Henrich Steffens
Was ich erlebte
Henrich Steffens

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Universitätslehrer in Kopenhagen und Halle

1802 – 1807

Die Wende des Jahrhunderts erlebte Steffens in dem stillen Orte Tharandt bei Dresden. Eine reiche Zeit fleißiger Studien, angenehmer Zerstreuungen und schöner Hoffnungen fand ihre Vollendung in einer Reihe bedeutender Bekanntschaften. Runge malte hier, der tiefe und fromme Künstler, der die Kunst ganz im religiösen Sinne auffaßte und den gleichgestimmten Steffens mit seinen Ansichten zu fesseln verstand. Der Kapellmeister Friedrichs des Großen, Johann Friedrich Reichardt, wohnte nach Jahren der Reise, die er in Italien, Paris und London zugebracht hatte, in der Nähe, in Halle, auf dem Giebichenstein. Als ihn die Ungnade von Friedrichs Nachfolger, Friedrich Wilhelm II., wegen anscheinender revolutionsfreundlicher Ansichten getroffen hatte, war er aus Berlin weggezogen und saß jetzt als Salinendirektor in Halle. Sein Stiefsohn aus der ersten Ehe seiner Frau, die eine geborene Alberti aus Altona war, hatte mit dem Dichter Ludwig Tieck zusammen in Berlin das Friedrichs-Gymnasium besucht und brachte nun, zudem als Tieck nun auch in Halle studierte, eine Schar junger, interessierter Menschen ins Haus. Novalis und Friedrich Schlegel gingen bald aus und ein, und manche ernste oder frohe Stunde romantischer Geselligkeit wurde auf dem Giebichenstein gefeiert. Nun gewann die siebzehnjährige Tochter Reichardts die Liebe Steffens'. Als die Studienzeit in Tharandt zu Ende ging, gab es für diesen zwar einen schmerzhaft bewegten Abschied von den Freunden in Jena, Freiberg und Dresden; aber Steffens blieb hinfort nicht nur wie mit unsichtbaren Banden an den Geist dieser Plätze gefesselt, sondern er ließ auch in Giebichenstein die Braut zurück. Nach einem Jahre, ward beschlossen, sollte der Bräutigam wiederkommen und die Verlobte als Frau mit sich nach Kopenhagen nehmen.

Graf Schimmelmann empfing den Zurückgekehrten mit derselben Güte, die diesen bereits vor seiner Abreise vor fünf Jahren beglückt hatte. Jetzt stand ein Mann vor dem Minister, der mit seinen dreißig Jahren schon Bedeutendes für die Zukunft versprach.

Als Doktor einer dänischen Universität hatte er das Recht, Vorlesungen zu halten: Philosophie und Erforschung der Erdoberfläche sollten die Themen sein. Die Gebirge Norwegens waren in ihrer geologischen Beschaffenheit noch völlig unbekannt. Viele Dänen würden später als Beamte dort zu tun haben. Der Plan, diese erdkundlich zu unterrichten, gefiel dem Minister. Zur ersten Vorlesung eilten vier- bis fünfhundert Menschen herbei. Steffens hatte freilich nicht die Erdkunde, sondern die Philosophie als Thema gewählt. Dies lag ihm mehr am Herzen, aber es war unklug von ihm. Er rechnete in seiner Jugend noch nicht mit dem Neide. Es war ein hervorquellender Strom, der die Zuhörer umspülte und sie begeisterte. Solche leidenschaftlichen Töne hatte Kopenhagen noch nie gehört. Das war ein Abgesandter aus dem Reiche, ein Schüler Schellings und Fichtes, der da redete; ein Mann, der Goethe verstanden zu haben glaubte und von dem edlen und freien Schwung des lebendigen deutschen Geistes seinen Hörern etwas vermittelte. In der zweiten Stunde saßen Professoren, Beamte, Gelehrte, Ärzte und viele Leute aus der Stadt, die im stillen von mancherlei Zweifeln gequält worden waren, unter den Zuhörern. Was Steffens vortrug, war nicht eine kalte Lehre, sondern eine Gesinnung. Der Gegenstand bekam unter den Worten des Redners etwas Heiliges. Aber dies war auch die äußerste Grenze dessen, was die berufsmäßigen Hüter der religiösen Einrichtungen des Staates sich von einem Außenseiter gefallen lassen konnten. Sie protestierten, und zwar zuerst durch Verleumdung.

Schimmelmann schickte seinen Schützling auf eine geologische Forschungsreise durch Schonen, Seeland, Holstein und Mecklenburg, auf der »der Naturphilosoph« praktische Möglichkeiten zur Verbesserung der Bodenausnützung erkunden sollte, um dadurch seine Nützlichkeit für den Staat zu beweisen.

In diesen Monaten hatte aber die Macht des korsischen Eroberers sich bereits wie ein dunkles, unheildrohendes Verhängnis zwischen die dänischen Besitzungen im Norden und das für Steffens so teure Preußen geworfen. Die französische Armee hatte ganz Hannover besetzt, Gerüchte über Straßensperrungen beschleunigten den Entschluß, die Braut heimzuholen. Am 4. September 1803 konnte in Halle die Hochzeit stattfinden. Steffens reiste mit seiner jungen Frau über Berlin nach Kopenhagen zurück.

Nun lagen zwar die Ergebnisse der geologischen Untersuchungen der Behörde vor; Steffens hatte den Gipsbruch von Segeberg genau studiert, er hatte auch die Oldesloer Saline auf ihre Gewinnsteigerung hin untersucht. Aber die Behörde machte von der Ausbeute keinen Gebrauch. Die Ansicht, daß jener, der sie angestellt, ein Phantast sei, hatte sich bereits unüberwindlich bei ihr festgesetzt. Ein beschränkter Doktrinär, der Graf Reventlow, war der zuständige Minister in dieser Sache. Steffens konnte seine Vorlesungen zwar fortführen, aber die Widerstände der Mißgestimmten und der Neider mehrten sich. Kein Wunder, daß oft der Wunsch in Steffens' Seele entstand, Kopenhagen zu verlassen und sich in dem Lande, das, seine geistige Heimat von früh an, nun auch seine zweite wirkliche geworden war, sich einen Wirkungskreis zu suchen; war doch nun auch das Schicksal einer geliebten Frau – und bald auch das eines Kindes – an das eigene geknüpft.

Da trug sich im Märzmonat des Jahres 1804 in Berlin der Kabinettsrat Beyme mit der Absicht, der Universität Halle durch Berufung jüngerer und bereits bekannter Gelehrter neuen Glanz und Ruhm zu verschaffen. Er wandte sich durch Vermittlung des berühmten Anatoms Reil auch an Steffens in Kopenhagen und ließ bei diesem anfragen, ob er die Naturphilosophie, die Physiologie und die Mineralogie in Vorlesungen an der Universität Halle vertreten könne. Steffens bejahte aufs freudigste die Anfrage. Sie traf gerade mit der Geburt seines ersten Kindes zusammen, und es schien, als würde die Vorsehung ein ungetrübtes Glück für die Familie in Bereitschaft haben. Aber – wie oft dämpft sie doch unser Begehren – der Gewinn des einen Glückes mußte mit dem Verlust des andern erkauft werden: zwar traf die Berufung nach Halle ein, aber das Kind starb zum tiefen Schmerze der Eltern schon nach wenigen Wochen. Die Trauer bei dem Verlust eines Kindes gehört gewiß zu dem Tiefsten, das ein Mensch empfinden kann. Der Ausdruck, daß Mann und Weib eins sind, findet, ausgedehnt auf das Kind, seine volle und unergründliche Bedeutung; und nur die Ahnung, daß der Tod eine Entwicklung ist, trägt den Keim der Hoffnung in das durch Trauer verdüsterte Gemüt der Eltern.

Deutsche Freunde erwarteten das Paar und nahmen es herzlich auf; den Schwiegereltern brachte der Mann ein Jahr nach der Hochzeit die geliebte Tochter in die gleiche Stadt, nach Halle zurück.

*

Es war nun freilich diese Opposition der empirischen Physik, die in meiner nächsten Umgebung stattfand, nicht sehr bedeutend. Aber man glaube nicht, daß ich ihre große Gewalt im ganzen verkannte. Mir selbst war noch keineswegs das Verhältnis der Naturphilosophie zur Physik des Tages völlig klar geworden. Ich mochte wohl glauben, in jener eine ars inveniendiEine Kunst des Findens. zu besitzen, die einen realen Einfluß auf die Entwicklung der Physik und auf die Art der Behandlung physischer Gegenstände auszuüben vermochte. Ich sah noch nicht mit völliger Klarheit ein, daß die Naturphilosophie und die empirische Physik, schon durch ihre Prinzipien geschieden, sich jede auf ihre Weise und voneinander getrennt entwickeln müssen; daß sie zwei durchaus verschiedene Wissenschaften bildeten; daß eine jede Einmischung der Philosophie in die Physik nur störend wäre; daß diese Störung gefährlich sein würde, wenn sie nicht, wie freilich ein unbefangener Sinn bald entdecken mußte, eben von den tüchtigsten, klarsten und strengsten Naturforschern, und zwar ganz entschieden, abgewiesen würde. Die Naturphilosophie ist der Empirie gegenüber eine durchaus ideale Wissenschaft, und zwar eben deswegen, weil ihre Realität in dem All liegt. Der Einfluß daher, welchen die Philosophie auf eine jede empirische Wissenschaft ausübt, ist notwendig in der Partikularität der Entwicklung der letzteren unscheinbar. Ja, dieses gilt nicht bloß von der empirischen Physik, sondern auch von der Geschichtsforschung. Alle Empirie geht von dem gegebenen Zusammenhang der Dinge und ihrem Verhältnis aus; selbst wo sie auf die Entdeckung allgemeiner Gesetze gerichtet ist, sind diese in ihrer Äußerung durch ganz bestimmte sinnliche Verhältnisse bedingt, und ihr Wert hängt eben von der strengen Auffassung dieser Bedingungen ab. Was jenseit derselben liegt, darf für den Naturforscher keine Bedeutung haben. War nun diese Trennung beider Wissenschaften mir selbst nicht klar, wie konnte ich erwarten, daß sie den Naturforschern einleuchten sollte? Und dennoch begriff ich sehr wohl, daß diese meine entschiedenen Gegner sein würden und daß sie mit der ganzen Gewalt der gesetzmäßigen Wirklichkeit gegen mich auftreten müßten. Meine Zuversicht war indessen so groß, meine innere Überzeugung so fest, ich fand mich durch die Begeisterung der mich umgebenden Jugend so gehoben, daß weder die anerkannte Macht der Gegner noch die mir wohlbekannten Schwierigkeiten der Ausbildung der Wissenschaft mich irremachen oder stören konnten.

