, meinen Freund zwänge, hier auszuharren, um böse Gerüchte zu entkräften; daß er außerdem dazu getrieben würde von Furcht und Sorge um sie, und als ich geendet hatte, saß sie lange mit bedeckten Augen, und ihr junger Busen ging stürmisch auf und nieder. Endlich richtete sie sich auf.

»Gut, ich will mich zusammennehmen«, sagte sie mit einer tiefsonnigen Stimme. »Es ist schon finster. So komme ich wohl ungesehen zur Hintertür hinein in meine Küche. Ich danke Ihnen recht schön, Herr Kastner!«

Sie nahm ihr Bündel auf den Rücken und verschwand nach links zwischen den Stämmen.

Als ich aus dem Gewirr der Steige zwischen den Gärten glücklich den Zugang zum Schulhause gefunden hatte, hörte ich schon Fabers tiefe Stimme, die mit einem unförmigen Brummelbaß Zwiesprache hielt, die Treppe herunter auf mich zukommen. Etwas von dem alten Schneid lag in ihr, und nachdem auf ungelenken, schweren Beinen ein plumper Ballen mit Gemurmel, das als Fluch und Gruß gelten konnte, sich hart am Zaune an mir vorbeibugsiert hatte, stand Fabers hoher Schatten vor mir, und er legte grüßend die Hand auf meine Achsel, indem er sagte: »Ich dachte schon, du würdest nicht kommen.« Dem Davongehenden rief er zu: »Gute Nacht, Schröfel!«

»Entschuldige,« erwiderte ich, »ich habe mich unterwegs aufgehalten.«

»Ist dir etwa die Liese begegnet?« fragte er, und ich staunte, wie ruhig er war.

»Warum hätte mir ausgerechnet ›Fräulein‹ Plaschke begegnen sollen?«

Vorsichtig drückte ich mich an der Wahrheit vorbei.

»Weil ich sie seit etwa einer Stunde vermisse und im ganzen Hause nicht finden kann«, entgegnete er.

In demselben Moment stieß eine Holzkanne an die Tür, nach welcher hin wir langsam geschritten waren, und gleich darauf stieg Liese die Treppe herab und schritt auf den Brunnen zu.

»Ach, da ist sie ja«, rief Faber. »Liese!«

»Ja, Herr«, antwortete das Mädchen leise. »Guten Abend, Herr Kastner!«

»Wo sind Sie denn? Seit einer Stunde sind Sie verschwunden«, fragte er mit dringender Güte.

»Entschuldigen Sie, Herr, ich war of eenen Augenblick bei der Gerth Mile drüben an der Lehne.« Damit verschwand sie im Hause.

Am Brunnen angekommen, blieb Faber stehen und sagte mehr zu sich als zu mir: »Gott, ja! es kann ja sein, warum denn nicht!«

»Wie kommst du darauf, verzeihe, wenn ich überhaupt frage, anzunehmen, die Liese könnte davongehen?«

»Ach, eigentlich sage ich das aus einer puren Empfindung heraus, und dann wäre das auch nach ihrem seltsamen Wesen in der letzten Zeit denkbar. Überhaupt ist sie ein Geschöpf, das nur aus Seele und Liebe zu bestehen scheint«, redete er versonnen.

»Also doch Liebe?« fragte ich.

»Ja, wie ich sie um der paar Fähnchen und um der wenigen Hilfe willen wahrhaftig nicht verdient habe. Sie lebt nur für mich. Je tiefer dieser letzte Zwiespalt über mich kam, um so größer wurde ihre Angst. Da läuft ihr dann allerhand über den Weg. Zum Beispiel heut nachmittag erst. Ich höre sie eilig den Flur hin zur Haustür laufen, und wie ich eine Weile nachher herauskomme, lehnt sie am Türpfosten, schreckensblaß und mit geschlossenen Augen. Rein wie in Bewußtlosigkeit. Und als ich sie mit Mühe wachgeschüttelt habe, öffnet sie die Augen und sieht mich groß und schmerzverwundert an. Nach vielen Bemühungen bekomme ich's endlich aus ihr heraus: Sie habe stark und eigen jemand an die Haustür klopfen hören, so daß es sie aus der Küche hinausgetrieben habe, und als sie laufend die Tür erreicht habe, steht da ein hochbetagter Greis, ausgerüstet wie ein Wanderer, über den Brunnen gebeugt und trinkt aus der hohlen Hand Wasser. Als er seinen Durst gelöscht hat, dreht er sich nach ihr um und nickt ihr freundlich zu, in der Art, als solle sie herabkommen und mit ihm gehen. Aber sie kann kein Glied rühren, ein solches Entsetzen kommt über sie, denn der Greis trägt ganz meine Züge, verwittert und vertieft vom hohen Alter, aber unverkennbar. Auch Haltung und Gebärde machen ihn ganz zu meinem weißhaarigen Abbild. Er lächelt ihr in gütiger Größe zu, darauf wandelt er, bedachtsam den Stab setzend, den Gang hinunter und verschwindet zuletzt zwischen den Gärten, wie aufgesogen von Grün und Licht.«

Nun verstand ich, was Liese mit dem »Umgehen« gemeint hatte, sagte aber Faber auch jetzt noch nichts davon, sondern fragte: »Und was denkst du darüber?«

»Was soll man denken, wo denken zu nichts führen kann?« antwortete er nach einigem Überlegen. »Vielleicht hat Liese wirklich hellseherisch den Ausgang meines und ihres Lebens geschaut. Denn der Mann ihres Gesichtes hat wirklich in meinem Leben existiert und existiert noch, wenn auch als überwundene Macht. Unser Inneres wurzelt in der Zeitlosigkeit. Wir haben es nicht allein, wir haben es mit allen und dem All gemein. Vornehmlich aber mit jenen, die mit uns eines Sinnes sind. Aus diesem Grunde allein kann ihr Wissen um mein Geheimstes gestiegen sein, da ich natürlich ihr nie davon gesprochen habe. Ja, vor diesen Tiefen des Daseins ergreift den Schwindel, vor dem sie sich auftun!«

Faber stand, den Kopf erhoben, und atmete stürmisch, als glänze ihm eine Erscheinung. Und jetzt, da er zu reden begann, klang seine Stimme von Glück zitternd. »Kästner,« rief er stürmisch aus, »mein lieber, einziger Freund, so wäre es möglich, daß auch in diesem schwarzen Schatten meine Erlösung läge, wie der Samen in der Erde! Ich, der Halbzerbrochene, könnte wirklich noch als Mann der hohen Warte enden, gleich ihm!?«

»Welche Schatten meinst du und welchen Mann?« fragte ich, weil Faber wie im Hinhorchen verstummte. Da fiel die Verklärung wieder von ihm ab. und er antwortete: »Ach, laß nur! Die Wasser meines Lebens sind in Fluß geraten, und bald wirst du meine rätselhaften Worte verstehen lernen. Es stößt mich wohl von selbst bis dahin. Und viel zu früh muß ich vielleicht erkennen, daß der Blitz, der mich eben erschüttert hat, eine Täuschung gewesen sei. Aber das ist mir doch unumstößlich klar; das Gespinst, das mein Leben und das Leben dieses kleinen Mädchens verbindet, ist ohne eines Menschen Zutun, wie uranfänglich geflochten. Denn vom ersten Tage meines Hierseins, erst fern und immer näher umschwebt mich diese schmetterlingsflüglige Seele. Wie oft, in der Schulzeit noch, hat sie sich unbemerkt ins Haus eingeschlichen, um die Nacht auf der Schwelle meiner Tür zu schlafen. Wie es über sie fiel, so wird es wieder von ihr sinken. Nein. Nein. Die voreiligen Willensmenschen! Was ich muß, das werde ich tun, und wen das Leben fängt, den kann sein Wille nicht befrei'n.«

»Komm,« sagte er dann nach längerem Schweigen, »es wird kühl hier. Droben brennt die Lampe. Wir müssen uns sputen. Ich fürchte, die heutige Nacht wird länger als die erste.«

In langen Sprüngen stürmte er die Bodenstiege hinauf. und als ich hinter ihm eintrat, hatte er der kleinen Stube schon einen Anstrich von Ordnung gegeben. Die paar Stühle standen an die Wand gedrückt, der eine war in die Ecke zwischen dem rechten Fenster und den Kleiderschrank geschoben. Daneben auf dem Fensterbrett standen eine Flasche mit Wasser und ein Glas.

»Willst du dich an das Fenster setzen?« fragte ich.

»Ja«, entgegnete er. »Ich glaube, in dem halben Dämmern, in dieser Abgeschlossenheit komme ich leichter zu der Empfindung einsamer Sicherheit, und dein Aufmerken stört weniger. Ich genieße die Kraft deiner mitgehenden Seele, ohne von dem Gericht deiner Blicke da und dort doch verwirrt zu werden. Ich denke, wir tragen das Sopha und den Tisch auch noch etwas nach dem Ofen hin.«

»Wie du willst«, sagte ich, ein wenig gedrückt.

»Du bist doch nicht beleidigt? Sieh.« sprach er rasch und überzeugend, »ich erzähle doch eigentlich wegen mir, vor dir, nicht für dich, und je mehr du unsichtbarer Miterleber bist, um so sicherer bauen sich die Notwendigkeiten meines Lebens in mir auf. – Leidende sind nun mal schon grillig«, fügte er lächelnd hinzu, als alles stand, wie er es sich dachte, und sah mich mit Augen an, die um Schonung baten.

Ich reichte ihm wortlos und herzlich die Hand. Dann suchte ich die heilste Stelle auf dem klippenreichen Sofasitz. Er war einen Schritt zurückgetreten und stand, halbabgewendet, in der Stube, den Kopf sinnend geneigt.

»Du bist mir gestern abend die Angabe der Gründe schuldig geblieben, die deinen Vater zu dem unvermittelten Bruch mit dem Tischler Rinke geführt haben«, begann ich, um ihn weiter zu führen.

»Ich weiß schon, ich weiß,« sprach er suchend, »ja, sicher wollte mein Vater seinen Freund nicht für immer von sich treiben, sondern ihn nur in seiner Weise zum Aufgeben ehrloser Pläne zwingen. Daß das Zerwürfnis zum ewigen Bruch der beiden Männer führte, daran war neben der gehässigen Hartnäckigkeit des Tischlers die Stimmung jener Zeit schuld, in die es fiel.«

Mit leisen, überlegenden Schritten war Faber, während er diese Worte sprach, an seinen Platz hinter den Schrank gegangen. Dort saß er einige Minuten schweigend, ein Bein über das andere geschlagen, zurückgelehnt, daß ich nichts von ihm sah, als seine überlangen Füße.

Dann begann er mit ruhiger Stimme weiterzuerzählen:

»Ein neuer Geist rumorte im Lande. Die Eisenbahnlinie war ausgebaut und sah nachts mit den roten Lichtern ihrer Signalmasten bis zu unsern Fenstern. Der Zug rollte an der Stadt vorüber, und an stillen Tagen dröhnte sein Keuchen bis auf den Marktplatz von Heisterberg. Die scheuen Dohlen des grauen Wartturmes aber stoben gackernd aus den Mauerritzen und umkreisten lange die plumpe Spitze, die den Doppeladler trug. Die alte Gemächlichkeit war auf Nimmeraufstehen aus ihrer Ruhe gerüttelt worden, und der neue Lauf der Dinge, der sonst nur gute Freunde zu läßlichem Streit am sicheren Ofen geführt hatte, wuchs sich immer mehr zu einer besorgniserregenden Angelegenheit aller aus. Er lockte dem Bauer das Gesinde vom Hofe, zauberte Fabriken um die Stadt, machte die Armen begehrlich und dreist, die Besitzenden anmaßend und hart. Das behäbige breitbeinige Dahertreten verschwand; hastig, mit gebeugtem Rücken, wie im Stoß, rannte das Leben hin. Die schmaltürigen Läden der Krämer gingen ein. Die meisten rissen die kleine, heisere Klingel von der Wand. Prunkvolle Schaufenster blühten über Nacht auf und waren oft nach Wochen schon geschlossen. Der Hammer des Verganters pochte bis tief in die Nacht. Das weite, neue Reich erbebte unter dem Geschrei überhitzter Massen, und der dumpfe Marschschritt der Arbeiterbataillone warf sein leises Echo bis in die holprigen Straßen unseres Bergstädtchens. Mit dieser Auflösung alter Verhältnisse und Begriffe ging, sicher auch in meiner neuen Heimatsstadt, eine gewisse Verirrung der Sitte. Denn von jeher, wie ich weiß, stand sie in dem Ruf, das Bedürfnis nach Moral dann und wann durch einen tollen Exzeß besonders in Punkto Liebe auffrischen zu müssen. Und so benutzten die Söhne der angesehensten Familien jene Zeit, in einem abgelegenen Hause mit ihren Mädchen zu Gelagen zusammenzukommen, die mit einem Tänzchen im Adamskostüm schlossen.

Genug, die wenigen, die von dem Bahnbau und überhaupt von der ganzen neuen Zeit nur Schlimmes erwartet hatten, behielten recht. Die Schar der Furchtsamen und Besorgten wuchs. Aber niemand wußte eigentlich recht, wer an den allgemeinen Nöten die Schuld trug. Man mußte wenigstens einen Namen haben, ein Schlagwort, das wie eine Fahne alle Elemente der Ordnung um sich scharte. Endlich hatte man es gefunden: die Sozialdemokraten waren die Anstifter all der Schäden.

Und so blind die Vielen sich anfangs der Gewalt des Umschwunges hingegeben hatten, so unbesehen stolperten sie auch in die summarische Verurteilung der Verwandlung und ahnten nicht, daß die Sozialdemokratie nur einen winzigen Bruchteil dessen darstellte, was untötbar seine Keime gebärend in alles Leben streute und überlegten nicht, daß die sozialdemokratische Anschauung nicht allein durch den wirtschaftlichen Umschwung veranlaßt, sondern auch eine notwendige Folge des zentralisierten Polizeistaates, der Kasernierung einer Nation durch Generationen, der allgemeinen Volksschule und nicht zum geringsten des christlichen Bekenntnisses sei. Man beging den Fehler, in den die Masse dem Neuen gegenüber scheinbar naturnotwendig immer verfallen muß, man maß die auftauchende Bewegung nach dem Unbehagen, das ihre Verwirrungen verursachten. Sozialdemokrat wurde ein Sammelname für Unglauben, Unzucht, Betrug, Raub und Diebstahl. Und die Bürger glaubten in Wahrheit für das Dasein Gottes, die Unschuld ihrer Töchter, gegen die verwerflichen Neigungen ihrer Söhne und die ärgerliche Anmaßung des Gesindes zu kämpfen, wenn sie sich gegen diesen inneren Feind erhoben. Unsere beiden Kapläne versammelten die Wohlgesinnten in der Hinterstube einer Konditorei am Ring und nannten diesen Verein, der wöchentlich geheimnistuerische Zusammenkünfte abhielt, Kasino. Der Bürgermeister Schrader, als Organ der exekutiven Polizeigewalt und Kriegervereinshauptmann, erließ geschwollene Aufrufe zum Krieg gegen den Umsturz. Kein Geburtstag, kein Schweineschlachten ging ohne Kaiserhoch ab. Überall setzte man an Stelle des schmucklosen Rechtssinns schneidiges Draufgängertum; lärmender Patriotismus verdrängte die selbstverständliche Vaterlandsliebe. Aber es blieb bei diesem künstlichen Taumel der Loyalität nicht allein, man bemühte sich, des Gespenstes der neuen Zeit in einem Menschen von Fleisch und Bein habhaft zu werden, um auf seine Brust das Mal der Schande zu heften, nachdem man sie so gründlich durch Thesen und Resolutionen verdammt hatte.

Zwei junge Burschen wurden vom Tanzsaale abgeführt und in der Folge zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie in der Trunkenheit den Kaiser beleidigt hatten. Gekränkte Frauen bezichtigten ihre Männer, verlassene Mädchen ihre ungetreuen Liebhaber. Jedes selbständige, freie Urteil machte verdächtig. Allenthalben erwachte ein schleichendes, horchendes Wesen, und nur jene waren befriedigt, deren Wohlergehen sich beim Anblick der Bedrängnisse anderer steigert, die nur der Fanatismus beglückt und jene, die so voll Niedrigkeit sind, daß sie um zeitlicher Vorteile willen ihre Grundsätze verschachern. Mein Vater hielt sich abseits von diesem Treiben und ließ sich durch nichts verleiten, hinter seinem Werktisch hervorzukommen, ja, mit einem deutlichen Zwang ließ er des Dorn-Schusters weitschweifige Berichte über alle Vorgänge in der Stadt über sich ergehen und stand nur von Zeit zu Zeit, wie um seine Geduld zu lüften, auf, um unter einem höhnischen Auflachen einen Rundgang durch die Stube anzutreten. Stets auch ließ er uns alle im Unklaren, ob er über die hanebüchene Torheit der Erzählung oder die Gutgläubigkeit des Erzählers in diese spottende Lustigkeit ausbrach. Nie aber legte er der Langatmigkeit Dorns die geringste Fessel an. Denn neben der schmerzvollen Verwunderung über die »neumodische Zeit« beschwerte allerhand häusliche Sorge des Armen Gemüt, und wenn er auch in Scham mehr darum herredete, so hatten wir alle es bald heraus, daß sein Junge, der Robert, nicht gut an seiner Stelle tue. Er war von seinem Vater, dem wegen geistiger Enge alles Außergewöhnliche und Ferne kostbar erschien, als Kellnerbursche nach Wien verdingt worden und hielt nun durch allerhand unziemliche Streiche seiner Eltern Kummer in stetem Atem. Kam auch der arglose Schuster über seines Einzigen Entgleisungen unschwer hinweg, so wurde sein Weib davon um so tiefer bedrängt, die, von Natur aus menschenscheu, sich immer mehr in Kleinmut verlor. So saß Dorn an manchen langen Abenden und schwatzte Himmel und Erde durcheinander, von niemand gestört, von niemand angeregt. Nur wenn er auf des Rinke-Tischlers seltsamen Aufschwung zu sprechen kam, empfand ich ein Aufhorchen meines Vaters. Ohne im mindesten die Gebärde der Gleichgültigkeit zu versehen, saß er da und schob dann und wann mit der Spitze seines Fußes etwas beiseite, in keinem Worte des Zerwürfnisses mit seinem Freunde gedenkend, ob der Schuster auch oft genug sich verwunderte, den Krummen gar nicht mehr bei uns zu treffen.

