Hermann Stegemann
Der gefesselte Strom
Hermann Stegemann

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Am 21. September erteilte die Regierung der erweiterten Gesellschaft, in der nun Xylander und Kompanie das Übergewicht hatten, die endgültige Genehmigung zum Bau und Betrieb eines Kraftwerkes zu St. Joseph bei Rheinau unterm Lauffen. Da es sich nur noch um den Vollzug gehandelt hatte, waren schon alle Vorbereitungen zur Aufnahme der Arbeiten getroffen worden. Am 22. September begannen die ersten Erdbewegungen auf den Ingoldschen Matten.

Es sah noch nicht gefährlich aus. Der Rhein rauschte ungestört im felsigen Bett, die Wasserweide spiegelte sich im Glanz der Herbstsonne, und die Fischer zogen mit dem Schleppgarn langsam stromauf, an St. Josephsbad vorbei dem Lauffen zu.

Doktor Engelhardt kam aus dem Tannenwald herunter, die Botanisierbüchse auf dem Rücken, ohne Hut, mit schlechtgewickelten Wadenbinden und brauner gebrannt als je.

Am Bahnhof mußte er einen großen Umweg machen, denn das tote Gleis war mit langachsigen Wagen verstellt, auf denen Förderkarren und Baggermaschinen verladen waren.

Der Wartesaal glich einem Zigeunerlager. Über zweihundert Italiener erfüllten den Bahnhof mit Lärm und Gerüchen.

Wie ein gereizter Bär drängte Engelhardt sich mit Brummen durch die Menge, versäumte aber nicht, einen Blick auf die kecken Mädchen zu werfen, die mit ihren kunstvoll gesteckten schwarzen Haaren und üppigen Busen wie Fürstinnen in Kattunkleidern aussahen.

Das würde ein schönes Leben geben! Ein Leben, bei dem man des eigenen Lebens nicht mehr sicher war. 223 Da schrien sich schon zwei, ein stoppelgrauer Alter und ein junger Krauskopf, wie die Wilden an und warfen die Hände, als wollten sie sich erwürgen. Aber jetzt gab der Alte dem Jungen einen Schweizergroschen, und nun lachten sie einander vergnügt mit blanken Zähnen ins Gesicht.

Engelhardt lief den Feldweg nach Hause. Überall waren kleine Baracken ausgesteckt. Er kannte diese Italienerkolonien, die bei Tunnel- und Wasserbauten wie die Pilze aus dem Boden schossen. Nun war das Ende von St. Joseph gekommen. Die Gesellschaft hatte ihn noch nicht zum Verkauf gedrängt, und er wollte ihr das Gut nicht antragen. Er saß noch im Eigenen, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als eines Tages zu gehen. Er schob den Gedanken weit von sich. Seit alles in Fluß gekommen war, tat er, als ginge ihn die Umwälzung nichts mehr an.

Am Abend wurde Engelhardt durch einen langgezogenen, klagenden Gesang in seiner Arbeit gestört.

»Heiliger Joseph, nun ist auch die Santa Lucia noch am Leben!« stöhnte er und warf die Feder weg.

Ruth schrieb Rechnungen ein.

»Aber Papa, du wirst doch die »Pagliacci« nicht von ihnen hören wollen,« neckte sie ihn.

»Nein, ich will überhaupt nichts hören,« brummte er und nahm die Feder wieder auf, um an seinem Werk über die Flora des Rheinauer Waldtales weiterzuschreiben.

»Am 12. Oktober müssen wir schließen,« sagte Ruth nach einer Weile. »Die erste Köchin entlasse ich schon auf den Monatsersten, auch zwei Mädchen. Brauchst du noch etwas Besonderes an Medikamenten?«

»Nein, von dem Zeug hab' ich mehr als genug.«

»Du bist heute nicht liebenswürdig, Papa,« erwiderte Ruth lächelnd.

»Wenn man fühlt, wie einem der Stuhl fortgezogen und die Ruhe gestohlen wird, kann man doch nicht noch liebenswürdig sein!«

224 Das sagte er so grimmig, daß Ruth laut auflachen mußte.

Engelhardt horchte mit heimlicher Freude auf dieses frohe Lachen und schielte über seine Herbarien hinweg zu Ruth hinüber.

Das Lachen war als helles Lächeln in ihrem Gesicht stehen geblieben. Über ihr Hauptbuch gebückt schrieb sie emsig, vom Lichtscheine der Lampe wie verklärt.

Und Doktor Engelhardt gab im stillen das Kloster St. Joseph und sein Sanatorium leichten Herzens preis, da er das Mädchen so heiter sah. Sie war wie von langer Krankheit genesen.

Doch als sich jetzt das Lächeln langsam verlor, erkannte er in ihrem Antlitz auch die Spuren, die Schicksal und Erleben hineingezeichnet hatten.

Ruth Engelhardt war kein junges Mädchen mehr. Sie schien zwar wieder schlanker geworden, etwas amazonenhaft Beherrschtes war in den Linien ihres Körpers, aber die Züge des Gesichtes waren schon in eine Reife gegossen, wie sie nur aus tiefstem Erleben und Überwinden fließt.

Sie hob den Kopf und fragte:

»Ist das nun wirklich meine letzte Bilanz in St. Joseph?«

»Ja, Ruth, sie haben uns abgewürgt. Für vierundfünfzigtausend Mark habe ich den Steinhaufen mit dem Park vor zweiundzwanzig Jahren gekauft. Jetzt ist er für mich nicht einmal mehr als Altersasyl zu gebrauchen. Aber ich gehe jetzt auch unter die Spekulanten. Die Licht- und Kraftmenschen sollen mir nur kommen! Unter hunderttausend Mark gebe ich St. Joseph nicht her.«

Ruth wiederholte staunend die schöne runde Zahl.

Er wandte sich ab, um ihr den Schmerz nicht zu zeigen, der plötzlich sein Gesicht zerriß. Sie durfte nicht wissen, daß er ohne St. Joseph und seine kümmerliche Tätigkeit nicht leben konnte. Die Atembeschwerden, an denen er seit Jahren litt, waren in den letzten Monaten stärker geworden und befielen ihn jetzt bei jeder größeren Erregung.

225 Er stand auf und bat Ruth, mit ihm noch einen Gang durch den Garten zu machen.

Eine silbergestirnte Herbstnacht streute sanfte Helle ins Dunkel. Der Harzduft der Wälder kam von den Bergen. Es war alles wie sonst, nur die gespensterhaften Baugerüste auf den Matten und ein verlorenes rotes Licht am Rhein, wo der Kies ausgegraben und der Felsgrund bloßgelegt wurde, standen fremd in der Landschaft.

Im Auf- und Abgehen besprach Engelhardt mit Ruth die nächste Zukunft. Sie wollten den Winter in Freiburg verbringen und erst im Frühling nach St. Joseph zurückkehren.

