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Hermann Stehr

Sein Werk dient seinem Leben. Erfüllt ist es von der heißen Sehnsucht, die Seele zu erkennen, aus den Umklammerungen des Daseins und dunkelsten Finsternissen sich loszuringen in Freiheit und Licht. Diesen mit Hingabe des heiligsten Selbst geführten Kampf um die Wahrheit spiegeln Stehrs Bücher wieder. Leben und Schaffen sind ihm eins; Dichter und Mensch lassen sich nicht voneinander trennen. Der Künstler wächst an seinem Werke und mit ihm; nie abgeschlossen in seinem Wesen, stets werdend, reifend, sein Leben immer höher hinauf bauend.

Der äußere Entwicklungsgang des Dichters ist schnell erzählt. In Habelschwerdt in der Grafschaft Glatz wurde Hermann Stehr am 16. Februar 1864 als Sohn eines Sattlermeisters geboren. Er besuchte die Volks- und die Präfektenschule seiner Vaterstadt; kam später auf die Präparandenanstalt nach Landeck und dann auf das Lehrerseminar in Habelschwerdt. Im Juli 1885 begann er seine Laufbahn als Volksschullehrer; unter der Gunst seiner Behörde hatte er nach eigenem Geständnis nicht allzu sehr zu leiden. In einer Reihe schlesischer Dörfer war er tätig. Die entscheidenden Jahre fallen in die Zeit seines Aufenthaltes in Pohldorf (Grafschaft Glatz). Aus dem inneren Muß seiner Wesensart, der er ihr Eigenrecht zu erkämpfen suchte, nicht aus der Leidenschaft blinder Aufsässigkeit wehrte er sich in notvollem Ringen wider eine Macht, die ihr Recht nur in der Gewalt zu erblicken schien. Im Jahre 1900 wurde Stehr nach Dittersbach versetzt. Mit stetig wachsender Hingabe und Freude widmete er sich seinem Beruf, bis ihn 1911 ein Ohrenleiden zwang, aus dem Amte zu scheiden. Später siedelte er nach Warmbrunn über. Dem Besucher des »Mandelhauses« offenbart sich die tiefe Güte eines Künstlers, der auch in dunkelsten Zeiten nur der mahnenden Stimme seines Innern gehorcht hat und nun im Hellen wandelt, unerschütterlich in seinem Wesen.

Stehr ist Schlesier. Und sein Werk ist fest verankert in dem Boden seiner Heimat. Nicht in dem Sinne freilich, als bildeten Schlesiens Grenzen zugleich die Grenzen seiner Welt und seiner Dichtungen. Der Baum wurzelt im Erdreich; seine Wipfel aber ragen ins Himmelslicht, umspielt vom Glanz der Ewigkeit. Nicht Schlesier, nicht schlesische Stammesart will Stehr zeichnen; Menschen schildert er – und der Rätselhaftigkeit ihres Innern geht er nach. Die Heimat wird ihm zur Welt, die Dichtung ... Spiegel des Alls. Von der Seele her erblüht ihm sein Wissen. Sein Denken ist anschaulich gerichtet, nicht kritisch. Auf der Fülle der Erscheinungen läßt er seinen Blick ruhen – und erkennt das Gesetz, das sie bindet. Er geht nicht hinter die Dinge zurück; er schaut und erfährt. Der Gunst der Menge hat er sich nie verdungen. Die Gesichte, die Bilder, die vor ihm aufstiegen und die er zum Dauerleben erweckte in der Form des Kunstwerkes, waren ihm Trost in bitterster Not. Erlösungen wurden ihm seine Dichtungen, Bekenntnisse, Befreiung auf dem Weg ins Lichte.

