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Die erste Nacht

Mein Leben ist still geworden wie ein gefangener Vogel, der seine Freiheit vergessen mußte. Die Zeit, in der das Erhabene uns so nahe steht wie die große Torheit, liegt schon zehn Jahre hinter mir. Ich bin weder dem einen erlegen, noch hat mich das andere verlockt. Der Mittelweg führte mich in die breite Menge, und die meisten Blüten setzten keine Frucht an, und sinne ich jenen ungebärdigen Jahren nach, scheint's mir schon manchmal, als erinnerte ich mich an den Traum eines Fremden.

Das Merkwürdigste in meinen Brausejahren ist auch wirklich nicht mir, sondern einem andern begegnet. Von diesem schönen aber schweren Schicksal, das damals mein Leben berührte, will ich nun erzählen, und zwar möglichst so, wie ich es frisch unter dem Eindruck niedergeschrieben habe. Nur weniges ergänze ich zur Abrundung und Klarheit aus dem Gedächtnis und dem Geist jener Begebenheiten und Menschen.

Es war im Jahre 1898. Ich hatte dazumal mein Lehramt noch nicht lange angetreten. Aber schon in jener Zeit besaß ich die glückliche Hartnäckigkeit, durch mein Leben meiner Seele zum Ausdruck verhelfen zu wollen, ohne viel Rücksicht auf die dumpfen Gewohnheiten des Alltags und die kümmerlichen Ängstlichkeiten zu nehmen, von denen die Mehrzahl meiner Kollegen sich schrecken ließen. Darum geriet ich gar bald in ein unerfreuliches Verhältnis zu meiner Behörde. Zum Lohne für die Achtung vor den Notwendigkeiten meiner Persönlichkeit wurde ich in rascher Folge versetzt und zwar in absteigender Güte, so daß ich mich in jenem Jahre in dem weltverlassenen Raspenau befand. Allein ich war guten Mutes. Denn von der Erde konnte man mich, Gott sei Dank, nicht verschwinden lassen, und überall, wohin ich kam, hatte ich das Beste, was ein Mensch nur haben kann: meine sehnsüchtige Seele, die Wunder der Natur und mein Amt. Denn das war mir in jenen jungen Tagen zu allen Stunden noch ein Kostbares.

Nachdem ich Schrank, Kommode, Waschgerät, Bettstatt und Tisch aufgestellt, in der Kahlheit meines engen Stübchens heimisch geworden war und mich überzeugt hatte, daß mein älterer Kollege ein erstorbener Mensch sei, der im Kampf mit der Not ums Brot alles Schwingende in sich verloren hatte, begann ich meine gewohnten Entdeckungsfahrten unter den Menschen und in der Umgebung. Raspenau, ein Dorf, das 750 Seelen zählte, lag am Fuße des schlesischen Gebirges so, daß nur seine letzten Häuser die sanfte Anhöhe hinangestiegen waren, mit der das Land sich zum Aufschwung einer vielgliedrigen Bergwand rüstete. Dahinter lauerte das ärmliche Weberdörflein Wecknitz, ohne Kirche, ohne Turm, ohne Geläut, stumm und abgeschlossen an den steinigen Fuß des Gebirges gepreßt und an stillen Abenden, wenn die Luft schimmernd in dem Laube der Birken stand, ertönte das dumpfe Stoßen der Webstühle bis in die Gasse von Raspenau herüber, daß es war, als zöge in der Ferne eine Prozession Schwerkranker vorüber, die außer dem trockenen Husten eines unheilbaren Leidens kein Geräusch verursachte. Ein paarmal stieg ich bis in das Birkenwäldchen, das an der Grenze der Feldfluren lag, und blickte hinunter in das Gewirr der geduckten Hütten, in deren Mitte das Schulhaus stand, das sich durch seine größeren Fenster und die weitläufigere Anlage als solches kennzeichnete. Aber Armut war auch der Stempel seines Wesens. Dieser gemeinsame, trostlose Zug lastete über allem und ward noch erhöht durch den Schatten, den die Bergwand fast zu allen Tagesstunden über die Hütten rinnen ließ, wie um sich zu entschädigen, daß sie vor hundert Jahren mit rauhen Winden und allen Unbilden unfruchtbarer Öde diese Niederlassung der Armut nicht hatte hindern können. Der einzige Weg nach Wecknitz war ein Steig; denn außer Karren und Hundewägelchen gab es kein Gefährt im Dorfe. Auf dem Rücken schleppten die Weber das Garn hin und das Gewebe her, und noch nie war das Gepolter eines bespannten Fuhrwerks gegen die Schrotwände der Häuschen gestoßen. Ich empfand Mitleid mit dem Manne, der da drunten in der Schule hauste, und den ich noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Denn obwohl ich mich über der Ungunst der Verhältnisse erhaben fühlte, kam mir doch gar nicht der so natürliche Gedanke, daß andere und selbst ohne diese geheime Eitelkeit, sich dieselbe Freiheit erwerben könnten. Unter allerhand Gedanken, die dies Erbarmen immer neu variierten, trat ich stets den Rückweg nach Raspenau an, und obwohl ich mir immer vornahm, nach dem Wesen des abgesägten Kollegen Umfrage zu halten, unterließ ich es doch immer in einer unbegreiflichen Herzensträgheit. An einem Sonntage, beim Abstieg vom Chor der Kirche, fragte ich mehr zerstreut als neugierig meinen ersten Lehrer, was es mit dem Kollegen von Wecknitz doch für eine Bewandtnis habe, daß er sich nie in der Kirche blicken lasse. Mein älterer Kollege war ein sehr vorsichtiger Mann, und nur von Menschen, die ihm durchaus nicht schaden konnten, sprach er in scharfen Ausdrücken. Hier aber mußte ein besonders günstiger Fall für seinen Mut vorhanden sein, denn er stieß im Hinabschreiten über die steile, dunkle Holzstiege nur ein verächtliches Lachen aus, blieb, nachdem wir durch das Turmpförtchen auf den Kirchplan getreten waren, stehen, zog mit der Rechten die verwehten, grauen Haarsträhnen über seinen kahlen Vorderkopf, wandte sich zu mir und tippte mit dem Zeigefinger der Linken an seine Stirn.

»Verrückt?« fragte ich. Er drückte den Zeigefinger noch stärker gegen die Stirn und sagte kopfschüttelnd: »Nein, das nicht, aber wahnsinnig.«

Nach dem Mittagmahl erzählte er mir, so viel er von dem Kollegen Franz Faber wußte. Es war wenig. Er verkehre mit keinem seiner Amtsbrüder, wiewohl er noch jung und unverheiratet sei, gehöre keinem Verein an, treibe sich nur immer im Walde umher und habe überhaupt die seltsamsten Gewohnheiten. So sei beobachtet worden, daß er, der Lehrer, einem erwachsenen Mädchen die Garnhucke den Berg hinaufgetragen habe, was doch kein Mann so ohne gewisse Gegenleistungen tun könne. Er, Christoph Dünnbier selbst, darauf leiste er seine sämtlichen feierlichen Eide auf einmal, habe beobachtet, wie er in einer hellen Mondnacht im Mai in der Mitternachtsstunde, Schlag zwölf, auf dem Kirchhof zu Raspenau promeniert sei. Das tue doch kein gescheuter Mann. Und wenn er noch so viel Bücher lese, der saubere Herr Faber, er werde schon sehen, wohin das führe. Die Geistlichkeit sei ihm, wegen der Verachtung der kirchlichen Pflichten, so wie so auf dem Nacken. Was nutzen ihm denn seine guten Revisionsprotokolle? fragte er, wenn er immer und immer wieder unter Hintansetzung jeglicher Subordination bei den amtlichen Konferenzen dem lieben, guten Erzpriester widerspreche und widerspreche, als habe niemand außer dem Lehrer von Wecknitz einen Kopf?! Das sei doch Wahnsinn. Dann kam Christoph Dünnbier auf die Geschichte von seines Vaters Brudersohn, der sich auch durch übermäßigen Genuß schwarzen Kaffees, Einsamkeit und unmäßiges Bücherlesen in jungen Jahren um den Verstand gebracht habe und nun vom Wahn getrieben, er sei Geistlicher geworden, von Pfarrhof zu Pfarrhof durchs Land streife.

Ich fand es für geraten, dem alten Manne nicht zu gestehen, daß seine Erzählung gerade mein Interesse an dem seltsamen Menschen geweckt habe, und hielt unauffällig Umfrage bei anderen, die mir zum Teil ähnliches erzählten, sich zum Teil sehr gewunden vorbeidrückten, zum Teil die Geschichten über Faber um tragische, brutale oder komische Szenen vermehrten, je nach dem Wesen ihrer Seele, nach ihrem Alter oder dem Grade ihrer Bildung. Alle aber stimmten darin überein, daß er am längsten Lehrer gewesen sei. Das sagten seine Amtsbrüder. Ein alter Bauer, mit dem ich über Faber von ungefähr in einen Disput geriet, aber meinte, er sei ein zweitüriges Haus, während fast alle anderen Menschen nur Wohnungen mit einem Zugang seien.

Von all den geheimen Erkundigungen ward ich nicht klar über ihn, noch weniger froh in mir. Denn es bedrückte mich, daß ich durch eine Anteilnahme, die schon auffällig wurde, die Schmähsucht der breiten Masse unterstützt hatte. So nahm ich mir vor, eine persönliche Bekanntschaft herbeizuführen. Ich trieb mich in der Umgebung von Wecknitz in der Hoffnung umher, ihm einmal zu begegnen, saß auch wohl in der dumpfen Schenke des Weberdörfleins und trank tapfer Schoppen um Schoppen des matten Bieres. Ich bekam ihn nicht zu Gesicht. Je hartnäckiger mir das Geschick die Erfüllung meines Wunsches versagte, um so eigensinniger bestand ich darauf. Endlich begünstigte mich das Glück. Es war am Ausgange von einem der kleinen Engtäler, durch die die Bergwand ihre vielen kleinen Wässerlein in die steinige Mulde rinnen läßt, in der Wecknitz lagert. Da höre ich nicht allzuweit von mir von geschulter Baritonstimme ein uraltes Volkslied singen, eines von jenen Liedern, die noch nicht gedruckt sind. Ich gehe dem Klange der Stimme nach. Aber da mußte ich auch schon stehen bleiben. Ganz eigensinnig verharrte der Sänger auf einem Ton, ließ ihn leise hinwehen wie ein seidenes Tüchlein, schlug ihn prall an, stieß ihn zornig von sich und löste ihn endlich aus sich los mit einem schluchzenden Piano, und ich hatte die Empfindung, als suche eine Seele vergeblich nach Erinnerungen, mit denen dieses Lied verknüpft sei, und lasse endlich traurig ab. Nach einer Pause erhob sich von derselben Stelle eine wehmütige Kadenz, die immer wiederholt wurde und nur ihre Betonung wechselte. Ein ganz widersinniger Rhythmus wurde endlich mit Hartnäckigkeit festgehalten. Der Sänger schien sogar darin eine tiefe Befriedigung zu finden. Dann entstand abermals eine Pause. Ich tat indessen einige lautlose Schritte. Da sah ich den Mann endlich. Er saß auf einem Haufen großer Steine am Bach, den Hut im Nacken, baumelte mit den Beinen und fuhr dabei träumerisch mit dem Stock in dem klaren Bergwasser umher. Der Glutdunst des Sommers zitterte über ihm. Nun reckte er sich aus, nahm den Stock aus den Wellen, stützte ihn auf einen Stein des felsigen Ufers. lehnte den Kopf auf seine Krücke und schien gegen die Erde zu sinnen. Gleich darnach ließ er das Lied, an dem er soeben so absonderlich herumgestimmt hatte, wieder aus sich herauswandeln. Es ging bedächtig an mir vorüber, seine Tonwellen formten in der Sommerluft ein greisenhaftes Weiblein mit jener süßen Züchtigkeit, die manchmal mit den weißen Haaren über Frauen kommt. Mit niedergeschlagenen Augen, einer buntblumigen Bänderhaube auf dem mageren Kopfe, die abgearbeiteten Hände auf der Brust gefaltet, so schwebte das Wesen des Liedes vor den Stämmen hin.

Dann war es still.

Nur das Bergwasser redete mit leisem Wellen eintönig, immerzu...

Ich wußte, der Sänger war der Langgesuchte, und mit ein paar langen Schritten über das Wiesenstreiflein war ich bei ihm angelangt.

Er schrak zu mir herum. Ein Paar brauner, blitzender Augen packten mich, daß ich schüchtern meinen Gruß sprach.

»Guten Tag!« klang es unwirsch zurück.

»Verzeihen Sie, ich bin in dieser Gegend nicht bekannt.«

»Ich auch nicht. Bedaure, mein Herr! Adieu!«

Scharf schnitt er die unbeholfene Anknüpfung ab, erhob sich und verließ mich mit einem stolzen Neigen seines scharfgeschnittenen Kopfes. Ein wenig ärgerlich strebte ich in einem Bogen um Wecknitz der Birkenlehne nach Raspenau hin zu, und als ich von der halben Höhe her noch einmal hinuntersah, erblickte ich ihn gerade die Stufen zum Schulhause emporschreiten. So war es also doch der Faber gewesen.

Aber es gibt auf Erden keinen sichereren Weg, etwas in unsere Gewalt zu bekommen, als daß es sich uns versagt. Und ob ich auch, meinem Dorfe zuschlendernd, unwirsch die Steine des Weges mit dem Fuße wegschleuderte und immer wieder vor mich hinmurmelte: »Bin ich denn ein Hund?«, je näher ich Raspenau kam, um so mehr nahm eine geheime Sicherheit Besitz von mir, zwischen seiner und meiner Seele sei trotzdem ein Kontakt geschlossen worden, dessen Kraft uns auf irgendeine Weise nun zusammenführen müsse. Die Stärke dieses Glaubens bestand eben darin, daß ich keine wirklichen Gründe, als nur die Empfindung der Ähnlichkeit unserer Wesenheit besaß. Genug, ich vertraute der Unzerreißbarkeit des mystischen Bandes zwischen uns und unterließ von nun an jeden Versuch einer Annäherung. Indessen ward das Wetter zwischen mir und meinen nächsten Vorgesetzten erst launisch, dann trübe; ich hielt mich für unnötig gegängelt; das Mißbehagen mit manchen meiner Extravaganzen wurde mir mit beißender Schonung nahegelegt; meine Amtstätigkeit fand immer weniger Gnade, und ehe der Herbst das erste Gelb durch das Geblätter des Waldes geblasen hatte, begann ein immer lebhafteres Geplänkel intimer Feindseligkeiten zwischen mir und meiner nächsten Instanz. Die Kollegen, die so unendlich feine hygroskopische Organe für derlei Veränderungen besitzen, erlitten eine merkliche Einbuße an Sympathie zu mir. Christoph Dünnbier lächelte peinlich, wenn ich nur Alltägliches zu ihm sprach, beschützte die grauen, spärlichen Haarsträhnen seines kahlen Vorderhauptes mit der Rechten wie vor einem anziehenden Winde und ging immer von mir, als habe ich ihn um eine Summe Geldes betrogen. Ich regte mich über diese mir nur zu geläufig gewordenen Vorgänge nur sehr wenig auf. Nein, ich fand eine große Genugtuung darin, denn diese Wolke feiger Scheelsucht, die sich immer dichter um mich zusammenzog, brachte die Empfindung einer immer stärkeren Annäherung an Faber in mir hervor, so daß ich oft aus diesem Grau um mich leibhaftig das Paar seiner braunen, blitzenden Augen auf mich gerichtet sah, ein wenig überlegen zwar, doch mit einem Interesse, das nicht allzu spöttisch war.

Dann kam der Winter und ich saß Tag und Nacht in meinem Stübchen und bemühte mich, diesen Kontakt mit einem Fremden zu zerbrechen. Zu diesem Zwecke wählte ich das Studium von Taines Geschichte der Entstehung des modernen Frankreichs. Das Versenken in die Vielfältigkeit äußeren Geschehens sollte mich heilen von dieser seelischen Monomanie. Denn, vielleicht zum größten Teil aus Trotz oder Stolz, ich hatte mir die Ansicht gebildet, diese nebelhafte Beziehung zu Faber sei nichts als ein Beweis der beginnenden Zersplitterung meiner Persönlichkeit. So sollte mich eine Wanderung durch die blutigen Zerklüftungen der französischen Revolution ablenken und innerlich zusammenschweißen. Aber die Vorstellung der Wirkung eines Buches auf uns ist immer anders als die Wirkung selbst. Dieser Krankheitsbericht über einen riesigen Wahnsinn, in dem alle Dramatik abgeschliffen ist, alle Tatsächlichkeit zu abstrakter Feststellung erniedrigt wird, wirkte in Verbindung mit der rhetorischen Monotonie einer nur geistreichen Dialektik niederdrückend und lähmend auf mich. Zugleich zerrieb er den Glauben an die Selbstkraft des Individuums ganz und machte mein Dasein abhängig von dem Spinnengewebe zufälliger Zweckmäßigkeiten. So legte sich eine beklemmende, unbewegliche Atmosphäre auch um meine innerste Seele, die mehr als vorher mit geheimer Feindseligkeit gegen allen äußeren Zwang erfüllt wurde.

Wenn ich dann in der Nacht, die mich oft durch ein Rütteln oder einen undeutlichen Angstruf aus dem Schlummer riß, von meinem einsamen Lager aus das Auge auf die Finsternis um mich richtete, tauchte wohl ganz aus der Tiefe das Gesicht Fabers auf. Aber dann war kein Trotz und zorniger Stolz in ihm, sondern es lag die Verhärmtheit und Blässe über seinen Zügen, die jenes Grübeln über Menschengesichter bringt, das so lange dauert, bis es in machtlose Wehmut endet. So stand es eine Weile in der Nacht, leise geneigt und unbeweglich wie ein Bild tiefen Erdenkummers und zerging dann gleich einer weißen Wolke, nichts zurücklassend als ein Beben in der Nacht um mich und ein Gefühl der Reue in mir über meine Gemütsverhärtung einem Menschen gegenüber, von dessen verborgener Not mir diese geheimnisvolle Kunde geworden war. Immer nahm ich mir vor, diesem Zustand durch einen Versuch der Annäherung ein Ende zu machen, und immer wurde dieser löbliche Vorsatz von dem Staubgeriesel kleinlicher Tage verschüttet und erstickt.

Gegen das Ende des März hin war mir Faber wieder einmal in der Nacht »erschienen«, und nach dem Verschwinden seines Bildes hatte ich aus der Tiefe der Finsternis ein schmerzliches Aufstöhnen zu hören vermeint. Ich war sogleich ganz wach, setzte mich auf und wartete auf die Wiederholung des Rufes. Es blieb still, das Beben in der Luft verging, und ich legte mich wieder hin, ganz verstört von dem Gedanken, daß der unglückliche Kollege vielleicht vor dem seelischen Zusammenbruch stehe, indessen ich trotz dieser wiederholten Warnungen in Gleichgültigkeit hinlebe. Ich schenkte am anderen Morgen einer Ausflucht meiner Trägheit, die mir zuflüsterte, Faber sei wohl nicht mehr als ein gewöhnliches Rauhbein, keinen Glauben, sondern warf mich nach Klassenschluß in andere Garderobe. Nach dem Mittagessen eröffnete mir jedoch Herr Christoph Dünnbier unter Überreichung der Verfügung die Festsetzung einer amtlichen Bezirkslehrerkonferenz für den Anfang des nächsten Monats. Gegenstand der Tagesordnung: ein Vortrag des Lehrers Franz Faber aus Wecknitz über Hilfsmittel bei der Erziehung der Kinder. So beschloß ich, meine Annäherung diesem Tage zu überlassen.

Die Amtshandlung ging am 9. April, vormittag um 10 Uhr, in dem Klassenzimmer III b der Kreisstädtischen Schule vor sich. Das Gebäude war ein gewöhnlicher viereckiger Kasten, der sich nur von den vielen seinesgleichen dadurch auszeichnete, daß er ein wenig abseits gelaufen war, um sich hinter dem breiten Rücken einer unförmlichen Kirche zu verbergen, deren Größe durch nichts als eine Sammlung der Geschmacklosigkeiten von Jahrhunderten gebildet wurde. Die Schule aber stand in einiger Entfernung und bemühte sich, durch ein schüchternes Türmchen über der Front ihre willige Abhängigkeit vor dem heiligen Unding anzudeuten. Der Platz zwischen diesen ungleichen Nachbarn war kahl und baumlos, und man konnte wohl meinen, mitten im bescheidenen Verkehr der Kleinstadt hier fern vom Leben zu sein. Nie knirschte ein Wagen seine Spur in den Kies, selten überschritt ein Erwachsener das Plätzchen. Kinder aber stoben fluchtartig vorüber und erhoben, wenn sie glücklich entronnen waren, jenseits der niedrigen Mauer ein Geschrei der Freude.

Heute wandelten die so leicht erblassenden Lichter des Vorfrühlings über den feuchten Sand, und es war ergötzlich anzusehen, wie sie neckisch und lose über die würdigen Rücken der Männer glitten, die in einem Schritt dem Aufgang zur Schule zustrebten, der einer gewissen Feierlichkeit nicht entbehrte. Von beiden Seiten, entweder aus dem Inneren der Stadt oder rechts von der Landstraße her fanden sich die Teilnehmer ein, stauten sich vor den Stufen wohl zu kleinen, flüchtigen Gruppen und stiegen nach einem sichernden Seitenblick nach dem Pfarrhof unter gemäßigtem Geplauder die wenigen Stufen empor. Ich hielt mich auf dem Vorplatz auf, um Faber noch vor Beginn der Versammlung nahezutreten und ein Zusammensein in irgendeinem Gasthause mit ihm zu besprechen. Er kam nicht, und als nach Ablauf der zehnten Stunde aus der Tür des geistlichen Heims die schwarze Gestalt des Dr. Pfister trat, mußte auch ich das Klassenzimmer aufsuchen. Dort hockte die ganze Lehrerschaft der Umgegend schon mit seitwärts gedrückten Knien und ließ bei meinem eiligen Eintritt sofort von ihrem Geplauder ab. Eine Weile nach mir, noch ehe das Gespräch sich wieder erholt hatte, schritt durch die weit geöffnete Tür der geistliche Herr. Alle erhoben sich, so gut es ging, zum Zeichen der Achtung, und als nach dieser kleinen Aufregung jeder in den Marterbänken die bequemste Stellung wieder eingenommen hatte, saß vor mir in der ersten Bank Franz Faber. Er mußte unmittelbar hinter dem Konferenzleiter hineingeschlüpft sein und nahm so ruhig seinen Platz ein, als sitze er schon seit langem da, die linke Hand zwanglos um einige Blätter geschlossen. Dr. Pfister ernannte einen der städtischen Lehrer, der lang und mager war und ein spitzbübisches Slavengesicht hatte, mit einer wehmütigen Weiberstimme zum Protokollführer, nachdem er unter einem stereotypen Lächeln, als erzähle er Witzchen, die Konferenz eröffnet hatte. Während er stehend sprach, streckte er hin und wieder seine Fetthand über die Brüstung des Katheders und hob dabei den Zeigefinger, an dem der Ring der geistlichen Räte mit dem großen blauen Steine steckte. Bald danach stand Faber vor uns, sah einen Augenblick sinnend in sein Manuskript und begann dann, seine Arbeit vorzulesen. Das war nicht die volle und mutige Baritonstimme, mit der er mich vor dem Walde abgeschüttelt hatte, sie klang müde, wie erschöpft von langem, schnellen Laufen, hatte keine Tragkraft mehr, und alle Sätze wurden wie eine ganz belanglose Gleichgiltigkeit durch sie laut. So, als habe eine Krankheit von ihm Besitz genommen, klang sie. Still und bescheiden stand er da, die Schultern gesenkt, das scharfgeschnittene Gesicht blaß, mit dem Ausdruck einer bitteren Weichheit. Der Eindruck dieser Resignation fiel um so mehr auf, weil er in schroffem Widerspruch zu dem Geiste des Vortrages stand. Dieser begann mit der Feststellung der vollkommenen Rätselhaftigkeit des Lebens und der Seele des Menschen. Dann zeichnete er mit scharfen, sicheren Strichen die Stückhaftigkeit und den Widerspruch verschiedener philosophischer Systeme, um im Anschluß daran vor der urteilslosen Verhimmelung von Lehren zu warnen, deren alte Sätze nur durch rücksichtslosen Zwang als Wahrheiten aufrecht erhalten werden, und die nur durch Anwendung von Gewalt die große Zahl der Anhänger bei ihren Standarten erhalte. Denn auch sie ist wie aller Menschenwahn nur ein Weg zur Wahrheit. Ihre Wahrheit ist Suchen, und sie bringt nur jenen Ruhe, die bereit sind, sich innerlich zu töten. Ein unhörbarer Ruck ging bei diesen Worten durch die Zuhörer, viele senkten verschämt das Gesicht, als hätten sie eine Blasphemie gegen »die heilige Mutter Kirche« ausgesprochen, andere bekamen jenes blicklose Auge, womit feige Männer in den Augenblicken der Entscheidung sich wappnen, die mutigste Servilität aber räusperte sich ostentativ. Dr. Pfister langte mit mildem Lächeln seinen Bleistift her und schrieb etwas in sein Taschenbuch, darauf nahm er sein Haupt so in die Hand, daß uns der Ausdruck seines Gesichtes entzogen wurde. Die Luft war stockend und beklemmend von der Feindseligkeit der Seelen und schwer zu atmen. Faber sammelte mit einem flüchtigen Blick den Erfolg seiner Worte, bekam davon den Ansatz zu einem ironischen Lächeln um seinen Mund und las unbeirrt weiter, nur ein wenig gelassener, nein, demütig. Seine Arbeit beschäftigte sich nun mit dem Schlendrian der Ansichten innerhalb der gültigen Pädagogik, die weniger der Ausdruck des gegenwärtigen Standes der Wissenschaft, als vielmehr der Standpunkt der staatlichen Auffassung von dem Zwecke des Menschen sei. Mit bitterem Sarkasmus sprach er von dem niemals existierenden Typus, den die Lehrer zwangsweise in das Kind hineinkonstruieren müssen, ohne mehr als sentimentale Aussicht auf das wirkliche Wesen des Kindes zu nehmen, das, jedes für sich, eine einzigartige Offenbarung des Universums, eine nie sich zum zweiten Male wiederholende Schöpfung darstelle.