Ich wurde durch eine Verbindung von Männern, die, zufällig in drei Fakultäten verteilt und so in den verschiedensten Richtungen tätig, die wahrhaft lebendige Zukunft der sonst stagnierenden Universität darstellten, unterstützt und gefördert. Wolf,Vgl. Seite 138 Anmerkung 2., der Philolog, stand in der Blüte seines Rufes, und seine Schule hatte die mächtigste Entwicklung erreicht. Seine tiefbegründete Gelehrsamkeit, seine scharfe Kritik, die Zuversicht und Sicherheit, mit welcher er hervortrat, wohl auch sein beißender, nicht selten schonungsloser Witz, imponierten, und neben ihm gab es in seinem Fache, wenigstens in Halle, keinen, der eine andere, am wenigsten entgegengesetzte Meinung, zu äußern wagte. Er bildete die absolute Autorität in seinem Fache; man fürchtete ihn.

Die Jugend wird selten in einer Richtung geistig aufgeregt, ohne zugleich für andere Richtungen empfänglich zu werden; und Wolfs bedeutendste Schüler wurden meine fleißigsten Zuhörer.

In der medizinischen Fakultät stand ReilJohann Christian Reil, geboren 1758, starb 1813 in Halle als Direktor der preußischen Lazarette; er war ein bedeutender Anatom des Gehirns und der Nerven, verdient um die Physiologie der Lebenserscheinungen und der Fieberlehre; »Erkenntnis und Heilung der Fieber«, Halle 1799. fast ebenso bedeutend da, als Wolf in der philosophischen. Auch er hatte, wie dieser, in der ganzen literarischen Welt einen entschiedenen Ruf erlangt. Meckel, der Ältere, der berühmte Anatom, war kurz vor meiner Ankunft gestorben; sein Sohn, der später einen so großen Namen erlangte,Johann Friedrich Meckel der Jüngere, 1781-1833, Professor in Halle, einer der bedeutendsten Lehrer und Forscher der normalen, vergleichenden und pathologischen Anatomie und Begründer eines nach ihm benannten anatomischen Museums; »Handbuch der pathologischen Anatomie«, 1812. war noch in seiner Entwicklung begriffen und reiste mit Koreff nach Paris. Spengler, der unermüdet arbeitsame und kenntnisreiche Mann, der für die Geschichte der Medizin, wie für die Botanik, bis in sein höchstes Alter rastlos Material anhäufte, konnte auf die Studierenden keinen großen Einfluß ausüben; doch begünstigte auch er naturphilosophische Ansichten. Reil, fortdauernd mit fast riesenhaften Plänen beschäftigt, in der Wissenschaft wie im Leben, hatte zwar in Halle, wie bei den höchsten Berliner Behörden, mächtige Gegner zu bekämpfen, aber er beherrschte sie ganz. Als praktischer Arzt hatte er die größte Autorität in Halle wie in der ganzen Umgegend, und obgleich seine entschiedene Weise die verzärtelten Patienten oft zurückschreckte, so kannte man doch, wenn die Krankheit eine gefährliche Richtung nahm, keine Hilfe als seine. Sein Einfluß hatte mich nach Halle berufen; er blieb mir, solange er lebte, unveränderlich treu, und obgleich seine Bildung, seine scharf ausgeprägte Eigentümlichkeit und seine ganze wissenschaftliche wie praktische Beschäftigung ihm nicht erlaubten, sich in die Grübeleien der Naturphilosophie einzulassen, so hatte er doch Sinn genug, um einzusehen, daß das Leben lebendig aufgefaßt werden müßte. Er wies die jungen Ärzte an mich, und durch ihn herrschte unter diesen, wie kaum jemals, ein wissenschaftlicher Geist, der desto heilsamer war, weil das philosophische Studium zwar einen freieren Blick auf das Eigentümliche warf, aber auch durch ihn, ich darf es sagen, wie durch mich, von einem jeden voreiligen und störenden Einfluß abhielt. Ich glaube nicht, daß man behaupten kann, es hätten sich, während Reil und ich auf die Bildung der Studierenden in Halle wirkten, einseitig theoretisierende Ärzte gebildet. Jene Hypothesen, die in unseren Tagen die Arzneikunde an relative und einseitige Prinzipien knüpfen, erhielten erst ihre Gewalt, nachdem eine umsichtige, spekulative Philosophie, welche die Eigentümlichkeit mit geistiger Freiheit auffaßt und ihr Recht widerfahren läßt, aus dem medizinischen Studium verschwunden war. Mir war aber die Verbindung mit Reil im höchsten Grade wichtig. Ich nahm, solange ich mit ihm zusammenlebte, den innigsten Teil an allen seinen Untersuchungen.

Friedrich Schleiermacher. Gipsbüste von Christian Rauch.

Aber ich sollte hier einen Mann treffen, der von neuem Epoche in meinem Leben machte. Es war Schleiermacher,Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher, 1768-1834, in Breslau geboren, im Geiste der Herrnhuter Brüdergemeine und ihrer Lehre erzogen, daß sich die Versöhnung von Gott und Mensch im lebendigen Glauben des Einzelnen ständig erneue; der führende Theologe seiner Zeit. 1796 Prediger an der Charité in Berlin, hatte er 1799 in den berühmten »Reden über die Religion« – den Romantikern nahe – die Quelle der Religion im Gemüt gefunden, Religion als schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl dem Unendlichen gegenüber bezeichnet. Er kam 1804 als Professor nach Halle. der zugleich mit mir, oder wenige Wochen nachher, als Professor extraordinarius nach Halle berufen ward. Schleiermacher war bekanntlich (denn viele haben ihn noch gekannt und erinnern sich seiner) klein von Wuchs, etwas verwachsen, doch so, daß es ihn kaum entstellte. In allen seinen Bewegungen war er lebhaft, seine Gesichtszüge höchst bedeutend. Etwas Scharfes in seinem Blick mochte vielleicht zurückstoßend wirken. Er schien in der Tat einen jeden zu durchschauen. Er war einige Jahre älter als ich. Sein Gesicht war länglich, alle Gesichtszüge scharf bezeichnet, die Lippen streng geschlossen, das Kinn hervortretend, das Auge lebhaft und feurig, der Blick fortdauernd ernsthaft, zusammengefaßt und besonnen. Ich sah ihn in den mannigfaltigsten wechselnden Verhältnissen des Lebens, tief nachsinnend und spielend, scherzhaft, mild und erzürnt, von Freude wie durch Schmerz bewegt: fortdauernd schien eine unveränderliche Ruhe, größer, mächtiger als die vorübergehende Bewegung, sein Gemüt zu beherrschen. Und dennoch war nichts Starres in dieser Ruhe. Eine leise Ironie spielte in seinen Augen, eine innige Teilnahme bewegte ihn innerlich, und eine fast kindliche Güte drang durch die sichtbare Ruhe hindurch. Die herrschende Besonnenheit hatte seine Sinne auf eine bewundernswürdige Weise verstärkt. Während er im lebhaftesten Gespräch begriffen war, entging ihm nichts. Er sah alles, was um ihn her vorging, er hörte alles, selbst das leise Gespräch anderer. Die Kunst hat seine Gesichtszüge auf eine bewundernswürdige Weise verewigt. Rauchs Büste ist eins der größten Meisterstücke der Kunst, und wer mit ihm so innig gelebt hat wie ich, kann fast erschrecken, wenn er sie betrachtet. Es ist mir oft, noch in diesem Augenblick, als wäre er da, in meiner Nähe, als wollte er die streng verschlossenen Lippen zum bedeutenden Gespräch öffnen.