Die Jugend des Künstlers fällt in die Jahre, da der Naturalismus seinen Siegeszug antrat. Auch Stehr begann als Naturalist. Aber nicht die sichtbaren Dinge der Umwelt zergliedert er bis ins feinste. Auf äußere Handlung legt er so gut wie gar kein Gewicht. Er ist Naturalist der Seele. In der Stille unseres Innern vollziehen sich die für uns entscheidenden Ereignisse. Der Wirklichkeit wird das Ich gegenübergestellt. Gestalthaft betont erscheint Stehr vor allem in seinen ersten Schöpfungen; die späteren Bücher zeigen, daß sein Wesen zugleich durch die Idee beherrscht ist. Nicht bloß künstlerisch, auch philosophisch malt sich ihm die Welt. Seine Werke wenden sich nicht an den Geist, den Verstand, sondern an die Seele des Lesers; das ist der Schlüssel zu einer richtigen Würdigung Stehrscher Kunst. Über den großen Unterschied zwischen Seele und Geist freilich sieht die Gegenwart gern hinweg. Die Seele ist ewig; sie ist der Gott in uns. Nur mit Hilfe des Geistes jedoch gelangen wir in ihr unermeßliches Reich. Darin besteht zum Beispiel das Göttliche der Wissenschaft, daß sie uns durch den Geist die unendlichen, schimmernden Weiten der Seele auftut. Und: inmitten des Alls stehend, dessen Einheit in sich fassend, redet der Dichter zu seinem Volk. In der Hand des Künstlers liegt nach Stehr die wahre Würde des Menschentums. Der Dichter wird zum Propheten, zum Künder, zum Führer in neue Reiche des Seins.

Eine kunstvoll durchgebildete äußere Form adelt Stehrs Bücher. Für jedes seiner Werte schafft er sich eine neue Prosa. Schwingt doch auch jedes Leben in dem ihm eigentümlichen Rhythmus! Streng und knapp wirkt der Stil im »Graveur«. Wie Seufzer, die sich mühsam einer gequälten Brust entringen, muten die Worte an. Müde, zag verhallende Klagetöne dringen in »Leonore Griebel« an unser Ohr. Ein Bild jagt hier das andere. Bitterster Erdenschmerz zittert in den Zeilen des »Letzten Kindes«. Ein fast überirdischer Glanz ruht auf dem Abschnitt, der die Wanderung der Mutter, des Kindes und des Engels durch die Gefilde des Todes schildert – in wirksamem Gegensatz läßt Stehr den Schneider, dessen Frau und die Gevatterin in der Mundart des Volles reden. Wundersam beseelt ist die Sprache in den »Geschichten aus dem Mandelhause«. Man meint, das heimliche Raunen schwingender Saiten zu vernehmen. Und man hat das Gefühl, als wolle der Künstler die Töne, die er angeschlagen hat, nicht jählings abbrechen. Er berauscht sich selbst an ihrer Schönheit und läßt sie langsam, leise verklingen. Voll heimlicher Glut ist die Darstellung im »Begrabenen Gott«. Man spürt des Dichters tiefes Mitleiden und seine Ehrfurcht vor den Rätseln der Menschenseele. Zu satter Schönheit, zu herber Kraft steigt die Sprache auf in den »Drei Nächten«, im »Abendrot« und vor allem im »Heiligenhof«. Wie seelenvoll ist sie in jenen Teilen, die das Leben des hübelheiligen Lenleins in einer märchenhaft-stillen Welt zeichnen; und wie Packend wird sie wiederum, sobald der Dichter z. B. Sintlingers Schicksal oder die seltsamen Fügungen in Fabers Dasein schildert! Knapp gehalten in der äußeren Form, fast schmucklos ist der Beginn des »Anton Gudnatz«, während dem Schluß der Novelle ein sieghaftes inneres Frohlocken einen seltsamen Zauber verleiht. Der Eigenart der Erlebnisse und Wandlungen ist auch in dem jüngsten Roman, im »Peter Brindeisener«, die Sprache angepaßt.

Schon die ersten Bücher lenkten die Blicke auf Stehr. Da leuchtete ein Dichter mit fast unheimlicher Seherkunst in die Tiefen unserer Seele. Mit gewaltiger Kraft stellte er seine Menschen vor uns hin. Erschüttert lebte man ihre Leiden mit, und bewundernd stand man vor der Naturgewaltigkeit dieser Werke. Denn man fühlte wohl: hier spricht das Schicksal selbst, das uns erbarmungslos in Finsternisse hinabstößt. Ein heiß nach Licht ringender Künstler enthüllte seinen ganzen wühlenden Schmerz und seine brennende Sehnsucht. Ein Einsamer sprach, der seinem Leben Gestalt geben wollte; der unerschrocken seinen Weg ging, weil er sich allein vor der Ewigkeit der Seele verantwortlich glaubte. In der Tiefe seiner Qual sah der Dichter anfangs keine andere Rettung als den Tod. Wilde Leidenschaft lodert auf im »Graveur«, im »Schindelmacher« – Szenen von packender Wucht ziehen an uns vorüber. In beiden Erzählungen wachsen die Helden, von tierischem Haß gepackt, hinaus über die Grenzen menschlichen Wesens. Und als sie sich in die enge Form ihres Ichs wiederfinden, gibt es für sie nur einen Ausweg: in freiem Entschluß wählen sie den Tod.

