Hermann Stegemann
Der gefesselte Strom
Hermann Stegemann

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Hermann Ingold lag auf der Terrasse von St. Joseph unter der alten Muskatellerrebe, deren Trauben sich schon klärten. Er war der einzige Kranke. Neben ihm saß sein Arzt.

Seit die Stadt das neue Krankenhaus gebaut hatte, wurden die Kranken des Werkes dort untergebracht, und der linke Flügel des Klosters wurde als Bureau benutzt für die Ingenieure der Xylanderschen Werkstätten.

Das Schachbrett stand verlassen zwischen Hermanns Liegestuhl und Engelhardts Sessel.

Hermann hatte sein Schreibheft und den Bleistift in den Händen. Professor Engelhardt schlief. Das wiederfuhr ihm in der letzten Zeit häufig. Kaum hatten sie die ersten Züge getan, erschlaffte seine Aufmerksamkeit, und wenn Hermann mit seinen mageren Fingern die Königin ins Feld führte, traf er auf keinen Gegner mehr. Anfangs hatte er Engelhardt geweckt, jetzt ließ er ihn schlummern. Doktor Baum hatte ihm gesagt, das sei ein Symptom der zunehmenden Herzschwäche.

Die Mittagspause war längst vorüber, aber Hall und Widerhall der Arbeit weckten Engelhardt nicht auf. Das Werk war gewaltig in die Höhe geschossen.

Hermann Ingold hatte das Leben behalten, die Wunde war endlich ausgeheilt. Aber er war sehr schwach.

Ebenso plötzlich, wie er einschlief, pflegte Engelhardt aufzuwachen.

»Na, diesmal hast du mich wieder matt gesetzt, schlafmatt,« scherzte er und rieb die Brille mit dem Taschentuch.

Seit der Junge ihm damals die Arme um den Hals gelegt und gesagt hatte: »Operiert, Sie haben mich operiert, Doktor Engelhardt!« mit einem Ton, als wollte er sagen, das sei gewiß eine große Selbstüberwindung gewesen, seit damals duzte er ihn.

278 Hermann blickte erschrocken auf und schob sein Heft unter die Decke.

»Bin ich zu früh wach geworden?« fragte Engelhardt.

»Nein, es will heute nicht,« erwiderte Ingold.

»Dann kannst du es auch nicht zwingen.«

Nach einer Weile fragte Hermann leise:

»Glauben Sie wirklich, daß ich es zu etwas bringe?«

Seine übergroß gewordenen, leuchtenden Augen hingen an Engelhardts Gesicht.

Der legte ihm langsam die Hand auf die mageren Finger und antwortete:

»Junge, darauf kommt es beim Dichten nicht an. Aber das will ich dir beeiden, daß in dir ein Dichter steckt. Immer gesteckt hat, Fischerbub, Studiosus der Geologie und deutscher Jüngling. Aus der Schale bricht er, seit – ja, daß ich es recht sage – seit deine Füße zur Ruhe gekommen sind und du das Leben beinahe aus den Händen lassen mußtest. Das Leben, das dir gerade den ersten süßen Becher mit der bitteren Hefe gereicht hatte.«

»Doktor Engelhardt!«

»Sei still. Bleibt unter uns. Hast es nur mir erzählt. Geht keinen Menschen etwas an. Bist noch vom verloren gegangenen Schlag, wirst deine Sehnsucht nicht vor die Hunde werfen. Ich schenk' dir den Friedrich Vischer. »Auch Einer« heißt er, da lies dich dran gesund!«

Er strich ihm väterlich die Stirn, über der der rötliche Haarbusch seine phantastische Welle schwang.

Es kam jemand die Treppe herauf. Joseph Hotz, abgemagert, einen verstörten Ausdruck im Gesicht. Den Hut in der Hand, daneben einen Stock und einen Schirm mit einer Sense zusammengebunden. In seinem schweren Winterrock mit den langen Schößen stand er auf der sonnigen Terrasse und blickte auf die mächtigen Bauten, die die Aue bedeckten und in den Rhein hineinwuchsen.

Engelhardt bückte sich zu Hermann nieder:

279 »Joseph will dir Adieu sagen, mach's kurz, er ist ganz aus dem inneren Gleichgewicht, seit er vier Monate abgesessen hat.«

Der Alte fuhr sich über die Augen und trat näher.

»Also du willst nach Elfenau zu deiner Schwester?« fragte Hermann Ingold, indem er sich aufrichtete und ihm die Hand hinstreckte. Zweimal wischte Hotz seine rechte Hand an der Hose ab, dann ergriff er Hermanns Finger.

»Mir taugt die Luft in Rheinau nicht mehr. Es ist nicht, weil ich das Messer fürchte. Aber ich versteh' nichts von dem, was hier geschieht.«

Er hielt die Finger Hermanns vorsichtig wie leichtzerbrechliche Pflänzlinge und blickte ihn an, als wollte er von ihm einen Rat haben.

»Du bist ein braver Mann, der Vater hat einmal gesagt: Heilig ist er nicht, aber ein Joseph, das heißt treu,« antwortete Hermann in glücklicher Eingebung.

Da zog der alte Gärtner den Rücken gerade und heftete die Augen auf den glatten gleißenden Strom, der zwischen den hellen Granitmauern dahinrollte.

Sein alter Schalkshumor brach durch, und er entgegnete:

»Ja, den heiligen Joseph haben sie auch erst hinterher heilig gesprochen. Ich hab' also noch Zeit. Ich geh' jetzt und trink Elfenauer auf den Fischmeister von Rheinau.«

Dann gab er auch Engelhardt die wohlabgeriebene Hand.

»Dreiundzwanzig Jahre, Herr Doktor, das zählt,« murmelte er, und dann auf einmal kurz, wie aus dem Hinterhalt: »Ich hab' den Schuß, der dem Italiener ein Loch in die Haut gemacht hat, ins Blinde abgebrannt, ich weiß nicht wie, aber der Schrei, Herr Doktor, der Schrei – ich hab nicht gedacht, daß ein Mensch nach dem Schrei am Leben bleiben könnte!«

Engelhardt schüttelte ihm die hornige Hand und erwiderte heftig:

280 »Still, Joseph, ich komm' Euch besuchen in Elfenau, und der da auch.«

Er deutete auf Hermann Ingold.

Joseph Hotz schulterte sein Bündel, blickte von einem zum anderen, als zweifelte er daran, daß einer von ihnen jemals noch so viel Wegs unter die Füße nehmen könnte, und ging.

Aus tiefem Schweigen heraus sagte Engelhardt nach einer Weile:

»In acht Tagen kommt Ruth!«

Als Ruth Xylander mit ihrem Kind in Rheinau ankam, war sie darauf vorbereitet, ihren Vater verändert zu finden. Gerhart hatte ihr gesagt, daß seine Lebenskraft sichtlich abnehme. Aber als er ihr am hellen Tag unter den Obstbäumen des Gartens entgegentrat, in dem der Herbst und die Schatten der neuen Gebäude feuchte Kühle verbreiteten, überlief sie ein eigentümlicher Schauer. Nicht Schrecken, sondern Ehrfurcht.

Er lächelte.

»Ja, Ruth, ich werde alt. Aber ich habe nichts zu klagen.«

»Papa, ich freue mich ja so. Ich habe es mit dir gefühlt und mit dir gewußt, was diese Operation für dich bedeutet hat!«

Wortlos schlug er die Arme um ihre Schultern.

Lange standen sie im Schatten der Obstbäume.

Endlich löste Ruth seine Arme und hielt nur seine Hand fest, die, weich und gedunsen, sie im stillen erschreckte.

Als Elschen getrippelt kam, weiß gekleidet, nacktbeinig, mit Ruths blondem Gespinst auf dem Kopf und einem Finger im Mund, dann ein paar Schritte entfernt, im grünen Schatten, von Sonnenkringeln übersät, stehen blieb, als sollte sie als Farbfleckwunder gemalt werden, schüttelte Professor Engelhardt seine weiß gewordenen Locken und sagte mit gerührtem Lächeln:

»Nein, so was! Mädel, das bist ja du! Ruth, das bist du, nur hat dir deine verständige Mutter ein bißchen längere oder weniger kurze Röckchen angezogen!«

281 Ruths Aufenthalt war nur auf wenige Tage bemessen, dann mußte sie mit dem Kinde wieder nach St. Blasien zurückkehren.