Wir schlossen uns ganz und unbedingt aneinander, und ich habe es nie auf eine entschiedenere Weise erfahren, daß eine unbedingte Hingebung die Selbständigkeit fördert, nicht unterdrückt. So hatten mich Goethe, Schelling, Tieck ganz gewonnen wie jetzt Schleiermacher. Was man seinen Spinozismus zu nennen beliebte, war eben dasjenige, was mich am meisten anzog, weil er nicht in der Form einer Naturnotwendigkeit, vielmehr als die lebendigste Quelle der unbedingten Freiheit erschien. Seine Kritik der Sittenlehre»Grundlinien einer Kritik aller bisherigen Sittenlehre«, 1803. war schon seit einem Jahre gedruckt. Allerdings war seine Darstellung dialektisch-negativ, aber die Realität eines Positiven, Allumfassenden, alle Negation in der Einheit Verklärenden, durchdrang ihn. Und durch meinen Freund TwestenAugust Detlev Christian Twesten, 1789-1876, Oberkonsistorialrat in Berlin. ist es bekannt geworden, wie sehr er in meine naturwissenschaftlichen Ansichten einging, wenigstens insofern diese in der größern Allgemeinheit sich aussprachen. Wir lebten aufs innigste miteinander verbunden, wir teilten Ansichten, Gedanken, ja Neigungen. In der Reichardtschen Familie lebte Schleiermacher wie ich; Spaziergänge, Lustpartien, Gesellschaften waren gemeinschaftlich; unsere besten Zuhörer, diejenigen, denen es Ernst war, gehörten uns beiden zu. Seine ethischen Vorträge und meine philosophischen schienen den Zuhörern aufs innigste verbunden, sie ergänzten sich. Aber auch wir tauschten, was wir wußten, wechselseitig ein, und wenn Schleiermacher meine physikalischen Vorträge hörte, so schloß er mir die griechische Philosophie auf, und durch ihn lernte ich Plato kennen. Es kann hier, wo ich meine persönliche Beziehung zu ihm darzustellen habe, nicht meine Absicht sein, seine höchst bedeutende, in der Theologie eine neue Zukunft der Wissenschaften entwickelnde Stellung zu beurteilen, mir fehlen die Kenntnisse, die dazu nötig sind, wenn auch hier der richtige Ort wäre. Aber was sein Umgang und, mit diesem verbunden, seine Schriften mir geworden, wie tief sie in den Entwicklungsgang meines eigenen Lebens eingedrungen sind, vermag ich mir selbst kaum klarzumachen, noch weniger darzustellen.

Je tiefer, ernster, ja religiöser Schleiermacher Leben und Wissenschaft betrachtete, desto entschiedener wies er, wie in wissenschaftlichen Darstellungen so auch im Leben, alles zurück, was ihm nichtig und wertlos erschien. Ja er liebte es wohl damals noch, mit diesen Formen ein leichtes Spiel zu treiben. Viele, oft entstellte Gerüchte liefen in der Stadt herum und wurden auch wohl weiterverbreitet. Man erzählte sich, wie der Professor der Theologie in einer kurzen grünen Jacke, hellen Beinkleidern, und eine Blechbüchse über die Schulter tragend, botanisieren ging.

Im Frühling 1806 reiste ich mit Schleiermacher, seiner Schwester (welche später an Moritz Arndt verheiratet) und Herrn v. Voß nach Berlin. Der Frühling war reizend und Berlin im höchsten Grade bewegt.

HumboldtAlexander von Humboldt, 1769-1859, hatte von 1799-1804 die tropischen Länder Amerikas bereist und beschäftigte sich zu dieser Zeit mit der Ordnung seiner Sammlungen. ein Jahr früher aus Südamerika zurückgekehrt, hielt sich jetzt in Berlin auf. Zwei Gartenhäuser von gleicher Gestalt lagen hinter dem weitläufigen, jetzt fast ganz mit Häusern besetzten Garten des Georgeschen Hauses in der Friedrichstraße, von Bäumen umgeben. In dem einen wohnte Humboldt, in dem andern Johannes Müller.

Berlin fanden wir in einer großen Gärung, man kann sagen, es war der Glanzpunkt der Stadt vor ihrem furchtbaren Unglück. Mich zogen die Gelehrten, die dort ein allgemeines Interesse erregten, zunächst an.

Daß ich Johannes MüllerJohannes von Müller, 1752-1809, der Geschichtsschreiber der Schweiz, war damals Sekretär der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Seine »Geschichte schweizerischer Eidgenossenschaft« in 5 Bänden, 1780-1805, begründete seine Berühmtheit. jetzt kennenlernte, betrachtete ich als ein vorzüglich glückliches Ereignis. Seine Schweizer-Geschichte kannte ich und hatte sie mit der größten Teilnahme gelesen. Die Gründlichkeit seiner Studien hatte in mir Achtung, der Geist, der durch seine Darstellung hindurchblickte, Bewunderung erregt. Seit den Toggenburger Streitigkeiten schien ein nagender Wurm in dem Innersten des kühnen einfachen Volkes verborgen, lange nur wie ein Stachel, der alle Kräfte belebte, die rasche Entwicklung des Volkes steigerte, bis zum wunderbaren Blütepunkt der Macht, die sich in dem gewaltigen Kampf gegen Karl den Kühnen entfaltete und den tragischen Untergang der mächtigsten und glänzendsten Persönlichkeit seiner Zeit herbeiführte. Aber am grauenhaftesten erschien es mir, daß der Untergang die Sieger wie die Besiegten traf. Durch die verpestete Gesinnung waren diese der lauernden Politik Ludwigs XI. preisgegeben, und die dunkle Nacht, die sich hinter die Verhältnisse aller geschichtlichen Völker verbirgt, ergriff mich, als ich Johannes Müller las, zuerst auf eine seitdem unvertilgbare Weise. Dieser Geschichtsforscher war lehrhaft und seine Bekanntschaft mir auch für meine Studien wichtig. Es waren einige Versuche, die Geschichte naturphilosophisch zu konstruieren, erschienen, die seinen Unwillen im höchsten Grade erregt hatten. Als Kritiker hat er streng seinen Zorn in einigen Rezensionen in der Jenaer Literaturzeitung ausgesprochen. Obgleich ich nun seine mehr künstlerische als spekulativ forschende Art sehr wohl erkannte, ja seine völlige Unfähigkeit, sich von der Vereinzelung der Forschung, geistig betrachtet, loszureißen, einsah, so mußte ich ihm dennoch in vielen Äußerungen beistimmen, und sein Kampf gegen eine vorlaute Spekulation trat mir warnend entgegen.

Am wichtigsten aber war mir die Bekanntschaft mit Alexander von Humboldt. Ich hatte schon lange das bewundernswürdige Talent dieses Naturforschers anerkannt. Seine unterirdische Flora, seine geognostischen Untersuchungen, die zuerst auf eine allgemeine Gleichförmigkeit in der Schichtung der älteren Gebirge aufmerksam machten, eine Ansicht, die, wenngleich in ihrer ursprünglichen Gestalt einseitig hervortretend, dennoch als der erste lebendige Anstoß, aus welchem sich eine neue Geognosie entwickelte, betrachtet werden muß; seine ausführliche Schrift über die gereizten Muskel- und Nervenfasern, die sich unmittelbar an die Erscheinungen anknüpfte, die durch Volta eine neue Physik schufen, in deren unvollendeter Bearbeitung die Naturwissenschaft unserer Tage noch begriffen ist; seine eudiometrischenMessungen des Sauerstoffgehaltes der atmosphärischen Luft. Versuche, die freilich zu einem Resultat führten, welches verworfen werden mußte, aber dennoch dazu beitrugen, das Richtigere zu entwickeln: – alle diese Arbeiten, der bewegliche Geist, der mit Leichtigkeit alle die wichtigsten Probleme seiner Zeit ergriff, ihre geschichtliche Bedeutung erkannte und in rastlose Tätigkeit versetzte, ließen mich in diesem Mann einen der ersten und bedeutendsten Geister seiner Zeit erkennen. Einige blinde enthusiastische Äußerungen jüngerer Naturphilosophen hatten mich in eine schiefe Stellung zu ihm versetzt. Ob sie ihm, unbedeutend und vorübergehend, wie sie waren, bekannt wurden, wußte ich nicht, ja ich weiß es bis zu diesem Augenblick noch nicht: aber je entschiedener ich ein jedes Talent, welches ich selbst nicht besitze, achte, je williger ich mich ihm hingebe und unterwerfe, desto mehr ängstigte mich meine dadurch hervorgerufene Stellung gegen ihn. Doch diese Angst dauerte nur kurze Zeit. Ich sah Humboldt fast täglich. Seine Gespräche waren im höchsten Grade lehrreich; der unermeßliche Reichtum der Beobachtungen, die, nach allen Richtungen der Naturwissenschaft ausgedehnt, alle Naturverhältnisse einer bedeutenden, bis jetzt unbekannten, ja unzugänglichen Region eines ganzen Weltteils mächtig umfaßten und dadurch die Notwendigkeit, die ganze Erde auf ähnliche Weise zu betrachten, unvermeidlich hervorriefen, überwältigten mich fast. Ich sah den Schöpfer der physikalischen Geographie vor mir, den Mann, der noch jetzt in seinem hohen Alter jene vereinzelten Früchte beschränkter Untersuchungen in das die ganze Erde umfassende Feld einer großartigen Kombination hineinziehend, die Wissenschaft lehrreich erweitert, die er begründet hat. Es lebte noch nie ein Gelehrter, welcher so wenig vor der unendlichen Mannigfaltigkeit der Gegenstände, die sich ihm zur Untersuchung darboten, zu erschrecken Ursache hatte, wie Humboldt. Alles, was er ergriff, gehört ihm auf immer zu, steht ihm in jedem Moment zu Gebote; gelehrte Notizen aller Zeiten wie die mannigfaltigsten Naturerscheinungen der ganzen Erde.

Ich wohnte bei meinem Verleger und Freunde, Reimer, damals in der Kochstraße, sehr weit von Humboldt entfernt. Humboldt begleitete mich aus einer Gesellschaft in großer Entfernung von unsern beiderseitigen Wohnungen; er folgte mir bis in die Kochstraße, ich ihm von da bis nach seiner Wohnung, er mir wiederum zurück; ein großer Teil der Nacht verschwand, und er zwang mich durch Güte, ihn nicht noch einmal zu begleiten, was meine Absicht war. Hätte ich das Glück gehabt, diese Bekanntschaft in einer ruhigen Zeit zu machen, sie würde mich noch tiefer und ausschließender ergriffen haben, aber auch so machte sie Epoche in meinem Leben.