Das Wesen des Mannes sucht Stehr zu ergründen – und das Wesen der Frau. Mit erstaunlichem Spürsinn hellt er Leonore Griebels heimlichstes Seelenleben auf; in die maßlosen, verdämmernden Räume ihres Innern läßt er uns blicken. Von dem Roman führt ein grader Weg zu »Meta Konegen«. Keinen Einzelfall, sondern die Tragik, die jede Ehe in sich birgt, stellt Stehr in diesem Drama dar. »Wir leben von dem Leben anderer Seelen, die uns lieben. Und wenn die in Verwesung übergehn – wo nehmen wir den Atem her für unsern Atem?« Die Ehe am Morgen wollte der Dichter in einem eigenen Werke behandeln. Die Ehe am Mittag schildert »Meta Konegen«; die Ehe am Abend die Novelle »Das Abendrot«. Zwei greise, müde Menschen starren schmerzzerwühlt in den Schacht ihres Lebens. Gericht wird gehalten über eine Ehe, die in Wahrheit keine Ehe war, weil sie der Liebe entbehrte.

Stehrs Bücher aus der ersten Zeit seines Schaffens enden zumeist tragisch. Und doch: mit dem Blick auf das Ewige. Auch der Tod ist ja kein Ende; niemand vermag sich dem Kreis des Geschehens zu entziehen. Leben ist nicht Stillstand, sondern steter Fluß, fortwährende Bewegung. Immer reicher wurden Stehrs Dichtungen, immer größer im inneren Ausmaß; getragen von dem Glauben an die Heiligkeit unseres Seins. Zum Weltbild erweitern sich seine Werke. Doch nur über Trümmer führte ihn der Weg zum Blickpunkt der Ewigkeit. Die Brücken, die ihn mit der Vergangenheit verbanden, mußten abgebrochen werden. »Der begrabene Gott« entstand. Mit bewundernswerter Gestaltungskraft schildert hier der Künstler ein Schicksal voll bitterster Not. Das Bild ihres Gottes, der ihr nur ein Peiniger gewesen, begräbt Marie Exner. Sie erstickt ihr Kind, um alle Hoffnungen betrogen. Holzscheite schleppt sie herbei. Alsbald steht das Haus in Flammen. Man vernimmt die Stimme der Mutter, die ein Wiegenlied singt. In Asche bricht alles zusammen. Der alte Gott war zerschlagen. Von weiterem Aufwärtsschreiten künden die »Drei Nächte«. Einen Wendepunkt im Leben und Schaffen des Dichters bedeutet der Roman. Geschlossenheit zeichnet ihn aus. Jeder der drei Hauptteile zeigt die verschiedensten Abstufungen und bildet doch ein Ganzes in sich. Innerlich notwendig sind die einzelnen Kapitel miteinander verknüpft. Immer tiefer in Not und Verzweiflung hinein führt der Weg, den Fabers Eltern gehen. Das Gespenst der Vergangenheit zerschmettert ihr Dasein und tötet sie. Faber aber wird Herr des Schicksals. Aus seelischen Umklammerungen ringt er sich los; er gewinnt Macht über die Finsternis seiner Jugend. Mit jubelndem Frohlocken schließen die »Drei Nächte«. Zum neuen Menschen hatte sich Stehr durchgekämpft. Immer reifere Gaben schenkte er uns. In demselben Jahre, in dem das alte Reich in Trümmer geschlagen ward, erschien der »Heiligenhof«. War dem Dichter bisher das Erlebnis der eigentliche Anstoß zu seinen Büchern geworden, so ging er jetzt (zum ersten Male) von der Idee aus. In den einzelnen Personen aber zeichnet er Menschen von Fleisch und Blut. Die Ideen setzte er in Leben um. An dichterischen Schönheiten ist der Roman reich, fast überreich. Wer vergißt je die Gestalt des Heiligenlenleins? Tiefste eigene Überzeugungen offenbart der Künstler. Dichtung und Philosophie schließen in dem Werk einen innigen Bund. Eine neue Lebensbotschaft bringt Stehr seinem Volke. Das Wesen, das den Grund des Weltalls bildet, ist auch unser Wesen. Es gibt kein Mehr, kein Weniger – Leben ist Tod, und Tod ist Leben. Durch den Geist und sein Denken wird alles verschleiert. Doch schon auf Erden können wir wandeln in jenem Hause ohne Mauern, »das einige das Jenseits heißen, andere den Himmel und noch andere das Nichts, weil es das All ist«. Wer zurücksinkt in den Schacht seiner Seele, erlebt in sich alles, das Weltall und Gott mit seinen Wundern und Geheimnissen.