Xylander blieb sogar nur zwei Tage, er wollte ein paar Ausflüge in die Berner Alpen unternehmen und zuletzt mit seiner Frau vierzehn Tage ins Engadin fahren. Das war der neue Brauch, das gehörte zum Programm des auf äußerlichen Genuß gestellten Lebens.

So drängte sich in wenige Tage alles zusammen, und Engelhardt sagte am ersten Abend, nachdem Gerhart abgereist war und sie allein waren, zu seiner Tochter:

»Seit ich mich bezwungen habe und an dem Jungen den Eingriff vollzog, der, drei Stunden später ausgeführt, nichts mehr hätte helfen können, habe ich meinen Frieden gemacht mit dem Leben. Nun ist für alles gesorgt. Du bist glücklich und ich bin zufrieden.«

Ruth senkte den Kopf.

Seit sie wieder in Rheinau war, wußte sie, daß noch eine Sehnsucht in ihr lebte, die nicht zur Ruhe kommen konnte, weil sie aus der Jugend stammte und unerfüllt geblieben war, wie ihre Jugend selbst.

Sie war mit Xylander und Hanns Ingold auf der Brücke und im Werk gewesen, unter dem der Rhein noch leer hindurchströmte. Im Oktober des nächsten Jahres sollte die Einrichtung vollendet sein. Schon waren die Turbinen unterwegs.

Die Herren hatten technische Dinge verhandelt. Sie war nur von Zeit zu Zeit, wenn ein gefährlicher Übergang oder eine unsichere Stelle drohte, gewarnt oder gestützt worden. Und dabei brannte ihr das Wort auf der Zunge: Euer Werk, dein Werk, Hanns Ingold, ist ja tot, ist nichts ohne mich, denn ich hab' ihm meine Jugend gegeben, meine Sehnsucht geschenkt, und nur von dieser wird es leben!

»Papa!«

»Ja, Mädel, hast du etwas gesagt?« antwortete er leise, mit verträumter, schwerer Stimme. Er suchte sich 282 aus dem dämmernden Schlaf zu befreien, der ihn in dem Stillschweigen übermannt hatte.

»Nein, ich glaube, du bist müde,« erwiderte sie leise und unterdrückte die Frage, für die er doch keine Antwort hatte.

Dann traf sie an Hermanns Krankenstuhl mit Hanns zusammen.

Der Stuhl stand im Garten unter den Bäumen, wo es kühler war und das Hämmern vom Stauwehr und aus dem Turbinenhaus nicht hindrang.

Sie erhob sich, als er plötzlich um das Gebüsch bog.

Er stutzte.

Flammen schossen auf, Erinnerungen wurden lebendig, verdrängte Sehnsucht brach wie entfesselter Wildstrom über sie herein.

Er sah sie in der ersten Reife ihres Frauenlebens, mit den Zügen des Weibes, das durch süße Schmerzen wissend geworden ist.

Sie sah den grauen Schimmer an seinen Schläfen und das scharf ausgearbeitete Gesicht, in das die Arbeit ihre Zeichen geschrieben hatte.

Und auf einmal war der jahrelang unterbrochene geheimnisvolle Kontakt da, der, aus entgegengesetzten Polen gespeist, sie zueinander riß.

Doch noch waren die inneren Hemmungen nicht ganz ausgeschaltet, und als Hermann Ingold, wie von Ahnungen ergriffen, planlos zu sprechen, zu erzählen anfing, um dieses beengende, brünstige Schweigen und den Bann zu brechen, in den er sie geschlagen sah, wurde der Zwang der Wirklichkeit wieder Meister, und sie entrannen dem Wirbel aufgepeitschter Sehnsucht und ungestillten Verlangens.

Hanns blieb nur einige Minuten. Es kam zu einem kurzen Gespräch, das ihre Aufmerksamkeit fesselte, im stillen aber horchten sie nur auf die Untertöne ihrer Stimmen, und in jedem Blick, in jedem Wort, in jeder Gebärde wurden Erinnerungen wach, die ruhelos wie die Uferschwalben um sie herschwebten.

283 Nun verabschiedete sich Hanns, und Ruth saß, von Hermann in zartes Schweigen gehüllt, bis Engelhardts schwerer, müder Schritt den Kies furchte.

Sie schrak auf. In ihrem Antlitz lag Verrat. Ihr Mund war Kampf, ihre Augen Schrecken, ihr Lächeln Sehnsucht und fassungslose Liebe.

Hermann Ingold hatte sich aufgerichtet und blickte sie mit weitgeöffneten, seherisch leuchtenden Augen an.

Auf einmal warf er die Decke zur Seite, schwang die Füße auf die Erde und rief:

»Professor Engelhardt, Professor Engelhardt, sehen Sie her, ich kann schon stehen!«

Er stand wirklich, leicht vornübergeneigt, Schmerz und Taubheit im Leib, und Engelhardt hatte nur noch Augen für ihn und sah nicht, was das Frauenantlitz verriet.

Da stahl Ruth sich fort zu ihrem Kind.

Engelhardt kam mit ausgestreckten Armen auf ihn zu, unterstützte ihn, und Hermann machte zehn kleine steifbeinige Schritte. Dann tastete er, von Schmerz und Schwäche überwältigt, nach Ruths Sessel und glitt hinein.

Schwer atmend ließ auch Engelhardt sich nieder. Er saß auf der Kante von Hermanns Liegestuhl.

Durch die Brille betrachtete er Hermann Ingold mit forschenden Augen. Er fragte und forschte, hielt eine regelrechte ärztliche Besprechung ab und war ganz Ernst, ganz Professor, Kliniker von Gewicht und Ansehen. Dann entglitt ihm der Faden, und zuletzt kam er ins Schwärmen.

»Im nächsten Frühling wirst du wieder festen Boden unter den Füßen haben. Vom Militärdienst ist natürlich noch lange keine Rede, aber ich hoffe zuversichtlich, daß du in einigen Jahren noch den bunten Rock tragen wirst. Nach Südwest kannst du freilich weder als Soldat noch als Gold- oder Petroleumprospektor. Bis dahin gibt es dort nichts mehr für dich zu tun. Aber die Welt ist groß und Deutschland noch größer. Denn nirgends ist mehr zu tun als in Deutschland, Hermann Ingold. 284 Festen Boden, Wirklichkeitsboden ja – aber über sich einen unwirklichen und doch voll Ideale hängenden Himmel! Greif nicht hinein, wenn dir der Boden fehlt. Aber wenn du festen Stand hast, Geologe, so recke dich, bis du den Odem von oben spürst, der so Vielen, ach so Vielen verloren gegangen ist!«

In Absätzen, von Herzschlägen gespalten, mehr summend als deutlich sprechend, brachte er seine Ansprache zu Ende.

Nun lehnte er sich hintenüber an die hochgestellte Lehne und blickte in die dunkelgrünen Bäume, die von blauen Pflaumen und gelben Äpfeln glänzten. Das rote Dach des neuen Gebäudes schimmerte durch das Laub.

Ein glückliches Lächeln zog über Engelhardts Gesicht.

In der Tiefe des Gartens klang helles, kreischendes Kinderlachen. Vom Rhein her im Dreivierteltakt scharfer Hammerschlag.

Plötzlich begann Engelhardts Atem zu rasseln, die Züge veränderten sich, die Brust brach zusammen.

Ruth kam gerade mit dem Kind den Mittelgang herauf.

Hermann rief.

Und die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz. Sie küßte das Kind, ließ es stehen, lief über die Beete und griff zuerst nach dem Hebel, der den Krankenstuhl flach stellte. Langsam senkte sich die Lehne.

Hermann raffte mühsam die Füße Engelhardts, einen nach dem anderen, vom Boden und schob sie auf das Lager.

Sie dachten nicht daran, Hilfe zu holen. Es schien ihnen so selbstverständlich, daß er starb. Er sollte ruhig, sollte sanft sterben.