Er ist heraufgekommen, pflegte mein Vater in scheinbar gütigem Gleichmut zu sagen, hat das Haus voll Leute und muß die Ohren steif halten, seit ihm alle kirchlichen und städtischen Arbeiten übertragen worden sind. Ich sah ihn erst heute da und da, und wenn sich der Dunst in seinem Kopf gelegt hat, kommt er von selbst wieder und setzt sich auf die Bank hier hinter den Tisch. Auf diese Weise brachte er es dahin, daß Dorn jedesmal ahnungslos seinen Windsack weiter ausbeutelte. Aber wenn des Schusters tappsender Schritt sich aus dem Hausflur auf die Straße verloren hatte, verharrte mein Vater lange in tiefen Gedanken auf seinem Platz in der Sofaecke. Die Pfeife ging ihm aus, und trüber Ernst grub Falten in sein Gesicht. Vielleicht verließ ihn in diesen Augenblicken der Glaube ganz, es könne ihm je gelingen, den Verirrten mit der Treue seines unerschrockenen Herzens aus den schmachvollen Verwickelungen zu lösen.

Mir frühwachem Knaben waren seit jener Kampfesnacht die bunten Schatten vom Auge geglitten, und meine junge Seele nahm teil an dem Gram der Alten. Denn seit die Wirbel der tollen Monde sich ganz in mir zur Ruhe gerast hatten, ging ich wieder im Banne stiller Betrachtsamkeit. Brach von Zeit zu Zeit auch die kaum überwundene Ungebärdigkeit in mir durch, so war ich doch meist wie sonst: fügsam, fleißig und gut.

Da setzte der Kampf meiner Eltern gegen ihr Schicksal ein, an dem mein Leben einen so tiefen Anteil nehmen sollte, während meine beiden Geschwister fast nur wie nahe Fremde darunter litten.

Ich war Ministrant geworden und hatte mich unlustig eines Morgens um sechs Uhr unter dem steifgefrorenen Deckbett hervorgewunden. Zitternd vor Kälte entzündete ich das Lichtstümpfchen auf dem Mehlkasten und begann dann nach meinen Unterhosen zu suchen, die nirgends zu finden waren. Nach wenigen oberflächlichen Bemühungen weckte ich unsanft meine Schwester und machte ihr harte Vorwürfe über die Unordnung. Natürlich nahm sie die Störung mit gehöriger Entrüstung auf, und wir befanden uns bald in einem erregten Streit, bei dem meine Schwester so in Nachteil geriet, daß sie in lautes Weinen ausbrach, dem ich mit leisem Pfeifen und Singen sekundierte. Die Unterbeinkleider hatten sich endlich unter meinem Bett gefunden, und ich war im Begriff, mit dem Licht die Kammer zu verlassen. Da rüstete sich die kleine Flamme zum Erlöschen. Ich stellte den Leuchter wieder auf den Mehlkasten zurück, um dem letzten Ringen des Lichtes zuzusehen. Kurz vor dem Erlöschen brennt jede Flamme eine Weile gleichmäßig, wie mit einem zitternden Lächeln, um dann mit immer schwächer werdendem fieberndem Auffahren in die Nacht zu hüpfen. Diese Stille war eben über das kümmerliche Licht gekommen. Die Hände auf die Knie gestemmt, stand ich vor dem Mehlkasten. Jetzt – jetzt – jetzt, sagte ich in Gedanken; aber das Flämmchen kämpfte tapfer. Mit ganz leisem, doch hörbarem Jappen fuhr es immer auf, als schnappe es in Todesangst nach Luft. Da – ganz finster war es! Ich war tief betroffen, als mich plötzlich Nacht umfing und starrte einige Augenblicke auf die Stelle, wo eben das Licht noch leise gezittert hatte. Ein fernes Mitleid mit irgend etwas machte mich traurig ernst. Ich zog die Zehen der nackten Füße von den eisigen Dielen, streckte die Hände vor mich und tappte der Tür zu. Meine Schwester schlief schon wieder. Ihr ruhiges Atmen wurde nur manchmal von einem Stoßen ihrer Brust erschüttert, sonst war es ganz still. Ich hatte mich an die Stiege fortgegriffen und stand am ersten Stufen. Da hörte ich auf der unteren Treppe Schritte heraufkommen, mühselig, behutsam. Ich bückte mich, um zu erkennen, wer es sei. Ein schwaches Dämmern schwankte auf dem unteren Flur auf und nieder, an der Wand entlang, über eine Tür und einen daneben stehenden gelben Schrank. Dahinter wandelte ein blasser Lichtkreis, wie ihn Laternen mit runden Scheiben werfen. Nun stand meine Mutter in der Haltung eines tiefgebeugten Menschen vor der Tür auf dem zweiten Flur, stellte die Laterne vor sich auf den Boden, sah starr in den schmutzig-gelben Schein und fuhr sich dann unter schwerem Aufatmen mit der Hand über die Stirn. Ein heißer Schmerz stieg in mir auf, und wie ein Stein flog ich die Treppe hinunter an ihren Hals. »Mutterle, sei nich böse. Ja? Gelt, sei wieder gut«, flüsterte ich.

Sie neigte sich und berührte mit kalter Lippe meine Stirn. Dann schob sie mich einen Schritt von sich und sagte endlich, jede Silbe hart und bitter betonend: »Sie haben deinen Vater beschimpft. – Meinen stolzen, herrlichen Mann«, setzte sie, sich selbst vergessend, hinzu.

»Wer?« rief ich, »ich spuck' ihm ins Gesicht! Ich weiß ...«

Verweisend hielt sie mir den Mund zu und zog mich fort, die Stiege hinab.

Drunten trafen wir den Vater, der halb angekleidet auf- und abging.

»Range, was hast du für einen Lärm gemacht?« schnaubte er mich an.

Seine Stimme donnerte noch, klang aber doch wie eingezwängt, und durch das halboffene Hemd sah ich seine behaarte Brust in heftigen Stößen arbeiten.

Mit gesenktem Kopfe stand ich vor ihm, und etwas wie ein Verlangen nach Schmerz und Demütigung wurde in mir wach. So hob ich in scheuer Bitte mein Auge. Aber er verstand meinen Stolz nicht, sondern berührte mit der Hand verzeihend meinen Scheitel und sagte unter beißendem Lachen zu meiner Mutter: »Nun, ich muß es eben wegkratzen.«

Die Laterne in der Hand, verließ er schütternden Schrittes die Stube. Als ich hinter ihm drein wollte, fing mich die Mutter mit schmeichelnden Armen auf.

»Aber ich will sehen, was Vater wegkratzt«, sagte ich hastig.

»Laß sein, das ist nicht für ein Kind«, sprach sie traurig.

»Ist es etwas sehr Böses? Hund? – Luder? – Zigeuner? – Noch schlimmer?« fragte ich, mich überstürzend.

Meine Mutter nickte schmerzvoll und sagte, mir die Haare aus dem Gesicht streichend: »Das verstehst du noch nicht.«

»O ja,« bettelte ich. »Mutter, wir haben ja schon Dezimalbruchrechnung.«

»Ach Gott, ach Gott, mein armer Junge«, antwortete sie widerstrebend. »Du darfst es aber niemand sagen, auch Peter und Resa nicht. Es steht draußen an der Wand neben der Tür mit Farbe geschrieben: ›Hier wohnt ein Sozialdemokrat‹.«

»Ist das noch mehr wie Teufel?« fragte ich erschreckt.

Da schloß sie mit einem langen Kuß meinen Mund. Allein ich war doch tief bekümmert. Beim Ministrieren betete ich tiefandächtig für meine Eltern und bat Gott inständig, er möge den strafen, der die abscheulichen Worte an unser Haus gemalt hatte.

– – – – – – –

Mein Gebet war umsonst. Gott schützte weder meine Eltern, noch strafte er den Übeltäter. Etwa acht Tage darauf, Montag früh, sammelte sich vor unserm Hause eine Menge Menschen an, zischelten miteinander, stießen sich in die Seite und sahen dann wieder an der Wand hinauf. »Haha,« schrien die Gassenjungen, »Sozialdemokrat!« Ja, es stand wieder an der Wand, dasselbe wie vor acht Tagen, nur hatte der Erbärmliche, wohl weil er bemerkt hatte, daß seitdem alle Morgen in der finstern Frühe die Wand in Manneshöhe mit der Laterne abgeleuchtet worden war, mit Aufopferung seine Verleumdung über die Haustür gemalt, so daß sie unserer Wachsamkeit entgehen mußte. Der Skandal an sich und die freche Pfiffigkeit des Unbekannten versetzten den Schwarm der Gaffer in die vergnügteste Laune, auch in die Fenster der gegenüberliegenden Häuser drängten sich neugierige Gesichter. Aus allem ging hervor, wie wenig Sympathie mein Vater genoß, der, einer landfremden Familie mit unerforschlicher Vergangenheit entsprossen, ernst und schweigsam seinem Haus und Geschäft lebend, sich so ganz den faden Eitelkeiten der kleinen Stadt fern hielt. Und während draußen die schadenfrohe Neugier sich erschöpfte und wieder entzündete, durchmaß mein Vater sinnend die Stube. Kein Wort kam von seinen Lippen. Er trug das bleiche Gesicht zur Erde geneigt und fuhr sich von Zeit zu Zeit hastig an seinen Schnurrbart. Da wagte endlich meine Mutter ihn zu erinnern, daß es notwendig sei, Anstalten zur Entfernung der ärgerlichen Worte zu treffen. Doch das versetzte ihn in Zorn: Er wolle sich nicht ein zweites Mal narren lassen, hinausgehen und unter dem Gelächter des Packs das Gekritzel von der Wand schaben. Außerdem sei das Sache der Polizei, die die Bürger zu schützen habe und durch lässige Handhabung des nächtlichen Wachtdienstes sich mitschuldig an der Infamie eines Schurken gemacht habe. Nun ward er mich gewahr, der, in eine Ecke gedrückt, beklommen alles verfolgte. Mit rauhen Worten wies er mich zur Schule, und als ich ihm die Hand zum Abschied reichen wollte, schob er mich von sich. Meine Mutter gab mir einen Kuß und flüsterte mir zu: »Gott mit dir, mein Junge!«

Mit fressender Scham im Herzen wand ich mich durch den Menschenknäuel und floh zur Schule. Als ich die Klasse betrat, schrie mir alles entgegen: »Sozialdemokrat!« Mir war aller Mut abhanden gekommen; ich weinte mit zusammengebissenen Zähnen in mich hinein und wagte kaum aufzublicken. Plötzlich stand vor mir der Sohn eines Gerichtssekretärs, ein langaufgeschossener, blasser Junge mit sonnensprenkligem Gesicht, roten Haaren und widerlichen Augen. Ich hatte ihm in meinen wilden Wochen bei einem Klassenaufruhr mein Tintenglas auf den steifgebügelten Sommeranzug geworfen, weil er sich stets zu den Reichen hielt und in den Häusern der Vornehmen herumdienerte, während er den Handwerkerkindern ein hochfahrend abstoßendes Wesen zeigte.

»Seid mal ruh'g, Jungens!« schrillte seine dünne Stimme in den Lärm. Mit einem Male war es still.

»Du, Bürschchen,« sagte er und beugte sich zu mir. »du, weißt du, daß du der Sohn eines Diebes und Räubers bist? Ins Rettungshaus gehört sowas, ins Zuchthaus!« Damit hieb er mir eine Ohrfeige herunter.

»Du lügst, lügst, lügst!« heulte ich in Qual, und mein eisenbeschlagenes Lineal sauste so wuchtig über seinen Schädel, daß das Blut spritzte. Die ganze Klasse stieß einen einzigen Schreckensschrei aus. Dann sprang man auf mich ein. Wütend um mich hauend, gelang es mir, die Tür zu erreichen und auf den Flur zu entfliehen. Hier prallte ich auf den Lehrer. Er packte mich am Arm, und als er das Blut an dem Lineal bemerkte, kam blinder Zorn über ihn, daß er mich an den Haaren unter Schimpfworten in die Klasse zurückzog.

Ich stand am Katheder, und es war mir, als sterbe ich ab, nicht aus Furcht, nein, aus Scham. Es kam eine Starre über meinen Nacken, vor den Ohren sauste es. Mein ganzes Fühlen war ein hilfesuchender Schrei, und ich weiß sehr wenig von dem Strafgericht, das über mich erging. Der Schuldiener prügelte mich, und der Lehrer verbot meinen Mitschülern, mit mir zu verkehren. Dann setzte er mich auf die letzte Bank zwischen zwei verlauste Betteljungen. Mehr weiß ich nicht. Es ist ungerecht! – wühlte es in mir. Die unschuldig erduldete Schmach brachte Ekel, Haß und Verachtung über mich. Blöde und stumpf hockte ich auf meinem Strafplatz. Zuletzt schlief ich vor Ermattung ein. Erst der Schlußgesang der Klasse weckte mich. Als letzter verließ ich das Zimmer und gelangte auf menschenleeren Gäßchen nach Hause.

Die Aufschrift war, Gott sei Dank, weggekratzt. Ein Maurer stand auf der Leiter und strich die beschädigte Stelle mit gelber Farbe. In meiner wilden Zeit hatte ich den Mann öfter als einmal öffentlich verhöhnt. Man kannte ihn in der ganzen Stadt unter dem Namen Spuck-Beck. Er trug den Kopf krampfhaft nach links gedreht und schielte, wie um dieses Übel wettzumachen, mit beiden Augen stark nach rechts. Vor dem Sprechen zog er jedesmal geräuschvoll den Speichel im Munde zusammen, spuckte, durch die Zähne zischend, aus und setzte dann, ein langes, gedankenvolles »Mm« vorausschickend, polternd ein.

Als er mich sah, hängte er den langgestielten Maurerpinsel an einen Leitersprossen, schlürfte, spuckte aus und schrie dann: »Mmm, – de Schule schon aus, Jüngla?« Erschreckt richtete ich mein Gesicht zu dem Fragenden empor. Bei dem Wort »Schule« kam ein Gefühl tiefster Hilflosigkeit und Verlassenheit über mich. Meine Augen waren starr auf den über mir Stehenden gerichtet und sahen doch ins Leere hinaus. Ich konnte mich nicht vom Fleck rühren. Endlich löste sich der Krampf, und der mühsam zurückgehaltene Jammer brach durch in einem Schluchzen, das den ganzen Körper schüttelte. So floh ich in die Wohnstube und sank, mein Gesicht in die Hände vergrabend, vor einem Stuhle in die Knie. Als gelte es die Rettung aus großer Gefahr, schrie ich nur immer: Ach Gott, o je, o je!

Hinter meinem Rücken war es eine Weile ganz still. Wann aber fuhr mich mein Vater an, wegen des Gewimmers. Aber ich war doch nicht fähig, mich zu halten, sondern weinte, wenn auch leiser, weiter in meine Hände hinein. Nach einigem Warten sagte mein Vater. Ja. Gut. Essen wir weiter! Hastig setzte das Geklapper der Messer und Gabeln wieder ein; dazwischen schwirrten klingend die Teller; keiner sprach, der Sitte unseres Hauses gemäß, ein Wort. Dann das gemurmelte Tischgebet. Poltern: »Wohl gespeis' ham?« Gesellen und Lehrjungen trappten zur Tür hinaus.

Eine Weile hörte ich dann nur die Mutter bekümmert atmen. Wein Vater schritt überlegend hinter mir hin und her. Die Uhr pickte sorglos. Die Schritte des Sinnenden wurden kürzer und lauter; endlich blieb er mit einem Ruck stehen und sagte: »Na, ein Junge kniet nich! Steh' auf und sprich, was hast du wieder ausgefressen? Nu!«

Mit lieben Armen half die Mutter mir Zögerndem auf. »Geh, Kind,« sprach sie dabei gütig, »sag's dem Vater, was dir fehlt oder was es ist.«

Ich muß wohl einen erbarmungswürdigen Anblick geboten haben mit dem kummerblassen Gesicht, dem stumpfen Blick und der schlaffen Gestalt, durch die die letzten Wellen des Schmerzes in bebenden Stößen fuhren, denn die Stimme meines Vaters war ungewöhnlich sanft, als er ermutigend sprach: »Nun, red' nur, Franz!« Und ich schüttete vor dem Rat dieser beiden treuen Herzen meinen Schmerz aus. Da ich geendet hatte, holte mein Vater, als schöpfe er ihn aus einem Brunnen, mühsam Atem und hielt ihn eine Weile drohend an. Dann platzte er donnernd heraus: »Junge, ist das auch wahr, was du gesagt hast?«

»Vater, wahrhaftig meiner Leib und Seele, so wahr ich Ministrante bin!« beteuerte ich und sank ihm in die Knie. Da legte sich seine harte, große Hand auf meinen Scheitel und mir war, als wälze sich eine große stumme Last, eine Quader auf mein junges Herz, daß ich vor Bestürzung still war.

»Pfui«, sagte mein Vater. »Hast du's gehört. Weib? Soll ich das Schnupftuch auch auf den Fleck legen? Das Geschwür stech' ich auf! Keinem hab' ich aufs Bein getreten!«

Und als meine Mutter doch noch zum Guten reden wollte, schnitt er ihr das Wort ab: »Egal! Es muß ein Ende gemacht sein. Ich schlage an die Tür der Schule, der Pfarre und des Rathauses!«

Er verließ die Stube und kehrte nicht lange darnach zum Ausgang gerüstet wieder zurück, gab noch diese und jene geschäftliche Anordnung, fragte mich, ob der Pfarrer Zimbal Schulrevisor sei, strich sich vor dem Spiegel den Schnurrbart zurecht und ging mit dem grimmig-lustigen Ausruf: Nu kann's losgehen! von dannen.

Allein es half nichts. Der Lehrer setzte mich zwar an den alten Platz, blieb aber lieblos, ja abstoßend zu mir. Der Pfarrer zeigte seine Abneigung anders. Im Kommunionunterricht zog er mich auffällig oft zu Antworten heran und erklärte dann mit Erbarmung und Liebe: Ja, ja, armer Faber, lerne, lerne! Sei fleißig im Weinberge des Herrn! Du hast das Licht der Religion und die Gnade Gottes ganz besonders notwendig. Von solchen Worten kam ich mir wie bespien vor, und eine Feindseligkeit gegen den Geistlichen, die meinem frommen Herzen wehe tat, kam in mir auf.

Selbst von der Kanzel herab warf dieser Gottesmann eines Sonntags seine giftigen Pfeile. Ich saß mit meinem Vater in der Kirche und hörte seiner Predigt über den guten Hirten zu. Er beschäftigte sich mit den Pflichten des Priesters seinen Pfarrkindern gegenüber. So kam er auch auf die »teuflische neuzeitliche Bewegung unter den Kindern der Welt« zu sprechen; diesen »wahren Knappen Belials«. Seine Stimme ward stark, dröhnend; er schlug leidenschaftlich auf den gepolsterten Rand des Predigtstuhles und hob dann beschwörend die Hände gen Himmel.