In den Sätzen glühte das verheimlichte Feuer eines einsamen Grüblers. Die müde Gelassenheit, mit der er diese Rebellion aussprach, wirkte direkt tragisch. Mir schnürte es die Brust zusammen, und ich rief mitten in seine Worte ein lautes »Bravo«, nur um mich innerlich zu entlasten. Denn das alles berührte mich weniger als Sache, sondern als das Bekenntnis eines Mannes, an dessen Ringen ich in so vielen Gesichtern der Nacht hatte Anteil nehmen dürfen. Ich sah kaum, wie Dr. Pfister seine Hand vom Gesicht nahm und mit mißbilligendem Erstaunen nach mir schaute, mir ging der folgende Hauptteil des Vortrages fast spurlos verloren, der von der Benutzung der Phrenologie, der Handkunde und noch anderen Hilfsmitteln für die Erkenntnis der Wesensart des Kindes handelte, ich saß da und starrte versunken in das Wesen dieses Mannes, das sich mir auftat wie ein geheimnisvoller, tiefer Gang. Plötzlich stockte der Redner. Ich schrak aus dem sinnenden Hinschwinden auf und bemerkte, wie Faber seine Blätter mit zitternder Hand senkte und mit einer tiefen Traurigkeit über uns hinsah. Doch nur einen Augenblick dauerte diese Unentschlossenheit. Eine trotzige Falte grub sich zwischen die Brauen, und mit erhobener Stimme las er die kurzen unvergeßlichen Schlußworte: »Die Freiheit der Menschheit gibt es nicht. Wir sollen die Kinder nicht von sich, sondern zu sich, – von uns erlösen. Seien wir demütige Diener, daß jeder Mensch zu seiner Freiheit gelange, die der unzerbrechliche Zwang und der Halt in aller Not ist. Vermögen wir uns zu der Ehrfurcht vor diesem ihrem Gott nicht hindurchzuringen, dann ist unsere Erziehung eine Gefahr, und wir sollten als Hinberufene von bannen gehen.«

Er verbeugte sich. Keine Hand, sein Mund rührte sich zur Anerkennung. Voll Galle rief ich mein »Bravo!« Faber warf mir einen verweisenden Blick zu, und indem er die wenigen Schritte an seinen Platz tat, faltete er bedächtig die Blätter zusammen und ließ sie in seine Seitentasche gleiten. Die Erwartung eines Strafgerichtes erfüllte den Raum.

Dr. Pfister drehte lächelnd den Bleistift zwischen Daumen und Zeigefinger, genoß eine Weile den Schrecken kleiner Seelen, dankte dann mit seiner Wöchnerinnenstimme dem »jungen Herrn« für seine Mühe und stellte den Vortrag zur Diskussion.

Alles blieb still.

»Da sich niemand zum Wort meldet,« fuhr er dann in weinerlicher Milde fort, »so möchte ich einiges erwähnen, was ich mir aufgeschrieben habe. Der Herr Vortragende hat mit viel Fleiß und Mühe vieles zusammengelesen und uns dargeboten, und wenn die Gesamtwirkung eine andere war, als er wohl erwartete, so habe ich nicht nötig, ihm daraus einen Vorwurf zu machen. Denn das hieße ihm das Vorrecht seiner Jugend verargen. Auch Ausdrücke wie »Tugendbold« und ähnliche sind wohl auf nichts als auf eine vorübergehende Vorliebe für Extravaganzen zurückzuführen. Nein, was mich schmerzlich berührt hat, das ist allein die Tatsache, daß in der Arbeit, die doch von der Erziehung der Kinderseele handelte, mit keinem Worte Jesu Christi, unseres einzigen Vorbildes gedacht worden ist.« Und nun gab er die Gallerte gewohnter Phrasen von sich, um zu schließen: »Alles Menschenstreben hat in alle Ewigkeit die Erkenntnis zum Ausgang, daß wir zum Wissen kommen, nichts zu wissen. Wir christ-katholischen Lehrer haben diesen langen Irrweg nicht notwendig, wenn wir uns bei Anfechtungen der Eitelkeit mit den Worten zu Gott wenden: Führe uns nicht in Versuchung!«

Der spitzbübische Slave am Protokolltisch verzeichnete mit eifrigem Wohlgefallen die zerreibenden Sätze des guten Hirten.

Franz Faber erhob sich und erklärte mit unsicherer und gepreßter Stimme, daß sein Thema laute: »Hilfsmittel der Erziehung«, daß aber Jesus Christus einem katholischen Lehrer doch mehr als ein Hilfsmittel sein müsse, und er habe es vermeiden wollen, die Anwesenden mit Beweisen eines Axioms zu langweilen.

Trotz des starken Hiebes gegen Dr. Pfister waren seine Worte nichts als eine vollkommene Unterwerfung.

In Scham starrte ich auf seinen Rücken, der sich ruhig gegen die niedrige Bank preßte.

Der Vorsitzende nahm keine Notiz von Fabers Entgegnung; eine böse Falte legte sich quer über seine gut gepolsterte Stirn, und mit unterdrücktem Widerwillen in seiner Kastratenstimme lud er die Anwesenden ein, Erfahrungen und Fragen aus dem Amtsleben zum Besten zu geben. Niemand fühlte den Mut, Erfahrungen gehabt zu haben, und so erhob sich nach einer gewaltigen Prise der Slave zur Verlesung des Protokolls.

Er hatte die Absicht des geistlichen Rates nur zu gut verstanden und dem Protokoll eine Fassung gegeben, die eine nur leicht verkappte Denunziation Fabers wegen unchristlicher Gesinnung enthielt, denn die Entgegnung des Vortragenden war unterschlagen worden.

»Ich denke, es ist gut so?« fragte der Slave nach Beendigung der Vorlesung zu Dr. Pfister hinauf, und dieser lächelte zurück.

»Hat jemand gegen die Fassung des Protokolls etwas einzuwenden?«

Bei dieser Aufforderung des Vorsitzenden hob Faber ein wenig das Haupt, ließ es aber sobald wieder gleichgültig sinken.

Er mußte einen bewußtlosen Tag haben, daß er sich ergeben den Strick um den Hals legen ließ. Die Empfindung haben, es geschehe eine Infamie und schon aufstehen und die Anfügung der Worte Fabers beantragen, war eines bei mir. Ich tat es mit vor Erregung bebender Stimme.

»Es ist sehr schätzenswert von Ihnen, diesen kleinen Irrtum bemerkt zu haben«, redete Dr. Pfister mit seiner Wöchnerinnensüße und der bösen Falte im Fett seiner Stirn. »Ich möchte nur noch wissen, wie Herr Lehrer Faber sich zu dieser Frage verhält, die das Wesentlichste vom Gang der heutigen Konferenz nur ganz unerheblich berührt.«

Zu meiner Überraschung schüttelte mich der Wecknitzer auch diesmal ab.

»Ich bin ganz der Meinung des Herrn Rates,« sprach er, »daß es sich nur um eine Formalität handelt, habe aber nichts dagegen, wenn meiner bedeutungslosen Worte im Protokoll Erwähnung geschieht.«

Ha, was soll denn das heißen? fragte ich mich, ganz aus den Fugen geraten über so viel Widersprechendes. Der Kaisertoast brauste an mir hin, die Unruhe der hinausströmenden Versammlung trug mich die Stiege hinab, schob mich in den Schulhof, verlief sich, und nach, ich weiß nicht welcher Zeit, grüßte mich ein Mann, der eine blaue Leinwandschürze vorgebunden hatte und sagte:

»Ach, Herr Lehrer, warten Sie etwa auf den Rektor Metzner? Der kommt heute nicht mehr her.«

Ich fand mich unter der Tür nach dem Schulhof lehnen und erkundigte mich nun, ob der Frager der Schuldiener sei. Während er redselig begann, einen Abriß seiner Lebensschicksale zu geben, las ich zerstreut von meiner Uhr die Zeit ab und reichte dem Mann, der eben von seiner Verheiratung erzählte, ein Trinkgeld und ging davon, weil es schon einhalb ein Uhr Nachmittag war.

Ich lief in dem Städtchen umher, ging nach Hause, begann meine Schularbeiten, schlief, arbeitete, trödelte umher, und immer ward ich die quälende Vorstellung nicht los, daß ich Schiffbruch gelitten habe. Ich? Aber so ist es ja. Alles, was geschieht, geschieht an uns. Allein eben, weil ich nicht ergründen konnte, was eigentlich mit Faber vorgegangen war, kam ich in mir nicht zur Ruhe. Es half nichts, die Schnur meiner Vermutungen stets aufs neue abzugreifen, ich stand am Ende immer vor anderen, einander widersprechenden Ergebnissen. Er will sich ducken; er will es. Zu dieser Überzeugung kam ich am leichtesten. Aber, warum hatte Faber dann überhaupt diese rebellische Arbeit vorgelesen, gleichsam sein Haupt auf einer Schüssel seinen Gegnern ostentativ überreicht? Ostentativ. Ja, wenn es Bekehrung war, steckte in diesem aufgewandten dramatischen Apparat eine Menge Pose. Jedoch, warum hatte er den Schluß des Vortrages mit erhobener Stimme, wie eine unabwendbare Kriegserklärung gelesen? Und wenn er sich unterwerfen wollte, warum hatte er meine Hilfe, die ihn von den üblen Folgen disziplinarer Scherereien bewahren sollte, abgelehnt? Vielleicht, weil er jener seltenen Art starker Menschen angehörte, die die Buße von Übeln sich nicht schwer genug bereiten können. Warum? Warum? Ich spann immer neue Schleier von Vermutungen und litt zuletzt unter einer Abspannung, einem leisen Taumel, wie er uns erfaßt, wenn wir lange mit gleichen Schritten um einen kreisrunden Platz gegangen sind. Ich sah Fabers Bild nicht mehr in den Nächten. Aber die Stelle, von der es mir verschwunden war, lag jetzt in mir, und alle Stunden, auch die ruhigsten, erfüllte ein Vibrieren des Fernsten meiner Seele.

Bald aber trat jene Wandlung ein, die ich fast nicht zu hoffen wagte, und die mir für immer den unumstößlichen Beweis erbracht hat, daß ehrliche Sympathie auch die andere Seele, nach der es uns hindrängt, ebenso bindet wie uns. Denn etwa fünf Wochen nach der Konferenz erhielt ich einen Brief von Faber, in dem er mich um einen Besuch in seiner Wohnung bat. Es fiel mir nicht ein, diese Bitte als eine neue Bestätigung seiner Anmaßung zu deuten, sondern, indem ich die ganze Reihe innerer und äußerer Vorkommnisse, von der dieses Brieflein das letzte Glied darstellte, durchlief, wurden mir seine so schlichten Worte bedeutungsvoll, beluden sich mit den Gebilden meiner lebhaften Einbildungskraft und erfüllten mein Gemüt mit Beklemmung. Wir wissen mehr als uns bewußt wird. Nach Schluß des Nachmittagsunterrichts entwickelte ich bei den Vorbereitungen zum Besuch eine solche Eile, als gelte es mit einem Menschen schnell noch ein paar entscheidende Worte zu sprechen, der schon auf einem sich in Bewegung setzenden Bahnzug Platz genommen hat. In voller Aufregung sprang ich die Treppe des Schulhauses hinunter, an Christoph Dünnbier vorbei, der unter der Tür seiner Wohnung erschienen war, mich mit mißbilligenden Augen ansah und die Haare seines nackten Schädels beschützte. Als ich über die Schwelle der Haustür schritt, wagte er, mir ein sehr bedenkliches: Hm, Hm! nachzusenden.

Dann hatte ich das Dorf hinter mir, die sanfte Anhöhe hängte sich in die Knie, und ich mäßigte meine Schritte. Alles Feld lag so seltsam geduckt um mich, die Raine zwischen den Ackerbreiten dehnten sich in ungewohnten Linien in eine Luft hinaus, die mit dem Dunst der leidenschaftlichen Fruchtbarkeit des Mai erfüllt war, einer grauen, ruhelosen Schicht, in der die Laute der Vögel gedämpft erklangen und alle Dinge mit zweiten leuchtend-zerfließenden Umrissen umwittert waren, die den natürlichen Farben einen satteren Ton und eine größere Leuchtkraft gaben. Die Lerchenlieder verloren sich schmachtend in die blauende Höhe, die Birken trugen das verhuschende Grüngewölk der ersten Belaubung mit ihren schlanken Gliedern. Kurz, alles hatte einen so sonderbaren, niegesehenen Ausdruck, daß ich es plötzlich nicht begriff, wie ich auf den Weg nach Wecknitz komme. Solche Fremdheit und Unbegreiflichkeit des Handelns überfällt uns vor jeder wichtigen Tat, und weil ich damals noch nicht wußte, daß der Menschen Hand immer durch Schatten zugreifen muß, gab ich diesem Gefühl der Unsicherheit in mir nach, zog das Billett Fabers hervor und las es mehrere Male aufmerksam durch, so, als trügen diese so klaren Worte noch irgendeinen verborgenen Sinn, der mir nicht entgehen dürfe. Wirklich, ich kam zu der sonderbaren Überzeugung, Faber erwarte mich erst gegen Abend.

Es war in der Mitte der fünften Nachmittagsstunde. Ich setzte mich, auf der Anhöhe angelangt, abseits vom Wege, mitten im Birkenwäldchen auf einen Stein und sah nach Wecknitz hinunter. Das Licht der weißen Stämme war um mich und mir schien es, als sei ich von einem heiteren, lichten Schreine eingeschlossen.

In dem Weberdörflein drunten blühten alle Obstbäume, und Wecknitz sah nicht aus wie eine Menschensiedlung, sondern wie ein See aus weißen und rosa Wogen. Die grauen Hausdächer schwammen darin wie unbewegliche, halbversunkene Kähne, vermorscht und verlassen. Das Poltern der Webstühle schien von Wellen der Tiefe herzurühren, die gurgelnd und stoßend einem verborgenen Ausweg zuströmten. Mitten ragte die Schule, plump und trostlos wie das festsitzende Wrack eines größeren Fahrzeuges über die schimmernden Wogen des Blütensees. Ein leiser Wind war erwacht, und lautlos leckte der weiße Schaum an den alten Planken empor.

Meine junge Seele verfing sich in Träumen, aus denen mich die schnelle Kühle des Frühlingsabends aufriß. Es war dreiviertel sechs Uhr geworden und dunkelte schon ganz leicht. Der Dunst war von der Erde aufgestiegen und schwamm vor einem mäßigen Winde als Gewölk am Himmel hin. Die Sonne begann hinter die Waldmauer der Feistelberge hinunterzuglühen, während durch die Wolken im Osten die blassen Lichtschleier des aufgehenden Vollmondes wehten. In Sätzen sprang ich den Abhang hinunter und bog wahllos auf einem der vielen schmalen Hühnersteige in das Gewirr der Obstbäume ein. Nach einigem Hin und Her stand ich vor der Schule, das heißt, ich stutzte ein wenig an dem engen Zugange, der durch ein Vorgärtchen an die wenigen Stufen führte, die zu erschreiten waren, ehe man an die einfache Tür gelangte. Der lange Schrotbau lag mit den geschlossenen Fenstern seiner niedrigen Front in einer Art mürrischer Einsamkeit auf einem Hügelchen, auf den es hinaufgeklettert zu sein schien, um zu allen Tagesstunden den Kinderchen wie eine lebendige Mahnung vor Augen zu stehen.

Ich stand an dem Brunnen, dessen Wasser sich immer gurgelnd verfing, und stellte mit dem geheimen Wunsche Betrachtungen an, Faber möge mich bemerken und mir entgegengehen, um so unserer Annäherung den peinlichen Beigeschmack zu nehmen. Bald jedoch erkannte ich, daß er als Bittender von seinem Stolz nie die Erlaubnis zu dieser Demütigung erhalten würde. So trat ich in den Hausflur, der von jener maukigen Luft erfüllt war, die die offenen Lehrzimmer in alle Teile der Schule zu senden pflegen. Das Schulzimmer war ein getünchter, kahler Raum, groß und niedrig. Ihm gegenüber, ein wenig schief in der Bohlenwand sitzend, die Tür wohl zur Lehrerwohnung. Ich klopfte. An dem lauten Ton erkannte ich, daß das Zimmer leer sei. Ich schritt an einer engen Holztreppe vorüber, die jäh in das Dämmern des Bodenraumes aufstieß, und kam an die Tür nach dem Hofe. Hier hörte ich Menschenstimmen. Ich konnte nicht gleich entscheiden, ob sie aus dem Hofe drunten klangen, oder in irgendeinem Raume des Hauses eingeschlossen waren. Da fiel mein Blick auf eine vernutzte Tür, links neben dem hinteren Ausgang. Richtig, hier war es. Eine schmerzvolle Mädchenstimme redete bittend in langem Strome. Schonend und ruhig erklang die Stimme des Mannes. Das Gespräch kam gegen die abgenutzte Tür. Ich sprang auf den Zehen schnell in den Hausflur zurück, um hinter die Bodentreppe zu treten. Unterwegs fiel mir der Stock aus der Hand und polterte auf die Steinfliesen. Ehe ich ihn aufheben konnte, ging die Tür auf. Faber trat auf die Schwelle, erkannte mich sogleich und half mir über die Betretenheit, in die ich geriet, daß er mich herzlich begrüßte. Seine Lustigkeit war schlaff und gezwungen. Das Gesicht übernächtig und gealtert, und während er meinen Worten zu lauschen schien, schaute er, etwas anderem nachsinnend, zu Boden und begann, gedankenvoll seine ungewöhnlich langen Füße voreinander setzend, im Flur hinzuwandeln. Auf der Schwelle der Haustür hielt er an.

»Meine Karte ist eigentlich gegenstandslos geworden«, sagte er und lächelte mich traurig an.

»Bin ich zu spät gekommen?«

»Ja – und nein.«

Und als er sah, daß ich die Krücke meines Stockes fester umspannte, setzte er fort: »Aber, damit will ich Sie natürlich nicht verjagen. Wir wollen sehen.«

Wiederum schaute er zu Boden, schob mit der Spitze seines rechten Fußes irgend etwas zur Seite, rückte sich dann herauf und sprach im Hausflur hin:

»Liese! Machen Sie das Abendbrot zurecht.«

Ein gehorsames und ergebenes »Ja« antwortete, und ich sah, leise und eilig, ein Mädchen zur Hoftür hinaushuschen, das von einer seltenen Zierlichkeit war.

»Es ist die Tochter meines Nachbars, des alten Plaschkewebers. Sie besorgt die wenigen Aufwartedienste«, erklärte mir Faber, und seine Stirn umwölkte sich.

»Sie haben Verdruß mit ihr gehabt?« fragte ich. –

»Mit ihr nicht, mit mir, und zwar habe ich ihn jetzt«, antwortete er und sah gleich mir in das geöffnete Klassenzimmer, vor das wir getreten waren. »Haben Sie den Geruch überwunden?« fragte er nach einer Weile.

»Nun – freilich spür' ich ihn auch noch, aber was will man machen?«

»Eben, eben! Man will eben nichts machen. Durchaus will man nicht.«

Er lachte bitter und kehrte sich um.

»Haben Sie Lust, noch mein anderes Leben zu sehen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Na, das Schulhaus ist so ein Symbolum meines Lebens. Denn es ist morsch, unwohnlich und gewährt mir nur noch in einem Winkel Unterschlupf.«

»So, sans phrase«, entgegnete ich leicht.

»Natürlich, sans phrase! Bloß so.« Er sprach eigentlich nicht mit mir, sondern redete nach Art der Einsamen mit sich, bitter und spöttisch, voll Hohn gegen sich.

Wir standen vor der Treppe zum Boden. »Da unten sind noch drei Zimmer und die Küche, aber...« Die Liese kam eben zur Hoftür herein. Faber unterbrach sich und sah nach dem Mädchen. Unter seinem Blick hielt es an.

»Wie Sie es gesagt haben, Herr Lehrer?« fragte sie mit glücklicher Unterwürfigkeit.

»Ja«, erwiderte Faber merkwürdig rauh.

Mit einem Glanz im Gesicht verschwand sie hinter der vernutzten Tür.

»Sie meint meine Anweisungen zum Abendbrot«, sagte Faber erklärend, und wiederum schlug sich die Falte tiefer über seiner Nasenwurzel nach der Stirn hin.

»Sie hat ganz sonderbar schöne, braune Haare«, bemerkte ich.