Ruth streifte ihm leise die Brille ab. Er schlug noch einmal die Augen auf, kurzsichtige, trübglänzende Augen, die keinen Blick mehr hatten.

Sie küßte ihn mit dem Bewußtsein, daß es ein Abschied war. Er schien es noch zu fühlen. Der Atem setzte aus, der schwere Leib sank ein, Ruths Tränen begannen langsam auf sein erkaltendes Gesicht zu fallen.

285 Er war entschlafen, und überirdischer Friede übergoß sein Antlitz. Vom Rhein klang ohne Rast, ohne Hast, scharf im Takt der helle Hammerschlag.

Das Kind stand regungslos, einen Finger im Mund, in seinem kurzen weißen Kleidchen, wo die Mutter es stehen gelassen hatte, und äugte verwundert hinüber.

Langsam erhob sich Ruth, und gefaßt ging sie daran, dem Vater das Grab zu bereiten.

Sie telegraphierte an ihren Mann.

Am Tage vor der Beerdigung traf Xylander ein. Die Nachricht hatte ihn noch zur rechten Zeit erreicht.

Aber Ruth war keines Trostes bedürftig. Sie scheute vor allen Ausdrücken des Beileides zurück. Sie wußte, daß im Grunde nur sie ihn verloren hatte. Sie, und vielleicht noch Hermann Ingold. Sie wußte auch, daß er nicht schöner und friedlicher hätte sterben können.

In dem kleinen Orte waren Hochzeit, Taufe und Grabgang eine öffentliche Angelegenheit, und so wurde Engelhardt unter dem Geleit von Rheinau zu Grab getragen. Die Werkarbeiter hatten dem Doktor einen Kranz aus dauerhaftem Blech gekauft, an dem wunderbare porzellanartige Blüten glänzten. Joseph Hotz stand in seinem Winterrock und mit des Schwagers Zylinder auf dem Kirchhof und hielt einen Kranz aus Tannengrün mit den roten Beeren des Vogelbeerbaums in den Fäusten.

Ruth war mit auf den Friedhof gegangen.

Hermann stand, auf seinen Bruder gestützt, am Grab seines besten Freundes.

Der schöne klare Herbsttag sah freundlich auf den weißen Sarg, der langsam in die mit Tannenästen ausgekleidete Grube sank.

Vom neuen Schulhaus herüber tönte heller Gesang. Es war Singstunde, und sie sangen: »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt.«

Da zog ein tränenschweres Lächeln über Ruth Xylanders klares Gesicht. Es war eins von Papas Lieblingsliedern.

286 Hanns Ingold hielt den Bruder, der, wie ausgehöhlt, keine Gewalt über seine Glieder hatte, mit Anspannung aller Kraft aufrecht.

»Halt mich fest, Hanns!« stieß Hermann hervor, während das Gebet gesprochen wurde.

Und Hanns sah Gerhart Xylander neben ihr stehen und faßte es nicht, daß er nicht dort stand, er ihr nicht zunächst war.

Nur sie umfassen und halten dürfen, ihr sagen, daß er sie liebte, immer geliebt hatte, nie aufhören werde, sie zu lieben.

Es war ja so vieles in ihm klar geworden!

Nach dem Segen traten sie vor und gaben ihr die Hand zum Abschied, einer nach dem anderen.

Als Ruth Hermann erblickte, kam sie über die aufgeworfene braune Erde zu ihm hin. So fand auch Hanns Ingold ihre Hand und preßte sie mit wehem Druck.

»Ruth!« murmelte er, und hatte kein anderes Wort gewußt, um ihr zu sagen, was in ihm vorging.

»Hanns, halt mich fest!« mahnte ihn Hermann noch einmal.

Und sie gaben auch Gerhart Xylander, der sich die Bräuche mit beherrschter Ungeduld gefallen ließ, die Hand.

Ruth Xylander schlug den Schleier herunter und verließ mit ihrem Mann den Friedhof.

Joseph Hotz hatte nur darauf gewartet. Jetzt zog er den Rock aus, hing den Zylinder an ein Grabkreuz und half dem Totengräber die Grube füllen.

»Ich bin dreiundzwanzig Jahre sein Gärtner gewesen,« sagte er und spuckte in die Hände, um die braune Erde mit geschicktem Schwung von der Schaufel ins Grab zu streuen.

Der Hügel war gehäuft, die Kränze darauf gelegt, das Reiseautomobil fuhr langsam daran vorüber, zwischen den neuen Häusern hindurch, und schnell und schneller 287 in die grüne Landschaft hinein, in die der Laubwald schon bunte Farben wirkte.

So nahm Ruth Abschied.

Nach vier Wochen kehrte sie noch einmal nach Rheinau zurück und traf Bestimmung über die Hinterlassenschaft des Vaters. Er hatte sein Ende kommen sehen und alles peinlich genau geordnet. Das Kapital war seiner Tochter schon von Anfang an verschrieben worden, und nun gingen auch die alten Möbel aus dem Hause.

Hermann Ingold kam auf Engelhardts Wunsch in den Besitz seiner Herbarien und der unvollendeten Monographie über die Flora des Rheinauer Waldtales.

Ruth brachte ihm das Manuskript selbst.

Er saß aufrecht an seinem Schreibtisch. Nur das Aufstehen und das Gehen fiel ihm noch schwer.

»Ich nehme für längere Zeit Abschied, Hermann. Seit Papas Tod ist Rheinau für mich nur noch ein Stück Vergangenheit; man kehrt dort nur noch in der Erinnerung ein.«

»Zur Einweihung des Kraftwerkes werden Sie aber doch kommen?« fragte er ohne Arglist.

Sie errötete, hob die Augen und erwiderte ruhig:

»Ja, wenn ich kann, werde ich kommen. Ich will es vollendet sehen.«

Hanns Ingold erfuhr erst zwei Tage später, als er von Karlsruhe zurückkehrte, daß Ruth dagewesen war.

An einem trüben Novembertag erzählte ihm Hermann, durch einen Zufall der Unterhaltung darauf gelenkt, daß Ruth zur Einweihung des Werkes kommen wolle.

Er hörte zu, ohne größere Teilnahme zu verraten, aber am Abend, der mit schweren Sturzregen über das Tal zog, ging er stundenlang im Kontor auf und ab und überdachte sein Werk und Ruths Wunsch, es vollendet zu sehen.

Er blickte zurück, und es war ihm, als wären ungezählte Jahre vergangen, seit er mit diesem Gedanken aufgewacht war. Ein ganzes Leben schien es ihm heute, 288 und nun, da die Bauten vollendet waren, der Lauffen gesprengt, der Rhein bezwungen, alles, was seines Faches war, in Eisen und Stein fertig stand und er im nächsten Jahre als Generaldirektor über das Ganze gesetzt werden sollte, um es ins Weite, ins Grenzenlose zu dehnen, nun empfand er auf einmal, wie einsam er geworden war durch sein Werk und um seines Werkes willen.

Aber auch straffer, härter, von einer Schaffensglut, die ihn in unermüdlicher Energie auflodern ließ. Auf seinen Schultern lag alles. Nicht Mitarbeiter, sondern nur Gehilfen waren die anderen, und nur Gerhart Xylander mit seiner unbeirrbaren Ruhe und seinem sprungbereiten, jeden Gedanken Ingolds blitzschnell auf seine Verwendbarkeit prüfenden und ebenso rasch verwertenden Unternehmungsgeist hielt ihm die Wage.

Als Menschen standen sie sich fremd gegenüber, Hanns von Eifersucht und Neid bebend, Gerhart mit dem jetzt zuweilen instinktiv herausbrechenden Argwohn, es könnte damals doch mehr gewesen sein als eine schwärmerische Jugendliebe Ruths. Aber diese Antipathien hatten keine Zeit, sich einzunisten, denn im Beruf, im gemeinsamen Arbeiten standen sie sich so nahe, daß der Kommerzienrat Xylander sagte, wenn die beiden zusammensäßen, sähe man die elektrischen Funken herüber und hinüber springen.