»Ha, o der frechen Gemeinheit dieser Gesellen«, rief er etwa. »Denn, wenn durch die Vorsehung Gottes Licht in die verborgenen Höhlen ihrer Seele fällt, wenn treue Christen in der Betrübnis ihres frommen, einfältigen Herzens dieses gottabgewandte Leben an den Pranger stellen und öffentlich, wenn auch geschützt, auf sie weisen, um sich ihrer Bosheit nicht auszuliefern, dann, oh, dann nimmst du, Lästerer, um dich den Mantel der gekränkten Biederkeit und dringst mit harten Worten in die geweihte Klause der Priester des ewigen Gottes.«

Seine Stimme schnappte über. Es entstand eine Bewegung unter den Zuhörern; viele wendeten die Köpfe nach meinem Vater, dem also Geschändeten. Der reckte sich starr auf. Die Züge seines Gesichtes wurden hart wie Stahl. Dann schoß er zu seiner ganzen Größe auf und heftete einen Augenblick sein Gesicht voll tiefster Verachtung auf den Pfarrer, der nur eine Bankzeile von uns entfernt war und bei dem Anblick des drohend Aufgerichteten erbleichte, weil er fürchten mochte, mein Vater würde sich zu einer Entgegnung hinreißen lassen. Aber der ging, ohne ein Kreuz zu schlagen, erhobenen Hauptes hinaus, und die tausend Augen der Gemeinde schillerten in Schadenfreude hinter ihm her. Mein Herz trieb mich dem Beschimpften nach. An der Stiege, welche von dem Bauernchor in das Schiff der Kirche herunterführte, blickte er sich nach dem scheuen Trippeln um, das seinem Schritt folgte, und eine trauervolle Freude erhellte die Starrheit seines Antlitzes. Am Weihkessel ging er, abgewandten Gesichtes, vorbei. Ich aber griff hinein und besprengte mich mit dem geweihten Wasser. Wie ich mich umwandte und hinausschlüpfen wollte, schrie der Pfarrer Zimbal eben dröhnend: »Auf, tuet euch weit auf, ihr Tore des ewigen Heils, auf daß die Pest des Unglaubens von dir weiche, du gute und sehr gute Herde des göttlichen Hirten!«

Da wischte ich draußen im Lichte der Sonne das heilige Naß von meiner Stirn, denn ich wollte sein wie mein Vater. Der aber eilte ohne Umsehen weiter und betrat seit diesem Sonntage keine Kirche mehr. Er versuchte auch nicht, den Pfarrer Zimbal wegen Mißbrauches der Kanzel zur Rechenschaft zu ziehen oder wenigstens zu erforschen, wessen geheime Wühlarbeit seit Wochen und Monden seinem Leumund so schadete. Er lebte still und aufrecht hin, nur eifriger tätig als sonst, als sei nichts vorgefallen, was ihn innerlich angehe. Denn es gibt eine tugendhafte Mannesschwäche. Das ist die aus edlem Stolz. Mein Vater besaß sie. Bei diesem Mann der wortarmen Entschiedenheit gab es nichts Dekoratives, nichts Halbes. Jede Tat, ja jede Äußerung bis herab zur Geste sprang mit urwüchsiger Gewalt unmittelbar aus seinem Wesensmittelpunkte. Keinen Vorhalt, kein tastendes Präludium sandte sein Wollen voraus. Bis in den kleinsten Zug fertiggefeilt schob seine verschlossene Seele endlich den Entschluß ans Licht, hart und unwiderruflich. Ihm war die Zähigkeit der Kleinen fremd, dem als recht Erkannten unter kluger Benutzung der Verhältnisse bei seinen Mitmenschen Geltung zu verschaffen. Sein Edelstreben befaß keine Modulation. Verteidigung und Angriff bestanden bei ihm aus einem, dem Hieb. Wohl aus Ehrfurcht vor sich und den Menschen war es ihm unmöglich, mit dem Schmutz und der Verschlagenheit seiner Gegner zu rechnen, denn Gemeinheiten machen den Helden wehrlos aus Ekel.

Darum kam auch nichts als ein bitteres Lächeln in seine Züge, als einige Tage nach seiner Flucht aus der Kirche die Polizei bei ihm Haussuchung nach sozialistischen und anarchistischen Büchern und Briefen hielt. Mit kalter, verachtungsvoller Höflichkeit geleitete er den Beamten zur Tür hinaus. Kein Wort der Genugtuung kam über seine Lippen, daß man auch nicht ein verdächtiges Papierschnitzel gefunden hatte. Mit hocherhobenem Haupte stand er noch immer da, und wenn er auch dann und wann in ein düsteres Fernsein verfiel, so rettete sich sein Auge doch immer wieder in das blitzende Leuchten, und wie je schütterten seine Schritte über Flur und Stiege.

Behaglich und gesammelt saß er nach leidenschaftlich-fleißigem Tagewerk in seiner Sofaecke und ließ, vom Sinnen zurückkehrend, sein Auge wohl über den Tisch wandern, der nun einsamer stand als sonst. Denn seit hinter jedem Schritte meines Vaters das Zischeln lief, waren so nach und nach all die Schwätzer und Stuhlwärmer ausgeblieben. Nur der Dorn-Schuster hatte sich fester auf seiner Bank eingenistet. Stets betrat er mit bekümmerter Miene unsere Stube, und stets kam doch die alte, kindhafte Aufgeräumtheit über ihn beim Anblick meines unberührten Vaters, der ruhig jeden Versuch seiner märigen Güte, dem »niederträchtigen Volke«, insbesondere aber dem Rinke-Tischler, eins zu versetzen, zurückwies, im übrigen aber geduldiger und aufmerksamer des Schusters komische Mutmaßungen über die große Wendung der Zeit ertrug. Ja, tauchte aus der Seele des Aufgeregten, der die ganze Welt nur durch seine Schusterkugel betrachtete, ein treffender Gedanke, so beteiligte sich mein Vater mit einem langen Blick, einer zustimmenden Geberde oder kurzen Bemerkung sichtbar an dessen Kummer. Verlor sich Dorn gar – und es geschah fast immer – in seine Familiensorge, dann blühte im Gesicht meines Vaters ein tiefes, ehrlich-schönes Mitleid, wenn er es auch vermeiden gelernt hatte, ihm Räte zu erteilen oder ein zu herzliches Erbarmen zu zeigen. Denn der gütige Mensch war zu keiner Strenge gegen seinen ungeratenen Jungen zu bringen, dessen Leichtsinn schon zu Veruntreuungen übergegangen war, sondern er drohte, beschwor, klagte, vertuschte und bezahlte, um am Ende in eine fast wirre Verstörtheit zu verfallen, während sein kleinmütiges Weib tagelang von sinnloser Angst durch die Finsternis der Dachkammern getrieben wurde und dann wie in Todesgier sich aus schwindelnd hohen Fenstern neigte. Erzählte das Dorn, so griff mein Vater herzlich nach dessen großen, mehligweißen Händen, die zuckend auf dem Tische lagen, und hielt sie, bis in dem Gesichte des Armen das Zittern vergangen war. Immer verließ uns dann der Schuster in halber Gebeugtheit, und mein Vater begleitete ihn, die Rechte wie schützend auf seine Schulter gelegt, bis an die Haustür. Dort wartete er, bis der Schatten des Davongehenden im schwarzen Torbogen des Wartturmes verschwunden war, und kehrte mit Schritten zurück, die wie Aufstampfen klangen, und einem Gesicht, in dem bittere Entschlossenheit wetterleuchtete.

Zu bittere Entschlossenheit, so bitter, daß der Trotz dieses herrischen Antlitzes mir wie der Schmerz des eigenen jungen Herzens wehtat und eine Bekümmernis über mich kam, an der ich nach dem Zubettgehen stundenlang litt, weil mir nichts Rechtes einfiel, wie ihr abzuhelfen und meinem Vater die alte frohe Kühnheit wiederzugeben sei. Ich lag und blickte den blassen Strahl entlang, den der Mond durch das Dachfenster in die tiefe Finsternis der Kammer spielen ließ und baute ruhelos abenteuerliche Pläne zur Errettung meines Vaters, den in meiner leidenschaftlichen Phantasie ein Heer ekler Feinde umgab; oder kroch unter die Decke und verfiel in schmerzvolles Hinschummern, das in stummem Weinen endete.

Dann kam die Nacht, die über meines Vaters Schicksal entschied. Sie stand in mitternächtiger Bläue draußen und sah mit einem gelben, blinzelnden Stern durch die Dachluke auf mich. Da knisterte es in der Kammertür, und bald darnach wurde der hölzerne Riegel weggezogen, fiel herunter und baumelte einigemal an seiner Schnur hin und wieder. Ich streifte erschrocken das Deckbett ein wenig von der Brust und richtete mich halb auf, um den späten Eindringling zu erkennen. Aber es war plötzlich wieder ganz still, und ich sah nichts als schwere Ballen, die auf mich zurollten und dahinter ein Etwas, das, hochaufgerichtet, stutzte und mit unsichtbaren, zwingenden Augen mich betrachtete. In lähmendem Schrecken rief ich nach meiner Mutter und sank dann zurück. Und wahrend ich in Angst alle mir bekannten Gebete durcheinanderwirbelte, näherte es sich mit streichenden Schritten meinem Bette, blieb stehen, schob die Decke von meinem Leibe, ergriff die kraftlos herunterhängende Hand, drückte sie gebietend und entfernte sich mit denselben über die Diele wehenden Schritten. Die Tür ging knisternd, der Riegel klappte gegen das Holz. Darauf war wieder nichts als die stille Finsternis um mich, aus der eine Erwartung auf mich einfloß, der stürmisch atmend auf seinem Lager lauerte und beklommen grübelte, was das zu bedeuten habe. Auf einmal fiel eine Hülle in mir nieder, ein Schatten, und ich wußte, daß ich hinunter müsse, um unser Haus zu bewachen. Jede Angst war in diesem Augenblicke aus meiner Seele geblasen. Ruhig stieg ich aus dem Bett, kleidete mich an, tastete nach den Streichhölzern und schlich auf den Socken durch die Tür, die durch den Riegel verwahrt war, wie immer. Es fiel mir gar nicht ein, darin einen Widerspruch gegen die Tatsächlichkeit des geheimnisvollen Vorganges zu finden, so sehr wirkte er in meinem Innern schon gleich einem lange gefaßten Entschluß. Mit einer Überlegenheit, die mir noch heut unbegreiflich ist, überzeugte ich mich davon, daß die große Stube, deren Fenster nach dem Burgberg zu gingen, unverschlossen sei und huschte dann über die zweite Stiege in den unteren Flur, um vorsichtig die Haustür aufzuschließen. Es kostete mich einige Mühe, mit dem ungefügen Schlüssel das verrostete Schloß zu bewegen, und ich mußte wegen des Kreischens einigemal absetzen, weil ich meine Eltern nicht stören wollte, die, nur durch den kurzen Flur von mir getrennt, in dem kleinen Alkoven neben unserer Wohnstube schliefen. Endlich war alles vorbereitet, die schwere Tür nur angelehnt und die Klingel abgestellt. In einem Anflug von Furchtsamkeit tastete ich ohne bestimmte Absicht in die Ecken und kam an ein handliches, nicht zu schweres Kummetholz, das ich als einzige Waffe mit mir nahm. Und nun sah ich droben in der Stube, die auch als Vorratsraum diente und spähte durch das geöffnete Fenster auf die Straße. Die einzige Laterne an Mahn-Fleischers Hausecke hatte längst ihr rotes Auge geschlossen, und es war, als blicke ich in eine finstere Schlucht hinunter, vollgesackt von lautlos dumpfer Enge. Nur der Adler auf dem Wartturm knarrte dann und wann über die Dächer, daß es wie verhaltenes Schnarchen klang. Da pfiff der Nachtwächter eins und ging dann den Berg hinauf durch den Torbogen. Seine großen Stiefeln knallten wie Schüsse gegen das Pflaster. Danach mummelte wieder nur die schwarze Stille in der Schlucht. Ich sah auf die wenigen Sterne am tiefdunklen Himmel. Sie blinzelten müde wie die Augen schläfriger Tiere. Nur manchmal kam ein gieriges, wildes Aufflackern, wie traumhafte Raublust, in sie. Eine zähe, beklommene Schlaffheit spann sich daraus über mich, daß ich die Stirn in die Hand stützen muhte. Dann hatte ich ein Gefühl, als sinke ich hinaus in den leeren Raum. Da ging es ganz leise: klapp, klapp, stand still und wieder klapp, klapp, klapp; und ich dachte, es seien die Sterne, die aufeinander Jagd machten. Dann horte ich unterdrücktes, schleimiges Husten. Wie weggehauen war der Schlaf. Wenige vorsichtige Sätze brachten mich an die Tür, die ich lautlos öffnete und hinausschlüpfte. Neben dem Hauseingange stand auf dem Bürgersteig eine kurze Leiter. Dies sehen und mit ganzer Wucht gegen den Leiterbaum rennen, war eins. Mit einem leisen Fluch stürzte ein Mensch herunter, wie ein Sack dem Lastträger von dem Rücken fällt und blieb lautlos liegen. In meiner Bestürzung griff ich um mich, wühlte in meinen Hosentaschen, erwischte die Streichhölzer und leuchtete über den Gefallenen hin, ihm ins Gesicht. Es war Rinke. Er lag, anscheinend leblos, mit offenem Munde da, und aus einer Stirnwunde quoll dunkles Blut. Da verließ mich die Beherrschung. Entsetzt floh ich ins Haus, rüttelte wie wahnsinnig an der Schlafstube meiner Eltern und schrie: Vater, mach' auf! Ich hab' ihn. Um Gottes willen. Vater! In den Unterhosen stürzte der Gerufene zu mir heraus. Ich stotterte: Rinke liegt draußen auf dem Pflaster; ich hab' ihn tot gerannt! Schon erschien auch meine Mutter auf der Schwelle, totenblaß, die Laterne hochhaltend, daß ihr Schein über uns floß. Mein Vater nahm sie ihr aus der Hand und gebot mir: Komm mit, aber sprich kein Wort mehr!

Mit großer Anstrengung folgte ich dem Voranschreitenden; aber an der Tür begannen mir die Knie zu zittern, und erschöpft sank ich auf die dort stehende Hausbank. Nach einer Weile trat mein Vater vor mich, in der einen Hand die Laterne, in der anderen ein zerbrochenes Töpfchen, aus dem schwarze Farbe floß und eine Schablone. Er fragte mich etwas und rüttelte an mir, weil ich nicht antworten konnte. Dann fühlte ich mich noch hilflos lächeln, mir schwand die Besinnung nicht im Rauch der Ohnmacht, sondern die wohligen Schatten des Schlafes fielen so schnell über mich, daß ich nur noch bemerkte, wie meine Mutter aus einer grenzenlos tiefen Nacht sich zu mir niederbeugte. Ich schlang meine Arme um ihren Nacken und ward davongetragen.

– – – – – – –

Am andern Morgen fand ich mich in dem Schlafzimmer meiner Eltern. Das Fenster stand auf, und die frohe Sonne eines ungemein warmen Februartages lachte herein. Vom Spitalgarten herüber hörte ich das Pfeifen der ersten Stare. Ein Gefühl tiefer, kraftvoller Beglückung erfüllte mein Herz so ganz, daß mir vorerst keine Bedenken kamen, warum ich nicht in meiner Kammer liege. Als aber bald darauf meine Mutter eintrat, sich über mich beugte und besorgt fragte, wie es mir gehe, standen plötzlich die Ereignisse der Nacht greifbar deutlich vor mir. Vor allem sah ich den Tischler Rinke mit offenem Munde und blutiger Stirn daliegen und erkundigte mich in großer Angst, ob er wirklich tot sei. Zu meinem Staunen schüttelte die Mutter den Kopf, gab mir den Rat, recht tief ins Bett zu kriechen und ruhig liegen zu bleiben, denn offenbar sei das Fieber noch nicht von mir gewichen. Ich sollte Fieber gehabt haben, und alles Tolle dieser Nacht war nur eine Halluzination meines blutüberfüllten Hirns gewesen? Aufgeregt wehrte ich mich gegen diese Ansicht meiner Mutter, setzte mich im Bett auf und erzählte, um sie vom Gegenteil zu überzeugen, bis in alle Einzelheiten, bis auf meine Empfindungen den ganzen Hergang, wie das Unsichtbare bei mir eingetreten sei, mich aus der Kammer gelockt, kurz, alles genau, wie es vor sich gegangen war, und daß ich endlich auf der Hausbank in Schlaf gesunken sei. Während ich sprach, war auch mein Vater eingetreten. Er gab mir ein Zeichen, ruhig fortzufahren, setzte sich auf einen Stuhl und hörte aufmerksam zu. Sein Gesicht war blaß, voll schmerzlichen Ernstes, und über seinen Augen lag eine Stumpfheit. Zuweilen sahen sich meine Eltern mit langem Blick an und bewegten dann verneinend den Kopf, als ständen sie vor einem Unbegreiflichen. Fliegend und stotternd kamen die Worte aus meinem Munde, je nachdem die Freude an meinem Heldenmute sie beflügelte oder die Furcht vor dem Urteil meines Vaters sie mir auf der Zunge zerbrach. Am Ende wurden sie von Schluchzen ganz erwürgt, denn das Entsetzen, das mich von dem anscheinend toten Tischler ins Haus gejagt hatte, nahm wieder Besitz von mir, und verzweifelt weinend grub ich das Gesicht in die Kissen, weil ich glaubte, einen Mord begangen zu haben, alles sei für mich vorbei, und meine Eltern, anstatt befreit, seien von mir vor allen geschändet. Meine Mutter überließ mich nur Augenblicke dieser Zerrissenheit. Sie richtete mit liebreichen Armen mich auf und sprach mir Trost zu: In Fieberzuständen, zu denen ich so leicht neige, kämen allerhand wilde Gesichte über den Kranken. Die Erregung, aus der sie geboren würden, wirke noch in das Wachsein hinein, und so erschienen uns die Fratzen der kranken Hitze auch dann noch als wirkliche Wesen, wenn sie schon erloschen seien. Sie habe mir den Zustand schon am gestrigen Tage angemerkt und sei, von Unruhe getrieben, in der Nacht zu mir in die Kammer gekommen, um mich, der unter wirren Reden, in Schweiß gebadet, auf zerwühltem Lager gekauert habe, herunterzutragen. Das geheimnisvolle Etwas, das mich aus der Kammer gelockt, sei also niemand als sie selbst gewesen. Alles übrige müsse ich als Ausgeburt des Fiebers betrachten und über niemand davon reden, sonst könne es soweit kommen, daß mich die Leute für einen Nachtwandler hielten und überall verspotteten.