»Außerdem kocht sie ganz gut«, sprach er ironisch. »Ja, und dann dächt' ich, wir gingen nun in meine Bude. Bitte!«

Unter beißendem Lachen sprang er die Treppe hinauf. Er lief so schnell, daß ich ihm nicht folgen konnte. Noch ehe ich die steile Stiege emporgeklommen war, schloß er die Tür, und ich befand mich allein in einem schummrigen Dunkel. Halb von Grimm, halb von Scham erfüllt, kam ich im Aufstieg mit der Rechten an ein rauhes Gemäuer, das sich mir als der riesige Schornstein offenbarte, und stand gleich darauf an der niedrigen Tür. Eben kochte in mir der Zorn, und im Hineintreten fragte ich unvermittelt: »Ja, warum bin ich nun eigentlich zu spät gekommen?« stieß, während ich diese rauhen Worte sprach, schon nach dem dritten Schritt in die Stube an einen Stuhl und setzte mich, als sei ich von Faber dazu eingeladen worden. Der antwortete nichts, sondern kramte in einer geöffneten Kiste umher, aus der er bald dies, bald jenes Kleidungsstück herausnahm und in den rechts neben dem Eingang stehenden Schrank hängte. Nach einer Weile, als sei er eben jetzt von meinen Worten getroffen worden, hielt er inne, starrte einen Augenblick in den geöffneten Schrank, schloß mit sinnend zähen Bewegungen ihn und die Kiste, kehrte sich um, ließ seinen Blick über das Stübchen gleiten, sah mich dann tief an, nickte schmerzlich mit dem Kopfe und sagte: »Ja, Herr Kastner...« Seine Stimme klang trauervoll, und mit einer Armbewegung, als werfe er etwas von sich, setzte er sich auf einen Stuhl, stützte seine Arme auf die Knie und legte die Hände flach gegeneinander, indem er genau Finger auf Finger paßte. Als ich ihn so sitzen sah, dem schweren Klang seiner Stimme in mir nachlauschte und im Überschauen die Unordnung gewahrte, in der sich das Stübchen befand, erblickte ich in mir nicht nur das schmerzensblasse Gesicht Fabers, wie es aus meinen unruhigen Nächten mich angesehen hatte, sondern mußte auch daran denken, wie sicher mein Ahnen gewesen sei, das mir vor kurzen Stunden den vor mir Sitzenden als einen Menschen gezeigt hatte, der, vom Trittbrette eines abfahrenden Zuges herab, noch einige Worte zu mir reden wollte. Eben hatte ich mir vorgenommen, das peinliche Schweigen durch die Erzählung meiner nächtlichen Heimsuchungen zu brechen, als Faber den Kopf hob und bitter zu mir heraufsprach: »Warum sagen Sie denn nicht, was Sie von mir eben denken?«

»Da haben Sie recht,« erwiderte ich betroffen, »eben habe ich über Sie nachgedacht...«

Allein, noch ehe ich vollenden konnte, stand er auf, rückte geräuschvoll den schief in die Stube stehenden Tisch vor das einfache Sofa und unterbrach mich mit sarkastischem Lachen: »Nun, mein lieber Herr Kastner, warum schießen Sie denn da nicht los? Sie wissen doch, daß wir uns vor dem anderen nicht verbergen können.«

»Trotzdem Sie es wissen,« antwortete ich mit herzlicher Schonung des Aufgelösten, »unternehmen Sie es selbst, nicht bloß jetzt, sondern seit langem, einen Menschen zu täuschen, der den innigsten Anteil an Ihnen nimmt.«

Er blickte mich betroffen an und lud mich dann ein, am Tisch Platz zu nehmen. Als wir saßen, ich trotz aller Widerspenstigkeit auf dem arg mitgenommenen Sofa, er auf einem Stuhle mir gegenüber, sagte er mit unsicherem Lächeln: »Wie wäre es nun aber, wenn Sie sich täuschten in der Annahme, daß ich es auf die Täuschung des anderen abgesehen habe?«

»Dann bleibt zweierlei übrig: entweder der Zweifel an jeder Erkenntnis auf Grund von Tatsachen, oder die Überzeugung, der andere sei unsicher in sich.«

Die Folge dieser scharf zupackenden Antwort war ein lautes Gelächter Fabers, das er ausstieß, aufsprang und mit großen Schritten auf- und niederging. Dann nahm er langsam wieder seinen früheren Platz ein und, als müsse er irgend etwas Störendes am Bein seines Stuhles untersuchen, beugte er sich nieder und fragte: »Nicht wahr, weil ich vor fünf Wochen mich so unbegreiflich auf der Konferenz benommen habe?« Und weil ich nicht den Mut hatte, es ihm schonungslos ins Gesicht zu sagen, richtete er sich auf und wiederholte dringend dieselbe Frage: »Wie? So sagen Sie es nur gerade heraus!«

»Allerdings habe ich mir zum großen Teil wegen dieser Ihrer seltsamen Haltung die Meinung gebildet, Sie seien Ihrer nicht sicher. Denn wozu in aller Welt warfen Sie der engen, geknebelten Menge den Fehdehandschuh hin? Entweder Sie mußten frisch-fröhlich den Haufen niederrennen wollen, was doch wohl unmöglich ist aus vielen Gründen, die uns die Scham aufs Gesicht treiben müßte, oder Sie hätten am Ende des Vortrages in aller Kühle die Erklärung abgeben müssen, daß Sie die Entlassung aus dem Schuldienst erwarten, wenn man mit solchen Gedanken gegen den Geist des Amtes sündigt oder – – – Mein Gott, ich kann Ihnen sagen, daß ich in den Zeiten, da ich leidenschaftlich über dieses Ereignis nachgesonnen habe, noch eine ganze Menge von Möglichkeiten fand, die Ihrer würdig waren. Doch die Rebellion mit nachfolgender glatter Unterwerfung habe ich nicht anders erklären können, als daß Ihnen die Hand zum Schlage gejuckt hat, daß Sie aber vor den Folgen Ihrer geistigen Aufsässigkeit zurückschreckten.«

Während ich das sprach, hatte Faber das Gesicht von mir abgewandt und sah zum Fenster hinaus, wo die Sonne hinter den Bergen einen inbrünstig roten Strom ihres verscheidenden Lichtes heraufsandte, der durch blasse Schleier gemildert wurde, die der aufstrebende Mond hineinhauchte. Sein Gesicht, das im Profil zu mir stand, hatte leidend scharfe Linien bekommen, und seine beiden Hände auf dem Tisch waren wie zu verzweifeltem Gebete geschlossen. Am ihm die Überzeugung zu nehmen, ich habe mich durch Rücksichtslosigkeit für die von ihm erfahrenen Kränkungen rächen wollen, erzählte ich alles, was ich um ihn gelitten hatte. »Nach allem, was geheim zwischen uns hin- und hergegangen ist.« damit vollendete ich meine Erzählung, »und was, wie ich immer deutlicher sehe, der Wahrheit unserer Gefühle entspricht, konnte ich nicht anders als ehrlich, ohne Rückhalt zu Ihnen sprechen, um Ihnen und mir zu dienen, und nun bitte ich, geben Sie die Verschlossenheit auf, die, wie ich ahne, zu lange gleich finsteren Wänden um Sie gestanden hat. Denn aus der Luft, die um Sie hängt und beklemmend Ihr ganzes Haus erfüllt, ersehe ich ...«

Faber ließ mich nicht ausreden, er kehrte mir sein erschüttertes Gesicht zu, erfaßte meine Hände und sagte mit leise vibrierender Stimme nichts als die beiden Worte: »Du! ... Bruder!«

Damit war auch äußerlich ein Band geschlossen, das lange unsere beiden Seelen auf geheimnisvolle Weise vereinigt hatte. Nachdem wir eine kurze Weile in dieser Stellung verharrt hatten, löste Faber nach einem vollen Druck seine Hände aus den meinigen und trat in einer Art ans Fenster, die mich aufforderte, ihm dahin zu folgen. Es war das linke der beiden Fenster, an das wir traten. Von dessen oberer Hälfte streckte ein Lärchenbaum, der die Ecke des Hauses schützte, seinen untersten Ast schräg vorüber. Ein Fink ging eben mit behutsamem Trippelschritt tiefer in das Geäst hinein. Wir beide sahen den zierlichen Bewegungen des Tierchens zu, das mit ängstlich starren Punktaugen nach uns blickte, und rührten uns nicht, um es nicht zu verjagen.

»Es sucht sein Nest auf«, sagte Faber mit versonnentrauriger Stimme. »Es weiß, wo es ruhen soll, und wenn es dann am Morgen aufwacht, ist ihm sein Lied gewiß.« Mit einem tiefen Atemzug schloß er die Betrachtung.

»Wenn er in der Nacht nicht einer Katze zum Opfer gefallen ist«, setzte ich hinzu, um ihn aus seiner, wie ich glaubte, sentimentalen Anwandlung zu reißen.

»Wenn auch, so bleibt ihm doch die Qual erspart. Da es den Tod nicht kennt, leidet es nicht an seinem Leben«, antwortete er.

»Oder umgekehrt«, erwiderte ich.

»Mag sein. Trotzdem ist es seines Lebens sicher, solange es lebt«, sagte er finster nach einigem Sinnen.

»Und warum sollten wir Menschen es nicht sein?«

»Weil wir unseres Wesens nicht sicher sind, unserer Notwendigkeit, unserer Absichten; weil unser Ich ein so vielfältig gesponnenes Seil ist, daß, wer es entwirren will, in seiner tiefsten Seele schwindelnd, davon ablassen muß, weil jeder neue Gedanke über die alten stolpert, sich in ihren Netzen verfängt und so im Kreise gewirbelt wird, dem er entrinnen wollte. – ›Ich‹, mein lieber Kastner, ›Ich!‹ Wenn die Rechte die Linke faßt, haben wir das ›Ich‹. So kommt man nicht von der Stelle und sieht doch in qualvoll klaren Augenblicken das Land, wohin man wandern soll.«

Er schloß mit schwebender Stimme, nicht als ob er am Ende sei, sondern als ob er sich nur unterbreche, und tat einen unauffällig sichernden Seitenblick nach mir hin. Ich hütete mich wohl, ihn durch irgendeine Frage in seinem harten Stolz zurückzuschrecken, denn nach all dem, was ich aus seiner Umgebung und aus seinen vieldeutigen Äußerungen entnehmen mußte, handelte es sich nicht um die Folgen seines Konferenzvortrages, also um einen vorübergehenden Verdruß, sondern hier riß eine Seele an ihrem Grundreis. So harrte ich schonend. Aber ich harrte vergebens. Mein neuer Freund schwieg, und als ich nach ihm hinsah, bemerkte ich, daß er sein vergrämtes Gesicht gegen die Fensterscheiben gepreßt hielt und mit weiten, unbeweglichen Augen in den sinkenden Abend starrte. Als ich dieses Antlitz mit weichem Schmerz so den Schatten hingegeben sah, die unhörbar aus dem Himmel sanken, stieg plötzlich das Bild des keck-trotzigen Mannes vor mir auf, der mich einst am Bach in Wecknitz von sich getrieben hatte. Und ich weiß heute noch nicht, wo ich die Brutalität hernahm, ihn aus gnädigem Versinken zu reißen. Aus bloßen Vermutungen heraus, aber sicher, als wüßte ich alles, fragte ich: »So wollen Sie, willst du, in diesem Zweifel verwesen?« Er antwortete nicht. – Deswegen sprach ich weiter: »Dich auflösen, an deinem schwächlichen Erkennen verkommen – aber Faber, so rede doch! Nicht wahr, man hat dich aus dem Amte gejagt? Denn alles in deinem Hause sieht wie Flucht aus.« Da reckte er sich endlich langsam auf, sah mich mit einem schwachen Lächeln an und sagte mit leiser, versagender Stimme: »Man hat mich nicht fortgejagt. Leider. Aber was du von der Flucht gemerkt hast, das ist wahr – und nicht wahr. Ja und nein. – Die Regierung hat mir eine Rüge zugeschickt, und ich habe sie unterschrieben. Ich habe mir den Strick um den Hals gelegt, und nun kann ich nicht erwürgen. Verstehst du, und diese Sünde gegen mich habe ich aus Tugend begangen. Alles in mir und um mich ist verwirrt: Haß und Liebe, Furcht und Sehnsucht ...«

Nachdem er den vorletzten Satz ins sinkende Grau der Luft gesandt hatte, wieder, als breche er ein monotones Lied ab, fügte er das andere murmelnd hinzu und sah mit auf die Brust geneigtem Haupte weiten Auges die Diele hin.

»Du wirst vieles an mir seltsam finden,« setzte er dann mit einer vor Erregung matten Stimme fort, »für mich aber ist das Seltsamste, daß ich dich zum Ende rief und nun am Anfang stehe. Entweder ist meine Kraft meine Schwäche, oder dies Zagen bis in meine Seele hinein der einzige Weg zu meinem Frieden; du mußt wissen, es gibt Stunden im Menschenleben, in denen die Worte ihre gewohnte Bedeutung verlieren und die Gedanken wie Vögel in der Nacht sich bewegen, von denen man wohl den Flug hört, aber nicht weiß, welche Richtung sie nehmen.«

Dann schwieg er, und ich fühlte dies Zagen als eine erneute Aufforderung, ihn auf dem Wege weiter zu führen, den er so gerne gegangen wäre.

»Lieber Faber,« sprach ich dann, »rede alles, was du sagen mußt. Sicher bist du in einer jener Stimmungen, in denen Menschen die Tragweite ihrer Gedanken nicht mehr erfassen, und sie brauchen ein anderes Hirn zu ihrem Bewußtsein und ein anderes Ohr, ihre eigenen Worte zu hören und zu verstehen. Rede, und wenn du es forderst, so soll nie ein Wort dieser Nacht über meine Lippen kommen.«

»Ich fordere nichts von dir, als was du selbst von deiner Seele verlangst«, sprach er mit schwacher Stimme, und jedes seiner Worte klang fremd, als läge in ihm schon der Duft und Ton einer anderen Zeit.

»Siehst du, Kastner, wenn ich in mein Leben zurücksehe, so gleicht es ganz dieser Dämmerlandschaft, in der alles Bekannte ungenau, verschwommen, grotesk, alles Fremde sicher und vertraut erscheint. Sicher ist nur der in den Schatten vor sich, der die ungezügeltste Einbildung hat. Jeder Tag aber, den wir neu leben, sollte die makellose Folge unserer ganzen Vergangenheit sein. Wenn du mich heute so verstört und wirr gesehen hast, so ist nichts daran schuld, als daß ich an meinem Leben irr geworden bin, in dieser Unsicherheit jahrelang umsonst von den Schatten meiner Vergangenheit Klarheit verlangte und heute einen Entschluß gefaßt habe, der mir glücklich schien, solange ich allein war. Sobald du aber in meinem Hause mir gegenüberstandst, empfand ich ihn als eine qualvolle Verfehlung.

Es ist wahr, der Einsame geht an sich eher in die Irre als der Laute im Strom der Menge. Das Heiligste verträgt den allzu scharfen, zudringlichen Blick nicht. Mit jenen Gründen, aus denen unser Wesen steigt, verbindet uns am stärksten ein vertrauensvolles Ahnen. Doch, was nutzt es? Unter meinem leidenschaftlichen, zweifelsüchtigen Bohren löste sich die Welt meiner Vergangenheit zum Spuk auf. Alle Schatten tränkte ich mit meinem Sinnen, und wenn ich sie jetzt frage, so antworten sie mir mit meiner Unruhe. Aber vielleicht sind wir Menschen alle Ströme, die im Sande verkommen. Vielleicht auch ging ich schon fehl, als ich meiner noch sicher zu sein glaubte. Vielleicht ... vielleicht ...«

Kopfschüttelnd brach er ab, setzte sich auf den Stuhl neben sich, sah zu Boden und schwieg. Ich berührte ihn leise mit der Hand an der Schulter, und als er fragend das Gesicht zu mir erhob, sagte ich:

»Faber, traust du mir nicht?«

Hastig ergriff er meine Hand, und sie herzlich drückend, stieß er hervor: »Nein, nein, ich muß – ich muß mein ganzes Leben noch einmal durchkosten; dann wird es sich ja zeigen, ob ich zu Grunde gehen muß oder nicht. Jedenfalls will ich nicht gleich einem Narren zufällig in eine Grube stolpern und darin umkommen.«

Dann lehnte er sich zurück und sah lange in die Nacht über sich, um endlich mit ganz leiser Stimme seine Erzählung zu beginnen:

»Es läßt sich streiten, ob es besser sei, von seinen Ahnen zu wissen, oder über die Geschichte seines Geschlechtes im Unklaren zu bleiben. Sicher hat manchen der böse Geist deswegen unterjocht, weil die Versuchungen seines Blutes und die Kenntnis der Eigenschaften seiner Väter in ihm die Überzeugung hervorbrachten, er sitze in den Klammern eines unentrinnbaren Fatums. Jedenfalls weiß ich von meinen Voreltern gerade so viel und so wenig, daß meine Phantasie Boden genug hat, allerhand abenteuerliche Möglichkeiten für wahr zu halten.

Gesehen habe ich von meinen Großeltern keines, und das Gesicht meiner Großmutter, von kindlichen Einbildungen geschaffen, schimmert manchmal aus der untersten Schicht frühester Erinnerungen neben den Rätselgestalten erster Märchen zu mir her, daß es geheimnisvoll und niegewesen wie diese erscheint. Trocken, herb und bitterböse starrt es aus einem roten Nebel herauf, und jene schreckhafte Luft steht um sie, die das Erscheinen des Alps in dämmrige Kinderzimmer bringt. Noch heute, wenn ich mit zurücksinkendem Gefühl mich jenen Gegenden meiner Seele nähere, in der ihr Abbild ein spukhaftes Leben führt, überkommt mich eine solche Beklemmung, daß ich mit meinem Blick ins Licht entrinnen muß.

In heidnischen Städten bauten die Priester das Bild furchterregender Gottheiten auf einem Hügel über allen Dächern, damit die Menschen sich dem Banne überirdischer Not nie entziehen könnten. So wirkte das Leben dieser Frau auf das Schicksal unserer Familie.

Nur selten, und dann vorsichtig und karg sprachen meine Eltern über die Geschicke meiner Ahnen, und so sind diese gelegentlichen Bemerkungen und ein Brief, den ich nach dem Tode meines Vaters in der Schublade seines Stehpultes fand, die einzigen Quellen für die Geschichte meiner Großeltern. Danach stammten beide aus Baden, und mein Großvater bekleidete beim Ausbruch der Revolution ein höheres juristisches Amt. Nach dem Schreiben zu urteilen, das er aus Offenburg an seine Frau, meine Großmutter, richtete, muß er ein unruhiger, leidenschaftlicher Mann gewesen sein. Als er, um der Freiheit besser dienen zu können, seine Stelle im Stich ließ, ging meine Großmutter von ihm und suchte mit ihren beiden Söhnen, damals noch Knaben im zarten Alter, vor der steigenden Unruhe Schutz auf dem väterlichen Gut im Elztal. Aus dem eben erwähnten Briefe ist zu entnehmen, daß meine Großmutter damals noch eine, wenn auch feste und stolze, aber im Grunde heitere Frau gewesen sei, die nicht bloß aus Ärger über Vernachlässigung den Mann auf Zeit verließ, sondern vor allem deswegen in den Wald auswich, weil ihr diese allgemeine Gleichmacherei und der Sturm auf geheiligte Institutionen mit Hilfe ausländischer Abenteurer ein Greuel war.

Aber die Abwendung seiner Familie trieb meinen Großvater nur immer tiefer in den Trubel. Er zog am 13. Mai mit vor das Großherzogliche Schloß, reiste ruhelos im Lande umher, um die Unzufriedenheit zu schüren, und als durch den Einmarsch der Preußen das wirre Freiheitsregiment in Gefahr geriet, trat er in die Armee der Insurgenten ein. Auf diese Nachricht verließ meine Großmutter heimlich ihre Eltern und wagte sich, als Bäuerin verkleidet, unter die Aufrührer, nicht, um an dem Kampfe teilzunehmen, sondern ihn im letzten Augenblicke vor dem Schlimmsten zu bewahren und zu sich herüberzureißen. Aber sie kam zu spät. Im Treffen bei Waghäusel ereilte ihn sein Geschick. Als nämlich an diesem Tage auf die Kunde vom Herannahen des Groebenschen Korps die Freischärler den Widerstand aufgaben und die Flucht ergriffen, stürzte er, wohl aus Verzweiflung und Zorn über ihre Feigheit, allein gegen die feindlichen Bajonette und fand so den Tod, den er gesucht hatte. Meine Großmutter hat seinen Leichnam vom Felde geholt und begraben. An diesem Tage wurden wohl ihr Lebensmut und ihre ganze Seele mit verscharrt. Sie verließ ihre Heimat und kam 1850 nach Heisterberg. Schon damals soll sie das Aussehen einer Greisin gehabt haben, ein langes, mageres Gesicht voll tiefer Längsfalten, die hohe Stirn gefurcht, und einen bitteren, drohenden Ernst in den schwarzen Augen. Bis an ihr Lebensende ging sie nie anders als in tiefer Trauer; nicht nur der Kleidung nach.

Wortlos hat sie die Jahre durchmessen, ohne Lächeln, ohne Grimm, ernst und fern, daß alle, die sie gekannt, bei ihrer Berührung Schmerz und Grauen ergriffen hat, weswegen jeder glaubte, sie sei von krankem Tiefsinn besessen. Aber sie wußte stets, was sie tat, wenn die Mächte, denen sie gehorchte, auch den Menschen verborgen blieben. Wohl um ihre beiden Knaben aus Verhältnissen zu reißen, die sie leicht in die unselige Bahn ihres Vaters ziehen konnten, verließ sie ihr Vaterland und gründete sich zu Heisterberg in Schlesien mit den Resten ihres Vermögens eine bescheidene Existenz. Die Monotonie ihres Schmerzes, die übertriebene Strenge eines verängsteten Herzens, all die Enge, Härte und Unnahbarkeit, die um diese todeswunde Frau immer lasteten, waren kein Boden für die Buntheit und Freude, nach der nun schon alle Kinder langen, nach der auch ihre beiden Knaben hungerten. Der jüngere, eine ungebärdige, hochbegabte Seele, zerriß die Kette des mütterlichen Regiments als siebzehnjähriger Bursche, indem er vom Krankenlager weg, kaum genesen, mit der Nonne, die ihn gepflegt hatte, durchging und nie mehr etwas von sich hören ließ. – Meine Großmutter muß die bei Frauen so seltene Scheu vor vollzogenen Tatsachen besessen haben, denn sie rief weder nach dem Verlorenen, noch holte sie sich ihren Älteren, meinen Vater, heim, der in jener Zeit schon als Geselle in der Fremde arbeitete. Aber ihr war auch nicht mehr soviel Mut geblieben, das Unabwendbare still hinzunehmen. Nicht, daß man anfangs ihrem Leben die leiseste Wirkung des schweren Schlages angemerkt hätte. Still und aufrecht, fern und gelassen ging sie durch ihre Tage. Gegen den Herbst hin aber kam langsam eine ihr gänzlich fremde Weichheit über sie. Die sonst stets geschlossenen Fenster ihrer Wohnung standen den ganzen Tag offen, und die froh-unruhigen Rufe der Wandervögel drangen in die stumme Stube. Dürre Blätter, die ein Windstoß auf die Dielen legte, hob sie mit vorsichtigem Finger auf, als seien es Schmetterlinge, und wenn sie in das große Sterben draußen herniederwirbelten, schaute sie ihnen mit einem Gesicht nach, unter dessen Unbeweglichkeit der Glanz einer großen Freude zu schimmern schien. So stand sie und sah oft stundenlang durch die Kronen des Gartens auf den Himmel, der sich von Tag zu Tag mehr umwölkte. Als die Zeit herangekommen war, in der durch tiefe, unbewegliche Nebel dann und wann ein rotes, windvergessenes Blatt taumelt, ein letzter, müder Sonnenfunke, erhob sie sich nicht mehr von dem Stuhle, den sie sich hart an die Scheiben gerückt hatte. Vom Morgen bis in den Abend hinein saß sie in seltsam aufgereckter Haltung, und die Füße waren zusammengestellt, wie in steter Bereitschaft zum Gange. Hin und wieder, je weiter dies unheimliche Erstarren fortschritt, immer länger, ließ sie ihren Kopf in den Nacken sinken und starrte mit weiten, unbeweglichen Augen über sich. Dort droben in der Tiefe sah sie wohl Wege, deren unentwirrbaren Verschlingungen sie nachsann, und hob sie die Stirn wieder herüber, so lag das unerbittlich herbe Antlitz in dem weißen Haar wie das Gesicht einer Toten im Schnee. Nie mehr entkleidete sie sich; selbst während des Schlafens kamen die Schuhe nicht von ihren Füßen, bis sie eines Tages nicht mehr aufstand. Von der Aufwärterin, die an ihrem Bette erschien, verlangte sie Schreibzeug und Papier. Mühsam sitzend, kritzelte sie das einzige Wort »Komm!« auf eine Karte und adressierte sie an meinen Vater. Als der nach drei Tagen eintraf, lag sie schon in den Schatten des Todes. Mit einem bösen Blick vertrieb sie die Wärterin aus der Stube. Dann hörte man den Riegel im Schloß der Tür gehen.

Am Abend trat der Herbeigeeilte blaß und tiefernst aus dem Krankenzimmer. Drin aber lag eine Tote. Was die Sterbende in diesen letzten Stunden zu meinem Vater geredet, habe ich erst sehr spät erfahren.