In den Kreisen, in welchen ich lebte, äußerte sich der Nationalenthusiasmus, wie er aus den reinsten Quellen entsprang. Ich, der als ein Fremder die Verhältnisse Deutschlands zu Frankreich aus einem allgemeinen Gesichtspunkt betrachtet hatte, der ich, zwar mit den diplomatischen Verhandlungen wenig bekannt, dennoch die Resultate mit immer steigender Furcht verfolgt hatte, war, sowie die Gefahr sich Preußen nahte, keineswegs hoffnungsvoll wie viele meiner Freunde gewesen; aber bestimmt schwebten mir die drohenden Verhältnisse nicht vor. Ob es Preußen gelingen würde, sich noch einige Jahre durchzuwinden, war mir nicht klar, und die tätige Gegenwart, in welcher ich lebte, war so heiter, daß sie die unbestimmt drohende Zukunft für mich verbarg. Mein Haß gegen die Richtung, in welcher Frankreich sich geistig ausgebildet hatte und politisch seine mit Vernichtung aller deutschen Nationalität drohende Gewalt entwickelte, war auf die entschiedenste Weise ausgesprochen. Was mir als Deutschlands höchste Bedeutung erschien, was mich aus meinem Vaterlande hierher gebracht hatte, meines innersten Lebens mächtiger Trieb, ward von Frankreich innerlich geringgeschätzt, äußerlich bekämpft. Mir war der Schatz, den ich bewahrte, ein Heiligtum; die Keime, die ich entwickeln wollte, trugen meiner Überzeugung nach die Verheißung einer geschichtlichen Zukunft in sich. Diese war, wie ich mit Entschiedenheit voraussetzte, den drohenden Feinden zwar der innern Bedeutung nach unbekannt und verborgen; aber eine geheime Ahnung von der geistigen Macht, die bestimmt war, was sie als das Höchste schätzten, als ein Untergeordnetes zu behandeln und nur so zu dulden, durchdrang die französische Revolution; und was sie vernichten, in Deutschland zertreten wollten, war eben mein Heiligtum. Diesen Haß gegen das französische Volk verbarg ich nicht, ich äußerte ihn nicht allein in Gesprächen, sondern auch in meinen Vorträgen heftig, ja einseitig. Es war mir darum zu tun, ihn fortzupflanzen und von der geistigen Bewegung aus ein Heer gegen die Feinde zu bewaffnen. Ein solches Heer nahm nun freilich wenig Rücksicht auf die politischen Verhältnisse. Der Kampf selbst war noch mehr ein innerer als äußerer; nach der damaligen Lage war es eine Gesinnung, welche die Gewalt, die der Feind in unserem Innersten behauptete, niederkämpfen wollte. Sie kannte, wie die deutsche Literatur, keinen Unterschied der Staaten, sie war notwendig eine allgemeine deutsche, nicht eine preußische. Damit der preußische Staat mir als ein geheiligtes Vaterland erschien, mußte er selbst in Gefahr geraten, es mußte mir klar werden, daß mein Heiligtum an seine Rettung geknüpft war. Und wie konnte dieses mir verborgen bleiben? Schon vor unserer Abreise nach Berlin durch die Gespräche mit Schleiermacher war ich auf eine solche Weise für Preußen gewonnen, und die Begeisterung, die mich in Berlin ergriff, entschied meine Gesinnung auf immer.

Die Frühlingstage waren äußerst heiter und anmutig, die Bäume unter den Linden entfalteten ihr erstes Grün, hier versammelten sich in der Mittagsstunde die bedeutendsten Männer. Wenn eine allgemeine Bewegung in den Gemütern herrscht, wenn dasjenige, was Familien und beschränkte Kreise bisher sondert, zurückgedrängt wird von einem allgemeinen mächtigen Interesse, dann sinken die Schranken, durch welche wir uns getrennt und einander fremd erschienen, man wird vertraut, ohne sich früher gekannt zu haben. Ich begrüßte unter den Lustwandelnden Männer, die ich kaum vorübergehend in Gesellschaften gesehen hatte, und sie traten mir, als wären wir alte Freunde, vertraulich entgegen.

Preußens Lage war eine seltsame; Hannover war von preußischen Heeren besetzt;Bereits im Jahre 1801 hatte Preußen auf Aufforderung Napoleons, der England damit treffen wollte, Hannover durch preußische Truppen besetzen lassen müssen; bis zum Jahre 1810, in dem Napoleon die nördliche Hälfte Hannovers zu dem französischen Departement Elbmündung, den südlichen endgültig zu dem Königreich Westfalen schlug, wechselten mehrere Male die Besatzungsarmeen in Hannover. die Hannoveraner haßten die Preußen in diesem Augenblick fast heftiger noch als die Franzosen; denn bei ihnen waren nicht bloß Soldaten einquartiert, sondern auch das feindliche Heer in die innersten geschichtlichen Verhältnisse eingreifender Administratoren. Man erwartete die Kriegserklärung Englands. Rußland zürnte; Österreich, in seinem gefährlichen Kampfe von Preußen hilflos gelassen,1805, im dritten Koalitionskrieg gegen Frankreich, blieb Preußen neutral. war erbittert; der Staat schien unvermeidlich an Frankreich verkauft: und eben in diesem Augenblick regte sich jene Macht, die bestimmt war, Frankreich zu bekämpfen und zu besiegen. Alles, was edel und geistig vornehm in Preußen war, erschien zugleich aufs innigste mit England verbunden, eben als dieses Land im Begriff war, uns den Krieg zu erklären.

Wenn die engen Familienkreise, in welchen wir leben und von welchen aus unsere Tätigkeit ins Leben tritt, von den größeren Staatsverhältnissen getragen und gesichert werden, dann bilden die Bewegungen des Staates, seine Stellung gegen andere Staaten, eine Macht, die uns beherrscht; sie tritt als ein Gebietendes der Geschichte und zugleich mit der gesetzmäßigen unveränderlichen Gewalt der Natur hervor. Werden aber die Staaten selbst von solchen Verhältnissen ergriffen, so daß sie unsern eigenen unbestimmt schwankenden, mit unaufgelösten Widersprüchen kämpfenden Entschlüssen ähnlich werden, dann verlieren sie notwendig die gebietende Gewalt und treten in eine Art vertraulicher Nähe, und wir glauben noch, das beherrschen zu können, was uns auf eine solche Weise innerlich verwandt erscheint.

So geschah es denn, daß ich zum ersten Male in meinem Leben zu ahnen anfing, daß auch ich zu einer politischen Tätigkeit aufgefordert werden könnte. Bis jetzt war ich zwar nicht gleichgültig gegen die politischen Verhältnisse Europas, ich war auf dem Wege gewesen, Jakobiner zu werden; eine politische Gesinnung, wie sie sich nun gebildet hatte, stand selbst mit meinen übrigen wissenschaftlichen Ansichten in einer innigen Verbindung: aber alles war Doktrin, Theorie, Prinzip, Zukunft; von einer politischen Gegenwart, die mich zur Tätigkeit auffordern sollte, hatte ich bis dahin keine Ahnung.

Das aber, wodurch diese lebendig ward, war ein Widerspruch, der sich in der Lage des zum Kampf aufgeforderten Staates verbarg und der mir, wie so vielen, verhängnisvoll entgegentrat. Die Gewalt, die wir die gesetzgebende nennen könnten, weil sie die allgemein herrschende Gesinnung aussprach und die lebendigste Quelle der Begeisterung war, rührte sich nur noch wie Quellen, die keinen Ausfluß haben, vom Gebirge bedeckt, im Innern. Es war die kriegerisch nationale Gesinnung als das keimende Lebensprinzip des Volkes. Sie erschien aber leider nur als die für eine unbestimmte Zukunft gesetzgebende, jetzt zurückgedrängte Gewalt; die ausübende war von ihr noch geschieden. Zwar war das kühne, entschlossene, kriegerische Moment auch dieser ausübenden Gewalt nicht fremd, aber es war in eine Form hineingezwängt, die früher mächtig, jetzt alle höhere Bedeutung verloren hatte; diese exekutive Gewalt war die militärisch-garnisonartige, die sich aus den Invalidenreminiszenzen einer vergangenen Zeit nährte. Die nationalkriegerische Gesinnung, die nicht laut werden durfte, spannte sich durch den äußern Druck immer mächtiger, immer elastischer, und es entwickelte sich ein stilles Bewußtsein, daß der volkstümlich-kriegerische Sinn auch das Militärische durchdringen und neu beleben müßte, wenn der Staat aus der jetzt abgelebten Form durch eine neue lebendige regeneriert werden sollte. Ein jeder wahre preußische Bürger fing jetzt an einzusehen, daß alle höheren geistigen wie materiellen Interessen lediglich an eine kriegerische Gesinnung geknüpft waren. Mir ward es von jetzt an, ich möchte sagen, ein Axiom meines bürgerlichen Lebens, das mir Heiligste, daß Deutschland im eminentesten Sinne nur durch den preußischen Staat als solchen gerettet werden könne. Und ich darf es sagen, es gab von jetzt an keinen treueren preußischen Untertanen, der mehr bereit gewesen wäre, sein ganzes Dasein dem Staate zu opfern, als ich. Man kann wohl sagen, es gab in Preußen noch vor der unglücklichen Schlacht ein mächtiges geheimes Bündnis, obgleich keiner es genannt hatte, keiner sich mit deutlichem Bewußtsein als Mitglied desselben erkannte: diesem gehörte ich zu.