Der Winter ging niemand schnell genug vorüber, und als es Frühling wurde und die innere Ausrüstung des Werkes raschen Fortgang nahm, die Fernleitungen schon über die Hügel stiegen, die Industriegeleise bis ans Ufer reichten und auch die neue eiserne Brücke auf ihrem einzigen Strompfeiler als zierliches Gitterwerk über den Abgrund sprang, sah Hanns Ingold sein Werk der Vollendung entgegengehen.

Da ertappte er sich eines Tages – Hermann hatte durch eine harmlose Bemerkung den Gedanken ausgelöst – auf der Frage, ob er die Vollendung des Werkes mehr ersehne oder das Wiedersehen mit Ruth.

289 An diesem Tage gab er zum ersten Male zerstreute Befehle und mußte seine Anordnungen am anderen Morgen neu fassen.

Diese leichte Erschütterung seiner genial und selbsttätig wirkenden Schaffenskraft setzte ihn in Verwirrung. Hatten ihn die letzten Jahre mit ihrer ungeheuren Anspannung verbraucht?

In Rheinau war jetzt ein frischeres Leben als früher. Die Amtsstellen waren vermehrt worden, der Zuzug von Beamten, Ingenieuren und Fabrikanten hatte die gesellschaftlichen Verhältnisse umgestaltet.

Hermann Ingold, der das Sommersemester in München zubringen wollte, war im Laufe des Winters wieder soweit hergestellt worden, daß er sogar zu den Tanzvergnügen gegangen war. Durfte er auch nicht tanzen, so hatte er doch die Gelegenheit nicht ungenutzt gelassen und sich verliebt.

Er mußte erst zwei Versuche machen, ehe er den richtigen Gegenstand seiner Neigung gefunden hatte.

Dieser Gegenstand war die Tochter des Oberarztes des Krankenhauses. Anfänglich war Hermann die Krankenhausluft unangenehm gewesen, aber schließlich kam er zur Überzeugung, daß Konstanze nicht das geringste von Karboldämpfen und Sublimatwatte an sich hatte. Er dichtete jetzt in Stanzen, denn sie wurde Stanzi genannt.

Als es März war, waren sie einig, daß sie sich heiraten wollten. Sie liebten sich schon seit dem Fastnachtsball im Kasino, aber daß sie sich heiraten wollten, fanden sie erst fünf Wochen später heraus. Hinter dem Transformatorenhäuschen an der Brücke, wo sie sich getroffen hatten, küßten sie sich und schwuren sich Liebe und Treue.

Früher waren die Rheinauer Stelldichein immer im Schatten der gedeckten Holzbrücke gehalten worden, aber die eiserne war so durchsichtig, daß man nicht einmal hintereinander darüber gehen konnte, und Hermann Ingold mußte auf Konstanzens Befehl stets eine Viertelstunde warten, ehe er ihr folgen durfte.

290 Zwei Tage vor seiner Abreise nach München machte er seinem Bruder die Mitteilung von seiner Verlobung. Außer Konstanze und ihm selbst wußte noch niemand davon. Die Eltern sollten es erst zu Weihnachten erfahren. Auch das hatten sie hinter dem Transformatorenhäuschen ausgemacht.

Hanns wollte aufbrausen, dann besann er sich, und nun hätte er beinahe gelacht, aber als er den feierlichen Ausdruck in Hermanns Gesicht sah, wandte er sich rasch ab, um ihm das Zucken der Lippen zu verbergen.

Und aus seinem Innern stiegen Stimmen und mahnten ihn an die eigene Jugendzeit.

Er unterließ jeden Einwand und nahm Hermann nur das Versprechen ab, Konstanze nicht zu schreiben. Ihre Liebe bedürfe ja der Briefe nicht, und die Eltern könnten nur dann ohne Kenntnis dieses zarten Verhältnisses bleiben, wenn die Kaiserliche Post aus dem Spiel gelassen werde.

Hermann Ingold war im Genesungsrausch leitsam wie ein Kind und fühlte sich gegenüber dem Bruder durch seine Liebe so begnadet, daß er dem Einsamen nicht gern widersprach. Er reiste ab.

In den ersten Wochen erhielt Hanns oft Briefe und Karten von ihm.

Und mitten im Strudel der Arbeit, die jetzt wilder anschwoll als der Rhein, der in diesem Jahre Hochwasser führte, las Ingold Hermanns Episteln mit liebevoller Aufmerksamkeit und Geduld. Es war etwas vom Mann und vom Knaben darin, ein merkwürdiges Quirlen von Gefühlen und Gedanken. Dazwischen große poetische Pläne, die dem Techniker im ersten Augenblick fremd vorkamen, bis auch ihn das nach Gestaltung Drängende reizte.

So diente Hanns Ingold seinem Bruder als Blitzableiter, wie Hanns sich selbst nannte, und das gesammelte Fluidum, gemischt aus Liebessehnsucht, Jugendfülle und Gestaltungsdrang schlug wie Lenzgewitter bei ihm ein 291 und stieß bis in die dunklen Quellen seines Wesens hinab, in denen es unruhig wogte.

Die Briefe wurden seltener.

Hanns hatte Doktor Keller einige Andeutungen gemacht, aber der Vater Konstanzens nahm sie sehr gelassen auf und sagte, bis Weihnachten laufe noch viel Wasser den Rhein hinunter.

Im Juni brach das Hochwasser herein. Vom Bodensee und aus der Aare, selbst vom Schwarzwald herunter schwoll wilde Wassersnot. Wenn Christian Ingolds Haus noch gestanden hätte, wäre der Rhein zu den Fenstern hineingestiegen wie im Jahre 1874.

Der Rhein kam breit, in mächtigem Drang gezogen, ersäufte die Inseln, die Uferwälder, füllte die Altwasser und schoß bei Elfenau ins verlassene Bett. In der bleichen Sonne glänzte er resedengrün.

Hanns Ingold stand auf dem Stauwehr.

Die Schleuse war geöffnet, die Brücke ausgefahren, alle Schützen aufgezogen.

Die Arbeiter waren auf ihren Posten.

Atembeklemmend war der Anblick des Stromes vom Wehr aus. Wie gestauter und plötzlich in Bewegung geratener Glasfluß kam er als gedrängte Masse den früheren Lauffen herab. Ein kalter Lufthauch ging vor ihm her. Hochauf schlug die Grundwelle an der schräggerichteten schwimmenden Schutzwand, die die Turbinenanlage schützte. Der Leinpfad war überflutet.

Hanns fühlte das Beben des Wehrs, unter dem der Schwall des Rheines grauzischend hindurchfuhr.

Nun galt es die Probe. Er hatte Wehr und Turbinenhaus in den gewachsenen Felsgrund eingesenkt. Wenn sie brachen, mußten sie aus dem Urgestein herausbrechen, über das der Rhein seit Jahrhunderten lief. Er kam nicht mehr durch die schmale Enge, über Treppenstürze und Geklipp, sondern durch das auf dreifache Breite ausgesprengte offene Tor. Zugleich freigeworden und gefesselt.

292 Gegen Abend schwoll er um zwei Fuß über den höchsten Stand der letzten fünfunddreißig Jahre und leckte an den Schützen empor.

Hanns ließ sie bis über die Höhe des höchsten Hochwassers emporziehen, daß sie wie eiserne Sirenen hoch über der Flut standen. In der Schleuse toste der Schwall wie Orgelstimmen.

Ingold ging über die vibrierende Wehrbrücke zum Turbinenhaus. In den Kammern, die noch nicht in Betrieb waren, brauste die Flut. Die Rechenzähne saßen voll Gras und Laub. Unaufhörlich streiften die Arbeiter den Behang ab. Das ganze gewaltige Gebäude, das mit den halbeingebauten Maschinen noch unwirtlich erschien, klang und brauste von dem unter ihm ziehenden Strom.

Hanns Ingold verbrachte die Nacht in seinem Werk.

Der Baumeister des Werkes war allein im Maschinensaal. Die Dynamos waren schon aufgestellt, die Turbinen montiert. Still lag das Werk, das Metall der Kraftmaschinen glänzte. Säulenschatten schossen in unruhigem Gaslicht.

Langsam ging Ingold den riesigen Saal auf und nieder. Sein Schatten wanderte an den erleuchteten Fenstern entlang.

Es war seine ereignisvollste Nacht, denn von Christian Ingold und der Wasserweide der Ingold sang der Strom ihm ins Ohr.