Vielleicht fand Engelhardt in Freiburg Wurzelgrund. Er wußte, daß es vor allem sentimentale Schwingungen seiner Seele waren, die ihn nach Freiburg zogen, wo er als Student geschwärmt und seine Lebensgefährtin gefunden hatte, aber Freiburg war auch die nächste Universitätsstadt, und Ruth besaß dort noch von der Mutterseite Verwandte, an die zu denken wohl erlaubt war.

Sie sprachen und rechneten, kein Wort deutete darauf hin, daß sie jemals einander verlassen könnten. –

Am 23. Oktober siedelten sie in den Breisgau über.

Engelhardt konnte den Ausgang aus St. Joseph nicht finden. Er lief im ganzen Haus umher und fragte Ruth nach hundert Gegenständen, die er mitnehmen wollte.

In den zwanzig Jahren seiner Seßhaftigkeit war er nur selten einige Tage von Rheinau weggewesen. Einige Male in Zürich und in den Alpen, einmal in Stuttgart und zuweilen in Freiburg. Den Schwarzwald kannte er um so besser. Von der Ach bis zur Murg hatte er jedes Tal durchwandert, jede Höhe erklommen.

Ruth suchte ihn, denn es war Zeit, das letzte Frühstück einzunehmen.

Joseph Hotz hatte den Frühstückstisch auf der Terrasse gedeckt, wo die gelbe Oktobersonne in den dickköpfigen 226 Dahlien glühte, die der Gärtner zu einem mächtigen Strauß gebunden hatte.

Als Ruth ins Laboratorium trat, schlug Engelhardt schnell die Truhe zu, aber es war zu spät, um seiner Tochter zu verbergen, daß er seine chirurgischen Instrumente betrachtet hatte, die hier wohlverwahrt lagen.

Sie gingen zu Tisch. Da stand neben den Dahlien plötzlich ein Rosenstrauch von fremder Art.

»Wo kommt denn das her, Joseph?« fragte Engelhardt. »Will die Gräfin Schreck von Rheinau da unten von uns Abschied nehmen?«

Ruth war ans Geländer getreten und blickte auf den Anger, wo die steinerne Frau in den Heckenrosen stand. Die Wasserpforte war mit Brettern zugeschlagen, um die Italiener, die Hotz schon mit seinem alten Gewehr hatte bedrohen müssen, nicht mehr in Versuchung zu führen.

»Nein, Herr Doktor, die hat anderes zu tun, seit hier die Tschinggen regieren, diese Amselfresser und Messerstecher!«

Er warf einen verächtlichen Blick auf die Barackenstadt, die von lautem Lärm widerhallte.

Bunte Wäsche flog an den Leinen, kleine Lokomotiven pufften die kiesbeladenen Kippkarren den Berg hinauf, weithin glänzte der Strand nackt und kahl, Stämme und Kronen von niedergeschlagenen Obstbäumen und Erlen lagen wie Tote auf Haufen geworfen und reckten die Arme in die Luft.

Ein roter Ziegelbau leuchtete, wie mit Blut bestrichen, in der Sonne. Das war das Bureau der Ingenieure.

Es wimmelte von Arbeitern. Das Scharren ihrer Schaufeln, das Rollen der Feldbahn und das Kling-Klang eines Meißels, der irgendwo ins Steinbett getrieben wurde, schwollen zu einer eigenen Melodie, die längst alle Grillen übertönte. Nur der Lauffen rauschte noch unbekümmert in der Felsenenge und schleuderte seine Regenbogendünste in den klaren Tag.

227 Schweigend legte Engelhardt Xylanders Karte, die in den Rosen gesteckt hatte, auf Ruths Teller. Sie kam aus Berlin. Der Tag der Abreise von St. Joseph war ihm aus einer Mitteilung Engelhardts bekannt gewesen.

Ruth spielte damit; plötzlich hielt sie ein Häuflein weißer Papierschnitzel in den Händen und, ans Geländer tretend, streute sie sie langsam in die Schattenwildnis des Grabangers.

Aber den Strauß nahm sie mit in den Wagen.

Fest umschloß sie die kühlen Stiele.

Wo die Feldbahn die Straße schnitt, mußten sie warten. Kräftig gebremst kam ein leerer Materialzug die Höhe herab. Die Eisenkarren stießen sich wie gierige Hunde im Herabjagen. Die Räder schrien.

Auf dem letzten Wagen stand Hanns Ingold neben dem Italiener, der die Bremse bediente.

Einen Augenblick zitterten Ruths Lippen. Sie sah ihn kurz herüberblicken, die Hand an die Mütze legen und mit dem Zug zwischen den Bäumen verschwinden.

Beim Verlassen des Breaks fielen die Rosen in ganzen Büscheln, wie von nervösen Fingern zerpflückt, aus ihrem Schoß.

Engelhardt fand sich am Bahnhof kaum zurecht.

Schon waren zwei neue Verschubgleise gebaut, zogen sich Güterhallen an der Linie hin, wuchsen die Grundmauern eines Bahnhofhotels aus der braunen Ackererde.

Ruth sah alles mit einem leeren Blick. Noch einmal war die Vergangenheit zu ihr zurückgekehrt und hatte sie nach den Tagen eifriger Arbeit gerade in ihrer schwächsten Stunde überrascht. Als sie von ihrer Heimat Abschied nahm! Sie sah die Heimat nie mehr wieder, wie sie war. Aber vielleicht war es gut so. Gut, daß das alte Bild vertilgt wurde. Wenn sie im nächsten Frühling wiederkehrten, war das Werk im Bau. Sie fürchtete sich vor dieser Wiederkehr und sehnte sie doch herbei.

Der Winter kam früh ins Land und währte lang.

Sie lebten sich rasch ein in der heiteren und anmutigen 228 Stadt, und selbst Engelhardt brachte es fertig, die Zeit totzuschlagen. Er sagte zwar, er müsse jeden Tag für sich besonders und jeden Sonntag zweimal erschlagen, aber wenn er auch keine Ruhe fand und in gesteigerter Menschenscheu allen Bekanntschaften auswich, so ging die Überwinterung doch besser von statten, als Ruth gefürchtet hatte.

Sie selbst erlebte an sich, wie wohltätig es ist, nach großen Erschütterungen den Ort zu wechseln. Die stummen Zeugen ihrer Leiden standen nicht mehr um sie her, rascher als sie geglaubt hatte, wich die Vergangenheit in unerreichbare Ferne zurück, und schon konnte sie beim Zurückschauen die Blicke darauf ruhen lassen, ohne Schmerzen zu empfinden. Sie nahm Anteil an dem Leben, das sie umspülte und trug, besuchte das Theater und die Konzerte und spürte, wie ihre Lust am Dasein wieder die Schwingen regte.