Unnatürlich gereckt, wie in der Entschlossenheit eines zu allem bereiten Willens, lag die Leiche im Sarge, angetan mit ihren werktäglichen Kleidern, die Schuhe an den Füßen, ein Tuch um die Schulter geschlagen. Zwischen den zu Fäusten geschlossenen Händen steckte ein Kreuz. Auf den halbgeöffneten Lippen, in den heraufgekehrten Sternen der weit aufgerissenen Augen lag ein letztes, verzweifelt-furchtbares Drohen. So ist sie, ihrem Wunsche gemäß, auch begraben worden.

Wenige, meist alte Weiber, die aus Gewohnheit und Langeweile mit jeder Leiche gehen, erwiesen ihr die letzte Ehre. Wir waren eine fremde Familie, von weit her, meine Großmutter hatte nie Anschluß gesucht, sondern systematisch jede Annäherung durch Verdoppelung der Herbheit von vornherein abgelehnt. Was sollte man sich um die Tote kümmern? Die Handvoll Leute standen nicht harmlos in dem wohligen Schmerz, der eine so seltsame Sicherheit gibt, umher, sondern offensichtlich hielten sich die meisten von dem Grabe fern. Nur da und dort wagte ein Kühner näher zu treten und mit langem Hals auf den Sarg in der Grube zu blicken, als halte es die ganze Versammlung für gar nicht so unmöglich, daß es der Toten einfallen könne, den Deckel zu sprengen und kraft ihrer geheimnisvollen Macht mit den mageren Händen am Grabesrand heraufzuklimmen und unter Hohngelächter alle davonzutreiben. Sie lag ja nicht ergeben wie andere da unten, sondern zu allem bereit, mit lauernd-weiten Augen, das Kreuz wie einen Hammer in der gefausteten Hand, hockte sie gleich einem argwöhnischen Wächter in ihrer Erdnische und verfolgte alles mit unbestechlich bitteren Augen, was oben im Lichte vorging.

Mein Vater hat während der Zeremonie dagestanden wie ein Bild aus Stein: aufrecht, tränenlos, eine finstere Blässe im Antlitz, selbst ohne jenes leise Vibrieren des Schmerzes, das auch sonst starke Menschen im Unglück durchlauft. Am Ende soll er drei große Schaufeln Erde auf den Sarg seiner Mutter mehr geworfen als geschüttet haben. Dann wendete er sich schroff ab und schritt einsam nach Hause.

Diesem und jenem aus dem Grabgeleit, der sich verstohlen nach meinem Vater auf dem Heimweg umschaute, soll er ganz verwandelt vorgekommen sein, als ob man seine Jugend verscharrt habe. Aufrecht, düster und ein wenig spöttisch, gleich seiner Mutter, sei er für sich hingegangen, mit langen, unbeirrten Schritten. Durch den Tod werden nahe Menschen erst in uns geboren. Die wundergläubigen Augen des Volkes sahen nachher in mancher schwarzen Wolke, die still und düster durch den Mondschein über unserem Dach hinwandelte, das Gespenst meiner gestorbenen Ahne, das wohl auch unbeweglich da droben stehen blieb, bis es beim Geläut der Morgenglocke brausend zerstob.

Erst viel später, da meine Seele schon unrettbar in dem Strom eines schweren Schicksals untergetaucht war, erfuhr ich von dem Spuk, auf dessen Einfluß man allgemein die Fügungen zurückführte, von denen unsere Familie heimgesucht wurde. Aber da kochte mir der Kopf noch so toll, daß ich nicht Zeit fand, mich nach meiner Ahne in den Wolken umzusehen. Nur jetzt, da die Kette, an die ich geschnürt bin, von Jahr zu Jahr kürzer wurde, so daß ich mit meinen Füßen nur um meine Füße laufen kann, erliege ich an manchen drückenden Abenden dem Wahn, die harte Alte fahre über dem Rücken der Feistelberge langsam durch die Luft und drohe mit den Augen zu meinem Fenster herüber. Gerade dort, durch den Sattel kommt sie dann.«

Faber wandte den Kopf eine Weile nach dem Fenster hin, als wolle er prüfen, ob das Gesicht, von dem er gesprochen, ihn eben wieder schrecke, ruckte aber jäh wieder herum und brach in ein spöttisches Gelächter aus. Noch ehe es verklungen war, wurde vorsichtig an die Tür geklopft. Er rief barsch sein »Herein« und sprang auf, als wollte er dem Kommenden entgegengehen. Als aber Liese langsam und umständlich, mit Lampe, Tischtuch und noch vielem anderen beladen, unter schüchternem Gruß zu uns hereintrat, hielt er mitten im Schreiten inne und maß sie mit einem langen Blick. Dann wandelte er weiter an den verlaufenen Stühlen hin, an der Kleiderkiste vorüber, bis in die Nähe der Fenster, immer das Auge brütend gesenkt und die Hände auf dem Rücken. Liese kam und ging indessen lautlos ein und aus. Sie trug ein buntgeblümtes Kattunfähnchen, eine weiße, umkrauste Schürze und litt augenscheinlich unter meiner Gegenwart und der bitteren Insichgekehrtheit Fabers. Einigemal huschte ihr braunes, übergroßes Auge zu ihm hin. und weil sie sich von mir beobachtet fühlte, lächelte sie jedesmal schwach hinterher, um mich irrezuführen.

»Es ist gedeckt«, sagte sie endlich leise und trat vom Tisch zurück, gegen die Tür hin.

»Schön,« antwortete Faber und fuhr aus seinem Nachsinnen herauf, »und nun gehen Sie nach Hause.«

»Erst werde ich aber doch das Geschirr wieder mitnehmen müssen.«

»Ja, richtig. Natürlich!«

»Und dann will ich auch warten, weil doch vielleicht noch dies und das zu holen ist.«

»Liese!« sprach Faber jetzt gedehnt und ironisch betont. Dabei sah er sie so scharf an, daß das Mädchen ganz verwirrt wurde.

»Nun ja.« antwortete sie, jäh errötend, »und dann kommt doch Schröfel noch um achte.«

»Er soll morgen noch einmal nachfragen. Es wird sich ja zeigen.«

Liese hatte während dieses Gesprächs die verirrten Stühle geordnet und bückte sich eben nach der Kleiderkiste. Bei den letzten Worten Fabers schrak sie herum und stotterte erbleichend:

»Ich sollte ihn aber doch abbestellen.«

»Nein, es kann sich doch wohl noch ändern«, antwortete Faber gezwungen – leicht, ihren plötzlich ratlos gewordenen Blicken ausweichend.

Einen Augenblick stand das Mädchen betroffen da. Dann sagte sie dumpf: »Nu da«, und ging hinaus. Ihre abfallenden zierlichen Schultern waren noch hängender, das Köpfchen auf dem schmalen Hals tief geneigt, das ganze krankhaft feine Figürchen eingesunken. Zögernd knarrte die Tür ein; unentschlossen, dann und wann aussetzend, hörten wir ihren leisen Schritt auf der Stiege.

Wir sahen schon am Tisch, und Faber lauschte mit dem Ausdruck der Trauer ihrem verhuschenden Gange. Plötzlich riß er sich zurück und sagte:

»Ja, das nutzt eben nichts!«

Dabei zuckte er leidenschaftlich die Achseln und atmete tiefer aus.

Weil ich ahnte, daß zwischen den beiden eine tiefere, feinere Unstimmigkeit herrschte, als die gelegentliche Mißhelligkeit zwischen Herr und Dienstbote, hütete ich mich, mit einem Wort daran zu rühren, sondern kam, ein klein wenig innerlich beklemmt, der Aufforderung Fabers, tüchtig zuzulangen, nach. Denn ich war gewiß, die nächsten Stunden würden auch über diese Angelegenheit Licht verbleiten. Das behagliche Gespräch, wie ich es beim Mahle liebe, war aber mit meinem Gegenüber nicht in Gang zu bringen. Er begnügte sich mit halben Antworten und hantierte dann wieder leidenschaftlich mit dem Eßgerät, stumm und eilig, wie es die Art Einsamer ist.

»Dein Vater übernahm nach dem Tode seiner Mutter das Anwesen?« fragte ich darauf, denn ich hoffte, Faber so wieder in Bewegung zu setzen.

»Anwesen. Na ja. Es war ein einstöckiges, holzgedecktes Häuschen, eng und verwinkelt, das ein wenig in die stille Wiesenstraße hineinsprang.«

»Von seinem Bruder hat er auch damals nichts erfahren?«

»Nichts. Das Gericht erließ, wie das in den Fällen üblich ist, eine Aufforderung in allen Zeitungen an ihn, sich zu dem Erbe zu melden. Ohne jeden Erfolg. Es war wenig zu holen, und ihm lag wohl daran, verborgen zu bleiben.

»Dein Vater blieb lange ledig?«

»Ja, aber wie kommst du zu der Ansicht?«

»Nun, ehe seine Seele sich mit der toten Mutter ganz auseinandergesetzt hatte, mußte wohl eine lange Zeit vergehen.«

Faber sah mich verlorenen Auges lange an und antwortete dumpf:

»Hast recht, hast ganz recht. Vielleicht war es ihre Absicht, meine Geschwister und mich überhaupt zu hintertreiben. Es sieht wirklich fast aus, als sei ich unberechtigter Weise auf der Welt.«

Bei diesen Worten nickte er schwer mit dem Kopfe, indeß er hüstelnd Brotkrümchen auf dem Tischtuch zusammenlas.

»Aber Faber!«

»Nein, nein«, antwortete er heftig auf meine Mahnung. »Muß eine Mutter, die im Leben vollständig Schiffbruch gelitten hat, nicht sehnsüchtig wünschen, daß ihren Kindern ein gleiches Los erspart bleibe, und kann der Mensch anders vor der Qual des Lebens bewahrt werden, als daß man seine Geburt verhindert? So ist wohl der Schatten der Toten immer drohend mit meinem Vater aus- und eingegangen und hat an seinem Bett gesessen und sich über seine arbeitenden Hände gebeugt. Es sind gewiß schlimme, finstere Jahre für ihn gewesen. Mit seinem Handwerk ging es auch nicht vorwärts. Oft waren Pfennige seine ganze Barschaft. Er hat mir manchmal davon erzählt. Aber zuletzt – zuletzt – es kann nicht anders gewesen sein – die toten Menschen haben eine größere Kraft über uns als die lebendigen; ihre Liebe ist Unerbittlichkeit; ihr Mahnen Drohen; ihr Ernst hat nur Peitschen, und ihre Enttäuschung über uns wird zur Verzweiflung des Herzens. Ob wir zurückweichen vor ihnen, ob wir ihren blassen Spuren folgen: es ist gleich, wir verfallen immer tiefer jenem unwandelbaren Erstarren, aus dem heraus die Entschlafenen schrecken oder anziehen. Und ehe mein Vater von seiner toten Mutter ganz ausgesogen war, stellte er in der Notwehr zwischen sie und sich milde, still verzückte Augen, eine reine, tiefe Seele und ein heiliges, liebes Herz: sein Weib, meine Mutter.«

Faber hatte zu essen aufgehört und starrte, die Arme aufgestützt, jetzt stumm auf den Tisch.

»Du willst damit sagen,« sprach ich, »daß eigentlich nicht Liebe sie zusammengeführt hat?«

»Liebe,« erwiderte er dumpf, »wenn man darunter die Tanzwanderung nach einer außerirdischen Sonne versteht, nein; aber insofern Liebe des Lebens tiefste, unumgängliche Notwendigkeit ist, ja. Trotzdem ehelichte mein Vater meine Mutter nicht, sondern nahm sie nur zu sich.«

»Er schloß also eine Gewissensehe?« fragte ich.

Faber lächelte spöttisch.

»Nein, nein! Alles war komplett: Aufgebot, Trauung mit Ring, Weihe und Pfarrer. Gott bewahre! Aber sie blieben Getrennte auch nach der Vereinigung. Das weiß ich gewiß, denn ich erlebe es an mir bis heute. In jeder Neigung und Hoffnung, in jeder Sehnsucht und jedem Entschluß bin ich gespalten. Wir müssen, nicht weil wir wollen, sondern aus Zwang, aus unerbittlicher Not heraus. Ich kann eher aus der Welt hinausspringen als aus dem Tanz, zu dem die da drunten mir aufspielen.«

Ich begnügte mich damit, den Kopf verneinend zu bewegen.

»Nicht?« fragte mich Faber und sah finster aus.

»Nein,« antwortete ich fest und ruhig, »denn dann hätte unser Leben keinen Zweck und keinen Sinn, als die Zwecklosigkeit und den Widersinn derer, die wir zeugen und dadurch in den Tod hetzen. Siehe, alle unsere Handlungen nach der Vergangenheit werten, heißt immer in der Nacht bei Lampenlicht arbeiten. Erinnerung ist eine Denktätigkeit. Können wir nicht Denkfehler begehen, und hast du vorhin nicht selbst gesagt, daß unter zweifelsüchtigem Bohren dein ganzes Leben sich in Spuk auflöst?«

Faber saß auf diese Entgegnung eine Weile betroffen da, dann sprang er so heftig auf, daß sein Stuhl polternd zurückfuhr und begann, die Hände tief in die Taschen gewühlt, stark in der Stube auf- und niederzuwandern. Kaum war er dreimal die kurzen Dielen hin- und hergeschritten, als Liese die Tür geräuschlos öffnete, erschreckt stutzte und, weil ich auch aufstand, herankam und den Tisch abräumte. Sie war noch immer tiefblaß und verängstet. Faber aber trat sofort ans Fenster und sah hinaus. Ich nahm ein Buch, und darin blätternd warf ich dann und wann einen Blick auf die beiden. Ohne das Auge zu erheben, ordnete Liese alles, langsam und Peinlich genau, wie mir schien, mit Absicht trödelnd. Doch mein Freund regte sich nicht, sondern war in dem Anblick der schönen Nacht versunken. Da ging sie endlich, hielt in der Tür einen Augenblick inne, richtete ihren Blick nach Faber hin, als wolle sie ihn anreden, atmete aber nur tief und verschwand. Auf das Einschnappen des Schlosses erhob sich Faber eilig und ging ihr nach. Ich hörte ihn auf der Treppe gedampft und gütig auf sie einreden, die mit Trauer in der Stimme antwortete. Als er wieder hereingekommen war, trat er vor mich hin und schüttelte lächelnd den Kopf.

»Ein seltsames Mädchen! Sie bildet sich ein, wir könnten sie noch zu dieser oder jener Hilfeleistung brauchen und ist mit nichts zu bewegen, nach Hause zu gehen. – Da wird sie nun da unten sitzen und gespannt auf jeden Laut und Schritt von uns lauschen. Was soll man da machen?«

Die letzten beiden Sätze waren durch eine Pause von seinen übrigen Worten getrennt. Sie furchten die Stirn schon wieder mit der tiefen, bösen Falte über der Nasenwurzel und zitterten von Leidenschaft. Ich konnte nur nicht erkennen, ob diese Bitterkeit sein Ernst oder seine Maske war, und noch ehe ich mit behutsamen Worten an diesem Schleier rühren konnte, trat er schon wieder von mir weg und lehnte sich zum offenen Fenster hinaus.

Er riß sich rasch von mir los, wie Menschen tun, die empfinden, daß des anderen Seele ein Ahnen auf sie richtet, dessen Aussprechen sie verhindern wollen. Ich folgte lächelnd und beugte mich neben ihm hinaus. Er machte mir Platz, so gut es ging, löste aber den Blick seiner Augen nicht von dem Himmel, der in reiner Bläue sich über dem tiefschwarzen Rücken der Feistelberge spannte. Das Licht seiner Steine zuckte und glomm unruhig, als flackere es unter der Wucht eines unhörbaren Sturmes.

»Liese scheint mir von der Hartnäckigkeit besessen zu sein, die schwächlichen Menschen eigen ist.« Mit diesen Worten, die ich möglichst belanglos sprach, nahm ich gegen seinen geheimen Willen die Unterhaltung wieder auf.

»Ja, aber sie hat die Hartnäckigkeit der Güte«, antwortete er nach einer Pause.

»Dann, denke ich, müßte sie aber gerade deinem Wunsche nachkommen und zu Hause ihrer überbürdeten Mutter helfen. Du sagtest doch, sie sei die Älteste einer armen, kinderreichen Familie.

»Nun, sie wird schon gehen«, sagte er nach längerem Schweigen und setzte bald darnach, um die Unfreundlichkeit seiner Worte abzuschwächen, wie mir anfangs schien, aus purer Verlegenheit hinzu: »Es ist ein Glanz, ein Glanz ... da drüben, rundum, die Sterne! ...« und seine Stimme brach wieder im Schweben ab.

Aus tiefer, strömender Hingegebenheit redete nach kurzer Pause seine untergetauchte Seele zu sich: »... und sie kehren sich nicht daran, was ich von ihnen will, und wenn ich mich auch wegwende und trübsinnig auf meinen Schatten stiere, so blühen sie weiter hinter meinem Rücken. Vielleicht sind Ideen über das Leben die tiefsten Verfehlungen am Leben. Warum kann man nicht heute noch wie ein Kind sich genügen lassen an dem Schimmer, den uns das Licht ins Haar flicht? Die Welt ist ja nicht anders geworden. Das glimmt und strahlt noch wie in der Kindheit, und nichts hindert mich im Grunde, den Garten da drunten für das Gärtlein hinter meines Vaters Haus in der Wiesenstraße zu halten.

Komm, setzen wir uns hinein.

Unser kleines Haus war von irgendeinem armen Teufel, den niemand mehr kannte, an einen kurzen, jähen Hang gebaut worden und hielt sich nur mit einem tiefen Felsenkeller in der Erde fest. Mein Vater sagte einst: die alte Budike wird noch einmal ganz herunterrutschen und nimmt uns alle mitsammen mit, und wenn des Dorn-Schusters Haus drüben nicht stände, so spränge sie wohl über die Gasse hinüber und fiele gar hinunter bis auf die Brauergasse zwischen die Steinmauern.

Da lag ich oft bis tief in die Nacht hinein und lauschte, ob das Haus sich aufmache, unversehens mit all den schlafenden Menschen den kühnen Gang zu wagen. Ich hatte einen festen Glauben an die friedliche Sicherheit seiner Mauern, wenn auch die vordere Wand sich schief gegen die Straße stemmte, als wehre sie herzhaft einem verborgenen Wagemut, der irgendwo seinen Sitz hatte. Ja, ich vertraute unserem niedrigen, hochgegiebelten Holzhause mit seinen verträumten Fenstern ganz. Und wenn es ja einmal anderen Sinnes werden sollte, so konnte nur der Wind schuld sein, von dem ich damals glaubte, er niste wie die Vögel in den Bäumen unseres Gartens, weil er auch so zu fliegen verstand wie sie und noch viel mehr. Am Tage war er unsichtbar; in der Nacht aber, wenn ich so lag und horchte, nahm ich wahr, wie er in den Bäumen aufwachte, die davon erschraken und erst hohe, klagende Töne ausstießen. Allein niemals kehrte er sich an ihre Angst, sondern wurde stark und stärker, daß endlich alle Bäume ganz laut zu schreien begannen, am lautesten der hohe Birnbaum am Pförtchen, an dessen Stamm die Hundehütte für unsern Murr stand. Selbst der Haselstrauch hinten an Sebalds hohem Bretterzaun ließ es sich nicht gefallen, und ich hörte ihn ärgerlich wispern, wenn die großen Bäume ein wenig still waren, um Atem zu schöpfen. Der Wind kehrte sich nicht an die Starken und die Schwachen; er schlug nur immer auf sie ein in schweren Stößen, bis er sich endlich aus ihren Kronen losgemacht hatte und in langem Brausen über unser Haus flog. Das sollte immer mitfliegen. Doch es mochte nicht, denn es wußte, wir alle schliefen in ihm und durften nicht gestört werden. Ob der Wind es auch stieß, so viel er konnte, daß es vor Angst bebte und mit seinen Fenstern klirrte, es wich aber doch nicht von der Stelle, unser braves Haus, sondern wehrte sich, so gut es ging, heulte mit den kurzen Essen, schrie kreischend mit seiner Wetterfahne und knirschte vor Wut mit den Wänden bis tief in die Erde hinein. Ein paarmal bog ich mich aus dem Bett und guckte hinaus in die Nacht. Da stand der Himmel strahlend blau, die Sterne flimmerten und flirrten scharf und grell, und dann und wann sah ich des Windes schwarze Wolkenflügel eilend darüber hinjagen, daß selbst die Sterne ihre schönen glänzenden Augen vor Entsetzen schlossen. Dann kroch ich schnell und ängstlich zurück und wühlte das Gesicht in die Kissen, weil ich dachte, nun würde das Haus doch nicht länger widerstehen, sondern gleich mit uns allen in die Brauergasse hinunterstürzen zwischen die Steinmauern. Ich schloß die Augen und fühlte schon bald, wie ich flog, wiegend und schwang immer weiter hinaus und hinauf, an den Sternen vorbei, bis in den Himmel hinein. Unser Murr lief hinter mir her, und ich hörte ihn immer schwächer tief unter mir bellen. Manchmal folgte auch meine Mutter mir Davongetragenem. Sie breitete die Arme nach mir aus und rief mit hoher, klagender Stimme. Aber es gelang mir zum größten Schmerze nicht, mich von der Gewalt, die mich hinauswiegte, loszumachen. Und oft war am Morgen mein Kissen noch naß von den Tränen, die ich im Traume vergossen hatte. Dann blieb ich immer solange liegen, bis die Nässe verschwunden war, denn um alles in der Welt hätte ich nicht über mein Traumerlebnis und meine geheimen Besorgnisse reden mögen. Aber mich, nach der niedrigen Decke unseres Kinderstübchens schauend, ruhte ich noch halb im Banne der seltsamen Nachtgesichte, lauschte ihren Tönen in mir nach und genoß mit geschlossenen Äugen den bunten Wandel ihrer Vorüberflucht oder sah meinen beiden Geschwistern, Peter und Resa, zu, die sich unter großem Geräusch zum Schulgange rüsteten. Während die beiden nach ihren vielverstreuten Kleidungsstücken umhertobten und bei den vielfältigen Zusammenstößen ein jedes in seiner Weise explodierten, Peter in etwas ingrimmiger Tätlichkeit. Resa in tränenvollen Beteuerungen ihrer Unschuld, die endlich in Injurien übergingen, fühlte ich kleiner, traumumfangener Nesthaken mich weit von ihnen entfernt und war nicht imstande zu begreifen, wie meine älteste Schwester so lieb zu den beiden Unholden sein konnte. Sie war schlank und blaß, ihr Gang fast lautlos und so ruhig, baß der überdicke, weißblonde Zopf auf ihrem Rücken sich kaum rührte. Nie verließ sie ein singender Friede, nie ihre immer stummfrohe Ruhe. Mit unbestechlicher Konsequenz versah sie die ihr übertragene mütterliche Hilfe und verstand es, dem unerträglichen Wortschwall Resas sowohl wie den tätlichen Insulten Peters endlich einen Dämpfer aufzusetzen, ohne mit dem unendlich gefürchteten elterlichen Eingreifen zu drohen. Einst aber, als Resa von einem unvermuteten Stoß ihres Erbfeindes Peter zwischen zwei Stühlen so zur Erde geschlagen war, daß ihre Stirn blutete, wandte sie sich, noch blasser als sonst, nach der Tür, um wirklich den Vater herbeizurufen. Da entfuhr meinem Bruder ein schleckvoller Fluch. Als Anna dies schlimme Wort gehört hatte, stand sie einen Augenblick wie gelähmt, ihre blauen Augen kummervoll auf den Missetäter geheftet, der immer tiefer in den Winkel zwischen Bett und Wand kroch. Dann sank sie auf einen Stuhl, bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und stotterte unter Schluchzen: Ach, Peter, jetzt wird dich Gott strafen. In diesem Moment sah ich von meinem Spiel auf und bemerkte, daß mein Bruder kohlschwarzes Haar und unbewegliche, dunkelglühende Äugen habe. Weil ich das früher an ihm noch nicht bemerkt hatte, glaubte ich, das sei die Strafe für seine Todsünde, und hielt mich seit dieser Zeit aus verborgener Furcht von ihm noch ferner. Auch an dem Morgen, der mir eben in der Seele steht, nach einer Nacht, in der ich vom Traum wieder durch rätselvolle Weiten geführt worden war, erhob ich mein Äuge aus kindlich wichtigem Sinnen und sah, wie meine Geschwister die Tür stürmten. Resa war, ihre Tasche schwenkend, schon hinaus, Peter beugte sich noch einmal in die Stube herein und blies aus Leibeskräften auf mich zu, als habe er die Absicht, mich mit seinem Atem von der Bettkante herunterzuwehen. Seine Augen waren in der Anstrengung noch größer und starrer; sein voller, aufgetriebener Mund, die ungewöhnliche Rundung seiner Wangen, die leidenschaftliche Verzerrung des ganzen Gesichts flößten mir kleinem Menschen doch so viel Furcht ein, daß ich vorsichtshalber unter meine Decke kroch. Als ich mich wieder hervorwagte, klang Peters Lachen schon von der Stiege her, und Anna stand vor dem kleinen Spiegel. Sie hatte ihre schweren, blonden Zöpfe heraufgenommen und legte sie versuchend bald so oder so über den Scheitel. Durch den winzigen Scherben mußte sie wohl meine Augen gesehen haben, die mit stiller, ernster Aufmerksamkeit all ihren Bewegungen folgten, denn plötzlich warf sie ihre reichen Haare wieder zurück und wendete sich mit feinem Lachen um.