Als Hanns im ersten Morgengrauen nach Hause ging, der Rhein zu fallen begann und das Werk unerschüttert stand, wich der Gedanke an seinen Vater von ihm, und zum erstenmal – konnte er mit ruhigem Herzen an ihn denken.

Nun trieb er zur Vollendung der Einrichtung. Er gönnte sich kaum noch Zeit, zu essen, zu schlafen, nie war größeres Schaffensfieber in ihm gewesen.

Dazwischen fand er noch Gelegenheit, Hermann zu einer Reise nach Norwegen und Spitzbergen zu überreden, als er bei Maffei in München zu tun hatte.

293 Er fand den Bruder frisch und erstarkt, von zehrender Liebe war nichts zu spüren. Auch schien Hermann Ingold diesen Gesprächsstoff zu meiden, nur einmal sagte er:

»Du, Hanns, geschrieben hab' ich wirklich nicht.«

Er war ganz von literarischen Plänen gefangen und hatte den Anschluß an das Leben gefunden.

Am 28. Juli trat er die Reise von Hamburg aus an.

Als Hermann von Bord den ersten kurzen Bericht schickte, erwachte in Hanns Ingold zum erstenmal das Fernweh, der Drang in die Weite. Er zwang ihn nieder.

Der August war vorüber, der September brach golden herein. Im Kraftwerk zu Rheinau unterm Lauffen klangen die letzten Hammerschläge. Napoli lag in Ruinen. Neue Häuserzeilen zogen sich in den Wald hinaus. Die Schlote des Kesselhauses steckten schon ihre Rauchfahnen auf.

Vor Hanns Ingold lagen die Pläne zum Umbau des Klosters St. Joseph und das Programm der festlichen Einweihung seines Werkes, doch es duldete ihn nicht in seinem Bureau.

Er ging ins Kloster hinüber. Allein. Um die Pläne noch einmal zu überprüfen. Aber er vergaß, sie mitzunehmen.

In dem Zimmer Ruths waren drei Bauzeichner beschäftigt. In Engelhardts letztem Arbeitszimmer vor dem Kamin, wo sie so manchmal gesessen hatten, war niemand. Alte Gartensessel standen darin.

Und auf einen dieser Sessel setzte sich Hanns und schloß die Augen.

Lange saß er und spürte, wie in ihm die Quellen zusammenliefen, unterdrückte, von Arbeit verschüttete Adern aufsprangen, Erinnerungen wach wurden, Sehnsucht und fessellos hervorbrechendes Verlangen aufschrien und zuletzt nur noch ein Gedanke wie ein strahlendes Licht durch alle Finsternis drang, die Gewißheit, Ruth Engelhardt wiederzusehen, sie zu seinem Werk zu führen und zu ihr zu sagen: »Ruth, süße Ruth, es ist vollendet!«

294 Er rüstete wie zu einer Hochzeit. Die letzten Tage flogen und wollten doch kein Ende nehmen. Das Personal war zur Stelle, schon flammten zuweilen die Fenster bei Nacht, schon sprang Licht in die Glühbirnen. Elf Gemeinden, siebenundvierzig Fabriken und einhundertsiebzehn Kleingewerbetreibende hatten Verträge abgeschlossen, vierzehntausend Pferdekräfte waren schon vergeben worden.

Die Einweihung wurde auf den 2. Oktober festgesetzt.

Am 29. September traf Gerhart Xylander mit seiner Frau in Rheinau ein.

Ruth und Hanns hatten sich seit dem Tode Engelhardts nicht wiedergesehen. Er war dreimal in Berlin gewesen, ohne den Versuch zu machen, sie zu sehen. In Berlin war sie nicht Ruth.

Er verhehlte sich nicht, daß er auf sie wartete, er tat ja nichts anderes, als auf sie warten, seit das Werk vollendet war.

Am Abend ihrer Ankunft trafen sie zusammen.

Gerhart wollte seiner Frau das Werk noch vor der Einweihungsfeier zeigen.

Im Maschinensaal des Turbinenhauses, der im opalfarbenen Dämmerlicht verschwamm, stießen sie auf Hanns.

Und plötzlich wußte Ruth, warum sie die eifrigen Erklärungen ihres Mannes, sein Auftreten als Führer und Sachkundiger inwendig so tief erregt hatten.

»Es ist ja gar nicht dein Werk!« hätte sie ihm zurufen mögen. »Schweig', zeig' mir nicht, was nicht von dir kommt! Es ist ja Hanns Ingolds Werk.«

Und nun stand er vor ihr, blasser als sie, hager, mit zerfurchter Stirn, mit müdem Mund, fieberischen Glanz in den Augen.

Unwillkürlich sprach sie leise in das sanfte Rauschen, das Summen des Wassers, indem sie ihm die Hand reichte:

»Ihr Werk, Hanns Ingold!«

In Xylanders Gesicht trat eine Starre, die alle Züge spannte.

295 »Gedacht hab' ich's allein, aber nicht allein gebaut,« antwortete Ingold und hielt ihre Hand.

Ihre Finger zuckten.

Sie traten auseinander.

Xylander brach die Besichtigung ab, und Hanns Ingold beschränkte sich darauf, ihnen bis zum Ufer das Geleit zu geben.

Ruth merkte, daß ihr Mann verstimmt war. Aber sie war nicht mehr imstande, sich darüber Rechenschaft zu geben. Auch sie war von der alten Sehnsucht ergriffen worden, die nie ganz geschlafen hatte. Ihr Werk war's, das in zwei Tagen eingeweiht wurde! Ihr Herz schlug in diesem Werk, tief eingebaut in den felsigen Rheingrund.

Gerhart Xylander riß sich zusammen. Er hatte Besseres zu tun, als sich von unklaren Erinnerungen und Empfindungen peitschen zu lassen.

Sie kehrten ins Hotel zurück.

Die Nacht lag samtschwarz und weich auf dem Waldtal von Rheinau.

Der Gasthof zur »Alten Post« hieß als steifer Neubau Hotel Bristol zur Post.

Hanns Ingold hatte kurz nach Xylander das Bureau verlassen. Er kam mit der Nacht ins Städtchen und blieb hinter der Brunnensäule stehen, wo einst Ruth gewartet hatte, und blickte zu den Fenstern hinauf. Eine ganze Reihe war erleuchtet. Dann ging er hinein.

Im Vestibül begegnete ihm Doktor Keller mit seiner Frau und Fräulein Konstanze. In ihrer Gesellschaft der Forstassessor, der im Frühling von Waldshut nach Rheinau versetzt worden war.

Und nach einem Zögern, das etwas Auffälliges hatte, machte Keller plötzlich Halt, rief Hanns, der schon weitergegangen war, an und sagte:

»Herr Generaldirektor, Sie sollen den ersten Glückwunsch erstatten, das bringt beiden Teilen Glück. Meine Tochter hat sich heute mit Herrn Assessor Althaus verlobt.«

296 Dabei zwinkerte er vergnügt und vielsagend mit den Augen.

Zerstreut brachte Hanns seinen Glückwunsch an. Das hübsche blonde Mädchen wurde sehr rot, als er es tat.

Erst fünf Minuten später, auf der Treppe, fiel ihm ein, daß es Hermanns heimliche Braut war, die sich öffentlich mit einem anderen verlobt hatte. Und der Junge kam übermorgen heim!

Er blieb nur eine Stunde im Kreise der Gäste und Teilnehmer an der Eröffnungsfeier, dann brach er wieder auf.

Die Nacht war sommerlich warm. Die Glasveranda, die auf den alten, stark verkleinerten Garten hinausging, war geöffnet. Der Springbrunnen plätscherte. Das Gas sang in den Leuchtern.

Frau Kommerzienrat Xylander saß mit Ruth im Ausblick der Tür auf der Terrasse. Hanns begrüßte sie, und wieder war im Druck ihrer Hände das heiße Spiel, das sie so lange schon schreckte.

Ruth fragte, ob es richtig wäre, daß St. Joseph umgebaut werde, und als er bejahte, sagte sie, dann käme sie morgen von St. Joseph Abschied nehmen.