Kurz vor Weihnachten schrieb Hermann Ingold aus Waldshut, daß er nach einer mehrwöchigen Probezeit in die Prima des Gymnasiums aufgenommen worden sei und hoffe, in einem Jahr die Reifeprüfung abzulegen.

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das noch mitteilen darf und ob es Interesse für Sie hat. Aber ich muß es doch jemand sagen und bin Ihnen so treu und ergeben wie immer. Mein Vater ist sehr alt geworden, aber er hält sich wieder aufrecht und nimmt keine Notiz von dem, was um ihn her vorgeht. Sicher wirft er im Frühling wieder das Netz. Ich glaube, er kann sich gar nicht vorstellen, daß sie wirklich an den Lauffen rühren. Sie bauen jetzt eine Notbrücke bei St. Josephs Acker. Der Rhein selbst ist noch, wie er war. Ich möchte am liebsten Geologe werden, Fräulein Ruth. (Geologe, nicht Theologe, bitte nicht verwechseln!)«

Ruth las den Brief mit beruhigtem Herzen und lächelte gerührt.

»Ein Prachtbursch,« murmelte Engelhardt, als er Ruth den Brief zurückgab.

229 Er wollte noch etwas sagen, unterdrückte jedoch den Vergleich, den er zwischen den beiden Brüdern angestellt hatte, zur rechten Zeit und schwieg. Aber einen herzlosen Egoisten nannte er Hanns Ingold im stillen trotzdem.

In der kleinen Pension an der Salzstraße, wo sie wohnten, wurde das Weihnachtsfest unter einem gemeinsamen Christbaum gefeiert.

Ruth hatte aber selbst noch ein fußhohes Tännchen besorgt, ein halbes Dutzend Kerzen darangesteckt, ein paar Pfeffernüsse, rote Äpfel und kleine Freiburger Bretzeln darangehängt und eine Kiste guter Zigarren darunter gestellt.

Es schneite seit zwei Stunden, die Stadt war schon ganz weiß.

Engelhardt war bei Tisch und angesichts des großen allgemeinen Christbaumes noch wortkarger und unliebenswürdiger gewesen als sonst.

»Komm, Ruth, wir gehen Weihnachten im Schnee feiern,« sagte er beim Stuhlrücken und lief nach Mantel und Mütze.

Im ersten Augenblick reute Ruth das Bäumchen, das in ihrem Zimmer wartete, dann lockte auch sie die Weihnachtsstimmung in die verschneiten Gassen.

Schweigend stapften sie durch den Schnee. Es war ganz still in der Stadt. Die Klingeln der elektrischen Bahn tönten wie Weihnachtsglöckchen.

Weich fielen die Flocken.

»Ja, Mädel, nun rückt's,« sagte er auf einmal laut.

Sie wußte nicht, was er wollte, fragte aber nicht weiter. Wie die Flocken fielen und der Schnee sich häufte, war's ihr, als sänke hinter ihr die Geschichte ihrer Liebe ins Wesenlose.

Vor der Haustür hielt sie den Vater zurück und ging voraus, um die Kerzen anzuzünden.

Nun standen sie beide vor den Lichtern, die zwischen fremden Möbeln unruhig züngelten, als fühlten sie sich hier nicht zu Hause.

230 Und beide überkam die Sehnsucht nach St. Joseph.

»Du, Mädel, da ist noch etwas für dich gekommen.«

Er holte aus der Rocktasche einen großen Briefumschlag, zog daraus einen kleineren und übergab ihr diesen. Umständlich setzte er dann an dem obersten Licht eine Zigarre in Brand und versengte sich dabei den Bart.

Ruth wog den Brief unschlüssig in der Hand und starrte in die Kerzen, die sich in ihren Blicken verhundertfachten.

Da ging Doktor Engelhardt mit starken Schritten in sein Schlafzimmer hinüber.

Ruth las Gerhart Xylanders Brief.

Er war nicht lang, begann mit einem Weihnachts- und Neujahrswunsch, sprach von der Entwicklung, die das Geschäft in diesem Jahr genommen habe, von der Notwendigkeit, die ihn im März nach Rheinau führe, wo dann die Arbeiten im großen Stil einsetzen würden, und von seiner Hoffnung und seiner Freude, Ruth wiederzusehen.

»Ich wollte eigentlich schon jetzt nach Freiburg kommen, um Ihnen meine Wünsche mündlich zu überbringen. Aber ich habe mir's überlegt, denn diese Glückwünsche wären am Ende so persönlich ausgefallen, daß Sie etwas anderes herausgehört hätten.«

Ruth las den kühlen, beinahe geschäftsmäßig gefaßten Brief zweimal aufmerksam durch und empfand gerade darüber, daß er so korrekt und zurückhaltend geschrieben war, eine Genugtuung, die sich allmählich zu einer frohen, gesammelten Stimmung verdichtete.

Engelhardt kam nicht auf den Brief zurück.

Die Tage vergingen; auf klirrenden Frost folgten warme Stürme, aus dem Höllental brausten die ersten Schmelzwasser. Von den Höhen des Schwarzwaldes rollten Regenwolken und tränkten die fruchtbare Ebene.

Flüchtige Sonne küßte den roten Sandstein des Freiburger Münsters, daß der Turm wie eine Fackel aufleuchtete.

231 Und immer leichter und gleichmäßiger ging Ruths Lebensatem, vom Hintergrund einst schmerzlicher, jetzt unempfindlich gewordener Resignation hob sich ihr Wesen geläutert und mutig ab.

Engelhardt lief auf den Schloßberg und in die Wälder. Heftige Unruhe hatte ihn ergriffen. Wie ein Zugvogel sehnte er sich nach dem Aufbruch, und als in den ersten Märztagen der Himmel auf einmal blau wurde und ein Geruch nach quellender Erde über die Stadt zog, da hielt ihn nichts mehr, er ließ einen Teil der Monatsmiete im Stich und trieb zur Reise.

Es war noch winterlich kahl. Von den Vogesen glänzte noch Schnee. Aber unruhig liefen die Bäche, von Sehnsucht geschwellt die kleinen weißen Wolken, und auf der Reise erblickte Ruth unter dem Grenzacherhorn, wo der Rhein von Osten nach Norden schwang, einen Pfirsichbaum in verfrühten Blüten.

Ruth zeigte dem Vater den rosigen Baum. Ernsthaft blickten sie daraufhin.

Hinter Säckingen nahm sie die Waldeinsamkeit des Rheinthales in die Arme. Aber als der Zug in den Rheinauer Tunnel lief, sahen sie plötzlich aus dem stillen Wald die Schwebebahn herunterkommen. An hohem Draht schwebten die Eisenkörbe, mit Mergel gefüllt, herab. Eine blanke Gasse war in den schönen Wald gehauen, die Stämme lagen noch in der Schneise.