»Na, was siehst du denn so eigen auf mich, Franzel?« fragte sie mich unter glühendem Erröten.

»Wenn du die Haare so hast wie vorhin, kannst du da auch eine Königin werden?« fragte ich wieder.

Da stürzte sie auf mich zu und küßte stürmisch mein ganzes Gesicht, indem sie mich immerfort dummes Franzel nannte. Das gefiel mir nicht lange, und ich wollte aufstehen. Während sie aber sonst beim Anziehen mit mir sehr übermütig war und mich oft unversehens in die Luft schwang und herumtanzte, klagte sie diesmal über Schmerzen in der Brust, als sie mich auf den Stuhl hob. Ich aber achtete nicht darauf, daß sie dasaß, die Hände auf den Schoß faltete und schwer nach Atem riß, sondern schlug mich schon wieder geheim mit Bedenken, was werden solle, wenn der Wind einmal unser Haus einstieß.

»Kann Peter auch Wind blasen?« fragte ich.

»O ja«, antwortete sie.

»Solchen Wind, wie er in den Bäumen schläft und über unser Haus geht?« drang ich wieder in sie.

»Nein, solchen nicht«, gab sie mühsam zur Antwort.

»Aber der Luftwind kann ein Haus einschmeißen?« fragte ich weiter.

»Freilich«, antwortete sie leise.

»Und den Himmel auch und die Sterne auslöschen?« So belästigte ich sie in einem fort.

Anna legte endlich die Hand auf meinen Kopf. Da fühlte ich, wie sie leise zitterte, und ich hörte auf, von dem Winde zu sprechen, damit sie sich nicht noch mehr ängste. Dann gingen wir in den Garten an Murr vorüber, der vor seiner Hütte saß und freudig den Schwanz im Grase rührte. Sonst mußte er »Schön« vor uns machen und das Pfötchen geben. Heute aber wandelten wir an ihm vorbei, und er hörte auf zu wedeln, hielt gedankenvoll den Kopf schief und sah uns ernst an.

Es war ein ganz stiller, weißleuchtender Maimorgen, die Bäume ragten viel höher in den Himmel als sonst, dann und wann fiel eine Blüte aus den Kronen in das Gras herunter und lag dann im Grün, als sei sie aus der Erde gewachsen. Ich fragte, ob die andern Blumen auch aus dem Himmel kommen, und meine Schwester sagte ja, das geschehe in der Nacht, wenn alle Menschen schlafen. Sie fallen von dort her zu uns, wo die Sterne blühen. Deswegen sehen die meisten auch aus wie Sterne, und manche sind weiß und gelb wie diese. Die Kinder und alle Menschen stammen auch aus dem Himmel und dürfen dahin zurückfliegen, wenn sie müde geworden sind auf der Erde. Dann wandeln sie droben zwischen den Sternen, wie sie hier unten an den Blumen hingegangen sind.

Wir spielten an der rechten Langseite des Gartens auf und nieder, wo eine Reihe Stachelbeersträucher standen, unter deren Blättern schon kleine, grüne Beerchen hingen. Denn an Sebalds hohen Bretterzaun wagte ich mich nur ganz selten, weil wir uns vor dem Manne fürchteten, den noch niemand gesehen hatte. Es ging das Gerücht unter uns Kindern, es sei ein mißgestalteter Zwerg, der immer mit einer scharfen Hacke hinter dem Zaune auf uns lauere. Wir hörten ihn manchmal unter bösem Murmeln Steine an die Bretter werfen oder mitten in unser Singen und Spielen mit schriller Stimme schimpfen. Deswegen zog ich meine Schwester auch an diesem Morgen zurück, wenn sie sich allzunahe an den Haselstrauch heranwagte, der in der Ecke nach Sebalds Garten breit und ungestört wucherte. Indessen stand mein Mund nicht still. Aus den großen, blauen Augen, mit denen Anna meinem Heraufschauen immer voll stiller Güte begegnete, schöpfte ich einen Mut zu Bekenntnissen aus dem Innersten der Seele, der mein Herz beklemmte und doch antrieb, sich immer aufs neue zu offenbaren.

»Nicht wahr,« fragte ich meine Schwester weiter, »der Wind trägt die Leute in den Himmel?«

»Nein, das tun die Engel«, sprach sie. »Die sendet Gott jedesmal, wenn ein Mensch auf Erden im Tod liegt«, antwortete sie und stand still und sah über sich, wo im hellen Blau eben ein paar weiße Wölkchen schwammen. »Sieh dort, so weiß sind ihre Kleider, und so unhörbar wie die Wolken nahen die Engel den Menschen und nehmen sie mit sich.«

Lange schauten wir den glänzenden Wolken zu, so lange, bis sie im Lichte zergingen. Mir war recht ängstlich zu Mute, daß die Engel, die die Leute von der Erde holen, so nahe über uns flogen, deswegen atmete ich erleichtert auf, als sie verschwunden waren.

»Aber den Sebald, der immer mit der Hacke hinter dem Zaune steht, den holen die Engel nicht, wenn er stirbt,« sagte ich nach einigem Sinnen, »den graben die Männer in die Erde,« fragte ich weiter.

Aber Anna gab mir darauf keine Antwort, sondern fuhr mir nur mit zitternder Hand wieder über die Haare.

Um die Stachelbeersträucher wuchsen viele Blumen, besonders goldgelbe, deren Blütenblätter schön regelmäßig um einen noch satter gefärbten Knopf in der Mitte wie die Speichen eines winzigen Rades standen. Wir nannten sie Spinnrädchen und liebten sie mehr als die andern Blumen dieser Zeit. Anna sagte plötzlich, sie sei müde und setzte sich. Ich war damit einverstanden, weil ich glaubte, sie wolle mir einen Kranz flechten. Aber kaum hatte sie sich niedergelassen, als sie sich zurücklehnte, die Arme rückwärtig unterstützte und schwer nach Atem rang. Ihre Wangen waren weiß, und Mund und Augen öffnete sie so weit, daß ich meinte, sie wolle »Sterben« spielen. Doch sie erhob sich wieder, sammelte keuchend und übereilig Blumen auf ihre Schürze und begann sie zu ordnen. Ich sprang auf und holte auch Blüten, soviel meine kleinen Hände zu fassen vermochten. Anna saß und beugte sich über ihre Hände. Sie neigte sich immer tiefer auf ihren Schoß, und ich konnte gar nicht begreifen, daß sie so still blieb, ob ich auch immerfort auf sie einredete. Ihre Hände lagen schon ganz unter einem Berge von Blumen verborgen. Doch sie rührte die Finger nicht fleißig und geschickt wie sonst, sondern sank immer mehr vornüber und fiel endlich lautlos zur Seite. Anfangs glaubte ich, es sei auf einen Schrecken abgesehen und warf von weitem meine Blumen auf ihr Gesicht. Weil aber nichts, selbst nicht Kitzeln und Stoßen, ihre Ruhe stören konnte, kam eine solche Angst über mich, daß ich laut zu weinen begann und davonlief.

Noch ehe ich das Haus erreichen konnte, stieß ich gegen meine Mutter, die, deutlicher durch meine Aufregung als meine Worte, von dem unglücklichen Ereignis unterrichtet, an mir vorüber in den Garten stürmte, um bald, beladen mit der schlanken, welken Last, zurückzukehren und in der Kinderstube zu verschwinden. Ich, der ich nicht begreifen konnte, auf welche Weise meiner Schwester so übel mitgespielt worden war, fürchtete, es möchte irgend jemand einfallen, mich für das Unglück verantwortlich zu machen. Deswegen verkroch ich mich hinter einen Haufen grober Bausteine, die neben Murrs Hütte lagen, suchte mir den dunkelsten Winkel darin aus und fühlte mich geborgen, sowie ich recht von allen Seiten eingezwängt darin saß. Während ich nun, um auch von vorn gegen Eingriffe gesichert zu sein, mich bemühte, einen Stein gegen meine Füße heranzuziehen, kam mir unversehens ein schrecklicher Gedanke. Meine Schwester hatte gezittert, als ich ihr von dem wilden Winde erzählte, vielleicht war sie gar aus Angst darüber umgefallen, und mich allein traf die Schuld an dem Unglück. Gleich darauf hörte ich die Mutter und dann den Vater nach mir rufen; ihre Stimmen irrten im Hause und dann im Hofe umher, kamen gegen den Garten, und je deutlicher ich das schmerzliche Beben in dem Tun hörte, um so furchtbarer erschien mir das Ereignis, das ich angerichtet hatte, und um so fester war ich entschlossen, mich nicht zu melden. Ich zog den Kopf ein, schloß die Augen, und als die Rufe mir gar zu weh taten, stopfte ich die Finger in meine Ohren. So sah ich lange zusammengeschnürt in einer brausenden Nacht. Vielleicht bin ich gar eingeschlafen. Als ich die Augen zu öffnen wagte, war ich entsühnt und dachte, wenn ich jetzt einen Strauß Blumen pflücke und sie meiner Schwester bringe, sei alles wieder gut. Die Blüten, die auf Annas Händen und Gesicht gelegen hatten, wagte ich aus Scheu nicht anzurühren. In großem Bogen ging ich um die Unfallstelle herum und wanderte dann, mein Sträußchen krampfhaft hinter dem Rücken verbergend, dem Hause zu. Annas Bett in der Kinderstube war zerwühlt, aber leer. Furchtsam schlich ich aus dem engen, schummerigen Raume und stand eine Weile auf dem kleinen Flur unschlüssig, ob ich der Beklemmung nachgeben, das Bukett eilig hinwerfen und fortlaufen solle, immer geradeaus, irgend wohin, daß ich nichts mehr sehe und höre, oder ob ich einem Schmerz gehorche, der mich in der Kehle würgte, und laut aufschluchze. Indem ich kleine fliehendsäumige Schrittchen machte, hörte ich aus der Stube der Großmutter gedämpfte Stimmen. Das Zimmer lag unserer Schlafstube gegenüber und wurde immer verschlossen gehalten. Nur der Vater betrat es manchmal im Dämmern von Sonntagsabenden, schloß hinter sich zu und erschien dann gerader und ernster als sonst. Deswegen war dieser geheimnisvolle Raum für uns Kinder der Inbegriff alles Begehrenswerten, und unsere Sehnsucht, die mehr aus Schauer als glückvoller Erwartung bestand, trieb uns gar oft an das Schlüsselloch, durch das wir, wenn mit dem Auge nichts zu erreichen war, hineinbliesen oder wohl gar Strohhalme hineinsteckten, um dann unter Herzklopfen zu warten, ob sie nicht von Geisterhänden weggezogen würden. Jetzt aber war der Tür, die gerade vor mir lag, wenn ich mich nur ein wenig herumwandte, ein gut Teil ihrer schreckhaften Besonderheit genommen, denn ein Schlüssel steckte in dem Schloß wie in allen andern und hielt gar seinen Griff verlockend schief, als sei es von ihm darauf abgesehen, daß ich hingehe und ihn vollends herumdrehe. Aber mein Mut, stark genug, diesen Gedanken zu fassen, reichte nicht hin, ihn auszuführen, und so ließ ich mich auf der Schwelle nieder, rückte recht bescheidentlich in die Ecke und faßte mein Sträußlein fest mit beiden Händen, in der Absicht, es bei ihrem Heraustreten Anna zu reichen, damit sie mich zu sich hineinnehme mitten in die Geheimnisse der Großmutterstube. Denn seit dies Unbegreifliche sich an meiner Schwester ereignet hatte, war der Bereich ihres Lebens gewachsen, mir köstlich, tief und wundersam geworden. Ein weniges hatte ich erst in meinem Eckchen gesessen, da ging die Tür auf, und eine wohltuend tiefe Männerstimme rief gedämpft: Ah, da sitzt ja wohl der kleine Ausreißer! Mutter und Vater traten auch herzu und wollten nun von mir wissen, wie es zugegangen sei, daß Anna unter den Strauch gefallen war. Ich klemmte meine Blumen fest zwischen die Knie und schwieg, obwohl sich jedes nach seiner Art bemühte, mich zum Sprechen zu bringen: Der Vater mit strengem Gebot, die Mutter mit Liebkosungen, der fremde Mann durch gütiges Zureden. Es war umsonst. Ich durfte doch nicht sagen, sie sei von meinen Windgeschichten so erschrocken. Aber als der unbekannte Mann sein Gesicht so nahe zu mir herneigte, daß ich nichts sah, als einen langen braunen Bart und zwei forschende Augen hinter großen Brillengläsern, verließ mich meine Standhaftigkeit, und ich wirbelte in Angst alles heraus von dem Winde, den Sternen, Blumen, Wolken und Totenengeln, von Sebalds Hacke und seinem Begräbnis. Inzwischen beteuerte ich immer und immer wieder, daß ich meine Schwester nicht umgestoßen habe, und da es mir nicht entgangen war, welch günstigen Eindruck meine Verteidigungsrede auf alle hervorgebracht hatte, stand ich am Ende auf und versuchte, zu Anna hineinzuschlüpfen. Der Fremde hielt mich zurück und sagte, wenn ich meine Schwester nicht schlafen lasse, so werde sie sterben, und ich selbst könne auch krank werden. Mutter schloß die Tür ab, nahm den Schlüssel an sich, und die drei gingen stumm die steile Steintreppe hinunter. Ich blieb in meiner Ecke sitzen, und als drunten aus der Werkstatt meines Vaters Hammerschlag ertönte, hob ich mich auf die Zehen, klopfte vorsichtig an die Tür und rief leise den Namen meiner Schwester. Ich rief sie immer dringender mit all den Kosenamen, die sie so gern hatte. Es blieb totenstill, meine Stimme klang mir fremd und ängstigend, und das Schlüsselloch stierte böse und drohend auf mich. Deswegen legte ich die Blumen auf die Schwelle und flüchtete in den Garten. Das Gras lag an der Stelle, wo meine Schwester umgesunken war, noch eingedrückt, die Blumen welk und wirr. Die Baumstämme steckten gleich schwarzen Pfählen in der Erde. Kein Vogellied klang mir; es war alles fremd und leer. Nur Murr kletterte an mir herauf. Seine Kette klirrte schwach, und er sah mich mit seinen braunen Augen bittend an. Darum setzte ich mich, da, wo ich stand, ein paar Schritte hinter dem Pförtchen, zu ihm ins Gras. Er legte sich neben mich, und ich hielt ihm meine Hände hin. Als seine weiche, warme Zunge über sie leckte, brach plötzlich all der Schmerz, der dunkel und schwer auf mir lastete, los, daß ich bitterlich weinen mußte.

In derselben Nacht hatte ich einen Traum, der mir immer als Beweis gilt, daß wir in jenen unergründlichen Tiefen der Seele, aus denen die Gesichte des Schlafes steigen, nicht nur teil haben an aller verborgenen Gegenwart, sondern auch unter den Schatten der Zukunft erschauern.

Ich saß mit meiner Schwester Anna im ungewissen Lichte des niederen Bodens unseres Hauses und trieb mit ihrer Hilfe einen Kreisel über die ausgetretene Diele hin. Manchmal tanzte er rechts in das Dunkel hinein, aus dem die steile Holzstiege in den oberen Boden kletterte, manchmal fuhr er direkt gegen den Ausgang hin, um uns ins Freie zu entrinnen. Dabei stürzte er aber den Absatz hinunter, den er nicht gesehen hatte, sprang zuckend, als sei er verwundet, einigemal auf und ab und blieb dann ganz still liegen. Das machte mir ganz besonderen Spaß, und ich trieb ihn mit Absicht immer nach der Tür hin. Anna aber bat mich, davon abzulassen, denn wenn der Kreisel zu oft den Absatz hinunterhüpfen müsse, dann werde er sterben.

Sie saß halb im Dunkel der Bodenstiege, trug ein weißes Kleid und hockte auf ihren untergeschlagenen Beinen. Das Dachfenster warf einen weißen, bebenden Lichtfächer in die Dämmerung über uns. Aus Trotz hatte ich den Kreisel doch wieder über den Absatz geschlagen und warf ihn nun mit übermütigem Lachen hinauf in den hellen Kreis vor den Schoß meiner Schwester. Sie erschrak davon so heftig, daß sie mit erbleichendem Gesicht sich jäh aufrichtete und starr auf den Kreisel sah. Dieser begann sich zu meinem Erstaunen plötzlich selbst zu drehen, erst langsam mit kaum vernehmbarem Geschnurr, dann schneller mit immer stärkerem Brummen, endlich raste er mit solcher Eile über die Diele, daß er ein hohes, schneidendes Heulen hervorbrachte. Von irgendwoher hörte ich das unbarmherzige Klatschen einer Geisel. Zugleich spritzten blasse Funken aus dem tanzenden Holz und bildeten ein brennendes Rad um ihn. Ich wollte Anna zurufen, sie solle wegrücken, sonst werde sie verbrennen. Aber noch ehe ich den Schrei aus der beklemmten Brust reißen konnte, wirbelte der ganze Niederboden, das Dach, die Stiege, die Kammertüre und die hölzerne Mangel in der Ecke rundumher. Meine Schwester streckte hilfesuchend die Arme nach mir aus, wurde aber von dem schrecklichen Tanz ergriffen und fortgerissen. Die Wucht der Drehung zog ihren Leib immer länger auseinander. Ihr Gesicht war blaß und tief eingesunken, die blauen Augen schmerzvoll weit geöffnet. Jedesmal, wenn die unsichtbare Geisel klatschend niederfuhr, ging ein Zucken durch den langen, dünnen Leib. Endlich entzündete sich das Kreisen noch mehr, es ward ein brennender Trichter, in dem Anna umhergetrieben wurde. Mit dem Pfeifen der Windsbraut verschwand alles in die Höhe. Nur die Augen meiner Schwester hingen noch lange in der Luft und schimmerten in großer Liebe auf mich nieder, bis sie mit ganz leisem Wehlaut auch erloschen. In Angst erwachte ich. Aus dem Garten ertönte das lange, klagende Heulen unseres Hundes, endete wimmernd, setzte schwach ein und schwoll dann wieder laut an, daß es klang wie der verzweifelte Schrei eines fernen Menschen.

Am Morgen war meine Schwester tot; in wildem Fieber, wie in Flammen, war sie gen Himmel gefahren. Die Blumen lagen zertreten und verstreut um die Schwelle. Dann kam eine alte, häßliche Frau und kehrte sie zusammen. Sie richtete nach manchen Besenstrichen den vielhöckerigen Leib auf und brach in ohnmächtig brodelndes Husten aus, schrumpfte ein und kehrte unter fortwährendem Murmeln wieder weiter. Mich überkam ein schmerzender Zorn, als ich das sah, und da sie die Blüten, die nun wie grüner Unrat aussahen, auf der Schaufel in den Müllkasten auf dem Hofe trug, schlich ich mich hinter sie und gab ihr einen Stoß, daß ihr Kopf ein wenig gegen den Deckel des Kastens fuhr. Mit rotgeränderten Äugen und Schimpfwort«« vertrieb sie mich. Doch ich fühlte weder Furcht noch Reue, auch als mir Mutter diese Unart verwies, sondern empfand im Gegenteil eine starke Genugtuung.

»Warum hat sie der Anna die Blumen verdorben«, sagte ich trotzig.

Das war in der Werkstelle, die zugleich unser Wohnzimmer bildete. Ich saß am Tisch hinter meinem Töpfchen Milch; der Vater füllte ein großes Lederkummer mit Stroh. Auf meine Worte brach die Mutter in Tränen aus und setzte sich auf die Ofenbank. Der Vater unterbrach seine eifrige Tätigkeit und blickte sie ernst an.

»Laß das Weinen sein; sie muß Ruhe haben«, sagte er dann, und sein Gesicht erblaßte dabei.

»Warum haben wir sie in die Stube der Mutter gelegt«, antwortete sie.

»Nicht wahr, damit auch die andern noch krank würden«, erwiderte der Vater.

»Auch. – du weißt ja selbst, daß es nicht gut war«, entgegnete die Mutter.

Der Vater aber antwortete darauf nicht, sondern ergriff den Schlägel und hieb aus Leibeskräften auf das Kummet. Er ließ nicht nach, obwohl es schon dünn wie ein Kuchen war. Plötzlich warf er alles von sich und trat an das Fenster, das die Straße hinuntersah bis zu dem roten Wasserturm. Er stand hoch aufgerichtet und stemmte die Knöchel seiner großen Fäuste auf den Werktisch.

Mich beklemmte das Schweigen meiner Eltern. Ich glitt vom Sofa und spielte mich zur Tür hinaus. Keines wußte, daß ich die abergläubische Furcht meiner Mutter verstanden hatte, und ich mochte es ihnen nicht sagen, sondern ging in den Hof auf den Sandhaufen. Und während ich saß und immer den Sand aus meinen Händchen rinnen ließ, sann ich darüber nach, wie es möglich wäre, daß Anna in meinem Traume feurig in die Höhe gefahren, nach ihren eigenen Worten vom Engel geholt und zugleich nach der Meinung meiner Mutter von der Ahne getötet worden sei. Murr machte so kluge Augen, als wisse er es, ruckte an der Kette und mühte sich dann bis an den Zaun, streckte die Schnauze durch das Staket und schnob so sehr durch die Nase, daß sich davon der Staub auf der Erde rührte. Aber ich mochte ihn weder fragen, noch traute ich mich in den Garten. Denn wenn ich lange auf den Hund sah, so hatte er das Gesicht eines alten Menschen, und ich mußte mich wegwenden, weil mir die Furcht kam, er könne meine verzauberte Großmutter sein. Durch die Bäume hingen durchsichtige Nebel wie ausschwebende Gewänder. Ein Brausen war in der Höhe, wo die Sonne wie ein kreisender Feuerwirbel stand. Alles um mich ward ein buntes Schwinden und Auftauchen. In dieser grenzenlosen Unsicherheit fand ich kein Entscheiden zu einem Spiel: das eintönige Greifen und Rinnenlassen des Sandes entsprach zu sehr dem Nahen und Verwehen aus Unergründlichkeiten in Unergründlichleiten, das um mich und in mir lebte und doch nie die eindeutigen Züge eines schon Geschauten trug. Es ist ja wahr, unsere Jugend hat den Sinn, den ihr unser späteres Leben gibt, und Erinnerung und Vorgang eines Erlebnisses sind zwei verschiedene Erfahrungen. Aber ich täusche mich doch nicht über jene Empfindungen aus früherer Kindheit, die, lange vergessen, mir erst vor Tagen deutlich geworden sind. Von meinem Schulfenster aus beobachtete ich das versunkene Spiel eines kleinen, noch berockten Jungen am Schulbrunnen. Er fing das vom Steintroge triefende Wasser in seinen Händchen auf und ließ es wieder laufen. Die ganze Lebhaftigkeit seiner bunten Einbildungen spiegelte sich aus dem Gesicht und den Gebärden. Plötzlich sanken seine Händchen in den Schoß; wie unter dem Einfluß eines Schreckens saß er regungslos, das Gesicht bekam den Ausdruck tiefer Melancholie, und die Äugen wurden unbeweglich, blicklos und fernhingebunden, wie die eines alten, zerschellten Menschen, der rundum nichts als Trümmer und Ratlosigkeiten sieht. Nichts Schreckhaftes oder Störendes war um ihn: das Mailicht spielte zitternd über den Stufen, die summende Wolke der Bienen stäubte um die blühenden Kronen. Wie ich dem Grunde der seltsamen Verwandlung dieses Kindes nachsinne, sehe ich mich plötzlich als kleinen Jungen im Hofe meines elterlichen Hauses sitzen und Sand mahlen und wußte, was an mir in jener Stunde geschehen ist. Die grauen Tücher des Todes wehten um mich. Da habe ich nicht weinen können, denn Tränen kommen uns erst, wenn der Schmerz ins Enge spielt.