Mit hilfesuchenden Augen sah ich meine Mutter an, die all das mit der Überzeugungskraft geredet hatte, die großer Liebe eigen ist; aber trotz unbedingter Hingabe an sie, gelang es mir nicht vollkommen, das als Spuk anzusehen, was mich mit geheimem Glück erfüllte, ungeachtet ich vor der Tatsächlichkeit der schrecklichen Folgen für Rinke zugleich wünschte, es möge alles nur eine Heimsuchung des Fiebers gewesen sein. Mein Vater hatte während des Zuspruchs meiner Mutter am Fenster gestanden und uns den Rücken zugewandt. Jetzt, da ich bestürzt schwieg, kehrte er zurück, blickte mich lange überlegend an, schloß dann die Augen und nickte sich versonnen zu. »Hm, hm,« sagte er darauf mit etwas spöttischem Lächeln, »du willst also mit einem Streichholz dem Manne ins Gesicht geleuchtet haben?« Ich brachte ein furchtsames »Ja« heraus. »Und glaubst fest, daß es der Tischler Rinke gewesen sei?« fragte er weiter. Ein Zug im Gesicht meines Vaters, ein Schwingen seiner Stimme gab mir den sicheren Glauben an das Erlebnis der Nacht plötzlich wieder, und ich antwortete unerschrocken: »Ja, es war ganz gewiß Rinke. Er lag da, und aus seiner Wunden Stirne floß Blut.«

Nach einer langen Pause, die er wieder geschlossenen Auges zubrachte, sagte mein Vater mit einem schwach sieghaften Blick auf meine ängstlich gewordene Mutter zu mir: »Nun, Franz, beruhige dich. Wenn es Rinke gewesen wäre, so hätten wir ihn oder seine Leiter heut morgen finden müssen, nicht wahr?«

»Aber hast du nicht den zerbrochenen Farbentopf und die Schablone gefunden?« fragte ich, obwohl das Lächeln meines Vaters längst zur bitteren Grimasse geworden war und sein Auge in zehrender Glut brannte.

Statt mir zu antworten, wandte er sich an meine Mutter. »Ich glaube,« sagte er, »die Ladentürklingel ging.« Am liebsten wäre ich auch aufgesprungen und ihr nachgelaufen, die ohne ein Wort sich erhob und eilig auf den Flur verschwand, denn alle Gesten meines Vaters waren eisig gemessen und umständlich, als bereite sich in ihm ein verheerendes Gewitter. Beklommen streckte ich mich ins Bett zurück. Da stand er auch schon hart neben mir, beugte sich über mich und sprach mit unnatürlich leiser Stimme: »Es kann natürlich nicht anders sein, als wie deine Mutter gesagt hat; denn warum hättest du das alles auch wagen sollen?« Ich mußte meine Augen schließen vor seiner furchtbaren Nähe. »Franz, du?« fragte er noch einmal und legte seine Hand auf meine Achsel. Mir schlug das Herz, und ich glaubte, es sei nun alles vorbei, darum wagte ich zu bekennen, was ich in all den Jahren ersehnt hatte. »Weil ich dir so gut bin. Vater!« hauchte ich und lag regungslos und ergeben. Aber statt schneidendes Gelächter zu hören, fühlte ich einen langen Kuß auf meiner Stirn, und seine tiefergriffene Stimme sagte: »Mein lieber Sohn.«

Es war mir unmöglich, die Augen zu öffnen; ich ward wie von Wellen geschaukelt, und doch lag ich in einem Schein strahlenden Lichtes. Er hat mich geküßt, mein Vater hat mich geküßt, sang es in mir, und mein Herz schlug gleich einem unbändigen Vogel. Als ich endlich die Augen erhob, war ich allein. Der Sonnenschein glühte zitternd über dem Dach der gegenüberliegenden Mühle; das Pfeifen der Stare im Spitalgarten war zum Schmettern geworden; das Blau des Himmels flatterte wie eine Fahne aus dem weißen Gewölk. Mein ganzes Leben war eine Süßigkeit von Anbeginn. Durch die Wand, an der ich lag, hörte ich meiner Mutter bedachtsames Wirtschaften; von der Werkstatt her sprang vielfältiges Gehämmer durch die Diele. Es war, als klänge um mich die Emsigkeit guter Geister, die nichts anderes trieb, als mein Bestes zu wirken.

In dieser Gehobenheit und tiefinnerlichen Sicherheit brachte ich den ganzen Tag zu. Und obwohl am andern Morgen der Glaube an die Wirklichkeit meines Kampfes mit dem Tischler noch ganz sicher bestand, war das Ereignis selbst mir nicht mehr so bedeutsam, daß ich hätte dadurch versucht werden können, meiner Eltern Wunsch zu brechen. Wir war es genug zu wissen, es solle verborgen bleiben, und daß meine Seele, die nicht begriff, wozu die Schweigsamkeit gut sei, so tat, als wäre ihr alles klar und nötig, das verlieh mir vor mir eine über die Jahre hinausgehende Würde. Im stillen stellte ich mir schon vor, wie ich mit meinem Vater rede, neben ihm sitze oder hergehe, und wie er sich hin und wieder zu mir neige, wie zu einem Freunde. Wenn ich in Gedanken bis zu diesem Ereignis gekommen war, so wußte ich immer nicht, was mein Vater zu mir sagen würde. Ich sah nur im Geiste seine schwarzen Augen unverwandt auf mich gerichtet, die mehr glühten als sonst, weil sein Gesicht so sehr blaß war, und sein Schnurrbart zitterte wie in leisem Winde. Aber was ich ihm sagen lassen sollte, konnte ich nicht herauskriegen. Den ganzen Nachmittagunterricht, während des Schreibens und Lesens, hatte ich mich mit meinem Vater umhergetrieben und war immer herzlicher geworden. Allein, wenn die Hauptsache kommen sollte, wenn er sich zu mir neigte, wurde sein Gesicht weiß, sein Auge bohrte, sein Schnurrbart zitterte, aber er sagte kein Wort mehr. Als ich nun aus der Schule heraustrat auf den Platz, fuhr ein Tischlerjunge auf einem Zweiräder zwei lange, neue Bretter vorüber und hielt mit seinem Gefährt an der Kirche, vor dem engen Pförtchen, das von außen auf das Chor der Jungfrauen führte. Ich bemerkte, daß es einer von den Lehrlingen des Tischlers Rinke sei, ging in der Reihe mit meinen Mitschülern bis um die nächste Straßenecke und lief dann auf den Platz zurück, trotzdem der Aufpasser einen unangenehmen Lärm machte. Der Junge saß auf den Brettern und kraute sich den Kopf. Mit Steinen, die ich vor mir herrollte, spielte ich mich an ihn heran. Als ich hart neben ihm war, richtete ich mich auf und sah ihn an.

»Na, habe ich das Maul nich die Quere?« fragte er mich höhnisch.

Darauf hatte ich gewartet und erwiderte schlagfertig: »Freilich, und de Ohre an den Stiefelschäften.«

»Gell, du bist der Faber-Junge?« fragte er.

»Och, wer wär' ich och da! Mei Vater putzt Hufeisen, und meine Mutter spinnt Spucke«, entgegnete ich im Jargon meiner tollen Monate weiter.

»Und ich mach' rote Suppe aus Rotznasen«, sprach der Tischler und erhob sich. Deswegen trat ich ein wenig zurück.

»Und dein Meester macht Darmsaiten aus Eselsohren«, gab ich zurück.

»Meenst du etwa mich?« fragte er und rückte näher.

»Nee, den Esel,« erwiderte ich, »und läßt du mich nich zufrieden, so sag' ich's deinem Meester.«

In diesem Augenblicke fuhr er auf mich los. traf mich aber nicht und lief mir nach, der leichtfüßig, neckend vor ihm hersprang. Bald aber wurde aus der Verfolgung ein lustiges Jägerspiel, und dann saßen wir als gute Freunde auf den Brettern. Es war ein dicker, ziemlich törichter Junge und nicht lange, so hatte ich ihm alle Würmer aus der Nase gezogen. Sein Meister sei am Morgen in der Stube gefallen und habe sich einen solchen Schaden getan, daß er sofort nach Breslau gefahren sei und vielleicht vierzehn Tage unten bleiben müsse. Was für ein Schaden es sei, am Schädel oder am Buckel, wisse keines von den Leuten, denn früh um sechs sei der Meister, der Bucklinski, schon zum Tempel hinausgewesen. Nun machte er seinem Zorn Luft, nannte ihn einen höhnischen Hund, wünschte, er möchte sein Maul gebrochen haben und sagte, es sei nicht zum Aushalten bei ihm. »Warum lachst du denn?« fragte der Junge zuletzt. Ja, wahrhaftig, ich konnte mir nicht helfen, und jetzt, da der Erfolg meines nächtlichen Abenteuers so unzweifelhaft vor mir lag, sprang ich, ohne zu antworten, auf und lief über den Platz, durch die Straßen, sang wie besessen und schwang die Schultasche immer um meinen Kopf. Die ganze Stadt regte ich mit meinem Siegeslied auf. An der Postecke, beim Anblick des gähnenden Torbogens, erlosch plötzlich der Jubel in mir. Sehr langsam und zögernd vor Erwartung betrat ich die Stube. Statt des Schimmers lag sie voll von Lasten und verheimlichtem Kummer. Mein Vater saß gebückt vor seinem Vesperkaffee. Er streifte mich beim Eintritt mit einem gleichgültig vorübergehenden Blick, um seine Augen dann in zweckloser Beharrlichkeit wieder auf das schmale Stück Diele zwischen den auseinandergestellten Beinen zu heften. Die Mutter wagte aus Scheu oder Schonung die Geschirre der beendeten Mahlzeit nicht vom Tisch zu räumen, sondern ging in unruhiger Geschäftigkeit vor dem Ofen auf und nieder, trug Töpfe hinaus und brachte sie leer herein, wand den Hader aus, obwohl er ganz trocken war und beobachtete indessen voll barmherzigen Kummers den Gebeugten. Ein Paarmal war ich im Begriff, auf ihn zuzugehen und ihm von Rinkes Reise nach Breslau zu erzählen. Aber schon nach dem zweiten Schritt, wenn er von dem nahenden Geräusch aufgeschreckt, den Kopf hob und mit unwirschem Erstaunen über mich hinsah, entwich mir der Mut. Verwirrt trat ich ans Fenster und schaute lange hinaus, und jedesmal fühlte ich dann, wie die Augen meines Vaters in trauervoller Freude auf mir ruhten, und zugleich wußte ich auf geheimnisvolle Weise, daß die Nachricht von Rinkes Reise ihn noch tiefer verwunden mußte und schwieg.

Von diesem stummen Bohren wurde mein Vater einige Tage gebunden, und immer folgten mir seine überlegenden Blicke. An einem Abende, das Dämmern fiel wie ein tiefer Aschenschleier vor den Fenstern nieder, rief er mich vor seine gebeugte Stirn und fragte, ohne das Gesicht zu erheben, ob ich zu Ostern aus der Schule komme. Dann sagte er, ich sei anfällig und so zart gebaut, daß ich unmöglich ein Handwerk ergreifen könne. Das war nun nicht wahr, denn überall ordneten sich nach kurzer Zeit die Knaben willig unter meine umsichtige Kraft. Einen Augenblick kam mir eine Versuchung zum Widerspruch. Doch da hob mein Vater sein Gesicht; es war weiß, und sein Auge packte mich, daß mir das Wort in der Kehle sitzen blieb. »Nun,« sagte er, »aber du scheinst mir nicht auf den Kopf gefallen zu sein. So sollst du Lehrer werden. Das Geschäft geht zwar schlechter, aber ich hoffe, dich durchhalten zu können. Du bist mein Sohn. So weiß ich, daß du mir unmöglich Schande machen kannst. Gib mir deine Hand darauf.« Ich legte zaghaft meine Rechte in seine Hand. Er schüttelte sie heftig, damit ich das Jucken darin nicht wahrnehmen sollte. Aber es arbeitete trotz des festen Griffes so heftig in seinen Fingern, daß ich bestürzt in sein Gesicht sah. Aus seinem Munde kam ein seltsames Blasen, zugleich knirschte er mit den Zähnen, und seine Lippen zitterten. Mit aller Gewalt kämpfte er gegen die Rührung, die ihn zu übermannen drohte. Plötzlich schleuderte er meine Hand aus der seinen und stürmte zur Tür hinaus. Seine Schritte verklangen auf der knarrenden Stiege in die Werkstatt. Langsam löste sich die Beklemmung von meiner Brust. Ich fiel der Mutter um den Hals und gestand ihr unter Tränen, ich wollte nicht Lehrer, sondern Schiffskapitän werden. »Kind,« sagte sie. »denk' doch, das große Wasser, und wie weit es is!« »Wenn's aber ginge. Mutter«, schmeichelte ich. »Der Vater will's nich.« antwortete sie. »und Vaters Segen baut den Kindern Häuser.«

– – – – – – –

Man müßte Menschen, die uns enttäuschen, aus sich entfernen, wie man einen Schluck lauen Wassers ausspeit, sie abtun, wie man den Schweiß von seinen Fenstern wischt. Aber nur die Wertlosen und die Heiligen können das. Für den großen Menschen bedeutet dieser Betrug einen Speerstoß, dessen Wunde nie mehr zuheilt. Denn ich bin gerade so tief in anderen als in mir. So kam mein Vater über den Schimpf und die Schande, die ihm der Tischler Rinke angetan hatte, nicht hinweg und brachte es doch auch nicht über sich, diesen Treubruch und mit ihm eine Menschenbeziehung, die wohl einst seine ganze Seele erfüllt hatte, durch die Gerichtsstuben zu schleifen. Hastig trieb er sein Werk; bitter spornte er seine Leute. Das Essen verschlang er ohne zu kosten, und seine Ruhe war ein Versinken, aus dem er mit dem Lächeln des Selbsthohnes erwachte, meine Mutter, die ihn zu Vergeltungsmaßregeln stachelte, sah er auf das Höchste erstaunt an und ließ sie stehen. Einmal aber, als sie zu sehr in ihn drang, faßte er mit flachen Händen ihren Kopf, als wolle er sie so emporheben und schüttelte ihn leidenschaftlich. Sein Gesicht trug dabei einen Zug bitterster Überreizung, und er rief fortwährend:

»Wach auf, Weib! Wach auf, Weib!«

Und doch hätte er aufwachen sollen. Denn nachdem Rinke zurückgekehrt war, stürzte er sich in ein turbulentes Leben. Wo eine Fiedel klang oder sich eine Maste drehte, an den Tischen angesehener Zechbrüder, oder wo die Karten ihr buntes Rad schlugen, war er dabei. Er nahm die Gepflogenheit törichter Müßiggänger an, mit Alkohol sich auf das Mittagsmahl und den Schlaf vorzubereiten, und bildete er bei den Veranstaltungen der Honoratioren auch nur ein geduldetes Anhängsel, so überbrückte der sonst so melancholisch Gedankenvolle die Kluft durch laute Witzeleien und aufdringliche Vertraulichkeit. Wie oft hörte ich nicht sein trunkenes, schrilles Lachen tief in der Nacht an unserm Hause vorbeitorkeln, und mir war es dann, als wiehere er vor Hohn über meinen Vater. Den aber lockte dies herausfordernde Leben nicht in Rache hinein. Den frechen Augenaufschlag des vorübergehenden ungetreuen beantwortete er mit einem langen Blick trauervollen Mitleides. Das war alles. Im übrigen stand er in klaren Nächten lange am Fenster oder unter der Haustür, betrachtete hingegeben das Spiel des unruhigen Frühlingsgewölkes und lauschte den Stimmen des Windes, die oft wie die Schreie unerlöster Geister über die Dächer hinfuhren. Trat er dann wieder unter uns, so trug sein Antlitz einen tiefen Glanz, eine schimmernde Verfinsterung, die zuletzt notvollem Frieden wich. Sein Blick aber war noch lange nachher in einer sprechenden Gebärde jenen Weiten zugewendet, aus denen die Schatten ihn geschreckt, die rätselhaften Rufe ihn getroffen hatten. Meine Mutter rang an solchen Abenden doppelt inbrünstig in ihrem Gebete zu dem Christusbilde empor, als gelte es, daß Leben meines Vaters einer feindlichen Macht zu entreißen.

Das alles wirkte, wie ein uneingestandener Wirbel, ein verderbliches Sieden, das den Bau unseres Familienlebens lockerte. Meinen Bruder Peter, der in der Werkstatt meines Vaters die Sattlerei erlernt hatte, trieb es in die Fremde. In verdrossenem Gleichmut verließ er uns, und kaum war er einige Tage fort, so konnte ich mich schon nicht mehr genau an die Umstände seines Wegganges erinnern. Resa, die immer an tausend bunten Bändern allerhand leichten Hoffnungen nachgegaukelt war. zwitscherte sich eines Tages auch über die Schwelle und fuhr davon, in irgendeine Stadt des Südwestens, ich weiß nicht, war es Frankfurt am Main oder Straßburg. Sie ist mir seitdem nicht mehr zu Gesicht gekommen.

Nun der endlose Kleinkrieg der beiden nicht mehr unser Haus erfüllte, empfand ich doch, wieviel sie mir gewesen waren. Hilf- und schutzlos bebte meine Jugend in der schweren Luft, die von dem Leben meiner Eltern ausging. Bei dem Gedanken an den Lehrerberuf sah ich mich in dem Schlund einer engen Gasse vor einem niederen, unfreundlichen Pförtchen stehen und brachte die Hand nicht herauf, um anzuklopfen. Der Himmel über mir, und Weiten, die ich nicht sah, obwohl sie vorhanden waren, hingen voll ungesungener Lieder und wartender Lichterschöne. Aber das Wort meines Vaters: Du bist mein Sohn, vertrieb die Berückungen immer wieder, und mit jähem Trotz rettete ich mich in seinen Willen.

– – – – – – –

So trabte ich bangen Herzens nach meiner Schulentlassung mit einer Schar Knaben zum Pfarrer Zimbal, unserem Ortsschulinspektor, um ihm, wie es Sitte war, für den genossenen Unterricht zu danken.