Der SommerDes Jahres 1806. verging in Halle in immer wachsender Spannung, und doch schien keiner zu ahnen, daß die Gegend, in welcher wir wohnten, ein Kriegsschauplatz sein würde; das preußische Heer würde, glaubten wir, wie in dem früheren Kriege am Rhein erscheinen; der kriegerische Ruf der Armee tröstete die meisten, und wenn auch der Kampf zu unserm Nachteil ausfiele, würde zwar, glaubten wir, der Staat einen tief zu betrauernden Verlust erleiden und in eine gefährliche Abhängigkeit von dem mächtigen Frankreich geraten, doch ohne daß die engeren, bürgerlichen Verhältnisse zerstört würden. Das Beispiel ÖsterreichsDurch seine Niederlage bei Austerlitz. schreckte nicht; denn der Preuße war gewohnt, seinem Heere einen zu entschiedenen Vorzug vor dem österreichischen zuzugestehen. Wir konnten uns nicht denken, daß eine Universität in ihrer Tätigkeit gestört werden sollte. Die Zahl meiner Zuhörer war gewachsen.

Ich trug diesen Sommer zum erstenmal die Experimentalphysik vor. Schleiermachers und meine Zuhörer zeigten eine große Anhänglichkeit, und so wenig ließen wir uns durch den bevorstehenden Krieg stören, daß vielmehr die innerlich bewegte und gehobene Gesinnung auch den wissenschaftlichen Sinn zu beleben und zu steigern schien. Als der Herbst nahte, rückte das Heer vor. Bei meinem Schwiegervater in Giebichenstein wohnten Generale, die mir aus früherer Zeit bekannt waren. Es waren einige von denen, die später, von den Schrecken des Krieges überwältigt, die verderblichste und tadelnswerteste Gesinnung gezeigt haben; und ich will es bekennen, die Sprache, die sie führten, erschreckte mich. Es war nicht jene gesunde Begeisterung, die aus der frischen Fülle des Gemüts hervorquillt; es war der beschränkte Übermut, welcher abgelebten, im langen Frieden verrosteten, ohne höheren kriegerischen Sinn überlieferten militärischen Formen eine zauberische Gewalt zuschrieb; ein Mut, wie der von Shakespeare geschilderte der Engländer auf dem Schlachtfelde von Agincourt, würde die Gefahr der Lage nicht verkannt haben. Keiner schien eine Ahnung von der furchtbaren Gewalt eines tapfern Heeres zu haben, welches alle Verhältnisse der Kriegführung wie der ganzen Geschichte gewaltsam umgestaltet hatte, welches durch Siege, wie die neuere Geschichte sie nicht gekannt, gehoben war und jetzt, aus der inneren Aufregung eines ganzen Volkes entsprungen, sich uns Vernichtung drohend entgegenwälzte. Das Gespenst des Siebenjährigen Krieges, meinten sie, würde den Feind mit unheimlichem Entsetzen ergreifen, und er würde bei dem Anblick einer preußischen Wachtparade fliehen. Der preußische Soldat, der knechtische Mietling, genoß unter dem Volke keine Achtung. Die Furcht vor Strafe kämpfte allein mit der vor den Gefahren des Krieges, kein großes nationales Interesse durchdrang ihn.

Die Truppen, die sich in der Gegend von Halle versammelt hatten, zogen schnell vorwärts; die Gerüchte von der Annäherung des Feindes, der durch Thüringen gedrungen war, bestätigten sich immer mehr, und es entstand die Gewißheit, daß der Kampfplatz in unserer Nähe sein würde. Viele Studierende waren während der Ferien in der Stadt geblieben, viele neue waren angekommen, kein Universitätslehrer hatte gewagt, die Stadt zu verlassen. In dieser herrschte einige Tage hindurch eine angstvolle Stille. Da rückte der Herzog von Württemberg, der mit seinem Armeekorps die Reserve bildete, in Halle ein. Von jetzt an waren alle Einwohner von der Gewalt des verhängnisvollen Kampfes ergriffen. Es ist ein eigenes, banges Gefühl, sich einer fremden Macht leidend und tatenlos hingeben zu müssen. Noch waren wir beschützt durch ein eigenes Heer, aber, selbst untätig, sollten wir nur dulden, was dieses über uns verhängte. Die stille Ruhe und Ordnung der eigenen Tätigkeit war aufgehoben; mit einem Gefühl innerer, gespannter Angst bewegten sich Männer und Frauen auf der Straße. Ich hatte die Bekanntschaft eines feingebildeten und mit glühendem Haß gegen die Franzosen durchdrungenen hannoverschen Diplomaten gemacht, der mich sehr anzog. Wir gingen durch die Straßen miteinander, und einige Kavallerieeskadrons zogen in stolzer Haltung vorüber. »Wenn sie uns so erscheinen«, sagte er, »entsteht nicht fast notwendig der Glaube, daß sie siegen müssen?« Und in der Tat, dieses Gefühl schien vorübergehend alle Einwohner für den Augenblick zu trösten, obgleich die geheime Furcht vor größern Gefahren alle durchdrang.

Daß eine große Schlacht bevorstand, war durch die Stellung der preußischen und französischen Heere entschieden; man lauerte in banger Erwartung auf Nachrichten. Da erscholl zuerst unbestimmt, dann immer gewisser, zuletzt in den Zeitungen, die Nachricht von dem unglücklichen Gefecht bei Saalfeld.Am 10. Oktober 1806. Prinz Louis Ferdinand war geblieben. Dieser durch seine Genialität ausgezeichnete Prinz bildete ein Hauptmoment der kriegerischen Begeisterung. Die Tollkühnheit, mit welcher er sich dem Feinde entgegengestürzt und ein Gefecht gesucht hatte, erfüllte uns mit einer bangen Ahnung. Hatte er verzweiflungsvoll den Tod gesucht, um nicht Zeuge einer erwarteten allgemeinen Niederlage zu sein? In unheilschwangeren Zeiten wird ein jedes äußere Ereignis innerlich durchlebt. Die Verzweiflung, die, wie wir vermuteten, Prinz Louis Ferdinand und seine Schar in den Tod gestürzt hatte, ergriff uns selber. Von dem Marsch des feindlichen Heeres vernahmen wir immer mehr. Der unglückliche 14. Oktober näherte sich; unruhig wogte das Volk in den Straßen, die Truppen hatten die Umgegend besetzt. Plötzlich erscholl die Nachricht von einer großen Schlacht. Es war eben im Laufe des unglücklichen Tages. Die Schlacht wäre völlig verloren, raunte man sich zu. Wie diese Nachricht uns erreichen konnte, schien bei der Entfernung des Schlachtfeldes völlig unbegreiflich; denn daß in der Gegend von Auerstedt gekämpft wurde, war freilich bekannt. Doch diese niederschlagende Nachricht, die ein jeder nur furchtsam seinem Freunde vertraute, ward später von einer tröstlichen, allgemein verbreiteten verdrängt. Wir hätten, hieß es, einen entschiedenen Sieg erkämpft; das Volk jubelte, eine vorübergehende Freude ergriff auch meine Freunde. Ich aber wollte soviel als möglich zur Gewißheit gelangen. Ich lief, so schnell als ich vermochte, auf dem Wege nach Merseburg entlang; hier ungefähr auf der Hälfte des Weges erhebt sich die Gegend, und das Salzsteingebirge fällt rechts, nach der Lauchstädter Ebene, schroff ab. Ich legte mich mit dem Ohr an die Erde, ich hörte deutlich die Kanonade aus der Ferne, ich vernahm mit Bestimmtheit, wie sie sich nach Nordwest entfernte und immer schwächer klang. Bei der bekannten Stellung der Heere deutete diese Richtung der sich entfernenden Kanonade auf die Flucht des preußischen Heeres. Ich wagte es kaum, den vertrautesten Freunden meine Angst mitzuteilen. Aber sie übertäubte alle Siegesnachrichten, die ich noch immer vernahm. Diese erhielten sich noch den Tag nach der Schlacht. An diesem Tage ward ein französischer Gefangener durch Halle geführt, es war der erste Feind, den wir sahen. Wie er in diese Gegend gekommen war, ob es ein einzelner Versprengter war oder ob er in einem Gefecht in der Nähe gefangen wurde, blieb uns völlig unbekannt; aber seine Erscheinung erregte eine ungeheure Gärung im Volke. Schreiend und jubelnd umringte man ihn; die Soldaten, die ihn fortführten, hatten Mühe, ihn gegen die Angriffe des Volkes zu beschützen; es schien in der Tat, als glaubte man durch diesen einen Gefangenen einen bedeutenden Vorteil über den Feind errungen zu haben.

Es ist, meiner Meinung nach, unrecht, den Auftritten des bürgerlichen Lebens, wenn es durch kriegerische Ereignisse gedrängt wird, so wenig Aufmerksamkeit zu erzeigen. Das Kriegsspiel der neueren Zeit hat in seinen harten Formen alle Poesie verdrängt, aber die in vielen tausend Gemütern aufgeregten Leidenschaften des bedrängten Volkes, der schnelle Übergang von Furcht zu Hoffnung und umgekehrt, wechseln, gewaltsam erregt und wieder unterdrückt; beide schranken- und formlos, lassen Erscheinungen des verborgensten Lebens an das Licht treten und haben, sollten wir glauben, selbst eine geschichtliche Bedeutung. Im Vertrauen erfuhr ich am Abend des 15. Oktobers durch jenen hannoverschen Diplomaten, daß ein französisches Armeekorps den Weg nach Halle eingeschlagen hatte, und da ich mich überzeugt hielt, daß die Auerstedter Schlacht verloren war, sah ich ein, daß man die Hallesche Reserve angreifen würde.