Das Begräbnis Annas befreite mich von dieser großen Verlassenheit. Meine Schwester lag in einem weißen Sargbett im Hause und schlief einen tiefen, schönen Schlaf unter Blumen. Die vielen Leute, die herbeikamen, vermochten sie nicht zu wecken, obwohl alle herzutraten und aus einem Teller ihr Wasser in das Gesicht spritzten. Sie warteten immer ein wenig und sprachen leise zu ihr. Dann gingen sie in die Stube, deren Tür weit ausstand und aßen von den großen Bergen Kuchen. Dazu tranken sie Kaffee aus Krügen, die nie leer wurden. Alle sprachen, es sei schade »um das junge Ding«. Davon wurden sie immer hungriger, lobten das gute Gebäck, und ein alter Mann mit einem langen Rocke weinte immerzu und hörte gar nicht auf zu essen. Ich war sehr stolz, daß so viele Menschen zu meiner Schwester kamen. Nur ärgerte es mich, daß jeder sie mit Wasser bespritzte. Endlich mochte das auch meinem Vater zuviel sein. Denn er gab einem Manne ein Zeichen. Dieser deckte einen schönen Deckel auf sie, an dem rings weiße und rote Quasten hingen, die rund wie Murmeln waren. Dann schraubte er ihn fest, damit ihn niemand mehr herunternehmen und meine Schwester erschrecken könne. Die Schrauben quietschten ein wenig im Holz. Da weinten alle, die so 'was nicht hören konnten, am meisten meine Mutter. Man mußte sie gar halten; sonst wäre sie umgefallen. Ich machte mir aus dem Quietschen gar nichts, sondern zählte die weißroten Kügelchen am Deckel und dachte, wenn ich mir alle nehmen könnte, so hätte ich wohl zwei Hosentaschen voll. Plötzlich liefen die Leute vor dem Hause und auf den Stufen: »Sie kommen!« und alle, die nahe am Sarge standen, traten etwas Zurück. Der alte Mann in der Stube hörte auch auf zu essen und kam gegen die Tür, sich mit einem geblümten Taschentuch die Stirn wischend. Dort versteckte er sich hinter dem breiten Rücken meines Vaters, der, noch gerader als sonst, alle überragte und mit blassem, finsterem Gesicht den Sarg betrachtete. Meine Mutter weinte nicht mehr so sehr. Mir zur rechten Hand hatte sich der Dorn-Schuster eingefunden, der an vielen Abenden zu meinem Vater kam und mit ihm plauderte. Er hielt seinen hohen Hut mit beiden Händen gegen den Leib gepreßt, weinte still vor sich hin, bewegte fortwährend die Lippen und nickte von Zeit zu Zeit mit dem Kopfe. Der Dorn Robert, sein großer, rothaariger Junge, aber betete gar nicht, obwohl er dem Vater bis über die Achseln ging, sondern starrte auch immerfort auf die schönen Kugelquasten. Deshalb stieß ihn der alte Dorn manchmal mit dem Arme in die Seite, bis der häßliche Junge von ihm wegrückte, gegen den Tischler Rinke hin, der krumm, mit vorgeneigtem Gesichte und ein wenig spöttisch eingekniffenem Auge von einem zum andern sah. Der Geistliche saß schon eine Weile in seinem weißen Hemde, rechts und links Ministranten, und sprach mit lauter, langer Stimme aus seinem Buch. Ein anderer Mann, dem ein weißer Bart aus dem Gesicht weit über den Nock herunterhing, machte es dem Geistlichen genau nach, wenn er aufhörte. Ich achtete auf all das aber nur halb, sondern richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf Dorn Roberts Hände. Mir war es nicht entgangen, daß er immer näher an den Sarg herantrat und, wenn er sich unbeobachtet glaubte, nach den Quasten griff. Klopfenden Herzens wartete ich, ob es der Abscheuliche wahrhaftig wagen würde, meiner Schwester, die fest eingeschraubt schlief und sich nicht wehren konnte, die schönen Kugeln wegzunehmen. Und wirklich: Als Knaben und Mädchen anfingen zu singen und wegen des traurigen Liedes alle in schmerzliche Bewegung gerieten, riß er schnell eine Handvoll Kugeln ab und steckte sie ein. Aus Schmerz über diesen Diebstahl an Anna, und weil ich sie selbst gern gehabt hätte, begann ich so laut zu weinen, daß ich das leise Schluchzen der andern und das Lied übertönte und konnte durch nichts beruhigt werden. Endlich führte mich ein Mädchen fort, hinauf in den Garten. Weil sie schön angezogen war und lieb zu mir redete wie meine Schwester, ging ich mit ihr.

Nach jenem Begräbnis begann ich meine Mutter zu sehen, vorher habe ich von ihr gelebt wie von der Sonne, der Luft, dem Wasser. Nun trat sie in mein Leben, noch nicht mit ihrem Schicksal, sondern als gütiger, liebegebender Mensch, dem jener sinnige Ernst und die etwas schwermütige Frohheit zu eigen war, die sie, wie meine Schwester Anna, geschickt machte. Anteil an meiner kindlichen Betrachtsamkeit zu nehmen und, soweit es ihre Zeit erlaubte, auf meine Fragen zu antworten. Unermüdlich trabte ich hinter ihr her, von Stube zu Stube, über die Stiegen, durch die Kammern, saß neben ihrem Waschfaß oder am Herde und spann meine einsamen, bunten Spiele, gefördert durch einen Blick, geleitet von einem Zuruf. And doch war mir Anna noch nicht entschwunden. Sie bildete noch lange die Gefährtin all meiner Unternehmungen. Ich redete zu ihr, schickte sie da- und dorthin und erduldete es ohne Schmerz, wenn sie vor mir zerrann. Denn ihr Tod war mir nichts als eine Verwandlung, eine andere Eigenschaft ihres Lebens. Nur auf die Tür der Großmutter-Stube, auf deren verhangene Fenster, durfte ich nicht sehen. Dann befiel mich jedesmal ein Bangen, ein so schmerzvolles Gefühl des Einsamseins, daß ich laut zu singen begann, und immer geriet ich durch diese langen, leidenden Töne, die ich hinausschrie, auf den Gedanken, Begräbnis zu spielen. Eine Schachtel, ein Kästchen, ein großer Stein stellte Annas Sargbett vor, kleine Steinchen, wirr und dicht umhergelegt, bildete das Grabgeleit. Ich klemmte mein Taschentuch am Halse fest, und so angetan mit dem schönen Spitzenhemd, sang ich tief und feierlich, oder rauh und laut, oder dünn und hoch, je nachdem ich dem Vorgange gemäß als Geistlicher, Kantor oder Singschule zu wirken hatte. Kaum daß mir die ersten Töne gelungen waren, verwandelte sich alles: ich sah in Wirklichkeit den Dorn-Schuster, den Rinke-Tischler, meine Eltern und alle Leute, roch die Zitronen in der Hand der Träger, hörte das Klirren des Sprengwedels, und meine Schwester lag in den Blumen, blaß und tief schlafend. Aber wie mein Gesang leidenschaftlicher wurde, verwandelte sich Anna, öffnete die Augen, stand aus dem Sargbett auf und wandelte hin. Die Kraft meiner Töne heftete Flügel auf ihren Rücken, und bald hob sie mein hohes, unermüdliches Lied auf, leitete sie ins Gewölk und führte sie endlich ins unergründliche Himmelsblau. In diesen Augenblicken war sie mir deutlicher und schöner als je zuvor. Darum übte ich dies Spiel immer von neuem, zuletzt auch ohne die schreckhafte Veranlassung durch Großmutters Stube. Ich nannte es auch nicht mehr Begräbnis, sondern das »Annaspiel«. Was Fernhintragendes in mir lebt, wurde in jenen Stunden geboren, die mir alle Weiten nahe und freundlich machten. Meine beiden Geschwister hänselten mich wegen dieses geistlichen Spiels und gaben mir den Namen Pastor. Dies taten sie wohl auch, weil ich immer lenksam, fromm und vertraglich war. Obwohl meine Mutter mich und mein Spiel vor ihnen zu schützen sich bemühte, wagte ich bald nur an verborgenen Orten Anna in den Himmel zu singen, und endlich begnügte ich mich damit, solange in die Höhe zu schauen, bis über mir in der Luft ihre schönen, stillen Augen erschienen und auf mich niedersahen.

Sie sind mir geblieben in all den Jahren bis heutigen Tages. Wie oft leuchteten sie in unruhvoller, schlafloser Nacht vor mir auf und geben mir auf geheimnisvolle Weise ein kindliches Vertrauen in diesem zerstückten Leben.

Die Augen, die Augen... ich glaube, es wird nichts nützen.« –

Faber sah starr auf die Tür, als ob wer dastände, ihn bannend, von ihm gebannt.

»Aber sie hat doch braune Augen«, sagte ich.

Doch er hörte mich nicht in seiner Selbstversunkenheit, sondern fuhr fort: »Irgendwo, irgendwann ist mir etwas Notwendiges aus der Hand geglitten, und nun zeugt alles in mich hinein, wahllos und geil, und mein Glaube ist ohne Unterscheiden. Was irgend Klang, Farbe oder Rhythmus meiner Vergangenheit weckt, wirkt in mir, wirkt mich.«

»Ich verstehe dich nicht«, sprach ich dürr.

»Die tiefsten Worte sind auch nicht zu verstehen, sie sind nur zu glauben wie die Musik. Wir werden gespielt, es spielt aus uns, Kastner! Siehst du, ich wollte etwas anderes aus meiner Kindheit holen, einen silbernen, frohen Ton. Statt dessen weben diese weißen Mondschleier um den Bäumen, aus fast versunkenen Zeiten herstammend, das Huschen einer Seele um mich, von der ich nichts wollte und will, und doch lebt sie von mir wie der Atem meines Mundes. Allein ihre vollkommene Abhängigkeit von mir ist die Macht über mich. Spürst du nicht auch diese rätselhafte Verwandtschaft? Als sei die verwehte Seele meiner Schwester ins Leben zurückgekehrt und diene und glänze um mich in der Gestalt dieses zierlichen, stillen Mädchens. Und im tiefsten ist es nicht sie, sondern durch sie eine andere. – Die andere – ja...«

»Das ist wohl Liese, der du die Garnhucke getragen hast«, sagte ich, nicht ohne heimliche Schadenfreude, ihn in seiner Verstiegenheit zu verwunden, und doch auch mit leisem Schmerz.

»Ganz recht, sie ist es. Aber es leben zehn gleiche schwächliche, machtlose, bedürftige Mädchen ihres Alters in Wecknitz. Warum mußte ich mich ihrer gerade annehmen?«

Ich lächelte ein wenig malitiös und antwortete: »Nun, aus dem uralten, neuen Grunde vielleicht.«

»Kastner, ich wollte, es wäre Liebe«, sagte er. »Aber sie ist es noch nicht und ist es schon nicht mehr. Ich bin dessen nicht fähig. Und dann soll sich das Schicksal meines Vaters und meiner Mutter nicht wiederholen. Wenn es nicht anders sein darf, gehe sie an mir, aber nicht durch mich zugrunde. – Denn da ist noch etwas Finsteres ..., das stärker sein muß als mein stärkster Wille ...«

»Du wirst fühlen, daß ich dich nicht verstehe«, sagte ich, um ihn dem Bohren zu entreißen.

»Nein, nein! Das führt zu nichts. Es ist besser, ich erzähle weiter.

Eine Reihe der folgenden Jahre, so vielfältige Veränderungen sie auch brachten, ging ohne tiefe Eindrücke an mir vorüber. Was ich aus ihr weiß, klingt von später und von anderen hinein, nicht aus mir. Der französische Krieg warf nur schwache Wellen in unser verlorenes Gebirgsstädtchen Heisterberg. Aber nach dem Siege schwamm ein Zucken des Milliardenrausches auch über unsere Dächer, wirbelte Staub aus alten Winkeln, riß Spinnweben von verträumten Augen und jagte die Leute eiliger durch die Straßen, in vielfältige Unternehmungen, vor denen sie sich sonst gewiß ängstlich gehütet hätten. Die meisten waren wohl der Meinung, ein wenig Wagemut und Skrupellosigkeit reiche hin, ihnen einen Teil der Reichtümer zu verschaffen, die plötzlich auf allen Straßen lagen. Die neue Eisenbahn, die man seit vierzig Jahren projektiert hatte, sollte endlich an der Neiße hin, nach der nahen Grenze geführt werden. Es war klar, daß dann der südöstliche Teil des Städtchens allen Verkehr auf sich ziehen mußte. Die Wiesenstraße lag auf der entgegengesetzten Seite, dort, wo die kleinen, ärmeren Häuser zögernd in stillen Reihen in die wellige Ebene hinausliefen. Die meisten waren unscheinlich, verhutzelt vor Alter und hätten in manchem Dorf durchaus kein Aufsehen erregt. Mein Vater sah ein, daß unter den neuen Verhältnissen diese Gegend noch mehr veröden müsse. Rasch und entschieden wie sein Gang waren auch seine Entschlüsse. Während die meisten sich noch an der wohligen Unruhe der Vermutungen und Befürchtungen gütlich taten, schloß er in einer Nacht den Kauf eines Hauses am Burgberge ab, und bald standen wir mitten im Trubel des Umzuges. Die an sich gewiß löbliche Sorge um das wirtschaftliche Wohl seiner Familie war nicht der einzige, wenigstens nicht der tiefste Grund, warum er der alten Herdstelle untreu wurde. Wenn er auch alles in seiner breiten Brust verschloß, so war ich außer der Mutter wohl der einzige, der etwas von seiner geheimen Absicht erriet. Auch die Großmutterstube erlag der allgemeinen Auflösung, und wir Kinder, deren emsige Helferdienste mehr hinderten als fördersam waren, stürzten uns mit einer wahren Gier in den Raum, der so lange das Ziel unserer Sehnsucht gewesen war. Noch heute, wenn mich die modrige Luft stets verschlossener Zimmer trifft, liegt deutlich diese niedrige, lange Stube vor mir, die von der nahen, weißen Wand des Nachbarhauses ein lebloses Licht erhielt, in dem die wenigen Möbelstücke in fast drohender Stille standen, daß wir Kinder erst über eine rätselhafte Beklemmung zu jenem lauten Draufgängertum gelangten, das von dem hinter uns eintretenden Vater gezügelt werden mußte. Während dann Peter und Resa sich mit dem Korbstuhl am Fenster beluden und eiligst verschwanden, durchstöberten meine Augen den Ort, in dem die Anna zu Tode gekommen war, und weil ich seitdem zum Knaben herangewachsen war, für den das Sterben ohne Blutlachen zu den Unmöglichkeiten gehört, suchte ich nach den Spuren des Kampfes, dem meine Schwester zum Opfer gefallen war, entdeckte aber nichts, als einen großen, dunklen Flecken neben dem Bett.

»Ist das von dem Anna-Blute?« fragte ich meinen Vater. Der ließ seinen Blick von stummem Betrachten langsam auf mich niedersinken und sagte dann mit leichter Betroffenheit: »Was für ein Anna-Blut?«

»Nun, weil doch Großmutter die Schwester totgemacht hat«, antwortete ich.

Da kam, wenn ich mir heute die Szene vergegenwärtige, in seinem Gesicht eine trauervolle Freude auf. und mich voll mit seinen schwarzen Augen umfassend, sagte er:

»Du kleine Seele! Nimm nur und trag' die Fußbank da hinaus. Sie wird uns nicht mehr schaden.«

Dann kehrte er sich von mir ab und trat an das Fenster, neben dem der Korbstuhl gestanden hatte. Als ich wieder zurückkehrte, verdeckte seine hohe, weitausladende Gestalt noch immer das Fenster. Ich wagte mich nicht mehr hinein, um ihn nicht zu stören, sondern ging voll geheimer Freude davon, weil mein ernster Vater so schön auf mich gesehen hatte. Ein Teil der Geräte aus Großmutters Stube kam irgendwohin, ein anderer Teil wurde mit anderem Gerümpel unter die Sparren unseres neuen Hauses gesteckt. So schien die Gewalt der toten Ahne auf immer zerstört, und wir Kinder hatten sie bald vergessen.

Aber mit jedem Umzuge ist eine gewisse Gefährdung unserer lückenlosen Entwicklung verbunden. Denn wir Menschen gleichen in der Seele mehr den Pflanzen, als unser Stolz es sich gestehen will. Die meisten und nicht die schlechtesten beziehen die Sicherheit ihrer Grundsätze aus dem Boden, auf dem sich ihre Tage bewegen, und eine Auflösung der gewohnten Ordnung zieht eine mehr oder minder erhebliche Verschiebung in der Lagerung unseres Innern nach sich. Dabei tut es nicht allzuviel, ob wir um die nächste Ecke oder nach Amerika auswandern. Immer versinken ganze Gebiete unseres inneren Daseins, daß sie nur noch halbverstanden in das Bewußtsein klingen wie der Wahn eines unbekannten Fremden, und was sich ehedem leise und wie im Traum in uns gerührt hatte, schlägt unvermutet laut und stürmend die Glocke des Herzens.

Vorderhand merkten wir, mit Ausnahme des Vaters, nichts von der beginnenden geheimen Umbildung unseres Lebens. Besonders wir Kinder überließen uns ganz dem Reiz des Ungewohnten.

Unser neues Anwesen war ein Haus der Unruhe. Mit überdicken Mauern klebte es, zwischen drei andere gekeilt, an der Sohle jenes hohen, felsigen Absturzes, der in ferneren Zeiten eine feste, natürliche Wehr bildete, als unsere Stadt noch ein von Kriegsvölkern oft beranntes Bergnest war. Nach hinten, auf den Stadtgraben zu, hatte es, uns Kindern damals, die Höhe eines Turmes, nach vorn schmiegte es sich betulich an den Burgberg, eine Straße, die in einer engen Kurve jäh aus dem hohen Torbogen des alten Wartturmes schoß und steil gegen den Fluß hinlief. In dem alten Stadtgraben lag die Chaussee, und den ganzen Tag donnerten die Lastwagen vorüber. Über den Burgberg quietschten und ratterten die festgehemmten, leichteren Fuhrwerke bergab. Immer in Gefahr, ins Rollen zu kommen, fuhren sie an unserer Haustür vorüber. Auf der einen Seite floß der dumpfe, besonnene Lärm mehr ländlichen Lebens, und über den Burgberg ergoß sich die kleinliche Unruhe des städtischen Verkehrs. Nach dieser Seite hin türmte sich die verwitterte Stadtmauer auf, in die überall Fenster gebrochen waren, daß es an Abenden aussah, als funkten und flackerten noch die Lichter der Wachmannschaften auf dem Mauerkranze, obwohl schon Jahrhunderte die Stadtumwallung zur Wand der Hinterhäuser des Ringes degradiert war. Der alte Wartturm stieß zwar noch jäh seine ungeschlachte Spitze in die Luft und trug unentwegt den riesigen, kaiserlichen Doppeladler, wenn auch nur der alte Willmann hinter den Mauerzacken seine Nelken zog. So fielen allerlei bunte Beklemmungen auf uns, die wir, wie auf schmalem Rain, zwischen den Rädern wohnten. Kein Ausruhen und Besinnen unter eigenen Wipfeln, war mehr möglich; jeder Schritt aus dem Hause brachte uns hinaus. Dazu duldete das enge Innere selbst keine Gemächlichkeit. Stube türmte sich auf Stube. Die schmalen Flure gestatteten kein Verweilen, steile Stiegen hetzten in Leidenschaftlichkeit. Auf die breiten Baumkronen des Spitalgartens über dem Fluß spielten einen schwachen Schimmer alter, versonnener Stille in unsere Stube, und in ruhigen Nächten klang das schwache Rauschen der Neiße bis unter den Boden an unser Bett.

Besaß mein Vater auch nun den Laden, nach dem er sich gesehnt hatte, und durfte er nun auch hoffen, nicht mehr so ausschließlich auf die Bauern angewiesen zu sein, deren Hinterhältigkeit und kleinliches Geizen er so haßte, so überkam in den ersten Wochen den starken Mann doch oft ein solches Bangen nach seinem alten Heim, daß er sich mehreremal aus dem Bette stahl und mitten in der Nacht dem Haus seiner Mutter einen Besuch abstattete. Dann sahen ihn Leute aus den Nachbargärten oft stundenlang unter dem hohen Birnbaum stehen oder auf den Steinen neben Murrs Hütte sitzen und behaupteten, er habe von Zeit zu Zeit erregt gemurmelt, als spreche er verhalten mit jemand.

Endlich glaubte er wohl die wachsamen Augen, die aus Schleiern seinem Leben folgten, begütigt zu haben, denn er richtete sich entschieden in seiner Lage ein. Dabei geriet er in einen Streit, der, unbedeutend an sich, die schwersten Folgen hatte. In jenen Zeiten unbegrenzter Abenteurerlust nach dem glücklichen Kriege schien alles Seltsame möglich, und neben den skrupellosen Draufgängern, die Existenz und Ruf an verwegene Hirngespinste setzten, etablierten sich geheime Nester von Träumern und Projektenmachern, die nicht gesonnen waren, den unsicheren Wettlauf nach dem Reichtum mitzumachen, sondern sich begnügten, die absonderlichsten Gerüchte in Umlauf zu setzen. Bald sollte im Norden der Stadt ein großes Kohlenflöz gemutet worden sein; bald hieß es, hinter dem Gänsewinkel werde eine umfangreiche Hüttenanlage ausgesteckt zur Verarbeitung von Eisenerzen aus dem fernen Heuberge; bald redete man von der Niederlegung alter Häuser im Interesse des Verkehrs und der Verschönerung der Stadt. Die Hartnäckigkeit, mit der diese Torheiten diskutiert und, endlich erschöpft, von anderen verdrängt wurden, brachte eine allgemeine Unsicherheit und Unruhe hervor und machte vor allem jene reizbar, die zu nichts entschlossen waren, als ihren Besitz zu behaupten.

Eines Tages nun brachte ihm der Dorn-Schuster, unser Nachbar von der Wiesenstraße, die Nachricht, der Magistrat habe beschlossen, den steilen Burgberg zu verbreitern, um dadurch diese gefahrvolle Straße für die Fuhrwerke leichter passierbar zu machen. Zu dem Zwecke sollte nicht nur der Wartturm, dies altehrwürdige Wahrzeichen der Stadt, verschwinden, sondern, wenn es eben nicht anders ginge, die linke Häuserzeile vom Fleischer Mahn bis zum Schuhmacher Grulich niedergerissen werden. Mein Vater lachte herzlich nach dieser Erzählung, die Dorn unter vielen Beteuerungen seiner Treue und voll ehrlicher Bekümmernis vorgetragen hatte. Dann setzte er dem Verzagten die Gründe auseinander, warum dies undenkbar sei. Dorn hatte seine großen Hände vor sich auf den Tisch gelegt, sah meinen Vater dann und wann bewundernd von der Seite an, machte seine vielen belanglosen Bemerkungen und ging endlich beruhigt davon. Aber das Gerücht wollte nicht nur nicht aufhören, es nahm immer festere Form an. Um nicht überrascht zu werden, setzte sich mein Vater mit seinen Nachbarn ins Einvernehmen und beredete sie zu festem, einmütigem Zusammenstehen. Aber es kam wohl nicht viel dabei heraus, denn der Fleischer war ein Trunkenbold und geriet, statt zu überlegen, in unflätige Wut, der Gerber Pfeffer, dem sein Weib in der ersten Nacht die Hosen genommen hatte, wollte erst mit seiner Veronika sprechen, und der alte Grulich lächelte verlegen in seine Schusterkugel, sagte dagegen nicht weiß noch schwarz. Deswegen wollte sich mein Vater, wie er sagte, auf seine eigenen Absätze verlassen.