Stöhnend lehnte Engelhardt den Kopf zurück und schloß die Augen. Er wollte nichts mehr sehen.

»Papa, wir müssen aussteigen!«

Er zog den Schlapphut, den er sonst in der Hand zu tragen pflegte, tief in die Stirn.

»Fahr' los mit dem Schinderkarren, wir gehen zu Fuß,« sagte er zu Joseph und bog ab, um über das Gleis auf den Waldweg zu gelangen. Eigensinnig starrte er vor sich hin.

Ruth ging neben ihm. Sie war überwältigt von dem Wachstum, das plötzlich in dieser stillen Welt aufgeschossen 232 war. Es wimmelte von Baugerüsten, der Bahnhof war verwandelt, Fuhrwerke und Lastautomobile fuhren hin und her, schrill tönte der Pfiff der Lokomotiven, und vom Rhein her klang gewichtiges Rammen wie schwerer Herzstoß in das quellende Leben und verlor sich im starr und feierlich stehenden Wald.

Nun überschritten sie den Bahndamm und sahen St. Joseph vor sich liegen.

Der Weg senkte sich, sie konnten durch die kahlen Bäume ins Innere des Parkes blicken. Rote Ziegeldächer brannten in der Märzsonne und umdrängten schon den verwunschenen Klostergarten. Das Gerüst der hölzernen Arbeitsbrücke, die hinter St. Joseph den Rhein überspannte, wuchs mit harten Linien in den blassen Himmel.

Sie waren wieder zu Hause, aber zu Hause nicht mehr daheim.

Doch Engelhardt nahm bald wider Willen Anteil an der gewaltigen Kraftentwicklung, die hier tätig war und mit immer stärker anschwellender Energie Land und Strom umwälzte.

Der März ging zu Ende. Später Frost schlug den Maurern die Kelle aus der Hand. Um so tiefer bohrten sich die Erdarbeiten in das Kiesland.

Aber bald brach über Nacht der Föhn herein und brauste mit Orgeltönen durch das Rheintal. Die Wälder bogen sich im Sturm, der Strom wurde wild und leuchtete kreidig weiß, violenblaue Wolken trieben am grünlichen Himmel. Zwei Baugerüste brachen zusammen, das Drahtseil der Schwebebahn wurde von einer fallenden Tanne zerrissen.

Dann schüttete blutwarmer Regen herab, und als drei Tage darauf am goldklaren Morgenhimmel die Sonne aufging und sich kein Hauch rührte, die Knospen aus den schwarzen Bäumen brachen und die Matten auf einmal grün waren, da sagte der alte Joseph zu Ruth: »Der Rhein ist voll Weidenstaub, der Fisch steigt.«

233 Ruth war voll Unrast gewesen in diesen Tagen. Der Frühling hatte sie erfaßt und machte sie heiß und unruhig.

Gerhart Xylander schrieb, daß er kurz nach diesem Brief in Rheinau eintreffen werde.

Und damit stand Ruth vor der Entscheidung und mußte sich fragen, ob sie seine Werbung annehmen oder sie wiederum ablehnen wollte. Er kam zum letztenmal.

Es hing schon ein grüner Hauch am Rheinwald, und die Obstbäume begannen zu blühen, als Xylander in Rheinau eintraf. Er ließ seine Ankunft in St. Joseph wissen und bat um die Erlaubnis, Ruth am anderen Tag besuchen zu dürfen.

Ruth sah ihn schon vorher von weitem auf den Bauplätzen. Er sprach mit Ingold.

Eine Sitzung des Verwaltungsausschusses hielt ihn am ersten Tage fest.

Als er nach St. Joseph hinauskam, war ihm ein Angebot der Gesellschaft an Engelhardt vorausgegangen.

»Siehst du, Ruth, nun bieten sie mir neunzigtausend Mark für den Plunder!« rief Engelhardt bitter und warf das Fenster zu, durch das der Schall der Ramme hereintönte, die die Eisbrecher der Notbrücke ins Rheinbett trieb.

»Mir neunzigtausend und dem Christian Ingold elftausend! Der wird enteignet. Die Stadtgemeinde behauptet, das Recht dazu zu haben. Er sagt, sie könnten ihm das Dach über dem Kopf wegtragen, aber sie brächten ihn nicht aus seinem Haus! Ich bin vernünftiger, ich bin viel vernünftiger. Mein alter Freund Friedrich Vischer würde sich wundern über den Geldhund: Ich verlange hundertundzwanzigtausend Mark und setze mich als Rentner nach Freiburg im Breisgau oder nach Eberswalde in der Mark und drehe die Daumen!«

»Sprich nicht so, Papa, du tust es ja doch nicht. Laß sie es kaufen, aber erkundige dich, wozu sie eigentlich St. Joseph brauchen. Vielleicht bleibt ein Flügel stehen und –«

234 »Ach so, du meinst, ich soll unterkriechen!« unterbrach er sie heftig.

»Nein, das meine ich nicht, im Gegenteil, du sollst Bedingungen stellen!«

»Bedingungen stellen?«

Erstaunt blickte er sie an. Auf einmal lachte er fröhlich und faßte sie um den Hals.

»Recht hast du, Mädel, ich kann ja Bedingungen stellen! Der Turm mit der Zwiebel bleibt stehen. Doktor Engelhardts Kräutersammlung und veraltetes chirurgisches Arsenal wird darin zum ewigen Gedächtnis aufbewahrt. Doktor Engelhardt selbst unter dem Stein der Gräfin Schreck von Rheinau begraben. Abwechselnd wird an jedem Abend auf seinem Grab die »Loreley« und die »Santa Lucia« gesungen.«

»Papa,« sagte sie leise und hielt ihn fest umschlungen, spürte, wie schwer sein Herz pochte, und hörte, wie mühsam er Atem zog.

Zum erstenmal fiel ihr die Veränderung in seinem Äußern auf. Er war alt geworden, und sein aufbrausendes Wesen hatte einer fahrigen Unruhe Platz gemacht.

Am Nachmittag kam Gerhart Xylander.

Ruth ließ die Herren erst allein und freute sich, als der Vater bei ihrem Eintreten ganz zufrieden sagte:

»Also, das Kloster soll noch eine Zeitlang, jedenfalls aber drei Jahre, stehen bleiben. Man will nur einige Bureaus und die Ambulanz unterbringen. Herr Xylander hat mir erklärt, daß mir das Turmzimmer als Altenteil zugesprochen werden soll.«

»Ihr Herr Vater mischt Scherz und Ernst wie einen Coktail, gnädiges Fräulein,« erwiderte Xylander lachend und trat rasch auf sie zu.

»Wie ich mich freue, Sie zu sehen,« fuhr er leise fort.

Als sie sich umwandten, waren sie allein.

Sie deutete auf zwei Stühle in der Fensternische, wo die Märzsonne lag.

235 »Ich habe Sie erwartet, Herr Xylander,« sagte sie einfach.