Wir standen in langer Reihe an die Wand gedrückt im Hausflur des Pfarrhauses. Die anderen Knaben scherzten flüsternd miteinander. Hin und wieder hielt sich einer mit Zeigefinger und Daumen die Nase zu und lachte, indem er sich zusammenkrümmte, bei geschlossenem Munde, daß seine Backen aufliefen wie zwei kleine Kürbisse.

Mir klopfte das Herz in Erwartung. Der leise Lärm verstummte, und unsere Füße fuhren zusammen, als oben eine Tür in den Angeln schwang und die feierlichen Schritte des Erwarteten laut wurden. »Er is – er is nich!« wisperte es verstohlen durcheinander. Dann aber erklang ein Räuspern. Er erschien am Anfang der Treppe. »Gelobt sei Jesus Christus!« riefen wir den schwarzen Beinkleidern da oben entgegen. »In Ewigkeit. Amen!« antworteten sie.

Dann stand der geweihte Herr vor uns, den Zeigefinger der Rechten überlegend in die geschlossene schwarze Weste gehängt, und ließ seine metallgrauen, kalten Augen die Reihe hinabgleiten. Als sie auf mich trafen, bäumten sie sich einen Augenblick ärgerlich zurück. Er strich sich aber den Unmut aus dem breiten Gesicht, und indem seine Hand schnappend von dem glänzenden Doppelkinn abglitt, begann er seine Ermahnungen an das andächtig lauschende, jugendliche Plenum. Ich befand mich in einer zerrissenen Stimmung. In Furcht vor abermaliger öffentlicher Verletzung war ich hergekommen; durch seine abweisende Gebärde hatte sich ein Mißtrauen hinzugesellt, das mir wehtat, nicht nur weil mein frommes Herz nach heiligem Zuspruch verlangte, sondern weil mein ganzes Inneres durch die schweren Ereignisse der letzten Zeit so wund getrieben war, daß es förmlich nach Güte und Trost schrie. Ein ehrlich liebevolles Wort hätte mich armes Kind an seine Knie gedrückt und vielleicht für immer an die Nacht gefesselt, deren Vertreter er war. Das verstohlene Flehen meiner Augen aber blühte ihm umsonst.

»Nun geht und lasset die Samenkörner des Glaubens und der christlichen Liebe in euren jungen Herzen wachsen«, so endete er die Reihe von Sätzen, die gleich bunten Blasen, selbstgefällig schillernd, über unsere Köpfe hingefahren waren. Wir traten einzeln an ihn heran, sagten unser Sprüchlein und küßten ihm die Hand. Für jeden hatte er nun ein liebes, ermunterndes Wort; diesem streichelte er die Wange, jenem legte er milde seine Hände auf den Scheitel.

Ich hatte mich an der Tür aufgestellt und kam als letzter zum Handkuß. Die Stiefel der anderen sprangen schon klappernd über den Kirchplatz. Zaghaft näherte ich mich ihm. Aber er scheuchte mich mit Stirnrunzeln zurück und fragte: »Du – du bist ja wohl – mh – der Faber, nicht wahr? – Der Sohn von dem – mh – Faber-Sattler?«

Allein ich knickte nicht zusammen, da er in grausamer Mühe Nägel in mein Gemüt trieb. Es riß die Wehmütigkeit aus meiner Seele, und mit keckem Zorn im Auge antwortete ich scharf und laut: »Jawohl, der bin ich!«

»Seh' mir einer den Wicht an!« rief er mit leisem Empören. »Warum kommst du denn da erst her? Ein Lump wirst du ja doch.«

»Das wird sich zeigen!« gellte ich.

Dann floh ich ohne Gruß. Ein Würgen fraß sich in meiner Brust aufwärts. Ich lief wie sinnlos über den Kies. Aber in der Mitte des Kirchplatzes legte es sich wie zwei unbarmherzige Arme um meine Brust und preßte sie so heftig zusammen, daß ich nach Atem ringend stehen bleiben mußte.

Plötzlich verdunkelte es sich um mich; es rieselte grau aus der Höhe, ein ganz leiser Wirbel, der bald wie kreisender Nebel um mich stand und durch mich lief, daß es ätzend über meine Augen floß und stoßend durch meine Brust polterte.

Eine alte Frau ging gerade vorüber.

»Jüngla, dir is wohl schlecht?« fragte sie mitleidig. Wahrhaftig, da stand ich großer Junge, der ich mich vor der Mitternacht und dem Rinke-Tischler nicht gefürchtet hatte, mitten auf dem Kirchplatz und weinte. Ärgerlich riß ich mit dem Ärmel der Jacke die Tränen aus den Augen. Dann wandte ich mich um und spähte, ob irgend jemand dastehe und sich über mich lustig mache. Ich wäre in blindem Zorn über ihn hergefallen. Wie ich mit meinen Blicken so in Streitlust umherstöberte, kam ich an das vergoldete Bild des gekreuzigten Menschenfreundes, das an einem massigen Kreuze vor der Mitte der Kirchenfront hing. Die Schatten der kahlen Zweige der beiden Ahornbäume lagen wie blutschwarze Striemen über seinem Leib. Aber in unermüdlicher Wehrhaftigkeit beschützte er mit ausgebreiteten Armen sein Haus. Die Mauer der Kirche hatte hinter seinem Rücken einen tiefen Riß, vom Dachfirst bis in die Grundmauern, doch der Heiland wußte davon wohl noch nichts; denn sein Antlitz strahlte wie immer voll göttlicher Sicherheit. Ich bemerkte den Schaden heute zum ersten Male, und eine seltsame Ruhe kam in mich. Nicht, als ob ich die eben erlittene Züchtigung als berechtigt anerkannt hätte; ein kühler, unbegreiflicher Trost floß in mein Herz. Grübelnd ging ich von dannen. Auf dem Ringe fiel mir ein, daß sich mein Vater über die lieblose Behandlung, die mir in der Schule zugefügt worden war, beim Pfarrer beschwert hatte. Aber was konnte ich für die Bosheit der anderen? Oder hatte der Pfarrer bemerkt, daß ich das Weihwasser von meiner Stirn gewischt hatte, da mein Vater aus der Kirche vertrieben worden war? Ach nein, ich war ja schon außerhalb der Kirche gewesen. Vielleicht hatte es jemand gesehen und ihm gemeldet. Der Kirchplatz war aber doch leer gewesen.

Zuletzt überfiel es mich wieder: Die Kirche hat einen Riß vom Dach bis in den Grund.

Sonderbarerweise nahm ich das als die Erklärung der pfarrherrlichen Lieblosigkeit hin.

Zu Hause angekommen, wich ich mit großer Ruhe und männlicher Sicherheit den Fragen meiner Mutter nach dem Ausfall der Audienz durch allgemeine Bemerkungen aus.

Ich war gewachsen und fühlte es in der Ferne meines Bewußtseins wie ein dumpfes, namenloses Wehe, eine schmerzvolle, weite Leere, über der bitterblasse Helle lag.

Dann stieg ich mit kaltem Lächeln die Treppe hinauf. In der Kinderkammer stand ich lange neben meinem Bette, in dem ich mich so oft mit traumheißen Wangen umhergeworfen hatte und genoß in wehem Stolz etwas wie das Gefühl des Vertriebenseins. Ein schmaler Sonnenstreifen strich über meinen Scheitel hin. Ich ließ das feine Gewebe der rastlos tanzenden Lichtstäubchen über mich rinnen, trat ins Dunkel zurück und sah es mit wartenden Sinnen an, wiegte mich hin und her, aus dem Licht in den Schatten, und alles geschah so willenlos, als sei ich ein Gewächs, das von einem inneren Luftzug geschaukelt würde wie eine Blume, die sich befruchtet fühlt.

Da traf mein Auge, die bebende Sonnenschwinge entlangschauend, auf den zitternden Lichtkreis, den sie an die gegenüberliegende Bretterwand malte. Das Loch in der Finsternis um uns ... und plötzlich fiel mich große Trauer an, daß ich so im Schatten stehe und eigentlich nichts mehr habe, als diesen ärmlichen Lichtkreis, hinter dem doch auch nur wieder eine Dachkammer lag. Tiefe Schwermut wurde durch den Gedanken noch vertieft, daß das alles die Strafe für meine Sehnsucht sei, einmal durch das Loch hinter die unendliche Nacht sehen zu können, wie mein Vater.

Niedergeschlagen stieg ich die Treppe hinab, setzte mich in einem Gefühl der Ermattung auf die Bank unter unsere Haustür und starrte mit zerstreuten Augen auf die Straße.

– – – – – – –

So stürzen Städte in uns ein; Welten der Seele veröden leise; Revolutionen stoßen neue Erden auf mit anderen Steinen und anderen Sonnensystemen in Traumwelten. Das knickt den gesunden Menschen nicht, der der Schacht seiner Erneuerung ist. Er lächelt ein kümmerliches Lächeln, er schaut mit den großen Augen einer bitterglücklichen Sehnsucht: manchmal ein noch nie gehörter Laut nur, ein vorübergehendes allgemeines Müdewerden – je nachdem.

Dann bläst uns schon wieder der krause Wind der Stunden in den Nacken, und wir trotten weiter mit wirren Gesichtern, tiefer in die Gosse, näher der Sandwüste der Gewöhnlichkeit, höher hinauf – – je nachdem.

– – – – – – –

Die Vorbereitungen zu meiner Übersiedlung in die Präparandenanstalt einer benachbarten kleinen Stadt drängten die Empfindung des neuen Zustandes in mir zurück.

Mein Vater segnete mich zum Abschiede mit einem langen, stummen Blick. Dann drückte er mir stark die Hand und sprach: »So geh' also!« Nichts weiter; aber wie er es sagte, enthielt es eine ernste Mahnung; eine Drohung, einen Schlag von unten her, eine Übertragung seiner Kraft.

Mit zuckenden Lippen murmelte ich irgend etwas, streckte ihm noch einmal die Hand hin und ging. Er blieb im Zimmer, und ich hörte noch, wie er mit langen Schritten umherzugehen begann.

Meine Mutter ließ sich von dem Kutscher zwischen Betten und Kisten auf den Rücksitz eines alten Halbgedeckten pferchen. Ich kletterte neben den Rosselenker auf den Bock. Der kleine Mann lächelte mir mit seinem roten, viereckigen Gesicht zu, um das ein spärlicher Bart wie eine graue, mottenzerfressene Boa hing, und fuhr dann dem abgetriebenen Schimmel mit der Peitsche um die Ohren. Das Rößlein schlug ärgerlich mit dem Schwanze und schlenkerte auf geschwollenen Beinen davon. Die Kotbleche schwirrten; die Häuser rannten langsam zurück. Da war der Kirchhof, da die letzte Fabrik! Nun polterte das Gefährt über die Bohlenbrücke, daß es war, als falle ein Gebäude ein. Die hellgrünen Weiten der Felder, der Tanz einsamer Bäume an fernen Rainen verwandelte die geheime Kümmernis meines Herzens in frohes Schauen. Dann lief der leichte Wind mit meiner letzten Trauer davon. Ich kam mir ordentlich beneidenswert vor, so in die weite, schöne Welt hineinzufahren und sah zu meiner Mutter zurück. Die saß da und hatte große, reine Augen, über denen gar keine Brauen waren, ein stillseliges Gesicht, wie es Kinder haben. Darum fragte ich nicht, ob es schön sei, sondern betrachtete alles mit noch größerer Freude. Dorf um Dorf – Felder – Wälder – stundenlang so.

Dann holperten wir über das löcherige Pflaster der kleinen Stadt, die wie ein grauer, verwitternder Ballen zwischen die Berge geklemmt war. Das wilde Wasser hatte ihn irgend einmal hierhergespült und in die Enge eingeteilt. Aus den weiten Wäldern, die die seinen Täler wie dunkelblauer Rauch füllten, waren dann Menschen hervorgekommen und hatten mit Axt und Säge sich aus ihm die ersten Hütten gebaut. Nun blühte die kleine Siedlung im Vermorschen und vermorschte im Blühen seit Jahrhunderten. Die Menschen kamen und verloren sich in den engen Straßenzeilen; aber die ernste Fröhlichkeit aus den ferneren Wäldern ging ihnen auf der kurzen Lebensausfahrt nimmer ganz verloren.

Ich kam zu einer Witfrau, die in einem langen, kahlen Raume, dessen Wände rosa getüncht waren, außer mir noch sieben Bürschlein eine recht schmale Kost verabreichte. Acht Betten standen rundherum an den Mauern, vor oder neben jedem ein hölzerner Koffer für die wenigen Habseligkeiten. Bald war auch mein Ruhelager bereitet, und die Mutter streichelte die kanariengelbe Kattundecke mit den schwarzen, großen Punkten darüber.

Der erste Hauch des Abends lag vor der Sonne. »Komm!« sagte meine Mutter, und als sie mich an der Hand nahm, fühlte ich, wie sie zitterte. Ich wußte, was kommen sollte, und mir schlug das Herz. Vorsichtig stiegen wir die dunkle Treppe hinab, meine Mutter vor mir.

Unten drehte sie sich plötzlich um und breitete die Arme nach mir aus, und ich sank ihr an die Brust. Ihre Tränen rannen über meine Wangen. Dabei hörte ich sie hauchend reden, so vieles Liebe, Süße, Geheimste, wie es ein Mutterherz nur aufbewahren kann in seinen himmeltiefen Schächten. »Da.« sagte sie und machte sich los. »da, und wenn du Hilfe brauchst, hier gebe ich dir ein Rezept. Gebrauch' die Medizin, sie hilft in aller Not, mein lieber, lieber Junge!«

Verschämt, mit einem rührend weichen Ernst um ihre schmalen Lippen, drückte sie mir einen einfachen Zettel in die Hand.

»Geh' nicht mit, es macht dir's nur schwerer. Noch einmal, Gott mit dir, Junge!« sprach sie schnell, küßte mich noch einmal und war verschwunden. Noch lange stand ich da an der dunklen Treppe mit dem Zettel in der Hand und wußte nicht warum. Endlich kam ich zu mir und schlich in den Hof, wo eine kleine Laube stand. Dort entfaltete ich das Papier. In großen Kinderbuchstaben hatte meine Mutter mit einem Zimmermannsbleistift darauf geschrieben: Oh, du heiligstes Herz Jesu, du süßeste Mutter Gottes, Maria, steh' mir bei! Ein Vaterunser und Ave Maria.

Droben hörte ich die Jugend meiner neuen Kameraden lärmen. Das Raunen des Abends bewegte die springenden Knospen der Bäume; die Glocken der Stadt sangen in das blasse Gold des leise sterbenden Lenztages hinein. Mir ward es von kommenden Tränen grau vor den Augen. Aber ich sagte mir, ich sei nun allein, auf mich selber gestellt, da schicke es sich nicht wie ein Mädchen zu weinen. Den Zettel barg ich, sorgsam gefaltet, in meinem Taschenbuch und ging hinauf in die Stube.

Noch einmal wurde ich in die Demut und gesegnete Einfalt meiner Kindheit zurückgeführt. Hinter dem Wall rüder Tollheit, hinter dem Gewölk bitterer Erfahrungen hatte sie geschlafen wie eine Rose. Ihr Duft ward noch einmal wach. Von dem Herzen und den stillen Augen meiner Mutter entzaubert, strömte über mich der alte Glaube, die bedingungslose Hingabe, die Selbstentäußerung Gott und der Kirche gegenüber. Gerade in der ersten Zeit der Fremdheit unter meinen neuen Genossen und in der Fremde bildete dies fast meinen einzigen Halt. Ein wenig mißtrauisch bewegte ich mich unter meinen Mitschülern und nahm unter der Maske frühreifer Überlegenheit nur von fern und außen Teil an den Ausgelassenheiten, durch ein hingeworfenes Wort, ein fröhliches Krümmen der Lippe, oft nur durch eine Gebärde. Ich muß sagen, dieses Bescheiden, das eigentlich ohne Absicht über mich gefallen war, aber doch von dem Trotz festgehalten wurde, weil ich bemerkte, welche Vorteile es mir brachte, kam mich leidenschaftlichen, aktiven Menschen hart an und vergrößerte anfangs die Schwermut, wenn ich mutterseelenallein des Sonntags nachmittag in der kahlen Stube vor meinem Buche saß, während die andern alle im Freien umhertollten. Aber drückte es mich gar zu herb ins Herz, dann riegelte ich die Tür ab, kniete an das Fenster, das nach den fernen Bergen meiner Vaterstadt sah, zog den Zettel meiner Mutter hervor und betete für meine Eltern.