Meine kleine Wohnung, in welche ich mich aus der größern zurückgezogen hatte, war ein Eckhaus an dem Paradeplatz, dem Bibliothekgebäude gegenüber. Ich sah über die Moritzburg und über Passendorf hinweg nach den ostwestlichen Höhen hin, die den Horizont begrenzten. In der Erwartung des Krieges erblickte ich den Sommer hindurch und ohne alle äußere Gründe, dennoch träumend und wachend, feindliche Heere, die über die Höhen vordrangen und sich auf der Ebene bewegten. Morgens früh den 16. Oktober glaubte ich Schüsse zu hören; ich eilte an das Fenster, sah in nebliger Ferne jenseits der langen Brücke, die über die Saale führt, nach Passendorf zu, eine unruhige Bewegung, die mich überzeugte, daß hier ein Plänkeln stattfände. Die gewaltsame Spannung und doch zugleich unbestimmte und grenzenlose Angst, in welcher wir die letzten Tage durchlebt hatten, erzeugte fast eine Beruhigung, indem nun ein bestimmtes Ereignis und eine Art Entscheidung hervortrat. Meine Frau hatte in diesen Tagen das Kind entwöhnt, sie war völlig rüstig und gesund, und als sie nicht mehr an der Anwesenheit der Feinde in jener Gegend zweifeln konnte, schien sie in der Tat mehr neugierig als furchtsam.

Schon sehr früh kam Schleiermacher, von seiner Schwester, der vertrauten Freundin meiner Frau, und von einem Freunde begleitet, zu mir. Es war Gaß (später mein Kollege bei der Universität in Breslau), der das Armeekorps, welches er als Feldprediger begleiten sollte, suchte und in Halle bestimmtere Befehle erwartete. Sie waren gekommen, um von unserer Wohnung aus Zeugen des kriegerischen Schauspiels zu sein. Bald aber sahen wir ein, daß wir eine viel klarere Übersicht gewinnen würden, wenn wir jenseits des Platzes nach dem Freimaurergarten gingen. Über eine auf einem nach der Saale schroff abfallenden Felsen angelegte Mauer übersahen wir vollkommen die ganze Ebene. Mehrere Beamte und Professoren standen hier, einzelne Truppenabteilungen der Preußen bewegten sich über die lange Brücke. Wir sahen die Angriffe, das wechselseitige Hin- und Herschießen, das vereinzelte persönliche Zusammenstoßen der Reiter, und alles schien natürlich im Anfange dem unkundigen Zuschauer, der nur einzelne Angriffe sah, unentschieden. So wunderbar verblendet durch die siegreichen Nachrichten, so fest vertrauend auf die siegende Bedeutung eines preußischen Heeres, waren die meisten, daß sie eben in diesem Angriffe der Franzosen einen Sieg sahen. »Die armen Franzosen«, sprach ein Kollege, »ich möchte sie fast bedauern; es ist, das ist klar, ein zersprengtes Korps; in dem Rücken von unserer siegreichen Armee verfolgt, jetzt von unsern tapfern Reserven angegriffen, werden die Armen vor unseren Augen eine entsetzliche Niederlage erleiden.«

Doch lange dauerte leider diese Täuschung nicht. Die Feinde drängten sich in größeren Massen heran, die Unsern zogen sich zurück; selbst an den Saaleufern nahe bei den Mauern, an welche wir uns lehnten, sahen wir einzelne Preußen ängstlich fliehen, und voll Schreck eilte nun ein jeder von uns seiner Wohnung zu. Meine Wohnung, in einer entfernten, wenig besuchten Gegend der Stadt, ward sowohl von meinen Freunden als von mir selbst als eine gefährliche betrachtet; wir waren entschlossen, die Zeit des ersten Anfalls und der größten Gefahr in der Schleiermacherschen Wohnung, in der Mitte der Stadt, zuzubringen. Wir eilten, um aus unserm Hause das Kind abzuholen. Der Prediger Gaß führte Schleiermachers Schwester, dieser meine Frau, ich ging neben der Frau, die das Kind trug. Aber während des Aufenthaltes in unserm Hause war eine unter den drohenden Verhältnissen nur zu lange Zeit verflossen. Wir mußten die ganze lange Ulrichstraße in möglichster Eile durchschreiten. In der Stadt selbst wurde geschossen, aber in den Straßen herrschte sonst eine große Stille. Kein Mensch ward gesehen, alle Häuser waren verschlossen, nur an einem Orte sah ich einige Arbeiter ein lockendes Aushängeschild in großer Eile herabreißen. Die Kinderfrau war selbst Mutter, sie wünschte fortzukommen, sie zitterte und vermochte kaum das Kind zu tragen. Ich warf den sächsischen Kindermantel über die Schultern, nahm das Kind und eilte fort. Als wir da ankamen, wo die erweiterte Straße, einen kleinen Platz bildend, sich nach dem großen Marktplatz eröffnet, sahen wir nun plötzlich die Gefahr, die wir zu bestehen hatten. Der Rückzug des Reservekorps ging quer durch die Stadt; der ganze Marktplatz war mit Kanonen und Munitionswagen der Fliehenden bedeckt, eine Menge Krieger suchten in Eile diese fortzubringen; aus den Straßen, die von der Saale nach dem Marktplatz führten, hörten wir Schüsse fallen, und wir sollten die Richtung der Flucht der sich drängenden, fliehenden Masse in einem rechten Winkel durchschneiden. Wie wir durchkamen, und zwar alle unbeschädigt, weiß ich nicht. Ein solcher Moment der größten Gefahr konzentriert alle Kraft für die eigene Rettung, verwandelt das Bewußtsein in einen mächtigen, blinden Instinkt, und man hat, von den drohenden Verhältnissen, die uns dicht umgeben, fortdauernd gedrängt und geängstigt, kein Auge für die größeren. Wir hatten den Marktplatz wirklich glücklich durchschritten. Ich war nahe bei der Merkerstraße, in welcher Schleiermacher wohnte. Diese hat eine gemeinschaftliche Ecke mit der damaligen Galg-, jetzigen Leipziger Straße, durch welche die Verfolgung vorzüglich stattfand. Hier, wo eine rettende Straße vor mir lag, sah ich mich einen Augenblick um. Ich war erstaunt, als ich den Platz leer fand, Munitionswagen und Kanonen waren sämtlich wie durch einen Zauber verschwunden, aber aus den nach der Saale führenden Straßen drängten sich die Feinde in großen Massen; einzelne Preußen flohen ängstlich, und eine allgemeine Gewehrsalve der Feinde fiel nach der Richtung der Flucht, die Kugeln zischten an meinen Ohren vorüber. Ich war zwar nur wenige Schritte von der schützenden Straße, die von der Flucht abführte, entfernt, dennoch fürchtete ich einen Augenblick, von den verfolgenden Feinden mit dem Kinde abgeschnitten zu werden. Als wir durch die Häuser der Straße geschützt waren, sahen wir die kleinen wilden Männer der Bernadotteschen Avantgarde (die sogenannte Schwefelbande) dicht neben uns vorbeilaufen, aber ihre ganze Aufmerksamkeit war nach den fliehenden Preußen gerichtet. Wir erreichten das Haus; in der Straße war alles still und leer, das verschlossene Haus ward eilig geöffnet und wieder geschlossen, und wir waren fürs erste gerettet.

Doch die Ruhe dauerte nicht lange. Die Straße lag dem Zuge der Verfolgung zu nahe; einzelne Krieger, Infanteristen und Kavalleristen, verteilten sich plündernd in die nächsten Straßen. Der Überfall traf uns, die wir im Frieden erzogen waren, zu unvorbereitet, und wir wußten uns nicht zu benehmen. Die Straße ist schmal, in das gegenüberliegende Haus waren plündernde Soldaten eingedrungen, die eilig nahmen, was sie vorfanden, aber offenbar selbst in Furcht waren und sich, wie man uns aus dem Fenster über die Straße zurief, eilig entfernten. Jetzt ward auch an unsere Tür geklopft. Es waren drei bis vier Kavalleristen, die Einlaß forderten; wir achteten nicht darauf. Sie riefen uns zu, daß sie zufrieden sein würden mit ein paar Gläser Wein durchs Fenster gereicht: törichterweise wurde beschlossen, ihren Wunsch zu erfüllen; aber keiner wollte die zugestandene Gabe den Kriegern reichen; ich bot mich dazu an. Das Fenster wurde geöffnet, und was wir, bei einiger Erfahrung, hätten voraussehen können, geschah. Einer der Reiter hielt mir eine Pistole vor den Kopf und drohte, mich zu erschießen, wenn wir nicht die Haustür öffneten. Diese Forderung wurde erfüllt, die Räuber stürzten herein, ich mußte meine Uhr fürs erste hergeben, Geld hatte ich nicht in der Tasche. Bei Schleiermacher ward Wäsche und etwas Geld in der Eile zusammengerafft, auf dem offenen Pulte lag das Reisegeld des Feldpredigers Gaß, zwischen Papieren. Sie wühlten in diesen und entdeckten unbegreiflicherweise die Summe nicht, sie wurde gerettet. Und von jetzt an hatten wir Ruhe und konnten uns besinnen.