Und Hanns Ingold antwortete, daß die Bureaus heute geräumt worden seien. Sie werde die Schlüssel an den Türen finden und ungestört sein.

Ruhig, beinahe gleichgültig klang Frage und Antwort, aber sie waren blaß und wußten, daß sie sich dort trafen.

Ruth sah den flehenden, heischenden Blick in seinen Augen und las im Zucken seiner Lippen das Wort: »Komm!«

Sie fühlte sich emporgehoben und wie von seligem Schwindel fortgerissen.

Am späten Nachmittag, als der Tag sich mit schwerem Goldglanz rüstete, ging sie allein hinaus nach St. Joseph. Der Garten lag unberührt. Hanns hatte noch keinen Baum schlagen lassen.

297 Als Ruth ins Refektorium trat, fand sie alles still und leer. Sie durchschritt das ganze Haus, erst langsam, dann schneller, bis sie es wie auf der Flucht verließ.

Draußen wartete er auf sie; wieder fieberten ihre Hände ineinander.

Schweigend gingen sie an der Spalierwand entlang. Die Taxushecken schoben sich um sie her, da sprach sie leise:

»Ich hätte nicht kommen sollen. Es war alles leer, die Erinnerung war schöner.«

»Da drinnen im Haus, ja, da ist nichts mehr, das ist leer. Aber wir sind noch da, Ruth. Und es ist nicht das Haus, zu mir bist du gekommen, denn du mußtest kommen.«

»Auch du bist nicht mehr der Hanns Ingold, der – – du hast ja dein Werk!«

Da stöhnte er auf, und ehe sie ihn erraten konnte, stürzte er vor ihr nieder, preßte das Gesicht an ihre Knie und umklammerte ihre Hüften.

Sie stand wie erstarrt.

Seine Schultern bebten, sie spürte die Wärme seines Mundes. So hatte er vor ihr gelegen in jener Nacht, da sie ihn mit Drohungen, Spott und Hohn zu ihr hinausgepeitscht hatten.

Und Ruth hob die Hände und fügte sie leise, von scheuer Zärtlichkeit zitternd, um seinen Kopf und hielt so still. Ihre Augen hatten keinen Blick, ihr Herz schlug dumpf und schwer.

Er ergriff diese Hände und küßte sie, zog sich an ihnen, die dem Wunsch entgegenkamen, in die Höhe und legte den Arm um sie. In fesselloser Hingabe fanden sie sich zu leidenschaftlicher Umarmung.

Sie rührten nicht mehr an das, was gewesen war, was sie getrennt hatte, nichts war übrig als die sehnsüchtige Leidenschaft, das Glück zu umarmen, das sie in diesem Entströmen gestauter Gefühle und gesprengter Hemmungen zu finden glaubten.

298 Aber in Ruth war schon zu viel Fremdes, zu viel, was Hanns Ingold nicht kannte. Sie erwachte zuerst aus dem Glückrausch, der sie ins Grenzenlose gerissen hatte.

Noch einmal stammelte sie seinen Namen unter den durstigen Lippen, die die ihren suchten, dann befreite sie sich, blickte verstört um sich, beruhigte ihr Herz, indem sie die Hand darauf preßte, und ging.

»Ruth!« rief er leise. Er wollte sie von neuem ergreifen. Diesmal rasch und fest, wie man die Beute greift.

»Bleib!« wehrte sie, und im Goldglanz der Sonne erschien ihr Antlitz plötzlich zu klarem Wachs erblaßt.

Mit schweren Knien, wie im Traum, sich selbst fremd, verließ sie ihn.

Hanns Ingold wartete, bis ihr Schritt verhallt, ihre Gestalt zwischen den Bäumen verschwunden war. Dann stürzte er sich mit einem unsäglich köstlichen Kraftgefühl und einer Freude, wie ihn noch keine erfüllt hatte, in die Vorbereitungen zur Eröffnung des Betriebes und zur Einweihung seines Werkes.

In der Sitzung des Verwaltungsrates und bei der Ausgabe der letzten Anordnungen für den 2. Oktober sprach er bestimmter und glänzender als je. Als wäre ein Alpdruck von ihm genommen. Sein Schritt, seine Haltung, seine Stimme hatten etwas Sieghaftes.

Am anderen Morgen kam Hermann nach Hause.

Als er gebräunt und wetterfest zu ihm ins Kontor trat, packte Hanns ihn an den Schultern und schüttelte ihn.

»Bub, wie siehst du aus! Wie ein Mann!«

Und nach einer Weile – Hermann strich mit vielen zusammenhanglosen Erinnerungen von seiner Nordlandfahrt an der Wand hin und fand keinen rechten Faden und kein rechtes Ende – kurz und bestimmt:

»Hermann, deine heimliche Braut ist dir untreu geworden. Sie hat sich mit einem anderen verlobt. Diesmal öffentlich. Irreparabel, wie es scheint. Es steht schon im Anzeiger.«

299 Hermann stand gerade vor einer Kopie der Böcklinschen Tritonen und antwortete nicht.

Hanns legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Kopf hoch, Hermann, du wirst doch nicht –«

Da unterbrach er ihn.

»Du, Hanns, Visionen wie die hab' ich auf Spitzbergen gesehen. Und dort, wo alles so geheimnisvoll ist, das Meer, das Land, der Himmel und selbst die Nächte, hab' ich sehr viel erlebt. Innerlich, Hanns. Weißt du, wer mir von allen Menschen, die ich kenne, am unmittelbarsten erschienen ist? So, wie eine Naturerscheinung? Trotz seiner Beschränkung! Unser Vater!«

»Unser Vater!« wiederholte Hanns unwillkürlich.

Und Hermann fuhr fort, ohne sich nach ihm umzuwenden.

»Ja, eine Ahnung. ein Gefühl dafür hab' ich ja immer gehabt, aber ich habe ans Ende der Welt fahren müssen, um es klar und herrlich zu erleben.«

Die Hand, die auf seiner Schulter lag, zog sich leise zurück, heiliges Schweigen füllte den Raum.

Hermann Ingold hat kein Wort über die Untreue seines Mädchens verloren. Er war darüber hinausgewachsen, schon lange mit dieser dritten Liebe fertig geworden.

*

Der Tag der Einweihung des Kraftwerkes zu Rheinau kam. Der Betrieb war am 30. September mit sechs Turbinen eröffnet worden. Am 2. Oktober fand die Einweihung statt.

Ruth saß mit ihrem Kind im blumengeschmückten Automobil und wartete auf ihren Mann. Das Städtchen hatte geflaggt. Girlanden spannten sich über die Gassen, aus umwölktem Himmel löste sich zögernd die Sonne.

Die großen Fahnenmasten an der eisernen Gitterbrücke warfen die roten Blitze ihrer Banner in den silbergrünen Strom. Elfenbeinfarbene Dünste schwebten über der früheren Fischerinsel oberhalb der Schnellen.

300 Jetzt verband ein Flutdamm das Eiland mit dem rechten Ufer, und der Altrhein, an dem Christian Ingolds Hütte gestanden hatte, war durch den Aushub des Kesselhauses ausgefüllt worden.

Solange die öffentliche Feier im Rathaus und im Direktionsgebäude währte, fühlte sich Ruth Xylander an ihrem Platze als Gerharts Frau. Aber als die Reden gehalten, die Schlüssel übergeben waren und die Besichtigung des Werkes begann, geriet sie in Verwirrung.

Vor der Schleuse hielt Ingold eine Ansprache an die Werkarbeiter. Hell klang seine Stimme über den Platz.

Hanns Ingold hatte kurz und knapp gesprochen, beinahe ungeduldig.

Dann klang die Sirene, schrillten die Dampfpfeifen, und Hanns Ingold empfing am Eingang des Turbinenhauses die Gäste zur Besichtigung des Werkes.

Da ging Ruth mit leuchtenden Augen neben ihm, und jedesmal, wenn sie einander ansahen, zitterte ihnen das Herz vor Glück und Qual.

Auf der Wehrbrücke standen sie still, das Turbinenhaus spiegelte sich mit seiner mächtigen, kastellartig gegliederten Front im ruhig ziehenden Strom.

Am Stauwehr rauschte die Flut, in Ruths Haar hing der feine Duft des Rheines.