Nun, das hat er schon getan, und wie! Eines Tages standen da unten auf dem Graben der Bürgermeister Schrader und der langnasige Ratmann Kunze, sahen an unserem Hause herauf und redeten und gestikulierten so heftig, als hecke wirklich der Plan in ihrem Kopfe, der kurzen Burgzeile den Untergang zu bereiten. Eigentlich redete nur der Bürgermeister mit seiner lauten Knarrstimme, während der alte Kunze sich meistens damit begnügte, Tabak in seine Nase zu stopfen und dann ein großmächtiges Taschentuch geigend an dem gefüllten Organ hin und wider zu ziehen. Ich hatte in den Tagen mancherlei aufgeschnappt, um von den Männern da unten ziemlich Schreckliches zu erwarten, nahm sie, auf der Ritsche stehend, gar sorgsam aufs Korn und tauchte jedesmal blitzschnell unter das Fensterbrett, wenn der spindeldünne Herr Bürgermeister heraufsah und seine Rechte gegen die Wand ausstreckte. Mein Vater redete tiefer in der Stube mit meiner Mutter und sagte endlich: ›Ich mach's jetzt und geh' gleich zu ihnen hinunter. Ein scharfes Wort wiegt in der freien Luft leichter als in der Stube.‹

Damit zog er mich von der Ritsche und beugte sich zum Fenster hinaus. Sogleich rief auch schon der Bürgermeister: »Guten Tag, Meister Faber, ach, kommen Sie doch mal runter!« Mein Vater tartschte lachend die Mutter auf die Schulter und sagte: »Na also, Weib!« Die ersten Stufen nahm er laufend, auf dem zweiten Flur mäßigte er seine Eile, die nächste Stiege legte er säumend zurück und trat endlich in gemächlicher Festigkeit hinaus auf die Straße zu den Wartenden. Ich war ihm unbemerkt gefolgt, wagte mich aber nicht gleich hinaus ins Freie. Plötzlich lachte mein Vater laut auf. Da war ich draußen und lehnte von ungefähr an der Wand des gegenüberliegenden Pferdestalles, den dreien im Rücken.

»Die Mauer da?« fragte mein Vater mit beißender Lustigkeit und deutete auf die ummauerte Senkgrube mit dem sehr schadhaften Bretterbelag.

»Jawohl, das muß weg, auf jeden Fall, Herr Faber, da wäscht Sie kein Regen ab.«

»Mich braucht kein Regen zu reinigen und auch sonst kein anderer. An der Grube aber rücke ich keinen Stein. Mir paßt sie noch, und wenn sie Ihnen nicht gut genug ist, dann meinetwegen ändern Sie's auf Ihre Kosten; aber stören Sie mich nicht im Geschäft.«

Auf diese Worte ergoß sich Herr Schrader in langer Rede. Anfangs dämpfte er sein Organ, aber je mehr der Stadtgewaltige sich zügelte, desto mehr wuchs seine Erregung, und weil der Ratmann dastand und auf seine Stiefeln hinuntermurmelte, anstatt mutvoll für das Ansehen der Stadt einzutreten, wurde er immer blasser, immer dünner, immer länger, verlor endlich seine Beherrschung und blies meinem Vater etwas wütend unter die Nase, was ich nicht verstehen konnte, so nahe ich mich auch an die Gruppe laviert hatte.

»Erregen Sie sich doch nicht, Herr Bürgermeister«, sagte mein Vater und berührte lächelnd mit der Hand seine Schulter. Der Angeredete wich mit deutlicher Mißachtung zurück und sagte drohend: »Vergessen Sie sich nicht!«

»Haben Sie keine Angst. Vor Ihnen steht der Sattlermeister Faber und nicht Ihre Frau«, sprach mein Vater jetzt mit ruhiger Kälte und richtete sich kerzengerade auf. »Solange es Ihnen in Milkes Haus nicht stinkt, solange schadet Ihnen auch wohl nicht der Geruch aus meiner Latrine.«

»Herr Ratmann, Sie sind mein Zeuge! Was meinen Sie, Herr Sattlermeister Faber, mit Milkes Haus?« fragte der Bürgermeister flüsternd und blaß bis in die Zähne.

»Es stinkt«, beschied ihn mein Vater gelassen. Dann setzte er hinzu: »Sie sind der Herr der Stadt, gewiß; aber nur bis an die Traufe meines Hauses, und damit, holla!«

Er lüftete seine Mütze und verschwand unter der Tür. Der Bürgermeister stach mit langen Beinen davon, ohne sich nach dem Ratmann umzusehen, der gedrückt und kopfschüttelnd folgte.

Ich war damals weit entfernt davon, den Worten meines Vaters, die den Bürgermeister und seinen Begleiter in die Flucht schlugen, einen tieferen Sinn unterzulegen. Dazu trugen in jener glücklichen Zeit alle Dinge und Menschen für mich nur eine harmlos-glückliche Physiognomie, und mein Vater erschien mir als der Mittelpunkt des Lebens. So fand ich es nur zu natürlich, daß meinem Vater ein Fremder ebensowenig widerstehen könne als sonst jemand in unserer Familie. Erst später erfuhr ich, daß die tatenlustige Frau Schrader den Gemahl in einer kläglichen Knechtschaft hielt, wofür sich das Stadtoberhaupt an den Likören und Delikatessen in der Kaufmann Milkeschen Hinterstube schonungslos und gratis rächte, obwohl es aus allen Mundwinkeln der Stadt troff, der Chef des Hauses »Milkes sel. Witwe und Sohn« stehe in verbrecherischen Beziehungen zu seiner verwitweten Tochter. Das junge, kapriziöse Weib hatte nämlich im zweiten Jahre nach ihres Mannes Tode im Vaterhaus ein Kind geboren und sich geweigert, den Namen des Erzeugers anzugeben. Allerhand rätselhafte Andeutungen über okkulte Mächte, denen sie hatte gehorchen müssen, hatten die Stadt dahin gebracht, an blutschänderische Beziehungen zwischen Vater und Tochter zu glauben, trotzdem nichts zu beweisen war, als daß der einsame, wunderliche Alte seitdem sich ganz verborgen hielt und fast nur mit seinem Kinde hinter verschlossenen Türen oder in dem weiten, verwilderten Garten hinter dem Hause lebte. Dort sahen argherzige Späher die beiden oft innig verschlungen auf der Bank sitzen, und der Vater bemühte sich mit unermüdlichen Liebkosungen, seine Tochter von einer unheilbaren Trauer abzubringen, die sich dann und wann in einer Flut von Tränen und lauten Verwünschungen entlud. Sie riß sich in solchen Augenblicken wohl auch mit allen Zeichen des Entsetzens aus den Umarmungen ihres Vaters und eilte laut jammernd an das Grab des früh verstorbenen Kindes ihrer geheimnisvollen Schande. Dies war tief im Garten unter einem weitschattenden Nußbaum begraben worden. Dort warf sie sich dann nieder und wühlte ihre weißen, langen Hände tief in die Erde des kleinen Hügels. Anfangs war die Aufregung des Volkes über diesen schändlichen Zwang, in dem Milke das arme Weib hielt, so groß, daß nächtlich sein Haus mit Kot beworfen wurde und ein Hagel anonymer Denunziationen die Polizei bombardierte. Seit aber der Bürgermeister sich des verfemten Hauses angenommen hatte und Tag und Nacht vor vollen Flaschen und überladenen Schüsseln sich das endlose Murmeln des Ausgestoßenen anhörte, versiegte die gewalttätige Wut der Menge und verwandelte sich in beißenden Spott über den Hüter des Gesetzes. Daß sich mein Vater diese törichte Anschauung der Menge zu eigen machte und vor allem keine Bedenken trug, sie öffentlich auszusprechen, verstehe ich heute noch nicht völlig, da er doch der Tragik des Lebens, wo immer sie sich zeigte, eine einfache, tiefe Ehrfurcht entgegenbrachte.

Vielleicht stand er in jener Zeit stark unter dem Einfluß des Tischlers Rinke, der damals öfter und länger als sonst, oft bis tief in die Nacht hinein, an unserm Tisch hockte. Und wenn ich auch allen Grund habe zu glauben, daß mein Vater in seinen Maßnahmen sich nicht von dem Rat des alten Walzkollegen leiten ließ, so wird ihm wohl der bittere Widerspruchsgeist dieser scheelen Seele eine Zeit geschadet haben. Denn Förderndes ist aus dem Zwiespalt mit dem Bürgermeister uns nicht erwachsen. Trotzdem der Postbote und der Polizist fast alle Tage lange Briefe ins Haus schleppten, obwohl mein Vater immer und immer wieder in knirschender Geduld große Bogen Papier mit seinen ungelenken Buchstaben füllte, die Senkgrube mußte verschwinden, und als Zugabe zu seiner Niederlage bekam er die unversöhnliche Feindschaft des Herrn Schrader. Ich habe nicht bemerkt, daß mein Vater betrübt darüber gewesen wäre, konnte er sich doch immerhin mit dem Gedanken trösten, sein scharfes Zupacken habe dem Magistrat den Mut zur Vernichtung der ganzen Burgzeile genommen, die tatsächlich unterblieb, aber wohl nur deshalb, weil sie allein in dem heimlich wimmelnden Nest der Träumer und Phantasten ausgebrütet worden war.

In diesem Trost, der doch eine Täuschung war, bestärkte ihn Rinke, ein von meiner Mutter instinktiv wenig geschätzter, einsiedlerischer Mann. Er war sicher der einzige Mensch, dem mein Vater in Freundschaft verbunden war, obwohl er in allem Äußeren und Inneren seinen ärgsten Gegensatz bildete. Nein Vater, ganz der Mann freier, zuversichtlicher Kraft, mit einer hohen Stirn, die an jeder Seite in einem tiefen Winkel in sein glänzend schwarzes, immer kurzgehaltenes Haar schnitt. Den Kopf herrisch getragen, den starken Schnurrbart stets wie energisch seitwärts gerissen, mit leidenschaftlich-sicherem Schritt, wandelt er durch die Erinnerung an jene und frühere Zeit. Nur über dem schwarzen Augengrund lag manchmal eine blinde Wolke, wenn er versonnen sich verlor, und seine Mundwinkel sahen dann bitter eingesägt aus.

Der Tischler Rinke hatte ganz das Wesen eines Gnomen. Der Mann war irgend einmal im Leben zerbrochen und dann notdürftig wieder zusammengeleimt worden. Seinen Oberkörper trug er stets geneigt, den Nacken gekrümmt. Die Augen in dem mageren, stets glattrasierten Gesicht, das durch den Ausdruck einer fatalen Güte entstellt wurde, sahen scheu bohrend von unten her. Seine Bewegungen, nicht unedel, wirkten doch unangenehm, denn es haftete ihnen eine Sanftmut an, die nicht überzeugte. Die Stimme klang wie aus einer eingeschlagenen Brust.

Das war der Mann, mit dem mein Vater am Stecken einen großen Teil Deutschlands und Italiens durchwandert hatte, ein Mensch, der sicher in den Grundwassern des Lebens wohnte und dem es, nach dem Feuer seiner oft gesenkten Augen zu schließen, eine Leidenschaft war, sich an dem Dasein immer und immer tief zu verwunden. Möglich, daß diese Gewalt seiner Schwäche das innerste Band zwischen den grundverschiedenen Männern bildete. Denn er war um zehn Jahre älter als mein Vater, und die Haare, obwohl noch ungebleicht, lagen als dünne, glanzlose Schicht über die Schläfe hin, immer peinlich geordnet, nach der Art pedantischer Greise. Sein Lachen konnte zu Zeiten jung klingen, und er erhielt sich in seinen abseitigen Winkeln vielleicht nur um dieses beseelten, schönen Tones halber, den eine lange Reihe verlorener Jahre nicht hatte töten können. Noch heute grüble ich umsonst über den Grund nach, weswegen der Mann so zeitig sich aufgegeben hat und in unheilbare Menschenfeindlichkeit geraten ist. Früh hatte er sich an ein lautes und leeres Weib verhandelt, mit dem ihn ein endloser Zwist verband. Während sie das dämmerige Hinterzimmer mit unablässigem Getöse erfüllte, saß er in der blauen Leinwandschürze am Fenster und las in alten Büchern. Die Hobelbank und all das Handwerksgerät waren in eine Ecke geräumt, sauber, blank und unbenutzt sah es aus wie eine wohlbehütete Sammlung von Kuriositäten aus Väterzeiten. Denn seine hämisch beißende Art hatte ihn um alle Arbeit gebracht, und außer Blaseröhren für Knaben und allerhand verwunderlicher Basteleien wirkte er nichts mehr, sondern ließ sich von seinem Weibe erhalten, die er dafür verachtete. So trotzte er der Gewohnheit der Menschen. Ohne dem Leben der andern reinere Handlungen und eine klarere, tiefere Weisheit tätig entgegenzustellen, begnügte er sich damit, an den Torheiten der Menge vernichtende Kritik zu üben. Sicher strebte er in seiner Jugend nur wirklicher Schlechtigkeit entgegen; aber mit zunehmendem Alter verfolgte er summarisch alle Handlungen seiner Mitmenschen mit ätzendem Gift. Allein, was ich an anderen einreiße, das füllt auch in mir zusammen, und nachdem er ein halbes Dasein das Leben seiner Umgebung unterminiert hatte, war das ganze Erbteil seiner Väter in ihm vernichtet, und die voreiligen Einbildungen eines unglückseligen Gemütes standen als Wahrheit um ihn: die Welt der Menschen war ihm ein wirrer Haufe von Jämmerlichkeit, Widersinn, Aberwitz und Gemeinheit, ein häßlicher Lärm um nichts.

Wie ist es nur möglich, daß das Leben am Leben verderben kann? Und doch trinken die Menschen mit ihrem Atem ihr Herz aus, und die Seele erzeugt Gedanken, an denen sie stirbt. Ja, dieser Tod bleibt nicht auf den Befallenen beschränkt, er ist anpassungsfähiger als alle Mikroben der Welt.«

– – – – – – –

Faber hielt lauschend inne, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und starrte mit gesenktem Kopf vor sich hin.

Das Licht der Petroleumlampe summte in die peinvolle Stille. Der Wind stieß plump aufs Dach, und dann klang wieder nichts als dieser leise, leise Ton des Lichtes. Auch an Fabers Ohr mußte er gerührt haben, denn er hob langsam den Kopf und blickte versonnen in die Flamme, als wolle er erforschen, wie sie diesen Laut hervorbringe. Mit Millionen goldglänzender Füßchen trippelte sie auf dem rußigen Docht, sehr ängstlich und sehr ungeduldig. Er lächelte schwach, ohne seinen Ernst zu verändern und begann aufs neue:

»Eine Flamme hat etwas unlösbar Geheimnisvolles. Schon als Knabe habe ich abseits von dem schwatzenden Kreis, der sich allabendlich in der Stube meiner Eltern auf der kurzen Burgzeile versammelte, in einem Winkel gehockt und auf die Decke gestarrt, wo die Tischlampe die bekannten konzentrischen Zitterkreise malte. Wie auf ein Geheimnis sah ich hin in stummem Staunen und konnte es nie begreifen, daß all die Leute, die am Tisch saßen, so eifrig zu reden imstande seien, wenn das Licht so eigen brannte. Es fanden sich immer dieselben Leute bei uns ein, wenn sie auch nicht jedesmal alle anwesend waren: Eine lange, magere Frau, welche so eigen lachen konnte, so wehend, zwischen den gespreizten Fingern hindurch, erzählte die Geistergeschichten von dem Burggrafen von Grafenort, der nach seinem Tode allnacht mit dem Kopf unter dem Arm umgehen mußte, weil er als Freimaurer seine Seele dem Teufel verschrieben hatte; von dem feurigen Hunde im Gänsewinkel und den tanzenden »Jesuitergebeinen« auf dem Schwedenkirchhof. Ein alter Junggeselle, Maler von Profession, log unter fortwährenden Wahrheitsbeteuerungen die tollsten Sachen zusammen, hörte aber sofort tiefgekränkt auf, wenn des Pfeffer-Gerbers Tochter, ein mildes, bleichwangiges Mädchen, hereintrat. Dann brummte der unverheiratete etwas von »dummen Gänsen«, saß noch eine Weile stumm und beleidigt da und verschwand dann stillschweigend. Der Dorn-Schuster hatte seinen Sitz immer auf der Holzbank, die ihre steife Lehne gegen das Brett des ersten der beiden Fenster preßte. Er ließ sich nur in Intervallen sehen, dann nämlich, wenn eine Wolke des Mißgeschicks um unser Haus stand. Dieser sanfte, verschwommene Mann lebte des Glaubens, meinem Vater sei geholfen, wenn er ihm die plumpe Zutraulichkeit, das rührende Ungeschick und die vollkommene Hilflosigkeit seines Herzens leiblich näher bringe. Vielleicht auch wollte er gar nicht helfen, sondern ward von seiner Ohnmacht instinktiv in den Luftkreis des Außergewöhnlichen getrieben. Kurz, er saß hinter dem Tisch, breit, gelassen und sicher. Die großen Hände lagen vor ihm ausgebreitet. Seine ausdruckslosen Augen sahen immer erstaunt umher, und die ewige Verwunderung hatte die semmelblonden Brauen hoch in die Stirn hinaufgezogen. Jedes herankreisende Gespräch fand ohne weiteres seinen Beifall, wohl deswegen, weil er immer Gelegenheit fand, seine belanglosen, ja törichten Zwischenbemerkungen zu machen, um dann, wenn es mit dem Austausch der Meinungen hoch herging, auch mit seinen Geschichten herauszurücken, da er bei solchen Gelegenheiten sicher sein konnte, daß niemand recht ihrer achtete. Er erzählte stets von seiner Arbeit: von ein- und zweinähtigen Stiefeln, von Kinder- und Knöchelschuhen. Die meisten fanden es komisch, daß er sich jedesmal dabei ungewöhnlich erregte. Aber sie übersahen, daß er darin seine Lebensanschauung vortrug. Diese gipfelte in dem Ausruf: ›Das nimmt amal kee gut' Ende!‹ Aus den Veränderungen im Geschmack der Käufer schloß er auf Wandlungen im Weltgetriebe. In jener Zeit verloren sich die zweinähtigen, gewichsten Langschäfter vom Markte. Da prophezeite er nun das Aussterben der Bauern und Knechte und das Heraufkommen der »Ökonome«, er tat das mit leidender, durchdringender Stimme, einem schmerzvollen Zug im Gesicht, mit feuchten, ängstlichen Augen. Immer versicherte er sich der Zustimmung meines Vaters, und hatte er es mit seinem Geschrei endlich dahin gebracht, daß jedes auf ihn hörte, brach er bestürzt ab und sah beschämt umher.

Mein Vater schätzte ihn, wie man ein altes, unbrauchbares Möbel in seiner Stube gern hat, dessen vollkommene Zwecklosigkeit uns veranlaßt, ihm irgendeinen unbegreiflichen Sinn unterzuschieben. Nein, wenn ich mir den Ausdruck herzlichen Wohlwollens vorstelle, mit dem mein Vater seinen Schulkameraden oft unbemerkt betrachtete, so komme ich zu der Überzeugung, daß sein Gemüt von dem tiefen, reinen Klang schon damals getroffen wurde, der um diesen kindhaft hilflosen Mann hing. Aber er ließ es ihn nie allzu deutlich merken, sondern duldete es sogar, wenn unsere Gesellen und Lehrjungen sich hänselnd über ihn hermachten, lachte wohl dröhnend mitten hinein, lehnte sich dann in seine Sofaecke zurück, kümmerte sich anscheinend um nichts und sog große Wolken aus seinem Pfeifenrohr.

Meine Mutter strickte und blickte mit ihren klaren, grauen Augen gutmütig im Kreise umher. Räusperte sich die Schwarzwälder Uhr neben dem Ofen, um neun zu schlagen, so gab der Vater meiner Mutter mit den schwarzen Augen einen Wink. Sie legte dann eilig die Arbeit auf den Tisch und sagte milde: »Nun, Kinder, es ist Zeit zu schlafen. Wir wollen beten!« Der Besuch empfahl sich, und jedes, Gesellen und Lehrjungen natürlich eingeschlossen, kniete vor einem Stuhle nieder. Mit schlaftaumelnder Zunge leierten wir den kleinen Rosenkranz her. Alle beteten. Nur mein Vater wandelte indessen gleichmütig hinter unserm Rücken auf und nieder. Und alle Abende, wenn ich so vor meinem Stuhle abwechselnd auf dem rechten und dem linken Knie hockte, überkam mich ein absonderlicher Gedanke. Es war mir, als sei er dadurch, daß er an unserem Gebet nicht teilnahm, weit von uns entfernt. Als gehe er in einer fremden Luft auf und nieder und sinne mit seinen funkelnden, schwarzen Augen in unbekannte Weiten. Ich kam mir so verlassen vor, und mir ward es oft um meinet- und meiner Geschwister willen wehe ums Herz. Schaute ich aber auf meine Mutter, dann wurde ich meinen kindlichen Kummer wieder los. Sie kniete unbeweglich neben mir, und ihre Augen ruhten auf dem Christusbilde über ihr. Dabei glänzten sie, von dem Lichte seitwärts getroffen, wie gute Sterne.

Oh, und was für einen Gute-Nacht-Kuß preßte ich dann auf ihre schmalen, schönen Lippen, einen glühenden, wobei mir das Herz schlug. Dem Vater durften wir nur die Hand reichen. Stellten wir uns auf die Zehen, um nach einem Kuß zu langen, dann wies er uns wortlos ab mit seiner breiten, braunen Hand, die voller Schwielen war.

Meine Geschwister empfanden nichts dabei und stürmten zankend und sich stoßend zur Tür hinaus. Mich traf Vaters Abweisung oft tief in die Brust wie kalter Atem, und ich ging, an den Nägeln kauend, langsam hinweg, wie Kinder gehen, denen ein Almosen verweigert worden ist. Dann trat wohl, wenn es des Vaters wegen sich tun ließ, meine Mutter an mich heran, drückte mir die Hand, zündete eine Laterne an, gab sie mir und sagte: »Du mußt dich nicht fürchten, sieh, du bist ein Junge. – Sei vorsichtig mit dem Licht! Lösch es aus, ehe du einschläfst!«

Droben unter dem Dach aber lag ich dann noch lange wach, während das Schnarchen der Gesellen und Lehrlinge zu uns herüberdrang in die Kinderkammer.

Über mir im Finstern zitterten die weißen, konzentrischen Lichterkreise weiter, zwischen denen Schattenringe schwebten. Sie lagen aber an keiner Decke, sondern schwammen in der Finsternis der Nacht. Heftete ich meine Äugen ganz scharf darauf, so flossen sie zu einem helleuchtenden Punkt zusammen, und es war mir dann, als habe die große, unendliche Nacht um mich ein Loch, durch das, wenn es gelänge, hinauszusehen wäre in eine ferne, golden-schöne Luft.

Dann fiel mir ein, daß dort vielleicht mein Vater hinschaue, wenn er hinter unseren Rücken auf- und niederschritt, während wir beteten. Ich strengte mich an, den Strahl meines Auges auch hindurchzubohren bis in jene geheimen Weiten; aber zu meinem Schmerze floh das kreisende Licht so tief in die Nacht, daß es nicht größer als ein blitzender Nagelkopf war. Lange trieb ich das so, bis mir einfiel, meine Mutter habe mir Vorsicht mit dem Lichte angeraten. Und ich war damals erst ein Achtjährling und dachte, meine Mutter habe auch das Licht über mir, das Loch in der unendlichen Finsternis, meiner Vorsicht empfohlen. Da ich das nicht ausblasen konnte, da es auch vor meinen geschlossenen Augen gaukelte, wußte ich mir keinen anderen Rat, als zu beten, bis das Licht erlosch. Dann atmete mich die Nacht an mit ihren geheimnisvoll tiefen, lautlosen Atemzügen.

Die Glocke der Stadtuhr schlug ganz lange, und ihr Schall zerfloß singend in der Luft. Wir aber war's, als ob meine Mutter aus den Lüften zu mir rede, ich solle mich nicht fürchten; denn ich lag schon halb im Traume.