Daß das preußische Heer nicht bloß geschlagen, sondern zersprengt war, mußte uns einleuchten, und Stadt und Universität waren auf unbestimmte Zeit in der Gewalt der Feinde; unser ganzes zukünftiges Leben war auf eine furchtbare Weise verwandelt. Kein noch so wohlerwogener Entschluß der Vergangenheit hatte für die nächste Zukunft irgendeine Bedeutung. Aber noch war die nahe Gefahr, in der wir lebten, zu groß, um einen umfassenden Blick auf das, was uns bevorstand, zu werfen. Die Verfolgung durch die Stadt war vorüber, einzelne Menschen erschienen wieder auf der Straße, von den Feinden erblickte man in der Stadt selbst keine, und ich wagte es, nachmittag meine eigene Wohnung aufzusuchen, um zu sehen, was dort etwa geschehen war. Ich ging durch einige Straßen, die nach der Saale führten. Wenige Menschen schlichen ängstlich, doch nur zu den nächsten Nachbarn. Kleine Gruppen bildeten sich furchtsam, leise redend. Gerüchte von grauenhaften Mißhandlungen in den Vorstädten wurden laut, und auf den Straßen lagen hier und da die Leichen erschossener preußischer Soldaten, noch in voller Uniform. Bei einem sah ich sogar noch das Gewehr neben ihm liegen. In meiner Wohnung war kein Feind gewesen. Ich konnte nun, was ich an Geld besaß, noch retten, was von einigem Wert war, so sorgfältig wie möglich verbergen oder dem freundlichen Wirt anvertrauen. Die Nacht indes brachten wir nicht bei Schleiermacher zu. Wir wurden sämtlich von dem Buchdrucker Schimmelpfennig eingeladen. Mehrere Freunde waren da. In demselben Hause wohnte der taube Professor Hofbauer; dieser, im Hinterhause wohnend, hatte von allem, was geschehen war, nichts erfahren. Daß wir in der Gewalt der Feinde waren, mußten wir ihm jetzt mit lauter Stimme zurufen und waren Zeugen seines Entsetzens.

Es ist merkwürdig, wie eine plötzlich drohende Gefahr, die alle Einwohner einer Stadt auf gleiche Weise trifft, eine Stimmung hervorruft, die so ganz von der gewöhnlichen abweicht. Wie die Verzweiflung einen eigenen schneidenden Witz hat, einen Humor fürchterlicher Art, erkannte unter allen Shakespeare am tiefsten. Der furchtbare Untergang des Landes, die, wie es schien, rettungslose Zertrümmerung alles dessen, was uns heilig und teuer war, schwebte uns als eine dunkle Masse der mannigfaltigsten düsteren Vorstellungen vor der Seele; die Bande freundlicher, heiterer Verbindung der Familien untereinander waren zerrissen, und die unmittelbar Vereinigten konnten sich mitteilen; die nächsten Straßen und ihr Schicksal waren wie durch einen Abgrund voneinander getrennt. Dunkle Gerüchte von furchtbaren Greueln, wie die finstere Phantasie sie ausmalte, hatten diejenigen von der Gesellschaft, die sich auf die Straße wagten, vernommen, und die Nacht, die wir zusammen verlebten, erschien uns gefährlich. Denn in jedem Augenblick glaubten wir Brand, Plünderung und den grauenhaftesten Mißhandlungen ausgesetzt zu sein. Besonders zum Schutze der Frauen hatten wir uns hier vereinigt. Ein jeder war entschlossen, sein Leben zu wagen, aber die Waffen, über die wir etwa zu gebieten hatten, waren freilich keineswegs hinreichend. Wir wollten die Nacht wachend und uns unterhaltend zubringen. Hofbauer besaß, wie wir wußten, einen besonders mit den besten Rheinweinen versorgten Keller. Es war bekannt, daß er diesen sehr schonte. Wir stellten ihm aber vor, daß der Keller kaum der Aufmerksamkeit der Feinde entgehen würde, überredeten ihn, eine Anzahl Flaschen herzugeben, und brachten die Nacht in wilder Laune zu. Gegen Morgen schlief, auf Stühlen verteilt, die ganze Gesellschaft ein.

Die Nacht war völlig ruhig vergangen, und wir erfuhren, wie grundlos unsere Angst gewesen war. Die plündernde Schwefelbande gehörte zur Avantgarde, sie mußte das wegziehende Korps verfolgen und verschwand schnell aus der ganzen Gegend. Bernadottes geordnete Truppen besetzten die Stadt, und man mußte die Zucht rühmen, die in seinem Korps herrschte.

Die nächsten Tage steigerten die Angst und Spannung der Einwohner, und es ruhte wie eine Gewitterschwüle auf der ganzen Stadt. Die Truppen durchzogen die Stadt noch fortdauernd. Wir vernahmen aber, daß Napoleon selbst mit der Garde ankommen würde. Beunruhigende Gerüchte versicherten, daß Napoleon auf die Stadt, besonders aber auf die Universität zürnte. In der Tat hatten wir manches zu befürchten. Die Studierenden waren im höchsten Grade aufgeregt, man versicherte, daß einige sehr große Lust hätten, das Recht, nur auf den breiten Steinen gehen zu können, selbst gegen die feindlichen Offiziere zu behaupten, und Universitätslehrer pflegen in corpore nicht sehr fähig zu sein, in bedenklichen und gefahrvollen Zeiten die zweckmäßigsten Polizeiverfügungen zu erlassen. Ich ging mit Schleiermacher zu dem damaligen Prorektor Maaß, ihn zu bitten, eine Versammlung aller oder einiger Mitglieder des Konziliums zusammenzubringen, um die notwendig zu treffenden Maßregeln zu verabreden. Aber ich hörte mit Erstaunen, daß er eine solche Maßregel als eine gar zu gefährliche betrachtete und meinte, die Feinde würden in einer solchen Versammlung eine Verschwörung erkennen. Persönlich konnte dieser Mann freilich dem Feinde nicht imponieren; er war mager, kümmerlich gestaltet, hatte keinen Bedienten, und die bei ihm einquartierten Soldaten haben, wie man versichert, ihn gezwungen, ihre Stiefeln zu putzen. Wenige der Professoren wagten sich aus ihrer Wohnung, wenige besprachen sich miteinander in kurzen, angstvollen Augenblicken, während sich die Studierenden in größeren und kleineren Haufen, nicht selten lärmend, auf der Straße herumtrieben.

Napoleon kam. Er bezog die Wohnung des Professors Meckel, eines der angesehensten Häuser der Stadt, auf einem Platz (dem großen Berlin). Die Garde, in Parade aufgestellt, machte einen imponierenden Eindruck. Napoleon ritt an den Gliedern vorüber und hielt, wie man versicherte, eine belobende Anrede an diese, seine geschätzten Truppen. Daß er gegen die Preußen besonders erbittert war, wußten wir. Halle war die erste preußische Stadt, die er besetzte, und während seine Truppen die fliehende Armee verfolgten, beschloß er, hier einige Tage auszuruhen. Ich war mit meiner Familie noch in der Schleiermacherschen Wohnung. Dort war ein Beamter des kaiserlichen Kriegsbüros einquartiert, der natürlich die besten Stuben einnahm, so daß sich Schleiermacher mit seiner Schwester und seinem Freunde Gaß sowie ich mit Frau und Kind schlecht genug behelfen mußten. Keiner zog sich in dieser Zeit aus, keiner hatte in der Nacht ein bequemes Lager, nur erschöpft und ermüdet schliefen wir wenige Stunden. Der Einquartierte, dessen Name mir nicht mehr erinnerlich ist, war höflich, ja verbindlich. Er versuchte es oft, ein Gespräch mit uns anzuknüpfen, und zwar ein in mancher Rücksicht bedenkliches; ja, da wir uns immer vorsichtig und zurückhaltend äußerten, wagte er es, Schleiermacher aufzufordern, einen Brief aufzusetzen, dessen Inhalt ein Angriff auf den preußischen Hof und die Regierung und die Hoffnung, welche die Einwohner auf die heilbringende Herrschaft des Kaisers gründeten, sein sollte. Daß ein Mann von Schleiermachers allgemein bekannter starker Gesinnung genötigt war, eine solche Zumutung mit Entrüstung abzuweisen, entsetzte mich. Doch ist es begreiflich, daß wir nicht ohne Sorgen waren. Der Beamte blieb aber höflich wie bisher. Einst sprach er unbefangen von dem grenzenlosen Ehrgeiz des Kaisers. Es wäre, meinte er, seine Absicht, das römische Kaisertum des Mittelalters, welches ja ursprünglich von Frankreich ausgegangen war, wieder zu begründen; wäre dieses ihm gelungen, dann würde er in einem langen Frieden das Glück der von ihm besiegten Völker befördern und pflegen. Die anerkannte Kultur der Großen Nation würde alle Völker des Kontinents vereinigen, und es gäbe danach keine Gewalt mehr, die ihn bedrohen und den beglückenden Frieden stören könnte. Eine grenzenlose Erbitterung, ein leider in diesem Augenblick hoffnungsloser Haß drohte fast laut zu werden, indem wir von einem deutschen Mann in deutscher Rede eine so verruchte Sprache hörten. Wir verließen das Haus nicht, wir vermieden es, soviel wir konnten, die verhaßten Feinde zu sehen. Napoleon blieb, irre ich nicht, drei Tage in Halle. Am zweiten Tage ritt er in glänzender Begleitung der Marschälle und Generale durch die Straße, in welcher wir wohnten. Der einquartierte Beamte forderte uns auf, den Zug zu betrachten. Schleiermacher und ich schlugen es aus, und nur nach wiederholten Bitten warfen wir einen flüchtigen Blick auf die Straße. Dieser war nicht hinreichend, um die Personen zu unterscheiden. Ich sah nur die etwas phantastische Kleidung Murats. Napoleon habe ich nie gesehen. Der Beamte zeigte uns alle Personen und schien unsere tiefe Verehrung und Bewunderung vorauszusetzen. Am zweiten Tage des Aufenthaltes des Kaisers in dieser Stadt stürzte ein Studierender in grenzenloser Angst in unsere Wohnung, Zum erstenmal in meinem Leben sah ich wirklich, wie der verzweiflungsvolle Schreck die Haare in die Höhe richtete. Die Stimmung, die unter uns herrschte, konnte solch einen Schreck selbst in der drohendsten Gefahr nicht aufkommen lassen. Je mehr alle äußere Aussicht und Hilfe verschwand, je drohender die Verhältnisse um uns herum wurden, desto mehr stärkte sich, aller äußern Unwahrscheinlichkeit zum Trotz, die innere Zuversicht, die feste Überzeugung, daß das Heilige und Große, wie es in Deutschland keimte, die göttliche Macht, die in der Geschichte waltete, ein so herrliches Gut sein mußte, daß der rohe Fußtritt siegreicher Heere es nie vernichten konnte. In diesem Sinne wagte ich es auszusprechen, was von diesem Augenblick an auch das leitende Prinzip meiner ganzen Gesinnung wurde, solange die Franzosen das Land besetzt hielten. Die Schlacht von Jena, behauptete ich eben in diesen Tagen der Hoffnungslosigkeit, wäre der erste Sieg über Napoleon; denn er hatte die mit ihm im Bunde stehende Schwäche vernichtet und von jetzt an in allen Preußen die innere großartige Erbitterung hervorgerufen, die sich endlich bewaffnen und siegen mußte. Die Gewißheit, daß ich seinen Sturz erleben wurde, verließ mich nie.