Nun saßen sie einander gegenüber. Zwei ernste Menschen, die, jeder in seiner Art, ihr Leben mit Bewußtsein lebten.

»Fräulein Ruth, ich habe die Empfindung, daß seit dem verflossenen Sommer sich manches geklärt hat. Sie selbst haben mir in Ihrer edlen – bitte, erlauben Sie mir einmal ein solches unkaufmännisches Wort –, in Ihrer menschlich schönen, edlen Weise einen Einblick in Ihr Seelenleben gewährt. Klingt gesucht, gebe ich zu. Aber wenn unsereins sich auf so etwas besinnt, klingt es immer nach Auswendiggelernt. Bitte darüber hinwegzusehen, Fräulein Ruth. Ich will ja nur andeuten, daß ich Ihnen dafür danke und daß ich, als zugeknöpfter Mensch, mir Ihnen gegenüber sehr gefühlsarm vorkomme. Überschuß an Empfindsamkeit besitze ich auch nicht, aber ich liebe Sie, Fräulein Ruth. Ich wiederhole das Wort von der Inselterrasse und frage Sie heute noch einmal nach einer Frist, die ich mir abgerungen habe: Wollen Sie mit mir gehen, wollen Sie mir Ihre Hand geben?«

Und als sie schwieg, einen farblosen Schein im Gesicht, über dem das Haar wie reifes Korn glänzte, hob er halb flehend, halb fordernd die Hände und rief leise:

»Wollen Sie meine Frau werden, Ruth? Sagen Sie ja!«

»Sie wissen, daß ich Ihnen heute nicht mehr antworte, ich sei und fühlte mich nicht frei,« antwortete sie.

»Ich wäre sonst nicht gekommen.«

Dankend neigte sie den Kopf und blickte sinnend vor sich hin. Das Klirren der Grabscheite, das Surren der Schwebebahn klang zu ihnen herein. Leise schütterte der Boden von den schwergefüllten Kieswagen, die von der Lokomotive bergauf gestoßen wurden.

Nun begann Ruth leise zu sprechen, beinahe wie im Selbstgespräch.

236 »Meine erste Jugend liegt hinter mir. Meine erste Liebe auch. Ich weiß nicht, ob weit genug, aber es ist merkwürdig, daß mir immer ist, als hätte ich Sie erst nachher kennen gelernt. Als wäre unser Beisammensein, Ihre Genesungszeit in St. Joseph und alles, was sich daran geknüpft hat, erst viel später gewesen.«

Sie verstummte.

Gerhart räusperte sich.

»Für mich ist nur eines wichtig, Fräulein Ruth: Daß wir uns gefunden haben, Verzeihung, daß ich Sie gefunden habe.«

Da blickte sie lächelnd auf.

»Wir uns, wir uns,« sagte sie mit Betonung und streckte ihm mit festem Entschluß und einem warmen Gefühl, das nur noch einen ganz leichten, wehen Beiklang hatte, die Hand hin.

»Ruth?« fragte der sonst so Rasche und Entschiedene zweifelnd.

Sie nickte und sagte leise:

»Also dann die auch noch!«

Und reichte ihm auch die Linke.

Er küßte sie beide. Sie spürte das Zucken in seinen Lippen.

Mit Dröhnen und Poltern rollte der Leerzug vom Wald herunter und erschütterte die alten Mauern von St. Joseph. Und Ruth Engelhardt hörte, wie eine Stimme in ihrem Innersten sprach: »Nun baust du Hanns Ingolds Werk und dir ein neues Leben.« Und gefesselt lag in ihrer Brust der wilde Strom.

Doktor Engelhardt nahm die Verlobung ohne viele Worte entgegen. Er wußte, daß er jede Berührung kaum verharschter Wunden vermeiden mußte.

Xylander konnte nur wenige Tage in Rheinau bleiben. Er hatte es eilig, war wieder in die Geschäftshaut gekrochen und sprach lauter, als in St. Joseph üblich war. Die Glückwünsche der Familie trafen auf dem Draht ein, die Hochzeit wurde auf den 1. August festgesetzt.

237 Am Tage vor seiner Abreise bat Gerhart Ruth, ihn zu dem Fischmeister zu begleiten. Er wollte versuchen, Ingold in persönlicher Aussprache und durch ein besonderes Angebot zum Aufgeben seines unvernünftigen Widerstandes zu bewegen.

Und er sagte zu ihr:

»Mit seinem Sohn kann man von der Angelegenheit nicht sprechen. Bei der letzten Sitzung erklärte er noch ruhig, daß die Aussprengung des Strombettes im Mai beginnen und zuerst gegenüber von St. Josephs Acker vorgenommen werden sollte. Die Enge komme erst im Herbst daran. Aber das Haus müsse bis dahin geräumt und abgebrochen sein. Er war kalkweiß, als er die Sache vortrug.«

»Wenn nur Hermann da wäre! Der ist der einzige, dem der alte Mann etwas zulieb täte,« antwortete sie. »Aber ich bin's ihm schuldig, wir wollen gehen.«

Sie fanden Christian Ingold nicht zu Hause.

Ruth erkundigte sich und erfuhr, daß er stromauf gegangen sei. Sie wußte, wo er zu finden war, und da der milde. leicht verwölkte Frühlingstag lockte, an dem man das Grün aus den Zweigen steigen sah und die Luft von Bienen schwirren hörte, gingen sie ihn suchen.

Goldgelb die Wiesen, weiß die Bäume und silbergrün glitzernd der Rhein.

Sie gingen stromaufwärts.

Das schwere schlürfende Schnaufen des großen Baggers, der seit drei Tagen auf St. Josephs Acker in Betrieb war, drang nicht bis hierher.

Nur ein paar rote Markierungspfähle zeigten an, daß auch hier später der Stromlauf geregelt werden sollte.

Sie fanden den Fischmeister am Altwasser, wo er in der alten Schilfhütte, die er vor vielen Jahren gebaut hatte, sein Mittagsmahl hielt.

Ruth begrüßte ihn, stellte ihm Gerhart Xylander als ihren Verlobten vor und sagte, sie kämen in einer halben Stunde wieder, um mit ihm zu sprechen.

238 Der Fischmeister fegte die Brotkrumen vom Tisch und antwortete:

»Sie kommen mir jetzt recht. Und Ihnen soll es wohlergehen, Fräulein Engelhardt, hier und dort. Sie haben den rechten Weg gefunden.«

Nun begann Xylander zu sprechen und ihm Vorstellungen und Anerbietungen zu machen, aber der alte Oberländer verstand den Norddeutschen schlecht und ließ sich auf keine Unterhandlungen ein.