Und mitten unter den Menschen, die da standen, kamen und gingen, beugte sich Hanns Ingold zu ihr, indem er ihr die schweren Schutzschilder, die sogenannten Schützen, zu erklären schien, die an der Stirnwand des Wehres stromaufwärts angebracht waren, um die Flut nach Belieben zu stauen, und sagte leise:

»Es ist vollendet. Ich habe mich ausgegeben darin. Ich habe dich dafür aufgegeben, Ruth. Es ist mein Werk, und ist es doch nicht. Ist vielleicht mehr dein als mein. Ja, ich habe gewählt zwischen dem Weib, das ich liebe, und dem Werk, das ich bauen mußte. Oh, du hast ja so recht gehabt, als du mir den Abschied gabst. Ich hatte die Wahl schon vollzogen, ehe du zu mir 301 sprachst. Ruth, sieh', wie der Rhein herankommt. So stürzten sich alle meine Gedanken auf das Werk. Und siehst du, wenn es anders gewesen wäre, so hätte ich es nie gebaut. Auch mit diesen hier, auch mit Xylander nie gebaut!«

In einer Ekstase, für die sie keinen Namen hatte, verlebte sie diesen Tag, aber der Abend sagte ihr, daß Hanns in ihr nur noch das Weib sah, nach dem er jetzt, im Augenblick, da das Ziel erreicht war, begehrlich die Arme ausstreckte.

Im Kasino war große Gesellschaft. Ruth und Hanns Ingold schöpften zwischen zwei Tänzen im Gärtchen frischen Atem. Das metallene Brummen und Dröhnen des Kraftwerkes erfüllte statt des für immer verklungenen Rauschens des Lauffen die Luft. Eine Zeitlang schritten sie stumm durch die Büsche.

Da hatte Hanns sie plötzlich in die Arme gerissen und ihren Mund, ihre Schultern, ihre Brust mit wilden Küssen bedeckt, bis sie, ihres Willens wieder Herr, sich ihm entwand und ihm entrann. Diesmal war ein Widerstand in ihr gewesen, der sie stark machte und aus dem veränderten Wesen des Geliebten gespeist wurde.

In heftigen Seelenkämpfen verlebte sie die nächsten Tage und fühlte, daß eine Welt in ihr starb.

Sie wollten am 6. Oktober wieder abreisen. Ruth zählte die Stunden, sehnte die Abreise herbei und wünschte sie zugleich weit weg. Unter der Maske des gesellschaftlichen Zwanges litt sie mörderische Qualen.

Am Nachmittag des 5. Oktober machten sie noch einen Ausflug. Nach Elfenau. Eine kleine Gesellschaft, die letzten Gäste, die noch geblieben waren.

Die schönen Herbsttage wollten in diesem Jahre kein Ende nehmen, und so war auch dieser sonnig und warm. Der Wald voll bunter Pracht, die Rebhalde in der Lese, die Flut des Rheines tiefgrün und still.

Auf der Terrasse von Hohenelfen gelang es Hanns, Ruth von den anderen zu trennen. Er tat es so rücksichtslos, daß es auffiel.

302 Xylander kam gerade mit seiner Mutter, die seines Armes als Stütze bedurfte, den Weinbergpfad herauf, als Hanns Ruth abseits führte.

»Ruth, morgen ist es zu Ende. Du reisest. Bist nicht mehr Ruth Engelhardt wie hier. Komm' zu mir, Ruth, nur einmal laß mich in den Armen halten, was mir gehört!«

Er sagte es mit starrem, blassem Gesicht, ganz Wille, Verlangen und rasender Wunsch, in dem alles andere verlodert.

Sie sah Gerhart über den Burghof kommen, das Kind war dem Fräulein entlaufen und suchte seine Mutter. Sie sah es dem Vater entgegenspringen und glaubte zu hören, wie es nach ihr fragte.

Und auf einmal ging es wie ein Riß durch ihr Inneres, ihre Gedanken zerklafften, ihre Gefühle brachen auseinander. Mit einem Schlag war's geschehen. Ein Trümmerhaufen, ein weithinstürzendes Chaos. Aber zugleich atmete sie leichter, und wie kühler, sanfter Hauch kam eine heitere, von letzten Tränen bebende Resignation über sie – sie sah Xylander und das Kind die Treppe heraufkommen, wußte, daß sie zu diesen gehörte und sagte mit weicher Stimme zu Hanns, ohne ihn anzublicken:

»Zu spät, Hanns, wir haben uns geliebt, jedes zu einer anderen Zeit. Zusammen erleben wir es nie wieder. In unseren Küssen küssen wir die Jugend, aber wir küssen sie nicht mehr lebendig.«

»Ruth, sag' das nicht, oder du hast mich nie geliebt, wie ich dich!«

Auf dieses Wort hatte sie nur ein rätselhaftes Lächeln. Dann sagte sie:

»Dort kommt mein Mann mit Elsi. Ich habe dir nichts zu verzeihen, Hanns, leb' wohl!«

Als das Kind auf sie zulief und sie sich zu ihm bückte, trafen sich die Blicke Gerhart Xylanders und Hanns Ingolds. Beide hatten in Ruths Augen Tränen schillern sehen.

Es war eine Stunde später.

303 Xylander und Ingold waren als die letzten im Begriff, von Hohenelfen niederzusteigen. Unten warteten die Wagen. Auf dem Rhein trieb schon ein Nachen mit fröhlichen Menschen. Die beiden Männer gingen langsam, wie kampfbereit.

Xylander sagte äußerlich ruhig:

»Ich weiß, daß zwischen meiner Frau und Ihnen vor Jahren Beziehungen bestanden haben. Ich frage Sie auf Ehrenwort, ob Sie mir eine Genugtuung schuldig geworden sind. Sie, nur Sie frage ich, und niemand soll Ruth mit Fragen beunruhigen.«

Hanns hatte Xylanders Absicht, ihn allein zu sprechen, erkannt und antwortete nach einer Pause:

»Ich durfte mich eine Zeitlang als Verlobter Fräulein Engelhardts betrachten, bis sie selbst das Verlöbnis löste. Eine Genugtuung glaube ich Ihnen nicht schuldig zu sein, aber ich stehe zu Ihrer Verfügung.«

Das Ende der Treppe lag vor ihnen, unten warteten die anderen.

Die Sonne, die eben noch an den Waldrändern hing, war untergegangen. Farbensatte Dämmerung füllte das Tal. Die breiten geschmückten Boote für die jüngeren Gäste lagen bereit.

Ein Nachen war schon abgestoßen und glitt den Strom hinunter. Zwei Kilometer abwärts, am Lauffenbuck, wollten sie die Schifflein verlassen und in die Wagen steigen zu den älteren Mitgliedern der Gesellschaft, die die Wasserfahrt scheuten.

Auch Ruth schloß sich davon aus.

Xylander fragte sie noch einmal, ob sie nicht, wie sie geplant hatte, die Kahnfahrt mitmachen wolle. Das Kind verlangte ungestüm danach.

Sie lehnte ab.

Da packte ihn in der furchtbaren Spannung, die in ihm zitterte, eine nervöse Gereiztheit, und er hob Elsi rasch aus dem Wagen und erklärte, so werde er mit dem Kind allein ins Schiff steigen.

304 Sie kannte ihn. Jetzt mußte sie ihn gewähren lassen. Sie durfte ihre eigene Absicht auch nicht mehr ändern, denn sie fühlte den Argwohn in seinem Wesen, und das machte sie unsicher. Und – sie mußte allein sein.

Die beiden großen, flachen Nachen waren schon abgestoßen. An der Lände lag nur noch eine neue bunte Gondel, auf den Kiel gebaut, wie sie jetzt aufkamen.

Die Jungfer weigerte sich ängstlich einzusteigen. Da schickte Xylander sie in den Wagen und hob Elsi ins Boot.

Hanns Ingold hatte sich zurückgehalten und stand beiseite.

Die Kommerzienrätin rief ihn heran und fragte, ob die Fahrt auch nicht gefährlich sei. Ruth sagte nichts, aber sie blickte Hanns flehend an. Er neigte den Kopf.