Mit einem kecken Sprung gelangte ich dann mitten in das Leben, das meine Mitschüler führten, in diese phantastische, abenteuerlich-heldenhafte Springprozession. An einem spätsommerlichen Regentage saß ich an einem Fenster unserer Bude und hielt, ohne zu lesen, ein Buch auf meinen Knien. Die Schüler der oberen Klasse Kaliske, Brandt und Rieder standen in leisem Geplauder am andern Fenster, vor dem Bett Brandts, der durch eine stoische Art in den Geruch eines Philosophen gekommen war. Die beiden Brüder Schick, Söhne eines Försters, saßen am Tisch einander gegenüber. Der Ältere, gelangweilt und bitter, lag, den Kopf in die linke Hand gelümmelt, halb über den Tisch und schlug, von Zeit zu Zeit einen derben Fluch und eine Verwünschung auf seinen geizigen Vater ausstoßend, mit der Faust auf den Tisch, um dann wieder für lange in dumpfe Verzweiflung zu verfallen. Sein jüngerer Bruder, dem wegen des Stockschnupfens immer der große fette Mund sperrangelweit aufstand, betrachtete ihn mit einer Miene, die halb Kummer, halb Ärger ausdrückte, schweigsam und gründlich. Endlich sagte er einfach und bestimmt: »Du bist ein Esel!« Das Spiel wiederholte sich zwischen beiden jedesmal, wenn die gemeinsame Kasse bis auf den letzten Heller erschöpft war, und jedesmal auch stürzte der Ältere, durch die Beleidigung aufgebracht, ohne Kriegserklärung auf den mit dem Stockschnupfen und wälzte sich mit ihm im stummen, ergrimmten Kampf auf dem Boden umher, bis der Jüngere blaß gewürgt und zerzaust dalag. Der schwermütige Emil nahm dann in der Haltung des Propheten Jesaias den früheren Platz am Tisch ein und verfiel in sein altes Brüten. Der Stockschnupfen-Gustav trödelte mit zuckender Lippe und bösen, weiten Augen seine Kleider zurecht und verließ mit allen Zeichen tiefster Verachtung die Stube. Ehe er die Tür schloß, kehrte er sich noch einmal zurück und rief seinem Bruder als lieblichen Scheidegruß das Wort »Luder« zu. Ohne sich zu erheben, mit einem fürchterlichen Schmetterschlag auf die Tischplatte, jagte ihn der in eilige Flucht. Belustigt hatten wir alle den brüderlichen Zweikampf verfolgt, nun kehrte jeder wieder zu seinem Interesse zurück. Am Bette Brandts floß das Geplauder ein wenig erregter weiter; vom Ofen her, wo Kristen und Mach Schach spielten, ohne es recht zu verstehen, krakelte er wieder fort. Ich hob mein Buch auf das Fensterbrett und suchte die Stelle, wo ich mich unterbrochen hatte. Aber es lag doch nicht mehr der alte Frieden der Langeweile über uns unfreiwillig Gefangenen. Der kleine Raufhandel hatte alle reizbar gestimmt. Am Ofen ertönte bald der schrille Protest Kristens, dem ein Bauer seines Gegners die Königin geraubt hatte, und trotz des demütigen, wortreichen Zuspruches des kleinen Mach erklärte der Geschädigte diese Handlungsweise hartnäckig für eine rohe Gemeinheit, ohne indes etwas anderes, als erneute langatmige Erklärungen zu erzielen. Endlich strich er ärgerlich die Figuren vom Brett und beide setzten sich, wenn auch nicht feindselig, so doch verbittert, an den Tisch. Es war nun ganz still in der Stube. Das Gespräch der drei Großen hatte sich erschöpft, und außer den Regenschnüren, die gegen die Fenster peitschten, rührte sich nichts, was dieses gallige Lasten, dies mißmutige Gespanntsein abgeleitet hätte. Da löste sich Kaliske von der Gruppe am Fenster und begann, immer vor dem Tisch hin und her, einen Spaziergang in der Stube. Es war ein bunter, verwickelter Mensch, mit einem sehnigen, unruhigen Gesicht, das älter aussah als seine siebzehn Jahre. An der rechten Seite seiner großen geknickten Nase saß, gleich einem erbsengroßen, haarigen Käfer, eine Warze, und um die hohe Stirn blühte wie ein goldiger Schein eine Fülle krausen, rotblonden Haares. Nach einigen Pendelgängen begann er in einer selbsterfundenen Sprache einen komischen Monolog, der sich immer mehr entzündete und zuletzt nur eine leidenschaftliche Jagd von Fratzen war. In solchen Augenblicken befand sich Kaliske in einer vierten Dimension, in einer Art Rausch, und keiner von den jüngeren Schülern wagte zu lachen, weil der Redner dann augenblicklich in Wut verfiel und mit Ohrfeigen um sich warf. Mich aber juckte an diesem Tage der Übermut, und ich lachte bei einer seiner irrsinnigen Kapriolen laut heraus. Sogleich sprang er auf mich zu und herrschte mich, die rechte Hand streckend, an: »Larikassimatutu!« Das hieß: Wenn du nicht gleich den Mund hältst, hau' ich dir eine runter! Sein Gesicht war zornrot. Aber ich ließ mich nicht schrecken, schnellte zu meiner ganzen Größe auf, daß ich ihn um Handbreite überragte und erwiderte: »Versuch's nur!« Der Traumzustand wich sofort von ihm, und er wandte sich verblüfft zu Brandt hin, der von seinem Bettrand aus dem Vorgang mit philosophischer Gelassenheit zuschaute. Er war einer der gefürchtetsten Keiler, und um mich Renitenten in die gebührenden Schranken zurückzuweisen, sagte er ruhig: »Mach' dich nicht mausig, sonst kriegst du's mit mir zu tun!« Aber zum Erstaunen aller senkte ich auch jetzt noch nicht die Fahne der Empörung, sondern erwiderte: »Das ist mir egal!« Sogleich erhob er sich mit höhnischem Auflachen, zog Kaliske zurück und fragte wegwerfend, ob ich etwa Lust hätte, mit ihm zu boxen. Dabei bohrte er seine blauen, nichtssagenden Augen in die meinen und schnellte die rechte Faust schlagend in die Luft. Weil mir nichts übrig blieb als schmachvolle Unterwerfung oder rühmlicher Untergang, so wählte ich den Kampf. »Natürlich bis zur Erschlaffung,« sagte er dumpf, »Pardon gebe ich nicht.« »Ganz wie du willst«, antwortete ich. Rieder, ein sanftmütiger Bursche, hatte den Handel bis hierher gehen lassen, nun übernahm er die Vermittlung, um den Streit aus der Welt zu schaffen. Als Stubenältester war er verantwortlich für den Frieden und die Ordnung in unserer Bude. Aber weil Brandt erklärte, mich nur schonen zu wollen, wenn ich mir von Kaliske eine »herunterlatschen« lasse, mußte ich fest bleiben, obwohl Schick, Kristen und Mach in Angst auf mich eindrangen, doch nachzugeben. Die Beschwichtigungsversuche waren also fehlgeschlagen. Rieder ließ sich von allen das Ehrenwort geben, nichts zu verraten, und verriegelte die Tür. Schick, Kristen und Mach rückten entsetzt am Tisch zusammen. Kaliske nahm seine Geige aus dem Kasten, setzte sich auf einen Holzkoffer in der Ecke und fuhr sich nervös mit dem Zeigefinger über die haarige Warze. Brandt ergriff die Zahnbürste und rieb, um sich zu wilder Tapferkeit anzustacheln, seine Zähne mit Kochsalz, daß der ganze Mund blutete. Dann holte er Asche aus dem Ofen, füllte sich damit die Mundhöhle und spülte sie danach mit Wasser aus. Es bot einen barbarischen Anblick, wie er so einen Strahl Schmutz und Blut in den Eimer spie und hatte wohl den Zweck, mich furchtsam zu machen. Kaliske ergriff jetzt seine Geige, neigte das erblaßte Gesicht tief darauf und schloß die Augen. Der Bogen fuhr ein paarmal wie taumelnd durch die Luft, dann spielte er sich sacht auf die Saiten. Ein Geflecht schneidend feiner Singtöne, wie es Mückenschwärme im Sommerlicht uns um den Kopf weben und dadurch das Kochen der stehenden Glut vermehren, zitterte er aus dem Holz heraus und erfüllte damit die Stube. Ich ward von dem summenden Singen wie benebelt, unerträgliches Unbehagen erfüllte mich, und ich hätte mich schreiend auf Brandt stürzen müssen, wenn er nicht schon mit einer Grimasse des Lächelns, die Zähne breit und weiß, auf mich zugetreten wäre. Ich entblößte schnell auch den linken Arm bis hinauf zur Achsel und verschränkte ihn mit dem linken Arm meines Gegners so, daß die Muskeln des Oberarmes sich bequem den Schlägen darboten. Nun ich das warme, zuckende Fleisch Brandts an dem meinen spürte, flog einen Moment ein Rausch durch mein Hirn. Aber ich biß die Zähne zusammen und packte, um mich zu halten, mit finsterem Auge in das Gesicht Brandts, das noch immer automatenhaft lächelte. Plötzlich tauchte ich ganz ins Klare, Kalte. Der kleine Mach lag mit dem Gesicht auf der Tischplatte, Kristen und Schick starrten offenen Mundes auf uns. Auch Kaliske mußte aufgeblickt haben, denn seine Geige stieß einen langen, schrillen Schrei aus und stürzte sich nach einem Stakkatolauf in den Taumel eines rasenden Tanzes. Da gab's kein Halten mehr! Noch ehe Rieder das Zeichen zum Anfang geben konnte, hieb ich meine scharfen Knöchel in die Muskeln meines Gegners und erhielt darauf einen Schlag, der wie ein schwaches Klirren mir den Rücken hinunterlief. Bald waren wir im Takt. Eins, zwei! Eins, zwei! Unsere Arme röteten sich immer tiefer. Die Schläge lagen eine Weile wie weiße Flecken in der Haut. Nun schoß mir von jedem Hieb ein Reißen und Bersten durch die Muskeln. Aber: Eins, zwei! Eins, zwei! Die Geige jauchzte wie toll. Meine Faust war nur noch ein Stein am Arm, der immer größer, schwerer und wuchtiger wurde. Ich hatte jedes Gefühl verloren. Die Schläge Brandts wirkten nur als dumpfe Erschütterungen. Bis auf eine Empfindung, als umspanne ein Griff schmerzend meinen Hinterkopf, war ich ruhig. Aber da erhielt ich einen Hieb zwischen den Oberarmmuskel und den Beuger, wie einen Messerschnitt in den Knochen und warf meinen Fauststein mit Wut auf dieselbe Stelle Brandts. Davon zitterte Blässe über sein Gesicht. Noch einen Schlag! Seine Augäpfel wankten, noch einen! Der Griff umklammerte meinen Hinterkopf schmerzender. Aber: Eins, zwei! Eins – zwei! Ich sah, wie Rieder auf- und abschwankte. Die Nase Brandts wurde lang wie ein Schnabel, als laufe sie aus dem Gesicht. Da riß man uns auseinander. Mach lag mit vergrabenem Gesicht weinend auf dem Tisch. Schick und Kristen standen am Fenster und wagten nicht, sich umzudrehen. Kaliske hielt die Geige immer noch krampfhaft unter das Kinn gestoßen; aber der Arm mit dem Bogen hing schlaff herunter, und die weiten Augen standen wie abwesend im blassen Gesicht. Brandt ging ruhig, als sei nichts geschehen, zu seinem Bett und streifte sich den Hemdärmel herab. Ich goß mir Wasser ins Becken und kühlte meinen Arm, der zu schmerzen anfing. Schon sah er blau aus, und das Blut war aus den geborstenen Gefäßen unter der Haut bis in die Hand gespritzt. Niemand wagte zu sprechen. In der Luft lag der Atem einer denkwürdigen Tat. Rieder bemühte sich um mich, und ich wehrte, nur zum Scheine, diese Ehre ab. Bald aber ward meinem Stolze hart zugesetzt, und weil ich bemerkte, daß auch Brandt großer Erschöpfung nicht mehr recht Herr werden konnte, ließ ich einem ziemlich kläglichen Gefühl immer größeren Spielraum in mir. Aber, den Arm hochgelagert, hielten wir tapfer bis nach dem Abendbrot aus. Wir genossen es mit einer Hand und krochen dann beide ins Bett.

Den ganzen anderen Tag brachte ich unter der Decke zu. Die linke Körperseite war angeschwollen, und der Arm schwarz wie ein Ast der Erle. Unsere Wirtin witterte wohl etwas von einem unbotmäßigen Ereignis; aber sie mußte sich damit beruhigen, daß ich an Magenkrampf und Brandt an Kopfweh leide. Mit heiterer Würde trank ich mehrere Tassen eines abscheulichen Tees, während sich Brandt trotz grämlichen Protestes ein dickes Tuch um den Kopf winden lassen mußte, überhaupt lag er blaß, stumm, zerrieben auf seiner rechten Seite und fuhr fast den ganzen Tag mit dem Zeigefinger um einen Ast im Sitzbrett des Stuhles. Er machte den Eindruck eines Menschen, dem seine Weltanschauung zertrümmert worden ist, eines Philosophen ohne System, eines entthronten Fürsten, und wenn er je seine Augen zu mir erhob, so war es, als spucke er vor mir aus. Kaliske würdigte mich keines Blickes, sondern saß den ganzen Tag an Brandts Bett und goß ein dünnes, unruhiges Gelispel in das bleiche Gesicht des Stoikers. Mich erfüllte ein sicheres Behagen, und ich mußte an mir halten, nicht breit und dröhnend herauszulachen. So verging der Sonntag, Zeit genug, daß die ehrgebundenen Lippen unabsichtlich dies und das von dem denkwürdigen Kampfe verlieren konnten.

Als ich Montags in der Präparandie erschien, wurde ich wie ein Triumphator empfangen, mit Fragen durchlöchert, von allen Fingern betastet, und mein schwarzblauer Arm erregte glückvolles Entsetzen. Die Notabeln der Anstalt erwiesen mir ihre Gunst, und ich sprang aus meiner Schmerzdämmerung in eine blühend überhitzte, phantastisch-heroische, abenteuerliche Welt, in die Welt der deutschen Vorjünglinge. Alles Nützliche heißt ledern, alle Pflicht Sklaverei. Die Rücksichtnahme ist Unmännlichkeit; noch nichts ist entdeckt, noch nichts erfunden, alles muß neu geschaffen werden, von Gott angefangen bis zur Stiefelsohle. Es ist ein Bohren, Fliegen, Überschlagen, Kobolzschießen; alles übertrieben, seltsam, gewalttätig, noch nie dagewesen, und jeder hält den bunten Flicken, den er sich angeheftet, für das Letzte, allein Berechtigte. – Gleich am andern Tage stellte mich auf dem Nachhausewege der Kapitän Gläsner. Er war ein Schüler des Oberkursus, der die Absicht hatte, seinem Vater ein Schnippchen zu schlagen und, anstatt »den Bakel zu retten, über der Midgartschlange mähniges Haupt zu fahren«, das heißt, Seemann zu werden. Er übte sich in der freien Zeit in allen Gewohnheiten der Schiffer, schwamm und tauchte, saß nächtelang am Wasser, um Strandwache zu halten, trieb sich in den Spelunken umher, ging breitbeinig und schwankend wie ein Bär und spuckte fortwährend geräuschvoll aus. Wir alle waren ihm verächtliche Landratten, er trug klotzig und flämisch seinen Kopf über uns erhaben.

»Du gefällst mir, Junge,« sagte er zu mir und griff meine Arm- und Beinmuskeln durch, »und ich will sehen, ob ich dich heuern kann. Komm um zwei in meine Bude, wir wollen auf den grauen Stein gehen.« Zur richtigen Zeit war ich bei ihm. Auf dem Tisch standen eine große Flasche und eine Blechdose, nicht länger als ein Finger. Er steckte beides zu sich und ging mir voraus, mit Kopfnicken mich nach sich winkend. Durch niedrigen Buchenwald stiegen wir den niedrigen Berg aufwärts und machten auf seiner freien, etwas eingesunkenen Kuppe Halt. Hier spie er aus, produzierte einen gräulichen Fluch, setzte die Flasche an und gab sie nach einigen unmenschlichen Zügen schweigend mir. Es war ein Schnaps darin, vor dem ich die Zunge sofort zurückzog, so brannte er. Aber ich schluckte zum Scheine lange und laut. Der Kapitän sagte schmunzelnd, ich sei ein »richtiger Hund«, riß sie mir vom Munde und stellte sie in den Schatten. Dann suchte er aus dem Versteck eine schwere Spitzhaue und begann wütend in das Steingeröll einzuschlagen. Es sollte eine Mole errichtet werden, und als sein Gesicht in Schweiß gebadet war, setzte er sich in den Schatten und trank Schnaps. Ich war die Matrosenkompagnie und mußte nun die angefangene Arbeit vollenden, vielfältig regiert und unterbrochen von groben Lästerungen. Dazwischen malträtierte er fortwährend die Flasche, erhitzte sich, warf die Arme in die Luft, schrie und tobte wie ein Berserker. Endlich erklärte er, ich sei müde und müsse zur Muskelstärkung einen Priem nehmen. Das verhindere außerdem Skorbut und Seekrankheit. Er kam mit dem geöffneten Blechdöschen auf mich zu, in dem die schwarzen, speckigen Raupen lagen. Weil ich zögerte, schob er lachend ein solch abscheuliches Ding neben die Zähne. Aber mir graute dennoch. Deswegen stieß er mich »jämmerlichen Gossenfahrer« zur Seite und begann an meiner Stelle weiter an der Mole zu schuften. Die Steine flogen nur so, rechts und links ergossen sich braune Strähnen aus seinem Munde. Plötzlich wurde er papierweiß im Gesicht, auf seiner Stirn standen dicke Schweißperlen, die Haue zitterte in seinen Händen. Eine Weile sah er noch mit großen, stieren Augen umher, spie den Priem aus und murmelte dann, er müsse in seine »Koje« gehen. Torkelnd verschwand er im Gebüsch, die Äste krachten, und nicht lange, so hörte ich, wie bei meinem Kapitän die Seekrankheit ausbrach. Ich wartete noch ein wenig, und als er zu schnarchen anfing, lief ich nach Hause. Er nahm mich nicht wieder mit auf die Mole, ließ aber in seinem Seemannsdienst nicht nach und erlebte das Glück, daß seine Nase immer röter wurde.