»Sie wollen mir Vernunft predigen, Herr! Wenn ich vernünftig sein wollte, nähm' ich vom eigenen Vorrat. Ich beiß' nicht auf den Löffel, Herr Xylander.«

Ruth legte sich ins Mittel. Und als er halsstarrig blieb, ohne in Hitze zu geraten, wie einer, der seine Rechnung schon lange abgeschlossen hat, nahm sie den Namen seines Sohnes in den Mund und sagte:

»Ihr Einspruch ist abgewiesen worden, Sie müssen sich fügen. Die Gesellschaft bietet Ihnen neuntausend Mark mehr, wenn Sie das Haus statt am 1. September am 15. August räumen. Nur um Ihnen den Verzicht leichter zu machen. Denken Sie an Hermann, Herr Ingold! Und bedenken Sie, daß Sie dem Schöpfer des Werkes den schwersten Konflikt aufladen!«

Er hob sich schwer von der Bank. Durch die Türöffnung schlug der Tagesschein. Der Hauch des Wassers feuchtete die Luft.

»Fräulein Ruth, ich habe drei Buben gehabt. Der eine ist ein geringer Floßer, aber er lebt und schwimmt im großen Haufen und streicht jetzt in einem Monat mehr Häuser in Rheinau, als früher in einem Jahr. Der andere ist mir ins Netz geschwemmt worden, ich weiß nicht wie. Ich kenn' die Art nicht, er muß von hoch aus den Bergen oder aus dem See sein, wo der Herrgott sie noch selber einsetzt. Das ist der Hermann, Fräulein Ruth. Den dritten kenn' ich am Genick und an dem Stachel. Und der steht dort und ich steh' hier. Er sagt, er kann nicht anders. Gut! Aber ich weiß von mir, 239 daß ich auch nicht anders kann. Die neuntausend Mark kommen von ihm. Die Gesellschaft zahlt mir nicht mehr als ausbedungen und vom Gericht erkannt. Was mehr ist, kommt von ihm. Ist es so?«

»Es ist so,« erwiderte Ruth und faßte Xylanders Arm.

»Gut! Ich nehme nichts von ihm, denn er hat mir alles genommen. Er hat seinen Willen, seine Kraft und sein Werk, und ich hab' nur mein Recht. Das ewige Recht. Da sitz' ich drauf, tragt es mit mir weg, wenn ihr könnt, ich steh' nicht auf.«

Und wie zur Bekräftigung ließ er sich wieder auf die Bank nieder.

Xylander hatte genug verstanden, um einzusehen, daß alles vergeblich war.

»Komm, Ruth, hier hilft kein Reden,« sagte er leise zu seiner Braut, und es war Ungeduld und Verwunderung zugleich, die aus diesem Worte sprachen. Der alte Mann war aus einer anderen Welt.

Sie gingen.

Hinter ihnen trat der Fischmeister aus der Hütte, in der Ruth vor vielen Jahren als Kind manche Stunde verspielt und verträumt hatte, und suchte seinen Kahn.

Sie sahen ihn bald darauf in dem tiefliegenden Einbaum mitten im Strom treiben. Der schwarze Schattenriß hob sich in dem hellen Licht des Tages von dem glitzernden Wasser übergroß ab. Wildenten kamen pfeilgerade im Dreieck den Strom herauf und fielen auf das Totwasser des Rheins. Ein Sprengschuß tönte dünn aus der Ferne.

Es war ein verlorener Schuß, aber in den nächsten Tagen begannen die Italiener den Felsengrund auszuweiten, der unter dem Kies von St. Josephs Acker hervortrat, und damit war der Anfang der Sprengungen gemacht.

Doktor Engelhardt war seit Xylanders Abreise wieder in seine Menschenscheu zurückgefallen. Er strich in den Schwarzwald, füllte die Herbarien, räumte sein 240 Sprechzimmer und begann jetzt die Übersiedlung ins Altenteil und in die Einsamkeit vorzubereiten.

Ruth ging der Hochzeit entgegen.

Um sie her brandete der Lärm der Arbeit. Es war kein Lärm mehr, sondern ein gewaltiger Rhythmus, der die ganze Landschaft beherrschte. Eisengerippe wuchsen empor, Rohrleitungen schossen durchs Gras, Lokomotiven fauchten, und zweitausend Arbeiter und Beamte bildeten den Chor dieser dröhnenden Sinfonie.

Im Juli brach ein Ausstand aus.

Als Engelhardt, der immer schlecht schlief, den Morgen hereinbrechen sah und den Klang der Hämmer, das Knarren der Winden, das Keuchen der Bagger nicht hörte, wußte er nicht, ob die Welt stillstand, oder ob er selbst ihr entrückt worden sei.

Dann sah er die braunen Männer mit den bunten Schärpen müßig um ihre Kantinen stehen und die Lokomotiven den Dampf abblasen. Den ganzen Tag fehlte ihm etwas.

Gegen Abend ging er hinaus. Die Helme von zwei Gendarmen blinkten. Aber die Arbeiter saßen friedlich auf den Baumstämmen und qualmten billige Schweizerzigarren. Er stieg zum Rhein hinunter. Das Bad war schon verschwunden. Ein Betonklotz ragte aus der Tiefe. Der Trockendamm stieß die Strömung nach dem anderen Ufer. Riesig erschien das Gerüst für das Stauwehr, und Engelhardt sah mit Staunen, wie tief sich die Bagger in die Ufer gefressen hatten.

Als am anderen Morgen die Arbeit wieder aufgenommen wurde, atmete er auf, so hatte er sich an ihren dröhnenden Gesang gewöhnt.

Von Hanns Ingold sahen sie wenig. nur manchmal seine Silhouette, wenn er die Arbeiten am Ufer überwachte.

Am 22. Juli räumten sie den ganzen Ostflügel des Hauses. Nun blieben noch vier Stuben und der Turm mit seinem unbewohnbaren Gelaß. Der Verkauf war 241 vollzogen. Doktor Engelhardts Sanatorium hatte aufgehört zu bestehen.

Ingenieure zogen ein, im Refektorium stand das Modell der Turbinenanlage. Im Lazarettraum lagen drei Arbeiter, einer mit einer ungeheuren Knieschwellung, zwei mit offenen Wunden.

»Ich will mir den Burschen mit dem Elefantenbein einmal ansehen. Meinst du, das geht?« fragte Engelhardt seine Tochter.

Sie errötete vor Freude über seine Regsamkeit.

»Sie werden sich sogar freuen. Warum praktizierst du eigentlich nicht? Das wäre ja prächtig!«

»Alles Messer- und Nadelarbeit,« antwortete er grob, aber er ging hin und half dem Kranken zu einer Packung und Salizyl.

Fortan ging er täglich zu den Kranken, und dann holten sie ihn in einem Notfall ins Italienerdorf, und er ging willig.

»Napoli« hatte der Volksmund die Ansiedlung getauft, und die Arbeiter selbst nannten sie nicht mehr anders.