»Ich werde die Bootfahrt mitmachen, gnädige Frau,« antwortete er.

Er zog den Hut, und Ruth sah ihn zum Boot hinuntergehen, bevor der Wagen im Schatten der Waldstraße untertauchte.

Xylander hatte das Kind sorgfältig auf das Steuerbänkchen gesetzt, das mit einem Geländer versehen war.

Er befahl dem Bootjungen, der die Gondel noch an der Kette hielt, einzusteigen, und hängte die Ruder ein.

Da schob Hanns den Elfenauer beiseite.

»Lassen Sie mich mitfahren, Xylander, ich kenne den Rhein.«

Er stand schon im Boot.

Xylander bezwang seine Abneigung, sagte kurz »bitte«, und sie legten die Ruder aus.

Hanns saß vorn, in der Mitte Xylander. Das Kind zupfte spielend an der Steuerschnur.

Schweigend fuhren sie in den Strom.

Hanns wollte die Mitte gewinnen. Aber Xylander drückte das Fahrzeug aus der Strömung und hielt am Schilfgürtel hin, der weit ins Wasser hineinwuchs. Die großen Nachen waren schon um die Biegung verschwunden. In flüsternder Einsamkeit trieb das Boot. Die 305 Abendfarben waren im sanften Dämmer verblaßt. In ruhigem Drang zog der gefesselte Strom.

»Laß mich auch mal, Papa,« bat die Kleine und stand auf.

Xylander fing sie auf und stellte sie zwischen die Knie.

»Elsi, du bringst mich aus dem Takt,« scherzte Hanns, als sie das Ruder ins Wasser drückte.

Xylander wandte sich zu ihm um.

»Kann ich Sie morgen früh auf Ihrem Bureau oder an einem anderen Ort treffen?«

»Sie treffen mich von sieben Uhr an im Turbinenhaus.«

Knapp und spröd fielen Frage und Antwort.

Hanns hielt die Ruder flach. Dicht strich das linke am Schilf.

Er wollte das Boot durch einen Kreuzschlag in den offenen Strom drängen, um den Reusen und Stellnetzen zu entgehen.

Aber Xylander schlug trotzig das rechte Ruder ein und das Boot kragte zurück.

Elsi packte lachend zu und half, unwillkürlich verstärkte auch Xylander den Zug.

»Geben Sie acht, die Pfähle –« wollte Hanns rufen, da schnellte der Kiel vorn in die Höhe, Xylander gab in der Hast einen falschen Schlag, und die schmale Gondel kippte um.

Das geschah so rasch und mühelos, daß das Kind noch mit einem Lachen ins Wasser schoß.

»Festhalten!« schrie Hanns und warf sich weit hinaus, um das gekenterte Boot, das halb unter Wasser trieb, zu entlasten. Er war leicht gekleidet und wußte, daß der Strom trug. Ein weißes Bündel, das Kind, Gerhart Xylander hob es an die Oberfläche, und in gemeinsamer Anstrengung schoben sie es auf den Kiel.

Das Boot war quergeschlagen und in den offenen Rhein hinausgetrieben worden.

Die Männer schwammen zu beiden Seiten und stützten das Kind, das, vom Schrecken erstarrt, halberstickt auf 306 dem glatten Kiel hockte. Nichts war zu hören als der keuchende Atem der Männer und das gleichmäßige Klatschen der Wellen im gekenterten Kahn.

Hanns hob sich mit starkem Schlag aus dem Wasser.

Das Boot trieb jetzt mitten im Rhein. Dünste standen an den Ufern, Wälder blickten herab, der letzte Rosenschein verging am Himmel. Ein Reiher strich mit heiserem Schrei zu Horst.

Da schrie Hanns Ingold den Notruf der Rheinschiffer, und »Alli-aho« schallte es mit voller Kraft über den glitzernden Strom.

»Die anderen müssen uns ja sehen,« keuchte Xylander.

Hanns wußte, daß das nicht möglich war.

Das Kind fiel mit einem kläglichen Wimmern vornüber.

»Elschen,« schrie Xylander und fühlte, wie ihm die Glieder erstarrten im kalten Rhein.

»Ich halte sie,« antwortete Hanns und ergriff das kleine kalte Bein, das leblos über den Kiel hing.

Da spürte er, daß das Wasser heftiger zu drängen und zu saugen begann. Das Boot geriet ins Schwanken und drohte sich seitwärts zu wälzen und unterzugehen. Er begriff, daß sie verloren waren, wenn nicht bald Hilfe kam.

»Xylander!«

»Ja,« keuchte Gerhart.

»Ich schwöre Ihnen, daß Ruth rein und untadelhaft ist. Glauben Sie mir?«

Er stieß die Worte keuchend hervor, seine Kräfte begannen zu schwinden. Er wußte, daß er den Eid leisten mußte, und sprach die Worte ohne Zagen.

»Ich glaube Ihnen, Ingold.«

Gerhart Xylander griff wieder kräftiger aus. Aber es war nur die Wirkung dieser Beschwörung gewesen, seine Kraft war erschöpft.

Das Boot sank tiefer, das Kind tauchte schon bis an die Hüften ins Wasser.

307 Xylander verlor den Halt. Das Boot kippte, das Kind fiel. Und dreimal rangen sie mit schwindenden Kräften gegen den Tod, drehten dreimal den Kahn, ehe er wegsacken konnte, und hoben dreimal das erschöpfte, schon leblos gewordene Kind auf den Kiel.

Noch einmal warf Ingold mit letzter Kraft den Oberleib aus der Flut.

In der Ferne der Gitterstrich der Brücke, um ihn her der stärker saugende, die Füße wegfegende Drang des Wassers – sie trieben dem Lauffen zu.

»Xylander – nach rechts – die Insel!«

Schwarzer Baumschlag stand vor letztem Opal – die Insel! Die Insel und vielleicht die Rettung!

Aber Xylander konnte das Boot nicht regieren. Es trieb nach links ab in die Strömung, die zwischen den Quadern des Werkes wie ein Sog wirkte. Da keuchte Hanns:

»Lassen Sie das Boot los – schwimmen Sie frei – das Wasser trägt Sie hin.«

»Das Kind!« keuchte Gerhart und griff nach dem weißen Püppchen, das vielleicht noch lebte.

»Lassen Sie los – Sie zuerst – ich das Kind!«

Und Gerhart erriet, stieß ab und schoß in das Weidengebüsch, ehe sie daran vorbeitrieben.

Das Boot lag schon einen Fuß unter Wasser, gurgelnd entwich die Luft.

»Hierher, Ingold!«

Im letzten Willensakt warf sich Hanns Ingold quer über den Kiel, stemmte das Knie auf, schnellte mit dem Kind in die Höhe, spürte das Boot entweichen, fühlte das Püppchen aus seinen Händen gerissen und schlug dann schwer zurück in die Flut.

»Ingold!«

Er konnte Xylander nicht mehr antworten. Er hörte Stimmen hallen und verhallen, das Weinen des geretteten Kindes, Hupen heulen und plötzlich Glocken klingen.

308 Aber noch einmal strich er mit den Armen glatt aus und hob mühsam den Kopf, schon müde, schon vom Rhein in Schlaf gewiegt. Da hörte er ganz fern, ganz süß, ganz voll Liebe und wie letzter Sehnsucht Abschiedsgruß seinen Namen rufen.

»Hanns Ingold!« klang's im Rauschen des Rheins.

Und ein stolzes, trotziges Aufbäumen ging durch seinen Leib, er trat hinunter in die schwerflüssige Tiefe, schnellte auf, und als ihn die Flut hob, sah er in der Ferne, dort, wohin ihn der Strom unwiderstehlich riß, ein mächtiges Fanal aufflammen, Sonnengluten aus hundert Bogenfenstern brechen, weiße Lampen gegen den Himmel schwanken, Lichterketten funkeln, das Tal, den Rhein, die Wälder erglänzen, und erblickte dicht vor sich im Mittelpunkt dieser neuaufleuchtenden Welt sein Werk als strahlenden Kern.

Da hob er die kalten Hände zum letzten Gruß, und der Strom, den er gefesselt, fesselte auch ihn und zog den Müden hinab.

 


 


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