Danach trat ich in den Geheimbund »Die Brüder des ewigen Waldes« ein. Wir waren nichts als die Fortsetzung eines früheren Ordens, von dem unter den Schülern nur noch halbverlorene, geheimnisvolle Sagen gingen. Unter entsprechenden Zeremonien erfolgte meine Aufnahme. Eines Tages führte mich ein blasser Junge mit tiefliegenden, großen Augen auf wirren Steigen weit in den Wald hinein und verschwand dann plötzlich von meiner Seite mit der Warnung, mich nicht von der Stelle zu rühren, wenn mir mein Leben lieb sei. Ich kauerte mich geduldig nieder. Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein. Nichts als das Sieden der Nadeln war über mir, und dann und wann fiel ein Fladen Sonnenlicht durch die Wipfel wie ein goldenes Eichhörnchen und lief über das Moos. Auf einmal schoß fern ein hoher Singruf durch das Dämmern des Waldes, da und dort antwortete es, rundumher. Und kam immer näher. »Amozim!« rief es von allen Seiten. Es war, als schieße man mit dem Wort auf mich. Plötzlich, als blase jemand ein Licht aus, erlosch das Getöse, und ich hörte nichts als das Knacken dürrer Zweige unter eilenden Füßen. Im nächsten Augenblick stand eine Schar Knaben im Kranz um mich, und ich hörte nur ihren keuchenden Atem. Sie hatten alle ihr Gesicht mit Ruß schwarz gefärbt, wie Bergleute, die von der Schicht kommen. Ihre Augen rollten, und die roten Lippen sahen aus wie die Lefzen von Raubtieren. Jeder trug ein Stearinlicht in der Hand, stoßbereit gefaßt, als sei es ein Dolch. Ich erhob mich. Da ließen alle wieder den Ruf los, den ich eben gehört hatte: »Amozim!« Ihre Stimmen waren jetzt gewaltsam gedämpft. Denn es sollte klingen wie das Zusammenschlagen von Schilden. Dann ordneten sie sich zu Paaren. Mit einem sanften Griff dirigierte mich ein ewiger Bruder, der durch ein weißes Kreuz an der Stirn als Haupt des Bundes kenntlich gemacht war, an die Spitze des Zuges, und schweigend setzten wir uns in Bewegung. Ohne Weg, quer durch den Hochwald, über eine Schlucht ging es dem geheimnisvollen Ziele zu. Nachdem wir uns durch die peitschenden Äste einer Schonung gewunden hatten, standen wir endlich vor dem Klubgebäude. Es war eine aus Stangen, Steinen und Moos errichtete Hütte, die mit einem Ofenrohr eine dünne Peitschenschnur von Rauch in die Luft blies; drinnen war sie so niedrig, daß die Größeren fast an die Decke stießen. Ein kleines Reisigfeuer brannte auf niedrigem Steinherd. Um den gruppierten sich die Brüder, schoben mich in die Mitte und entzündeten an dem Feuer ihre Lichter. Die Tür war zugeschlossen worden, und da kein Fenster vorhanden war, standen wir bald in dicker, qualmender Nacht. Es war eine Szene aus der Unterwelt, und ich muß sagen, daß mein Herz mit furchtvollen Schlägen darüber quittierte. »Amozim!« murmelten alle wieder. Auf diesen Ruf trat das Oberhaupt an mich heran und entfaltete ein altes, schwarzes Buch. Rechts und links, wie bei einem Pontifikalamt, stellten sich Kerzenträger auf. Nun begann der Häuptling die Beschwörungsformel abzulesen: »Ich, der redende Brunnen, Herr und Meister der Brüder des ewigen Waldes, beschwöre dich, rufe und befehle dir, durch die Macht des Fleisch gewordenen Wortes, durch die Macht des ewigen Vaters, wie auch durch die Kraft dieser Worte: Messias, Satan, Emanuel, Sabaoth, Adonai, Athanatos, Tetragrammatron, Elohim, Heloi, El, Sadai, Jehovah, Jesus, Alpha und Omega, daß du mir gehorsam und beantwortest alle an dich gerichteten Fragen und Befehle.«

Dann legte er mir allerhand seltsame Fragen vor, und jedesmal mußte ich antworten: »Ich will und schwöre!« Die Befehle lauteten furchtbar, mir wurde fast übel davon. Darauf erhielt ich den Namen »der reißende Bär«. Am Ende drohte mir »der redende Brunnen« mit dem schrecklichen Bannfluch des heiligen Adalbert, wenn ich Verrat an der Brüderschaft üben sollte. Er verfluchte mein Bett, mein Weib, meine Kinder, Felder, Scheunen, Haus, Vieh und alles, was an mir lebte. Ich geriet in einen Taumel und trieb wie in einer schwatzenden Turbine rundum. Nachdem ich von »wilden« Tieren zerrissen, verbrannt, gehenkt und erwürgt worden war, gehörte ich der Brüderschaft an. Jeder berührte mit dem Zeigefinger seine Lippen und legte mir ihn auf den Mund. Danach stießen alle ihr Licht in der Herdasche aus, wobei sie abermals »Amozim« murmelten, setzten sich nieder und aßen die mitgebrachten Butterschnitten. Gespräche, als wohnten wir im Mittelpunkt der Erde, als trüge uns der Wind, als wären wir jeder ein Asmodis, würzten das Mahl. Bald redete »der Totenvogel«, bald »das Einhorn«. Aber es kam dabei doch gar nichts Reales heraus. Wir liefen eigentlich nur alle vierzehn Tage ein paar Stunden mit geschwärzten Gesichtern im Walde herum und aßen unser Butterbrot, sammelten Reisig, riefen fleißig »Amozim« und hatten eigentlich alle eine Heidenangst vor dem »grünen Teufel«, dem Förster. So ging das einige Monate hin, und es gewährte mir eine ungemeine Lust, von Zeit zu Zeit aus meinem Leben austreten zu dürfen, alles hinter mir lassend, in einer anderen Welt, als fremdes Wesen, zugleich groß und verborgen vor mir, am Anfange der Dinge zu stehen. Oft, wenn ich mit weißgewaschenem Gesicht dem Walde enteilte und wieder durch die Straßen ging, empfand ich das Leben der Leute und auch mein eigenes Dasein als eine Vermummung, einen Spuk. Das Reden und Sichgebaren der Menschen kam mir ungemein zwecklos vor. Ganz genau erinnere ich mich eines Gedankens, der mich wie eine Erleuchtung überfiel, als ich einst sah, wie ein Mann seine eingespannten Ochsen durch die Straßen führte. Ich erkannte, wie der Mensch dem Tier ebenso dient, wie dieses ihm und ebenso von ihm gefesselt und unterjocht wird, wie er es gängelt und seiner Freiheit beraubt. Nur wußte ich aus dieser Erkenntnis noch nichts zu machen, sondern empfand bloß eine große, glückvolle Unruhe bei diesem Fremd- und Neuwerden in der Welt.

Erst die Folgen des Zusammenbruchs der Brüderschaft fügten die Erlebnisse in den Fortgang meiner Entwicklung. Eines Tages gelangte die Nachricht in die Stadt, das Beinhaus neben der Kapelle auf dem Stachelberge sei von einem Frevler geschändet worden. Der Mensch hatte in der Nacht die Tür erbrochen und einen der dort aufgestapelten Totenschädel gestohlen. Der Klausner war von dem Gepolter erwacht. Als er auf den kleinen Platz vor die Wallfahrtskapelle trat, sah er aus dem Beinhaus einen Schatten huschen und mit wieselartiger Schnelle den Berg hinunterhasten. Der Gottesstreiter stürzte sich ins Kirchlein und wimmerte mit der winzigen Glocke seine Angst ins Tal. Die Stadt geriet in die größte Aufregung. Wir Schüler redeten von nichts als von dem geheimnisvollen Diebstahl auf dem Stachelberge und strömten in dicken Scharen an den Ort des Unheils, um mit angenehmem Gruseln uns alles genau anzusehen und für den Verwegenen grenzenlose Bewunderung zu fassen.

Nur einer von allen blieb still, bleich und gleichgültig. Es war Hirzel, »der redende Brunnen«, das Haupt der »ewigen Brüder«. Er hatte vor Wochen seine Mutter, die er abgöttisch liebte, durch den Tod verloren. Seitdem war der sanfte Junge mit den tiefliegenden Augen schwermütiger und einsilbiger als sonst. Für alles hatte er nur ein bitter-schmerzliches Lächeln. Dieses Hinschmelzen wich nach und nach scheuem Brüten. Es kam vor, daß er, der sich immer einsam hielt, mitten im Gange stockte, in einen Winkel oder hinter eine Tür trat und mit den Augen irgend etwas aus dem Boden bohrte. Bei der letzten Neuaufnahme in unserem Geheimbund war er geradezu furchterregend gewesen. In Inbrunst und Qual hatte er den Strom verwilderter Worte wie aus kochendem Eingeweide hervorgestoßen, daß sein Atem wie rot und knisternd zwischen den Lichtern über das alte Hexenbuch hinfuhr. Dann sank er erschöpft auf die Grasbank und hielt lange den schwarzen Band mit so verzweifeltem Griff auf den Knien fest, als sei er ein Verspielter und dies seine letzte Rettung. Das grüne Waldlicht zitterte durch die Türspalte über sein blasses Gesicht. Aber er erhob sich nicht und ließ das Buch nicht los. Ich schlich mich als letzter davon und wagte nicht, ihn aus der finsteren Verzückung zu reißen.

In der zweiten Nacht nach dem Diebstahl verschwand er. Als er am anderen Tage noch nicht wiederkam, mußte es dem Dirigenten der Anstalt gemeldet werden, der sofort eine peinliche Umfrage unter uns Schülern anstellte, aber nichts erfuhr, als daß Hirzel das letzte Mal auf dem Heimwege aus den Abendstudien gesehen worden war, die gemeinsam in den Klassen abgehalten wurden. Der Dirigent schrieb an Hirzels Vater, einen armen Weber tief im Gebirge. Ehe aber Antwort kam, drei Tage nach seinem Verschwinden, stolperte Hirzel in der tiefen Dämmerung über die Schwelle seiner Wirtsleute und brach dort zusammen. Man trug ihn aufs Bett, wo er kalkweiß ohne Lebenszeichen liegen blieb. Ein Böttcher desselben Hauses flößte ihm einige Löffel Kornbranntwein ein. Nach einigen Augenblicken hob er tastend den Arm und hauchte Worte. »Um Jesu willen, einen Bissen Brot«, flüsterte er kaum hörbar, sog eine Tasse Milch aus und verschlang die Butterschnitte. Unter Lachen und Weinen kaute er hastig und gierig wie ein halbverhungertes Tier, daß die Frauen, die ihn umstanden, sich vor Erbarmen wegwenden muhten. Dann streckte er sich im Bett, atmete einigemal vor Erschöpfung laut auf und schlief ein, indem er fortwährend lautlos die Lippen bewegte, wie es Menschen vor übergroßer Schwache tun. So schlief er Tag und Nacht und Macht und Tag. Die Mahlzeiten nahm er niedergeschlagenen Auges ein und antwortete auf keine Frage, die an ihn gerichtet wurde. Seine Kleider waren feucht, über und über mit Schmutz bedeckt und rochen dumpfsäuerlich, wie die Kluft von Waldarbeitern.

Am vierten Tage erschien der Leiter der Anstalt wieder, um sich nach Hirzels Ergehen zu erkundigen und den Versuch zu machen, den Gründen seines geheimnisvollen Verschwindens nachzuforschen. Er hieß Malchow und war ein ängstlich-liebevoller Wann. Nun war er doppelt von Kummer beschwert, denn nicht nur, daß sein gütiges Herz unter dem Leiden Hirzels litt, es wurde noch von dem zweiten Lehrer bedrängt, der als Ordnungsathlet unter allen Umständen auf einer drakonischen Strafe bestand. Herr Malchow traf den Ausreißer schon außerhalb des Bettes, wie er am Fenster saß und mit stumpfem Auge hinaus-, aber auf nichts sah. Die Mitschüler mußten die Stube verlassen und hörten dann Malchows Stimme unausgesetzt und lange ohne Erfolg den Armen bedrängen. Endlich antwortete Hirzel, erst stockend und karg, dann fließend aber leise und vielfältig von Schluchzen unterbrochen. Er hatte den Totenkopf aus dem Stachelberger Beinhaus entwendet, war damit auf Umwegen, immer durch Wälder, auf den Kirchhof gewandert, wo seine Mutter begraben lag. Sie war gestorben, ehe er sie noch einmal lebend sehen konnte. Nun hatte er in der Nacht unter Anwendung von geweihter Kreide, geschwärzten Lichtern und mit Hilfe des Totenkopfes durch Anrufung und Beschwörung unterirdischer Geister die Abgeschiedene zitieren wollen, um noch einmal mit der über alles Geliebten zu sprechen. Aber der Geist der Verklärten war ausgeblieben. Da hatte Hirzel Totenkopf und Hexenbuch irgendwo im Walde verscharrt und war schmerzerfüllt, im Taumel des Hungers, weitergeirrt, nur von dem Drange beseelt, hinzusinken und zu sterben. Aber der Flor des Todes, der sich immer mehr vor seinen Augen verdichtete, führte ihn wieder an den Ort zurück, von dem er ausgegangen war, und als er die Glocken der Stadt in der Tiefe unter sich vernommen hatte, war die Sucht zu leben wieder in ihm erwacht.

Tiefgebeugt und Tränen in den Äugen schlich Malchow davon. Hirzel aber lag auf seinem Bett, das Gesicht in die Kissen vergraben und hob den Kopf nicht, den ganzen Abend und die ganze Nacht nicht.

Schon am anderen Morgen war die ganze Stadt voll von der seltsamen Begebenheit, und der Stadtpfarrer machte sich auf die Beine, um im Interesse des Ansehens der Kirche und ihrer Heiligtümer die Relegation Hirzels von der Anstalt zu verlangen. Vergebens wandte Herr Malchow alles an, um den wohlgenährten, strengen Herrn dieser Verirrung kindlicher Liebe gegenüber freundlicher zu stimmen. Er erreichte nichts, als daß der Pfarrer Nitsche erklärte, die Angelegenheit mit seinen Confratres noch einmal zu besprechen und ihm innerhalb achtundvierzig Stunden Mitteilung von dem Ausfall der Konferenz zu machen. Kaum hatte Hirzel von diesem Stande der Dinge gehört, da setzte er sich im Bett auf. In seinem Gesicht lag Todesschrecken. Am Ende kam eine schmerzvolle Freude in seine Züge. Er zog sich an, sagte allen Adieu und erklärte, zum Anstaltsleiter zu gehen und alles aus der Welt zu schaffen. Nachmittags fand man ihn erschossen im Walde.

– – – – – – –

Wir litten alle unter schwerem Druck und undurchdringlichen Heimsuchungen, da der sanfte, liebe Hirze! plötzlich neben unseren Füßen in den Abgrund, in die Nacht versunken war, die alles umgibt. Unser aller Leben war durch seinen Tod unsicher und gefahrvoll geworden. Am unheilvollsten wirkte sein Sterben auf uns »ewige Brüder«. Wir getrauten uns nicht, einander mit dem geheimen Handdruck zu begrüßen, gingen uns aus dem Wege und litten doch gleicherweise unter der Furcht, es könne eines Tags wieder das Lichtstümpfchen auf dem Flurfenster der Anstalt stehen, durch das Hirzel die Versammlung im Walde anzeigte. Mit scheuem Blick streiften wir jeden Morgen die gefahrvolle Stelle und atmeten erleichtert auf, wenn sie leer war. Die Hand des Toten blieb in seinem Grabe, und so verliefen sich die Aufregungen unserer Seele gemach, und das Wässerlein unserer Tage schlüpfte wieder wie immer über die gewohnten kleinen Sorgensteine hin. Ja, wir wurden emsiger als vorher in der Erfüllung unserer Pflichten, einesteils, um dadurch die Entdeckung des Geheimbundes zu verhüten, andernteils, um wieder sicher zu werden in unserm Leben.

Allein, es war seltsam, wenigstens erging es mir so; je höher die Mauer wuchs, mit der ich mich von jenen abenteuerlichen Abschweifungen trennte, um so unbehaglicher und leerer wurde es um mich und in mir. Wie schutz- und hilflos stand ich in meinem Leben, als ich nicht mehr von Zeit zu Zeit in der Grenzenlosigkeit mich verlieren, in der Buntheit mich vertauschen und in dem gruseligen Schatten rätselvoller Kräfte untertauchen konnte. Immer mißmutiger griff ich mich an dem engen Gestänge der Alltäglichkeit hin, mit einer noch nicht gerichteten Vergälltheit, von blinder Auflehnungssucht erfüllt. Wäre ich mir dazumal so rücksichtslos zu Leibe gegangen, wie ich es später oft fertigbrachte, so wäre es mir klar geworden, daß das Führen in mir zu einem energischen Schritt ausholte. Aber ich verstand mich nicht und ließ es immer bedrohlicher anwachsen. Eines Nachmittags sprang es mir fix und fertig ins Gesicht. Ich ging in einem Schwarme von Mitschülern die Schönauer Allee entlang, und wir käscherten zum Vergnügen in unserem Wissen umher, jonglierten mit Spitzfindigkeiten, stellten durch vieldeutige Fragen einander Fallgruben und belachten die Genasführten unbändig laut. An einer schroffen Kurve stand der Stadtpfarrer Nitsche, wie aus dem Boden gewachsen, vor uns. Mochte er nun glauben, unser lautes Gelächter habe ihm gegolten, oder war ihm alle Fröhlichkeit als sündige Ausgelassenheit unangenehm, kurz, er stutzte vor unserer langen Reihe, die über die ganze Straße reichte und ließ mit einem indignierten Lächeln sein Auge das bunte Glied hinuntergleiten. Dann setzte er, das Gesicht streng und heilig, den Stock weiter. Vor mir aber stand blitzartig scharf das Bild des Pfarrers Zimbal, da er uns Entlassenen im Flur des Pfarrhauses gegenübertrat und mich nachher schändete, und heißer Zorn warf mir das Blut in den Kopf. Unsere Reihe zerriß, alle zogen tief die Mütze und verneigten sich; ich allein ging aufgereckt und das Gesicht angewandt vorüber. Kaum waren wir außer Hörweite, so fielen alle mit Fragen über mich her, warum ich dem Geistlichen den Gruß verweigert habe. »Weil er den Hirzel in den Tod getrieben hat«, antwortete ich und war plötzlich, durch das Bild verlockt, in einem Gedankengefüge, in einer Kette von Notwendigkeiten, die sich unter meinem Bewußtsein zusammengeschoben und mit dem Erschrecken, dem Grimm und Schmerz beladen hatte, mit allem Demütigenden und Bösen, das ich seit je von dem Geweihten meiner Heimatsstadt erfahren mußte. In heißer Leidenschaft redete ich ein Langes und Breites davon, daß die Lieblosigkeit Nitsches allein Schuld sei an dem grausen Ende Hirzels. Die meisten saßen – wir hatten uns an einen Hang hingelagert – betroffen da. Dann brach der Lärm los, fast jeder wollte das Gleiche wie ich gedacht haben, stimmte mir bei und vervollständigte durch Erzählungen das Charakterbild des Pfarrers Nitsche zum Ausdruck niedrigster Bosheit, Infamie und Hinterlist. Man erging sich in Verwünschungen und Drohungen. Am schlimmsten von allen trieb es einer, mit Namen Rotter, ein plumper Gesell, voll roher Bauernspäße, mit einem stoßenden Gange und großen Nasenlöchern, die von Knorpeln halb geschlossen waren. Er hatte sich eine Gerte von einem Strauch geschnitten, hoppste toll umher, hieb wütend durch die Luft und floß von Schimpfwörtern über, die um so unflätiger klangen, weil er im Dialekt sprach. Fortwährend schwor er, den Pfaffen, wo es immer sei, »mitten in die Larve« zu schlagen. Nur ein blonder, zaghafter Knabe warnte und bat uns, sich nicht an Gott zu versündigen, der doch alles sehe und höre. Niemand achtete auf ihn, und in größter Aufregung gingen wir auseinander.

Schon in den Abendstudien explodierte die ganze Anstalt wie ein Pulverfaß; in allen dunklen Ecken ballten sich Rotten von Verschwörern zusammen. In der zweiten Nacht wurden dem Pfarrer die Fenster eingeworfen. Dann duckte sich die allgemeine Rachsucht so unvermittelt und kläglich, wie blind und bramarbasierend sie aufgejächt war, und hatte mich der gespreizte Lärm der Revolte unangenehm berührt, so schämte ich mich nun für all die Feigen, die beim Heraufziehen der Vergeltung sich so klein und schleimfromm wie nur irgend möglich machten. Niemand wollte die Steine geworfen haben, und ich ärgerte mich fast, nicht an dem Glase des Pfarrhauses gesündigt zu haben, denn dann hätte ich ihnen doch zeigen können, wie ein Mann handeln muß. Aber schon bald bot sich mir Gelegenheit, meine Festigkeit auf die Probe zu stellen. Auf irgendeine Weise fraß sich der Verdacht bis zu den Ohren unseres guten Herrn Malchow, der nächtliche Kanonier der Pfarrwohnung stecke unter seinen Schülern, und war der sanfte Mann seit Hirzels Tode mit umwölkter Stirn umhergegangen, so verlor er bei dieser Nachricht etwas die Haltung eines liebreichen Menschen und leitete, von dem Ordnungsathleten Bleyer, dem zweiten Lehrer, angestachelt, eine gewaltsame Inquisition ein.