So tauchte das Spiel mit den Fernen, das nach meiner Schwester Tode in mir erwacht war, wieder auf. Denn die Süchte des Menschen wandeln sich, aber sie sterben nicht. Glühten in jener Zeit die Augen Annas auch nicht auf mich herab, so lockte das Leuchten nicht minder in die Weiten, in denen sie scheinbar für immer erloschen waren.

Es gab aber auch andere Abende in meinem Elternhause. Dann sagte mein Vater gleich nach dem Abendbrot zur Mutter: »Heut gehen die Kinder zeitig schlafen. Mach', daß du aufwäschst und mit ihnen betest. Ich hab's nicht gern, daß sie dasitzen und alles aufschnappen.«

»Und ihr schert euch ins Nest«, wandte er sich an die Lehrlinge. Den Gesellen wünschte er ohne weiteres »Gute Nacht«. Bald war die Stube leer. Meine Mutter ging still umher, stiller wie sonst immer. Uns Kindern war bange, wenn wir auf sie sahen; denn sie lächelte gar selten und dann auch so schwach und schüchtern. Einmal bemerkte ich gar, daß ihre Hände zitterten, als sie einen Topf austrocknete.

Mein Vater aber lehnte an solchen Abenden nicht behaglich in der Sofaecke, sondern saß vorgebeugt, paffte kurz und schnell aus seiner Pfeife und horchte gespannt auf jedes Geräusch draußen.

Gewöhnlich, während wir beteten, kam dann der Besuch. Die Tür ging langsam und umständlich, als winde sich wer mit einer großen Bürde in die Stube, und nach leisem Gruß, der meist in dem Murmeln unsers Gebets unterging, suchte er mit leichtschlürfendem Schritt seinen Platz auf. Wenn unsere Köpfe neugierig herumflogen, saß der Tischler Rinke gewöhnlich schon auf der Holzbank hinter dem Tisch. Wir haßten ihn, weil er schuld war, daß meine Mutter dann so still und traurig einherging. Deswegen mochten wir ihn nie recht ansehen, sondern gaben ihm die Hand mit trotzig gesenkter Stirn.

Einmal aber sah ich ihm voll und feindselig ins Gesicht. Das war an einem Abende, den ich nie vergessen werde.

Die finstere Februarnacht warf Wände schweren Schnees herunter. Ein träger Wind wischte mummelnd über die Scheiben der Fenster. Unser Gebet klang dumpfer als sonst, und das Schweigen der beiden Männer am Tisch lag peinlich in dem Dämmern, mit welchem das Licht der Lampe über die Wand vor mir floß, auf die ich meine Augen richtete. Sie sah nicht aus wie eine feste Mauer, sondern wie eine regengraue Weite, gegen die wir mit unsern machtlosen Gebetsworten ankämpften, und das Christusbild in der Mitte stak gleich einem winzigen Türlein in dem Halbschatten. Während wir mit dumpfem Murmeln diesem Notausgang entgegentasteten, saß der krumme Mann hinter uns und schaute gleich meinem Vater durch das leuchtende Loch im Finstern auf all die Wunder, die mir noch immer verborgen waren. Ich empfand das wie eine bittere Ungerechtigkeit, und während ich dann dem hinter dem Tisch Sitzenden die Hand reichte, nahm ich mir vor, heute noch nicht schlafen zu gehen.

»Schreibst du auch schon ins Heft?« fragte mich Rinke mit einem Lächeln, das mir häßlich vorkam.

»Natürlich«, antwortete ich keck und sah ihn dabei feindselig an.

»Was? Natürlich? Range, ist das eine Antwort?« brauste mein Vater auf.

»O ja, Herr Rinke«, verbesserte ich kleinlaut. Aber im Hinausgehen war mein Vorsatz noch einmal so fest, alles zu erlauschen, was die beiden miteinander reden würden.

Dann lag ich in der Kammer droben im Bett. Die Geschwister schliefen. Meine Schwester lachte zäh und formlos im Schlafe. Gegen zehn kamen die Lehrjungen heim, vorsichtig, mit ausgezogenen Stiefeln. Das Geländer der Treppe quietschte, manche Stufen ächzten. Da blieben sie stehen und schlichen dann auf den Zehen weiter. Endlich waren sie in den Betten, unterhielten sich noch eine Weile flüsternd, kicherten unter der Decke und schnarchten dann beide laut und deutlich. Der Altgesell hatte zuletzt auch heimgefunden. Leise durch die Zähne pfeifend, daß es klang, als singe er über ein Haar, war er eingeschlafen. Es schlug elf Uhr. Der Wind zerriß die Töne der Stadtuhr in der Luft und blies sie als wimmernde Fetzen durch die Ritze des Ziegeldaches.

Schnell und lautlos wie eine Katze war ich aus dem Bett, die zwei Stiegen hinab. Vom Hausflur führte eine selten verschlossene Tür in den Laden, die ich bald ertastet und glücklich hinter mir zugezogen hatte. Im Begriff, mich zurechtzufinden, rührte ich an ein Paar Zugblätter, daß deren schwere Eisenriegel klirrend aneinanderstießen. Mit Herzklopfen heftete ich meine Augen auf die Wand, wo sich das Fenster der Glastür abzeichnete, die aus der Wohnstube in den Laden führte. Wenn das Schattenkreuz sich bewegt, dann reiß' aus! dachte ich mit klopfendem Herzen. Aber es stand ganz still, nun zitterte es ein wenig. Denn jemand ging in der Stube mit so schweren Schritten auf und nieder, daß die Tür sich bewegte und mit ihrem abgenutzten Schloß knarrte.

Das war mein Vater.

Ganz leise schlich ich hin. Gebückt tastete ich mit den Händen nach dem mit Flickflecken bis obenhin gefüllten Henkelkorbe, der nahe bei der Tür stehen mußte. Da wollte ich mich auf den Henkel setzen und die nackten Füße mit den Flecken einhüllen, denn mein fast unbekleideter Körper begann unter dem Frost zu beben.

Ehe ich mich setzte, warf ich erst einen Blick in die Stube. Der Tischler saß zusammengesunken am Tisch und starrte mit seltsam aufgerissenen Augen wie ratlos über die Stube nach meinem Vater hin, der in tiefer Versonnenheit eben am Tisch vorübersteuerte. Den Kopf gesenkt, die Füße hart aufsetzend, wanderte er wie mutterseelenallein auf die hintere Wand zu. Plötzlich zuckte sein schwarzes Haupt herauf, und schrill hielt er im Schreiten inne.

»Eine schöne Wandlung!« so redete er erregt zu dem Tischler hin. »Da meinst du, es gehe uns einen Quark an, ob der Unternehmer seine Arbeiter abmurkst? Er hat ihnen den höchstmöglichen Lohn zu zahlen und außerdem dafür zu sorgen, daß sie ein menschenwürdiges Leben führen, nicht, daß sie in solchen Löchern hausen, wo Laster und Krankheit sie im Schlafe anfallen.«

»Und wer will sie zwingen, wenn sie es eben nun doch nicht tun?« fragte Rinke höhnisch.

»Wer? Wir, die Gemeinde aller billig denkenden Menschen! Alle, die der Brustfleck noch schmerzt beim Anblick von Unrecht«, antwortete mein Vater entschieden.

»Faber, Robert, du vergißt zu schnell!« Rinke gab es lächelnd zurück. »Du hattest recht, und deine Senkgrube mußte doch verschwinden. Wir sitzen doch bloß in der Karrete, fahren und lenken tun uns andere. Ob's hott oder hüh geht, ob's schüttelt und stößt, ob irgend jemand unter die Räder kommt, das ist denen egal ...«

»Bis es dem Meister endlich einmal zuviel wird«, vollendete mein Vater mit tiefer, bewegter Stimme. »Dann nimmt er die Kandare selber in die Hand. Laß gut sein, und wir Männer haben Gewalt über ihn. Wenn tausend rechter Herzen zusammenstehn, dann muß er ihn' den Willen tun.«

Es entstand eine lange Pause, und ich hörte meine Mutter vom Ofen her, wo sie wohl saß und strickte, mit geschlossenem Munde husten.

Endlich fragte Rinke trocken: »Du meinst mit dem Meister Gott?« Mein Vater bejahte schweigend. »Und wenn der nu nich will? Wenn der sich um das Zappeln in unserer Brust nischt kümmert?« Mein Vater schwieg.

»Ach, und da meinste, da hilft eben das Beten, was?« Des Tischlers Stimme war leise und boshaft.

»Warum denn nicht?« antwortete mein Vater nach einer Pause. »Es braucht nicht auf den Knien zu sein und nich aus 'm Buche. Man steht ehrlich auf seinen zwei rechtschaffenen Beinen und zuckt nich mit der Wimper, und mag's auch lange anders aussehen.«

»Und da läßt er dich stehen, bis du umfällst. Ja, ja, Faberlein! Hi, hi, hi.« Rinke hatte mit unnatürlich hoher Stimme gesprochen und lachte dann leise in sich hinein. Darauf fuhr er fort: »So is' und nicht anders! Wer hat gewart' wie ich und is nie so ganz verzweifelt. Aber es hat mich gepreßt Jahr um Jahr, ohne Absetzen. Und nu seh' mich einer an! Bin ich noch ein Mensch? Nee, nee, Robert! Wenn's da droben eenen Meister hat...«

»Rinke, reden Sie nich so was!« rief meine Mutter erschreckt.

»Nee, nee,« begütigte der Tischler. »Frau Faber, ich sage ja nich, es hat keenen, ich spreche bloß, Wenn's eenen hat, dann seien wir alle zusammen Pack, um das er sich nischt kümmert. Nischt. Und da ist ihm doch wohl auch egal, ob wir gut sein oder böse.«

Gepeinigt und leise, wie er gesprochen, setzte er jetzt aus. Mein Vater hatte, auf dem Sofa sitzend, mit geneigtem Kopfe zugehört und verharrte noch eine Weile schweigend. Dann erhob er sich umständlich, schüttelte den Kopf und sagte mit erhobener Stimme:

»Nein, Rinke, das glaubst du selber nich.« Aber da wurde der Tischler plötzlich leidenschaftlich. Seine Worte klangen fauchend, als presse ihm eine Hand den Hals zusammen:

»Ich glaube das nicht bloß, nein, ich wer' von jetz' an danach handeln! Ich hab's satt, mich von dem Wahl-Mensche – damit meinte er seine Frau – erhalten zu lassen. Jawoll, und ich hab' schon damit angefangen.«

Wein Vater tat einen überlegenen Schritt vom Tisch weg und vor sich niederlächelnd, fragte er mit gütigem Hohne: »Na, na! Und wie hast du denn das eigentlich eingefädelt?« Dann schob er sich einen Gebetstuhl an die hintere Wand ganz ins Dämmern und setzte sich mit allen Zeichen heiterer Spannung zurecht, um zu hören, wie sein guter Wandergenosse auf seine alten Tage »partuh schrecklich böse sein wollte«. Rinke druckste und klaubte anfangs verlegen in den Worten umher. Mein Vater schlug aufs Knie und rief lustig: »Was, gick und gack, schieß endlich los! Denn ein richtiger Lump muß vor allem frech sein, sonst bringt er's zu nichts.« Danach lachte er übermütig. Aber wie dann der Tischler, ärgerlich darüber, als Gockel behandelt zu werden, anfing zu erzählen, und nach einigen Sätzen sich zu seiner trocken-zynischen Weise wieder erholt hatte, hob sich mein Vater in die Höhe, und die Heiterkeit seiner Mienen machte tiefem Ernst Platz. Die Kirchenverwaltung der Stadt, das war der Inhalt der Erzählung, wollte auf das Bauernchor neue Bänke anschaffen und hatte für die Arbeit eine Submission ausgeschrieben. Rinke war mit unter den Bewerbern und kam mit einem andern Tischler in die engere Wahl. Um in das Geschäft zu rücken, ging nun der Krumme, der sein Lebtag freiester Gesinnung angehangen, nicht nur fleißig zur Kirche, sondern ließ eine Menge Sakramente über sich ergehen, und der Pfarrer hatte ihn schon durch den Glöckner Kinzel wissen lassen, er werde wohl der Erwählte sein. Dies alles gab Rinke mit vielen Verzierungen seiner Spottlust zum besten, und je herberen Ernst er auf dem Gesichte meines Vaters gewittern sah, desto boshafter und schonungsloser wurden seine Worte. Am Ende rieb er sich die Hände und rief: »Siehst du, da wär'n wir, Faber!«

»Das is natürlich alles Blech, was du hier erzählt hast«, sagte mein Vater nach einer Pause.

»Wie denn Blech?« lautete des betroffenen Tischlers Gegenfrage.

»Also, du hast alles so gemacht, wie du gesagt hast?« fragte untersuchend mein Vater weiter, seltsam ruhig und tonlos und erhob sich.

»Natürlich!« antwortete Rinke und sah unsicher auf.

Mein Vater stand nun am Tisch und bohrte sein Auge auf den Krummen ein. »So«, sagte er dann. »Das ist aber noch nicht alles. Wie ich dich kenne, kommt das Beste noch. Du erhältst den Zuschlag und gibst ihn mit Hohnlachen zurück. Nicht wahr, das ist doch deine Absicht bei der ganzen Sache?«

»Fällt mir nicht im Traume ein«, platzte der Tischler hin, der die ganze Situation noch nicht übersah.

»So? Auch nicht, wenn ich als Freund darum bitte?« fragte mein Vater eisig. Rinkes Gesicht wurde fahl und warf trotzig ein »nein« über den Tisch. «Auch nicht, wenn ich als Mann von Ehre es von dir verlange?« Die Stimme meines Vaters bebte wie ein Seil vor dem Reißen.

Rinke schüttelte nur heiser lachend den Kopf.

Da brauste mein Vater los: »Hier ist deine Mütze, Mensch, und dort ist die Tür. Noch geb' ich dich nicht verloren. Verstehst du? Aber wenn du die Jauche nicht ausspeist, die dir in der Gurgel sitzt, überschreitest du meine Schwelle nie mehr.«

Ich sah noch, wie Rinke hinter dem Tisch hervorkroch. Dann aber fiel ein roter Nebel in die Stube. Mein Vater wurde lang und wuchs bis an die Decke. Mich warf der Frost. Eine Tür schlug wie Kanonendonner. In Angst sprang ich von meinem Korbe auf und lief die Treppen hinauf. Mein Kopf schrumpfte zur Größe einer Nuß ein. Zähneklappernd zog ich die Decke über mich. Dann hörte ich die Stadtuhr schlagen. Sie wieherte wie ein Pferd. Ich zählte und zählte und verlor die Besinnung.

– – – – – – –

Am Morgen fand mich meine Mutter in Fieberphantasien im Bett. Nie habe ich sicher erfahren, ob meine Eltern dahintergekommen sind, daß ich Zeuge dieses folgenschweren Ereignisses gewesen bin. Aus Aussicht auf die Hand des Vaters hütete ich mich, danach zu fragen. Der aber war lieber zu mir, nachdem ich das Krankenbett verlassen hatte. Nicht, daß er einen Kuß von mir angenommen hätte, nein, ich fühlte es nur instinktiv, es war mir wohler in seiner Nähe. Ich umgab ihn mit Aufmerksamkeit, holte ihm unbefohlen Streichhölzer herbei, brachte den Stiefelknecht und las die Federchen von seinem Sonntagsgewand, wenn er ausgehen wollte. Dafür sah er mich oft so eigen an mit ruhenden, still glänzenden Augen, so wie ein mildes Feuer in unendlicher Ebene brennt. Ich war glücklich darüber, und meine Kindheit sonnte sich in diesem einsamen Lichte seines stolzen Auges.

– – – – – – –

In uns ruht die ganze Skala des Daseins, alle Geister des Himmels und alle Ausgeburten des Schattens schlafen in der Brust des Menschen und harren ihres Erweckens. Hätte das Auge meines Vaters nicht so auf mir geruht, es stünde besser um mich... Vielleicht, wer weiß es?

Allein es ist doch nun so gekommen. Aus seiner breiten Brust, hinter seiner hohen, kühnen Stirn hervor stürzte sich jenes Anstemmen gegen alles Bestehende in mein zehnjähriges Leben, das mich seitdem nie verlassen hat.

Die Natur gab mir, wohl schon im Werden, einen großen Teil des väterlichen Wesens. Aber das Kecke, das toll Wagende, hatte bisher im Banne der mütterlichen Seele in mir gelegen und in der Gewalt der blauen Augen, die damals – und seitdem für lange – zu dem Lichte geworden waren, das von Wundern zitterte, die hinter der Menschenfinsternis blühen.« Der Erzähler hielt inne und saß ganz unbeweglich da in der Luft jener unwiederbringlichen Zeit, die er über sich heraufbeschworen hatte. Seine Augen, über denen eine dumpfe Schicht lag, waren weit geöffnet und doch wie spürend zurückgewandt mit all ihrer Sehkraft. Die Linien seines Gesichts schienen verwischt. Nur die bitteren Falten von den leicht beweglichen Nasenflügeln zu den Mundwinkeln hin waren geblieben. Wie im Schlafwachen lehnte er in der Ecke des Sofas, und tonlos, wie im Traume, sprach er noch die Worte über sich: »Und doch bin ich es nicht gewesen, was nun aufklingt, aufschreit. Nicht mein eigentliches »Ich«, nur eine Nuance von mir.« Dann versank er in völliges Schweigen. Sein Gesicht ward blaß und fiel wie leidend ein.

Der Wind draußen war leichter geworden. In gestrecktem Flug eilte er an dem Hause hin. Seine Schwingen sangen durch die Nacht wie die Messer riesiger Sensen. Nur dann und wann verfing sich seine Wucht an den Wänden, daß ein Knistern und Knacken von den Sparren bis in den Grund durch das Gebälk fuhr. Nach einer solchen Erschütterung erhob sich Faber wie auf einen dringenden Anruf aus der Versunkenheit, sammelte mit eingedrückten Augen seine inneren Bilder und begann weiter zu erzählen, aber mit jener unwirschen Stimme, die ich bei unserm ersten Zusammentreffen an ihm kennengelernt hatte.

»Wir Menschen unserer Zeit sind Wesen der Zusammenbrüche. Kaum einer unter den Tausenden, die überhaupt bewußt leben, wächst ungestört aus den Notwendigkeiten des einen Lebensalters in den freier beschränkenden Zwang des nächsten hinein. Unsere Entwicklung gleicht mehr dem Entrinnen aus Zerstörungen, und die Erfolge der inneren Zeiten scheinen immer wieder Trümmer zu sein. Und doch bezweifele ich, ob es die Absicht der Natur sei, daß wir uns stets aus kreisenden Wassern nackt auf eine Insel retten müssen, um dort solange zu verharren, bis wir stark genug zu einem neuen Untergange sind.

Am erschütterndsten ist der Ausgang der Kindheit, wenn er nicht an ihrer natürlichen Grenze, der Pubertät, liegt. Erkenntnisse kommen über uns, die wir nicht fassen, Erfahrungen, denen wir nicht gewachsen sind. Die Seele sucht diesen unseligen Geschenken durch krause Wildheit zu entfliehen und errichtet in Notwehr einen Wall rüder Tollheit um sich. Was für ein Rüpel wurde ich nach der Schlucht, die jene Nacht in mein Leben gerissen hatte, in der der Kampf meines Vaters mit dem Tischler Rinke begann, der Schrecken meiner Lehrer! Fast die ganze Stadt fürchtete mich. Das Wort »Gehorsam« war auf einmal aus meinem Bewußtsein geschwunden. Keine Achtung und Ehrfurcht besaß ich, nichts Demütiges und Weiches mehr, überall schrie ich mein brutales »Ich«. Meine Lehrer erschöpften umsonst die ganze Stufenleiter ihrer Strafen an mir; die alten Weiber riefen Gottes Strafgericht über mich, die würdigen Bürger prophezeiten meinem Vater das größte Unglück mit mir.

Meine Mutter, die mich sonst mit einem Blick ihrer sanften Augen regiert hatte, schritt zu einer permanenten Prügelei. Ich lachte sie aus. Mein Vater schlug mich oft, daß ich besinnungslos weggetragen werden mußte. Es half nichts. Ja, einmal geriet ich über eine vermeintlich ungerechte Züchtigung in eine solche Wut, daß ich ein auf dem Tische liegendes Brotmesser ergriff und auf meinen Vater eindrang. All mein Sinnen verfing sich in Abenteuerlichkeiten; all mein Handeln wurde zur Verirrung; ich lebte in einem Rausch des Widerstandes gegen alles und alle. In jenen Zeiten kochte ich auch in den Fiebern einer frühzeitigen erotischen Entzündung, verlor meine Unschuld und vergriff mich an mir selbst.

Manchmal aber kam doch in meine fessellose Seele eine tiefe Reue, die einem Wüten glich. Ich weinte über mich bis zum Taumel. Dann verbrachte ich Tage in stiller Einsamkeit auf dem Dachboden oder unter den Weiden am Neißeufer und peinigte mich mit aller Art Entbehrungen wie ein Asket, um nach kurzer Spanne in einem wilden Streich all die guten Vorsätze wie Plunder von mir abzuschütteln. Meine verwilderten Haare, meine schmutzigen Hemdärmel, meine stets zerrissenen Hosen tauchten wieder überall auf, wo es Lärm, Verhöhnung, zerschlagene Fensterscheiben und nächtlich läutende Hausglocken gab. All meine Kameraden jener tollen Monde sind verkommen, im Trunk, in Straßengräben, im Gefängnisse. Ich rettete mich vor dem vollkommenen Verlieren bis heute. Denn es gab zwischen mir und ihnen stets eine letzte Schranke, deren Überschreiten ich ihnen wehrte. Im Innersten verachtete ich sie. Dort trug ich, was sie nie kannten, heimlich und unversehrt, den süßen Schimmer meiner frühen Kindheit über mir. und er lag auf diesen dunklen Stunden, wie das weiße Mondlicht in der Nacht auf schwarzen Dächern liegt.«– – – – –

Faber verstummte. Die Hände zwischen die Knie geklemmt, saß er lange mit geneigtem Kopfe da. Auf ein erinnerndes Räuspern von mir hob er seinen zerflossenen Blick in meine Augen und nickte mir, schwermütig lächelnd, zu.

»Ich erzählte ein wenig zu umständlich«, sagte er. »Aber für den Zweifelsüchtigen gibt es keine Sicherheiten und keine Selbstverständlichkeit.«

»Im Gegenteil,« erwiderte ich, »über die Gründe des plötzlichen Bruches zwischen deinem Vater und Rinke hast du mich noch nicht genügend unterrichtet.«

»Hm, hm. Na ja«, antwortete er, sann ein wenig nach und fuhr sich dann über die Augen. »Aber ich kann nicht mehr, ich fühl's, daß ich dem Kreisen, das nun auf mich zukommt, nicht mehr gewachsen bin. Vielleicht, wenn ich es doch erzwingen wollte, würde ich mitten im Erzählen einschlafen. Es muß übrigens nicht mehr weit von zwölf entfernt sein.«

Ich zog die Uhr und sah, daß sie schon ein Viertel nach eins zeigte.

»Na siehst du, Kastner! Hab' Dank für die Ausdauer. Ich werd' mich aufs Ohr drücken. Denn drei durchwachte Nächte machen sich endlich doch geltend, und dann ist eine nahende Sicherheit über mir. Vielleicht muß es doch nicht sein. Morgen abend um sieben erwarte ich dich hier. Das heißt, wenn du willst.«

»Faber!« sagte ich vorwurfsvoll.

»Schön!« Er nahm die Lampe und geleitete mich an die Haustür. Ich lehnte das Anerbieten seiner Begleitung ab. »Also auf Wiedersehen!« rief er mir nach, der ich schon zwischen den Obstgärten hineilte. Die Nacht war dunstig-blauweiß. Aus allen Ästen schüttelte der Wind die blassen Blätter überreifer Blüten über mich auf den Weg. Im Säuseln der Birken, auf dem Hügel zwischen Raspenau und Wecknitz, schrak ich herauf. Die Birkenstämmchen standen wie weiße schwanke Tempelsäulen um mich, und der machtlose Vollmond sank nach dem schwarzen Brausen des Feistelwaldes hin.

 

Ende der ersten Nacht.


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