Doch auch der »Heiligenhof« ist kein Abschluß oder Ausklang. In seiner Größe und Erhabenheit zeigt sich Stehrs Können aufs neue im »Peter Brindeisener«. Da unternimmt es der Künstler – ein in der deutschen Literatur unerhörtes Beginnen – seinen letzten großen Roman noch einmal zu erzählen. Freilich: die Ereignisse, die Erlebnisse durch das Auge Peter Brindeiseners gesehen. Die Objektivität des Erkennens wird dadurch erschüttert, vernichtet; wie ein Spuk huscht das Dasein vorüber. Durch alle Höhen und Tiefen eines Menschenlebens werden wir geführt. Der Tod des Helden aber ist kein Ende, sondern Erfüllung, höchster Jubel, Aufgehen im All. Wieder kündet der Dichter von der Seele und ihrem Wirken über Raum und Zeit hinaus. Mit den Lebenden sind wir verkettet. Jedoch stärkere Macht über uns haben die Toten. Sie werden in uns aufs neue geboren; sie klopfen an die Türen unserer Herzen; wir spüren ihr Sein: ihren Fluch, ihren Segen.

Einen Einblick in sein Ringen und seine Entwickelung gibt uns Stehr in dem »Lebensbuch«, das Gedichte aus zwei Jahrzehnten vereint. Er veröffentlichte es in dem Bewußtsein, daß er damit sein Heiligstes seinem Volke anvertraue. Nicht bloß vom poetischen Standpunkt aus wollen die Verse gewürdigt sein. Sie halten Erlebnisse fest, die für den Künstler von entscheidender Bedeutung gewesen sind. Die Lieder sind rein zeitlich geordnet. Ein Lebensbuch ist das Werk für Stehr gewesen; ein Lebensbuch könnte es auch für viele werden, die ernst mit dem Dasein ringen. Wie die epischen Dichtungen im »Heiligenhof«, so gipfelt die Lyrik in dem »Monolog des Greises«. Im Licht der ewigen Seele sollen wir unser Leben auswirken.

Wer durch immer Weichendes nach ew'gem
Maß hindurch gewandelt und geläutert hat
sein Wesen, der tritt, unzerstörbar wie Odysseus
auf Asphodeloswiesen und erschaut
wie Goethe das geheimnisvolle Reich
der Mütter, sieht wie Lao-Tse, der drob
verstummt, daß seines Schweigens Donnerlaut
von dem Gewölbe der Jahrtausende
herniederklingt, seit er im Busch verschwand.

Unser Herz werde weit wie Gottes Weltallshalle. Niemanden sollen wir richten als – uns selbst. Und der Dichter, der Mensch Stehr bekennt:

Ich will auf Höhen sterben und im Licht,
nicht winseln, wenn der Tod mich anfaßt, sondern
erhobnen Haupts und selig durch ihn schreiten.
Denn ganz gehör ich dann den sel'gen Weiten,
von denen nur ein schwacher Schimmer fällt
durchs bunte Formenfenster dieser Welt.

In dem Wissen um die Göttlichkeit unserer Seele gipfelt Stehrs Weltbild, und in dem Glauben an den Endsieg des Guten. Wie's auch das Märchen offenbart, das in Wahrheit gar kein Märchen ist, die Geschichte von dem armen Glücksucher Wendelin Heinelt. Des Dichters Werk aber zieht immer weitere Kreise. Vgl. im einzelnen: Hermann Stehr und sein Werk. Ein Bekenntnis von Helmut Wocke. Wilhelm Meister-Verlag. Berlin. 1923. Der »Heiligenhof« vor allem und das »Lebensbuch« haben bereits tiefe Wirkungen ausgeübt. Und im Norden und Süden unseres Sprachgebietes würdigen Vertreter deutscher Geisteswissenschaft Stehrs Dichtung und Philosophie – in der Erkenntnis, daß mit seinem Schaffen eine neue Zeit angebrochen sei, und daß er der suchenden Gegenwart den einzigen Weg der Rettung weise: den Weg zu unserem eigensten Selbst, den Weg zu deutscher Innerlichkeit.

Helmut Wocke


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