Frauen und Mädchen bewegten sich mit südlicher Unbefangenheit zwischen den Baracken, und Engelhardt stand lange vor dem Pritschenbett, auf dem das blutjunge schwarzhaarige Ding mit der klaren braunen Haut in schlimmen Wehen lag.

Er schickte eine Frau mit einem Zettel an den Kollegen in Rheinau und zur Hebamme, blieb solange am Bett sitzen, versuchte die Leidende mit lateinischen Brocken zu trösten, die er ins Italienische umbog, und ging erst, als die wahre Hilfe kam.

Auf dem Rückweg hielt ihn ein Arbeiter an und drang mit heftigen Fragen auf ihn ein, zwei andere schrien dazwischen.

Hanns Ingold, der gerade vorbeiging, rief ihnen ein paar Worte zu, sie antworteten mit einem ganzen Schwall und kehrten zu ihrer Arbeit zurück.

Ingold zog den Hut und ging weiter.

242 Sein Gesicht war noch schärfer modelliert, die Schultern schienen breiter, wie geeignet zum Tragen der ungeheuren Verantwortung, die auf ihnen lag.

Er hatte keinen anderen Gedanken mehr als den Bau seines Werkes. Die Verlobung Ruths mit Gerhart Xylander war ohne Eindruck auf ihn geblieben. Er hatte nur rasch daraus den für sein Werk wichtigen Schluß gezogen, daß Xylander nun auch durch andere Fäden als rein materielle mit dem Kraftwerk am Lauffen verbunden sei. Alles andere war aus seinem Empfinden und seinem Gedächtnis getilgt, verzehrt von dem in unendlicher Glut wirkenden Gedanken an sein Werk.

Der Rhein war nicht mehr der Rhein, der Grund nicht mehr Heimaterde, die Arbeiter nicht mehr Menschen, alles war nur noch Sache, Widerstand oder Werkzeug. Persönliches Leben, eigene Gestalt hatte nur noch der Bau, der in gewaltigen Wehen aus der Erde und dem Felsenbett des Stromes gehoben wurde.

Ingold trat ins Bureau. Durch die dünnen Backsteinwände drang die Sommerglut. Das Hämmern und Pochen der Maschinen erfüllte die leeren Räume mit dumpfem Getöse. Er ging in sein Privatzimmer und riß die weiße Arbeitskutte vom Nagel.

Tief bückte er sich über den Plan.

Seit Hermann ihm geschrieben hatte, war die innere Hemmung überwunden, und obwohl er dem leidenschaftlichen Brief, in dem der Bruder die Partei des Vaters nahm, keine große Bedeutung beimaß, war er doch getrieben worden, die Sache einmal anders anzupacken.

Er arbeitete bis tief in die Nacht. Still und dunkel lag das große Arbeitsfeld, als er das Fenster aufriß und sich hinauslehnte. Gigantisch ragten die Gerüste; durch die eisernen Gittertürme, die die Drahtrollen trugen, rann das Mondsilber. Und plötzlich hörte er den Lauffen rauschen, und dann sah er den Schattenriß des Klosters St. Joseph aus dem Dämmern der Sommernacht tauchen. Vom spätblühenden Holunder strömte herber Duft.

243 Er hatte eine neue Lösung gefunden. Das Haus des Vaters konnte stehen bleiben, wenn er den Untergrund durch einen Zementklotz verstärkte und der Strömung durch Versenkung von betonierten Steinmassen glatte Bahn schuf. Es war eine Ausgabe von fünfundzwanzig- bis dreißigtausend Mark. Für die Gesellschaft war es hinausgeworfenes Geld. Das Werk gewann nichts durch die Variante, die, technisch genommen, keine Verbesserung darstellte. Aber er hatte seine Freude daran, und der ganze Plan schien ihm gewonnen zu haben, seit er dem alten Mann das Haus gerettet hatte.

Am frühen Morgen ging er zum kaufmännischen Direktor nach Rheinau und erklärte sich bereit, die Kosten auf sein Konto zu übernehmen.

»Und wenn Ihr Vater stirbt, steht das Haus auf seinem Sockel am Wasser wie ein Mausoleum. Wollen Sie Ihrem alten Herrn nicht lieber die dreißigtausend Mark über den Enteignungspreis hinaus anbieten lassen? Er wird doch nicht so verrannt sein, auch das abzulehnen. Er hat doch Kinder.«

Ingold zuckte die Achseln.

»Kinder? Ja, der Lorenz nähm' das Geld, der nähme elftausend und dünkte sich König. Der Junge, der Hermann, nimmt nichts, der ist jetzt in dem Alter und in der Fassung, wo man Welten verschenkt. Und mein Vater, der bleibt in seinem alten Haus, und wenn wir ihm das Gold zu Haufen schütten. Geben Sie nur die Variante beim Bezirksamt ein, in acht Tagen kann die Genehmigung da sein.«

Es war einer jener Sommertage, an denen die Sonne mit verminderter Kraft schien, um am Abend plötzlich mit blendender Strahlenfülle aus dem Gewölk zu brechen.

Hanns Ingold ließ die Karte in den Briefkasten fallen, auf der er Hermann kurz und kühl geschrieben hatte, daß eine Änderung des Planes es möglich mache, das Haus am Lauffen zu erhalten. Dann ging er durch das enge, vom Verkehr brausende Städtchen zur Brücke.

244 Sie stand noch, aber ihre Tage waren gezählt. Sobald der Lauffen gesprengt war, wurde auch sie abgetragen und die Pfeiler gesprengt, an denen jetzt noch das Wasser gestaut aufschäumte.

Er blickte auf das Elternhaus hinunter. Das grünbemooste Dach glänzte wie ein Smaragd in der Abendsonne, die von Westen her das Strombett füllte und den Rhein bis in die Tiefe durchglühte.

Die Warntafel am Fischersteg war sogar von hier oben sichtbar.

Der Saumweg war schon seit Tagen gesperrt, denn nun hatten die Sprengungen am Ausgang der Enge begonnen, um von dort aus allmählich bis zur Brücke hinaufgerückt zu werden. Die Arbeiten zur Verstärkung des Hauses mußten unverweilt angegriffen werden.

Als er noch einmal hinunterblickte, sah er den Vater im Gärtlein.

Hastig wandte er sich ab und ging über die Brücke auf das andere Ufer, wo die Feldbahn schon drei Kilometer weit stromabwärts bis zum Profil der Kammerschleuse ausgebaut und in Betrieb war.

Er stieg auf die Lokomotive des Leerzuges und verlor den Lauffen rasch aus dem Gesicht.

Ruth hatte ihn noch aus dem Brückenschatten ins Freie treten sehen.

Sie war mit Frau Xylander, die asthmatisch war, sehr langsam gegangen, und so kamen die Damen erst jetzt auf der Brücke an.