Eine bleiche Furcht kroch durch alle Bankreihen, als eines Vormittags plötzlich das Schnurren des unterrichtlichen Kreisels abbrach und einer um den anderen zu scharfem Verhör in das Konferenzzimmer geschmettert wurde. Freilich beschränkte sich die Untersuchung nur auf Räudel, ganz Fromme und solche, die sich markant von der Masse abhoben. Doch schon, nachdem die ersten drei, unter ihnen Kapitän Gläsner, aus dem Feuer zurückgekehrt waren, erkannte man, daß die »Schuster« auch Witterung von der ewigen Brüderschaft bekommen hatten, und der geheimnisvolle Handdruck wanderte als Versprechen unzerbrechlichen Schweigens unter den Bänken durch die Klasse. Da schnarrte Bleyer auch mich vor den grünen Tisch. Herr Malchow saß vor einem großen Bogen Papiers und sah mit kummervoller Liebe auf mich. Bleyer trat eine Wanderung durch die Stube an und schlug mit den Hacken vor Zorn laut auf, weil seinem Chef schon so bald der scharfe Schneid abhanden gekommen war.

»Du hast einen Haß auf den Hochwürdigen Herrn Pfarrer?« fragte Malchow.

»Nein«, antwortete ich.

»Was, du unterstehst dich, zu lügen?« fuhr mich Bleyer an.

»Ich sage die Wahrheit«, antwortete ich ruhig. Herr Malchow nickte mir zu und fuhr weiter fort: »Aber, du hast ihm doch vor drei Tagen den Gruß verweigert.«

»Ja, das habe ich getan«, bekannte ich. »Aber ...« Kaum hatte ich »aber« gesagt, so sauste Bleyer wie ein Geschoß auf mich ein. »So? Aber! Allerliebst! Du willst noch ›aber‹ sagen, Bürschchen? Herr Dirigent, er hat sich einer Lüge schuldig gemacht. Denn aus Liebe und Hochachtung unterläßt niemand den Gruß. Eine riesige Rüdigkeit! Eine riesige Rüpelhaftigkeit!« Er gurrte das häufige »r« aus dem Bauche, der Gegend des untersten Westenknopfes und schnappte kriegerisch mit dem Finger.

Malchow sah unter den Tisch. Als der Wütende fertig war, hob er seine Augen und sagte: »Nun, was wolltest du sagen, Faber?«

Der Scharfmacher stand einen Augenblick sprachlos da. Dann verließ er mit langen Schritten das Zimmer.

Als Malchow sich allein sah, ward ihm wohler. Er stand auf und fuhr sich übers Gesicht. Darauf trat er liebreich zu mir, und ich bekannte, daß ich beim Auftauchen des Pfarrers an eine Demütigung erinnert worden sei, die mir einst Herr Zimbal angetan habe. Aus einem Zorn, der mich überrumpelt, habe ich dem Herrn den Gruß nicht geboten. Im übrigen gestand ich, der Meinung zu sein, Pfarrer Nitsche habe Hirzel in den Tod getrieben.

Herr Malchow verharrte schwermütig und wortlos eine Weile am Tisch, dann verwies er mir den freventlichen Argwohn, fragte mich, ob mir etwas von einem Geheimbund bekannt sei, und weil ich dazu die größten, erstauntesten Augen der Welt machte, wurde er sehr vergnügt. – Daß ich an der Fensterwerferei nicht beteiligt sei, stehe für ihn ohne weiteres fest.

»Nja, du liebe Jugend,« sagte er dann mit gütigem Verweisen, »husch, husch! Nja! Siehst du, ein Mann, du willst doch ein Mann werden, der muß sehen, sinnen und dann erst sagen. Und will das Pferdl wieder mal mit dir durchgehen, denk' an die drei ›S‹ und an deinen Dirigenten, der dich eigentlich entgegen höherer Weisung aufgenommen hat.«

Das verletzte meinen Stolz. »Habe ich die Prüfung nicht bestanden, Herr Dirigent?« fragte ich erregt.

»Nja, alles,« antwortete er, »sehr gut sogar! Auch jetzt bin ich mit dir zufrieden, wenn auch manchmal zu viel hartes Holz an dir ist. Allein ich weiß, du wirst mal ein tüchtiger Lehrer werden, und damit du siehst, wie gut ich es mit dir meine, sollst du wissen, daß der hochwürdige Herr Pfarrer Zimbal mich gewarnt hat, dich aufzunehmen, denn deine Führung hat wohl früher viel zu wünschen übrig gelassen.«

In seiner Freude, mich nicht strafen zu müssen, schwatzte er heraus, was er gewiß nie sagen wollte und sah nicht, welchen Eindruck es auf mich machte. Die tiefgeheimen Wunden rissen in mir auf, eisiger Schmerz, ein Lächeln qualvoller Genugtuung erfüllte mich. Wie betäubt schlich ich davon.

Draußen umringten mich die Mitschüler mit besorgten Mienen. Nur der blonde, fromme Denunziant kauerte blaß auf seinem Platz. Sie hatten den wilden Bleyer herauskommen sehen und glaubten, ich sei entlassen.

Als ich in derselben Nacht lag und über mich in das Finstere sah, während die anderen schliefen, fiel mir der Gedanke ein, der mir beim Anblick des Ochsengefährtes gekommen war, und ohne Skrupel setzte ich daran, daß es mit den Geistlichen wohl ähnlich sein müßte. Sie dienen der Kirche – ich verstand damals darunter das einsame Gottesgebäude und den stets verschlossenen Pfarrhof – so kommt's eben, daß sie anders werden wie die übrigen. Aber was mir der Pfarrer Zimbal angetan hatte, war doch Sünde! Nun, dann sündigen sie eben. Da lebte ja vor Jahren in meiner Vaterstadt ein Kaplan, der mit der Tochter aus dem »Gasthaus zu den elftausend Jungfrauen« eine Liebschaft und dann ein Kind hatte. Als alles herauskam, floh er, ging aber mit dem Schiff, auf dem er nach Amerika fahren wollte, unter. Nun mußte er alle Nacht als Maus über die Saiten des alten Klaviers laufen, das man in eine gemiedene Stube getragen hatte. Außerdem schlief doch der Pfarrer Mücke aus Siebeneiche oft mitten während des Meßopfers ein, und stieß der Meßner ihn an, sagte er: »Ich paß!«, denn er träumte dann vom Mauscheln, dem er bei tapferem Kannenschwung bis hart an das Geisterstündlein zu huldigen pflegte.

Also, basta, sann ich, die Pfarrer sündigen eben. Damit drehte ich mich gegen die Wand, um einzuschlafen. Aber dem Blick des Auges, der auch hinter dem geschlossenen Lide sich nicht beruhigen konnte, schien die Mauer erst leicht schwefelgelb, dann leuchtend orange zu glühen. Aus dem tief goldigen Licht wurde ein durchsonntes Kirchenschiff. Der Pfarrer Zimbal stand auf der Kanzel und schrie: »Tut euch auf, ihr Pforten des ewigen Heils!«, und mein Vater und ich schlichen beschimpft davon.

Das regte mich so auf, daß ich bald wieder auf dem Rücken lag und weiter bohrte: Im Katechismus steht doch, der heilige Geist sucht sich die Priester aus, und sie wohnen gleichsam in dem Alkoven, neben des Herrgotts guter Stube und verwalten seinen Gnadenschatz. Wie ist's da möglich, daß sie sündigen? Entweder ist Gott nicht klug genug, ihre Arglist schon im voraus zu erkennen, oder es fehlt ihm die Gewalt, die Unwürdigen aus den Kirchen zu schmeißen. Denn auch die bösen Pfarrer hören Beichte, kommunizieren, segnen Ehen ein und taufen, bleiben also immer noch das Rohr, durch das uns Gottes Gnadenschätze zuströmen. Ist da Gottes Gnade noch dieselbe, wenn sie durch solche Seelen gegangen ist? Schadet das Wasser meiner Gesundheit nicht, und wird es nicht ekelhaft verderbt, wenn es durch ein Jauchenrohr mir zufließt? Kommen da nicht Unheiligkeiten auch unter die Lehre und das Gesetz? Am Ende ist alles anders, als es im Katechismus steht, und Luther, Calwin, Zwingli und unser heimischer Schwenkfeld, die gegen arge Mißbräuche zu Felde zogen, behaupteten ein gutes Recht.

Ich lag in einem seelischen Wundfieber. Eine Hitze, die mir ins Gesicht schlug, sog mich in immer tiefere Zweifel hinein. Es waren Stunden wollüstiger Angst, wie zuletzt alles, losgenietet und abgebrochen, in buntem Wirbel um mich flog. Gegen das Ende, als sich meine Phantasie müde getobt hatte, fielen eine solche Öde und das Gefühl einer solch völligen Ratlosigkeit über mich her, daß ich zu beten versuchte, um mich aus der Not zu retten. Ich hauchte wohl lange, heiße Worte in meine Kissen hinein, aber sie hatten keine Kraft, sondern vermehrten nur die Betäubung, in die, bis zur schmerzvollen Pein, immer wieder Rinkes Stimme freche und gemeine Witzeleien krähte. Wie ein Trunkener, verwüstet und dumpf, kroch ich in den Schlaf, der mich mit verwildertem Träumen durch die ganze Nacht hetzte und am Morgen in den Tag, wie in ekelhaftes, gemeines Beginnen entließ.

Darum entschloß ich mich, der Anstalt und somit dem Lehramte den Rücken zu kehren und fühlte mich erlöst und geborgen, als mein Brief in der Wäschekiste unterwegs war. Ich zog es vor, das Schreiben mit dem Fuhrmann Feige nach Hause gelangen zu lassen, weil es nur so sicher in die Hände meiner Mutter kam, der ich, ohne Angabe von Gründen, meine Absicht als Wunsch kundgab und sie bat, den Vater unauffällig über seine Meinung auszukundschaften. Der Jugend bedeutet jeder feste Entschluß schon seine Erfüllung, und während die Antwort noch ausstand, verfügte ich über mein Leben, als sei es schon nicht mehr gebunden. Das Erlebnis mit dem Kapitän Gläsner hatte meine kindliche Begeisterung für den Schiffsdienst abgekühlt, und so fand ich, im Bestreben, mich dem Einfluß der Kirche möglichst zu entziehen, die Laufbahn eines Försters als schön und erstrebenswert. Ich sah mich schon, die Flinte auf dem Rücken, den Hund an der Seite, durch den hohen Wald gehen, und ob ich auch keinem Menschen etwas von dem Plane verriet, es ruckte mir doch den Kopf höher und ließ mich zu einer Art überheblicher Gleichgültigkeit kommen.

Dieser Episode der inneren Befreitheit bereitete der Brief meiner Mutter ein jähes Ende. Mit ihrer schweren Arbeitshand hatte sie in großen, hilflosen Buchstaben die letzten Vorgänge in unserem Hause und an meinem Vater niedergeschrieben. Wie ein freudiger Schreck durchfuhr es mich, als ich unter der Wäsche den großen Bogen hervorzog, der kraus mit den lieben Schriftzügen bedeckt war. Stube und Garten wurden mir zu eng. Auf einer Anhöhe, unweit der Stadt, las ich die Worte meiner Mutter immer und immer wieder, und was mir von dem bunten Rauch der Abenteuerlust in den Ferien fast verdeckt worden war, das trübe Schicksal, das sich immer fester in den Wänden unseres Hauses einnistete, stand Plötzlich scharf und drohend vor mir: Mein Vater litt zwar nicht mehr unter den Anfeindungen und Verunglimpfungen seiner Mitbürger, aber alles mied ihn wie einen Verfemten und sein Geschäft wie eine Spelunke. Das Hufeisen auf der Ladentürschwelle rostete, weil die Füße der Kunden seine beuligen Nägel nicht mehr blank kratzten. Die Werktafeln donnerten nicht mehr unter Hammerschlägen. Vor Wochen war der letzte Gesell davongegangen, denn er hatte es nicht ausgehalten, den ganzen Tag auf dem Rössel zu sitzen und die Daumen umeinanderzudrehen. Die Freude an meinen Fortschritten hielt meinen Vater allein noch aufrecht und brachte von Zeit zu Zeit den alten Mut in seine Augen.

Die Hoffnung, die er auf das Gelingen meines Lebens setzte, hatten ihn auch das Geschick leichter überwinden lassen, das über den Dorn-Schuster hereingebrochen war. »Schon lange«, so etwa schrieb meine Mutter, »lag ein schwerer Kummer wie ein grauer Schimmel über sein Gesicht. Er saß öfter als sonst an unserm Tisch; aber kaum, daß er sich niedergelassen hatte, regierte eine Unruhe in ihm, die ihn die Füße aneinanderstoßen, die Hände durchwinden ließ, in der Stube umhertrieb und unversehens zur Tür hinausjagte. Vor drei Wochen nun, in den Abendstunden, schlüpfte er ängstlich in unser Zimmer und schloß schon die Tür hinter sich, bevor er kaum die Füße umgestellt hatte, ganz wie einer, dem die Häscher auf den Fersen sind. Dann saß er eine Weile stumm auf der Fensterbank und starrte mit verzweifelter Aufmerksamkeit auf seine Hände. Ein Geräusch im Flur trieb ihn in die Höhe. Er steckte dem Vater schnell einen Beutel voll harten Geldes zu und zwängte sich dann in den engen Spalt zwischen Glasschrank und Wand. Anfangs verhielt er sich ruhig in seinem Versteck. Bald aber redete er wirr und halblaut von allem, was ihn getroffen hatte. Sein Sohn, der Robert, hatte seine Stelle in Wien verlassen und sich der Vagabondage ergeben. Vom Diebstahl war er zum Raub übergegangen und sah nun in einem Tiroler Kerker seiner Bestrafung entgegen. Dorns Frau hatte der Gram auf den Dachboden gelockt und sie dort mit der Wäscheleine erwürgt. Er müsse, so stotterte Dorn fortwährend in großer Angst, jetzt auf der Hut sein, daß man ihn nicht auch einsperre, weil er der Vater eines Räubers sei und seine Frau getötet habe. Leider erwiesen sich die Worte des Irren als Wahrheit. Der Vater beruhigte den Armen durch gütigen Zuspruch, zog ihn hinter dem Schrank hervor, führte ihn durch die Stadt, und als sie vor dem Krankenhause standen, redete er ihm vor, sie seien jetzt auf dem Bahnhof und wollten nach Berlin fahren. Nach einer Viertelstunde tobte der Beklagenswerte schon in der Zwangsjacke. Allein innerhalb vierzehn Tagen verließen ihn die Angstvorstellungen. Mit ihnen schwand jede Erinnerung an sein bisheriges Leben, und seine Seele blühte in wirrer, kindhafter Heiterkeit wieder auf.« Das schrieb meine Mutter, kürzer und treffender, wie ich es sagen kann, in jener kargen Art, zu der Menschen durch ein hartes Leben gelangen. Am Schlusse stellte sie es mir anheim, zu handeln, wie ich müsse. Natürlich konnte da von so oder anders wollen nicht mehr die Rede sein. Jetzt von der Anstalt abzugehen hieß, meinem Vater, der schon gebeugt dastand, von hinten unversehens einen Stoß versetzen, daß er auf das Gesicht hinschlug. Noch erblickte ich die ganze Welt durch meine Tränen hindurch als eine graue, formlose Masse, aber ich sprang auf und lief den Pfad hinunter der Chaussee zu, die sich im Tale hindehnte wie eine gelbe, endlose Pfütze. Mein Leiden, der Aufruhr des Zweifels, alles, was mich in den Tagen gleich einem hitzigen Fieber auf- und abgeworfen hatte, sank in mich hinein und lebte dort weiter als eine lauernde Unruhe, ein scheeles, verstohlenes Aufhorchen. Ja, es schwand zeitweise ganz aus meinem Bewußtsein, da mich die Arbeiten zur Aspirantenprüfung ganz in Anspruch nahmen. Eine fast krankhafte Sucht und Empfänglichkeit kam über mein ohnehin leicht- und treufassendes Gedächtnis. Aber wenn ich so aus dem Katechismus oder der Bibel memorierte, sagte es in mir: Es ist ja alles nicht wahr! Dann lächelte ich triumphierend, als habe ich etwas Wichtiges gefunden, und gieriger verschlang ich allen religiösen Lernstoff, nur um mir immer von neuem die Beteuerung geben zu können, daß man das alles den Menschen nur vormache.

Den Beweis für diese rein mechanische Leugnung lieferte mir vorderhand allein meine schlimme Erfahrung. Immer deutlicher klangen auch die Worte des Tischlers aus grauer Erinnerung herüber, die so kraß an dem Bilde Gottes herumgedeutet hatten, an jenem Abende, als ihn mein Vater über unsere Schwelle getrieben. Sie nagten und minierten in meiner Seele, ohne daß ich die Kraft fand, ihnen Einhalt zu tun. Was sage ich? Mir war es im Gegenteil recht, so einsam zu sitzen oder zu liegen und den geheimen Schauer dieser verborgenen, fortschreitenden Vernichtung über mich ergehen zu lassen. Aber erhob ich mich dann, so fühlte ich mich betäubt, erschlafft, gallig, leer, wie einer, der großen Hunger hat und nichts besitzt, um ihn zu stillen.

Vielleicht bin ich damals zerbrochen und habe seitdem das Leben anderer geführt.

Vielleicht auch habe ich mich doch noch gerettet, und war es nur in jenem verwehten Lichte, das am Horizonte der damaligen inneren Öde stand, immer machtlos tröstete und doch nicht ganz erlosch. –

Vielleicht auch täusche ich mich mit einer Täuschung. Denn es ist wohl ebenso unmöglich, sich restlos zu erkennen, als man mit seinem Blick sich auf den Grund seines Auges sehen kann.

... Kastner! Schläfst du? Ich kann nicht mehr. Komm, gib mir die Hand und geh'! – Wenn ich soweit bin, will ich dir schreiben.«

 

Ende der zweiten Nacht.


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