Die Kommerzienrätin blickte etwas gelangweilt auf das Bild und hielt sich von der Brüstung fern, denn ihr schwindelte bei fließendem Wasser. Sie war im Automobil von St. Blasien gekommen und war angenehm überrascht gewesen, in Ruth eine Dame von Haltung und einer ihr weit überlegenen Bildung zu finden. Eigentlich hatte sie sich das Mädchen immer als halbe Krankenschwester vorgestellt.

245 »Dort geht jemand,« sagte sie auf einmal und wies mit dem Schirmstiel ins Geklüft.

»Da drunten ist der alte Fischerweg, aber er ist jetzt gesperrt. Die rote Fahne hängt schon über dem Felsen, und um halb sieben Uhr fangen sie an zu sprengen.«

Ruth gab die Erklärung in aller Ruhe.

Aus weiter Ferne kam der klägliche, plärrende Ton eines Hornes. Es war das Warnzeichen vor Beginn der Sprengungen.

»Der alte Mann klettert ruhig weiter,« sagte Frau Xylander verwundert.

Da warf sich Ruth in plötzlicher Angst ans Geländer und schrie:

»Herr Ingold. Vater Ingold!«

Das eintönige Rauschen des Rheins verschlang ihren Schrei. Noch einmal schrie sie in wilder Angst, weit über die Brücke gelehnt, in deren Dachhöhlung ihre Stimme widerhallte.

Dort unten der Mann, der lief in den Tod, stieg gelassen über die Lauffensteine, klemmte sich den uralten Pfad zwischen den überhängenden Felsen und dem kochenden Strom entlang, vom Wasser überschlagen, von Gischt beperlt, das Fangnetz auf der Schulter, ging an der Warntafel vorbei und sah auch das rote Fähnlein nicht, das Gefahr kündete. Er wollte es nicht sehen.

»Schnell zum Wagen, Mama! Wir müssen zur Zentrale. Sie dürfen nicht schießen!«

Als Ruth den Fischmeister zum letztenmal sah, bog er gerade um die Felsnase in den äußeren Paß, wo früher sein Kahn für den Fang im unteren Strom gelegen hatte.

Christian Ingold ging den feuchten Weg wie seit fünfzig Jahren.

Auf den dunstigen Tag war der klare Abend gekommen. Da standen die Fische in den wallenden Töpfen und warteten auf die Beute, die der Rheinstrudel ihnen zutrug. Geflügelte Schrecklein und Motten, die er 246 durchkältet und aus der Luft herabgerissen, und geringe Fischbrut, die sich zu weit in die Strömung gewagt hatte.

Das ewige Rauschen der Wasser war um ihn her, draußen im Wirbel lag rote Sonne, in sieben Farben spielte die Flut. Er atmete den Rhein, er spürte ihn im Haar und Bart, er ging im Gleichmaß der Tage, alter Ordnung treu, und stockte erst, als plötzlich der Weg vor ihm unnatürlich weit wurde, das Gestein durcheinandergeschüttet lag, der Fels mit tiefen roten Schrunden um ihn her hing, und in dem versprengten Trichter, der beim niederen Wasser vom Strom abgeschnitten war, schwere rote Erdkrumen aufschlugen, die wie Tränen über die überhängende Felswand rannen und schwer ins verfärbte Becken fielen.

Christian Ingold starrte auf die Verwüstung, und die Hand vergaß, das Netz zu halten. Die Bleisenkel zogen es ihm von der Schulter, in tausend Maschen stürzte es hinab.

Mit verzweifeltem Schlag sprang ein starker Salm, den der Erdteig im verschütteten Trichter erstickte, aus dem roten Wasser und hart auf den ausgeschachteten Pfad. Der silberne Leib, die rosigen Flossen glänzten, hoch auf sprang er noch einmal in zuckender Qual.

Da bückte sich der Fischmeister langsam, während vom St. Josephs Acker her noch einmal das Horn erscholl, faßte ihn mit den rauhen, griffsicheren Händen, wiegte ihn einen Augenblick und schleuderte ihn, der wie ein silbernes Schwert die Lust durchschnitt, weit hinaus in den grünen Sturz des Rheins.

Doch kaum geschah's, da krachte der erste Schuß, der zweite, der dritte, donnerte die Kluft, löste sich der Felsenhang, stiegen Erdsäulen, stürzten Steintrümmer, und in rotem Staub und weißem Dampf verging Christian Ingold die Welt.

Nach einer Weile fiel noch ein letzter Schuß, schwach, wie zögernd, als wüßte die Patrone, was geschehen war.

247 Hoch über den Lauffen stiegen die rotbraunen Rauchbüschel der Sprengschüsse. An den Bergen verlief ersterbender Widerhall.

Dann schrie ein Vogel, nein, die Trompete eines Automobils, und nun ein Rennen, ein Klettern und Jagen, vorwärts, die Schüsse sind los, herunter die Fahne, hinein in die Kluft, am Wasser hin, das schon den letzten Erdbrei fortgespült hatte und wieder unbekümmert in die Ferne toste.

Sie fanden den Fischmeister von Rheinau, von der Lauffenwand erschlagen, neben seinem Netz niedergestreckt. Der Rhein wusch ihm sanft das blutige Gesicht.

Als Ruth Engelhardt sich zu ihm durchgekämpft hatte, fiel sie weinend an der Leiche des alten Fischers nieder, und die Ingenieure und die Arbeiter starrten wie Schuldbeladene auf die schöne Signorina, die das zerschlagene Haupt in ihren Schoß nahm und im kältenden Schatten des Rheins und des Todes kauerte, bis die Tragbahre kam, auf der sie Hanns Ingolds Vater aus dem Lauffen trugen.

Hanns war noch am linken Ufer. Ein Gerücht lief zu ihm und meldete, daß ein Unglück geschehen sei. Er kletterte über das Brückengerüst.

Dort stand Doktor Engelhardt mit dem Sprengingenieur.

Hanns faltete die Brauen.

»Was ist geschehen?«

Engelhardt trat auf ihn zu.

»Es trifft niemand eine Schuld, Ingold. Hören Sie, niemand! Und jetzt kommen Sie, ich weiß, Sie sind ein Mann.«

Und Schritt für Schritt führten sie ihn zu dem roten Haus, in dem er diese Nacht die Variante zu seinem Werk ausgearbeitet hatte. Schritt für Schritt. Sie gaben ihm kurzen Bericht.

Als er eintrat, wußte er alles.

Auf einem Feldbett, zwischen Plänen und Skizzen, lag sein Vater.

248 Aber das Gesicht war fremd und friedlich zugleich, über die tödliche Wunde an der Schläfe fiel das vom Rhein gewaschene weiße Haar.

Wie von Frauenhand gebettet lag er, und vornüber fiel stumm und tränenlos sein Sohn und umfaßte den erstarrten Leib mit klammernden Armen. 249

 


 


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