Unter so allgemein drohenden Verhältnissen zeigen die Frauen nicht selten einen entschiedenen Mut, und obgleich der Zustand, in welchem der junge Mann erschien, eine furchtbare Nachricht erwarten ließ, war meine Frau doch über diese den Mann entstellende Angst empört, »Pfui«, rief sie aus, »so darf ein mutiger deutscher Jüngling am wenigsten in einer Zeit, wie diese, erscheinen.« Nur mit Mühe gelang es ihm, uns das zu berichten, was ihn so sehr in Schrecken gesetzt hatte.

Eine Deputation der Professoren, soviel ich mich erinnere aus dem Prorektor Niemeyer und Schmalz bestehend, hatte bei dem Kaiser um Audienz nachgesucht und sie erhalten. – Sie hatten den Professor Froriep als denjenigen, der sich am gewandtesten in der französischen Sprache ausdrücken konnte, mitgenommen. Während die Deputierten bei Napoleon waren, hatten sich eine Anzahl Studierende auf dem Platz versammelt, und als jene hervortraten, hatte Schmalz eine Anrede an die Studierenden gehalten, auf welche ein lauter Ausruf der letzteren erfolgte; es blieb ungewiß, ob es die Absicht war, Beifall oder Unzufriedenheit zu äußern. Während Napoleon mit seiner glänzenden Umgebung in der Stadt herumritt, hatten die Studierenden sich unbefangen zugedrängt, ohne ihn zu begrüßen. Das ungenierte Wesen deutscher Burschen, die es nicht gelernt hatten, einem siegreichen Feinde demütig und knechtisch eine erheuchelte Ehrfurcht zu bezeigen, mußte ihm unangenehm sein, ja bedenklich erscheinen. Ein Studierender, den er angesprochen, hatte ihn, gewiß mehr aus Verlegenheit als aus Geringschätzung, Monsieur genannt.

Nun sollte Napoleon sich auch geäußert haben über die feindliche Stimmung, die auf der Universität schon vor seiner Ankunft geherrscht habe. Er wollte wissen, daß mehrere Studierende sich gegen ihn bewaffnet hätten. In der Tat fand aber eine solche Gesinnung unter den Studierenden, die später eine so große und mächtige Bedeutung erhielt, noch gar nicht statt. Zwei adlige Jünglinge, die wahrscheinlich zwischen dem Entschluß, Militärdienst zu nehmen oder fortzustudieren, schwankten, waren der Armee gefolgt. Napoleon aber mochte glauben, daß die auf der Universität vereinigte Menge deutscher Jünglinge aus den besten Familien, eine, wenn auch nicht gefährliche, doch beschwerliche Aufregung im Rücken seines Heeres veranlassen könnte. Unbekannt mit der Einrichtung der deutschen Universitäten, meinte er, daß die Studierenden in sogenannten Kollegien unter Aufsicht zusammenlebten, und zürnte, daß man sie hier nicht in diese eingesperrt habe. Jetzt hob er nun die Universität auf und forderte, daß die Studierenden sämtlich Halle verlassen und zu ihren Eltern zurückkehren sollten. Daß viele Studierende dadurch in die größte Not gerieten, war natürlich; aber eine Furcht ergriff mehrere mit Entsetzen, und besonders schien der unglückliche junge Mensch von dieser durchdrungen zu sein. Man glaubte nämlich, daß die französischen Krieger, wenn die Studierenden zur Stadt herausgetrieben wären, die auf den Landstraßen waffenlos Herumirrenden ermorden würden.

Das große Haus, welches Schleiermacher bewohnte, war stark mit Einquartierung belegt. Gegen Morgen, während eines unruhigen Schlafes, vernahmen wir eine Bewegung im Hause, ein unruhiges Aufundniederlaufen auf den Treppen, ein lautes Gerede im Hofe, die Tritte der Pferde in dem Stalle. Als wir erwachten, war die Stadt leer. Die Truppen hatten sich entfernt, die Studierenden wurden noch im Verlaufe des Tages aus der Stadt getrieben. Wir, die Lehrer, blieben in der wüsten, öden Stadt zurück: unser Amt, unsere Tätigkeit war vernichtet, unsere zukünftige Stellung noch unbestimmt. Wenige ältere Studierende wagten es noch, in der Stadt zu bleiben. Zu diesen gehörten: Herr v. Varnhagen, v. Marwitz, der Bremer Müller und wenige andere.

Schleiermachers wie meine Lage war nun freilich bedenklich genug. Unser Gehalt war mit dem 1. November fällig und das von vergangenen Monaten völlig aufgezehrt. Die Vorlesungen aber, die eben anfangen sollten, hatten ein bedeutendes Honorar schon jetzt in unsere Hände gebracht. Ich hatte in meinem Besitz über 80 Louisdor. Daß ich, nach meiner Gesinnung, und da ich die Auszahlung des Gehalts erwartete, an keine Geldverlegenheit dachte, ist begreiflich. Nun aber meldeten sich alle meine Zuhörer, und ich mußte mich glücklich schätzen, daß ich die Summe nicht angerührt hatte und einen jeden zufriedenstellen konnte. Ich behielt etwa 10 Rkr. übrig, und Schleiermacher auch nicht mehr. Durch Freunde aus der Ferne irgend etwas zu erhalten, war vors erste unmöglich. Die französischen Heere hatten sich gegen Osten und Norden immer weiter verbreitet, der Krieg schnitt uns von Verwandten und Freunden völlig ab.

Wir entschlossen uns nun, die kleine Summe, über die wir zu gebieten hatten, vereint zu benutzen und eine gemeinschaftliche Wirtschaft zu führen. Schleiermacher bezog meine kleine beschränkte Wohnung. Meine Frau mit ihrem Kinde und Schleiermachers Schwester bewohnten eine kleine enge Kammer, die an eine größere Stube grenzte; ebenso schlief ich mit meinem Freunde in einer ähnlichen Kammer, und ein jeder verfolgte seine Studien und Arbeiten in einer gemeinschaftlichen Stube. In einer Ecke meines Studierzimmers hat Schleiermacher seine Schrift über den ersten Brief Pauli an Timotheus ausgearbeitet. Wir lebten in der größten Dürftigkeit, sahen wenige Menschen, verließen fast nie das Haus, und als das Geld ausging, verkaufte ich mein Silberzeug.

*

Man darf aber nicht glauben, daß unsere wissenschaftlichen Studien ruhten. Unsere Unterhaltungen waren meist spekulativer Art. Blanc und Marwitz regten sie vorzüglich an; wir erlebten nicht selten Abende, an welchen des Landes und unsere eigene Not ganz verschwunden schien, und wie mein Verhältnis in dieser Zeit zu Schleiermacher werden mußte, kann man sich leicht denken. Endlich wurde die Verbindung mit Berlin einerseits und mit Kopenhagen andererseits eröffnet. Summen von Verlegern und Freunden liefen ein, und der nächsten Not war abgeholfen. Jetzt wurden nun die Schritte, die wir zu tun hatten, reiflich erwogen. Wir hatten für die nächste Nahrung zu sorgen und für eine wissenschaftliche Beschäftigung. Schleiermacher beschloß, mit großer Entsagung noch einige Zeit in Halle zu verweilen, weil er hier in entschiedener Einsamkeit und mit geringeren Kosten einige schriftstellerische Arbeiten vollenden konnte. Für mich erschloß sich aber eine andere Aussicht, die ich glaubte, nicht ganz aufgeben zu dürfen. Meine dänischen Freunde waren um mich im höchsten Grade besorgt. Mein Jugendfreund Mynster bewies es auf eine tätige Weise. Mein jüngster Bruder war mit den Truppen, die der PrinzregentFriedrich VI. war 1784 zum Mitregenten des geistesschwachen Königs Christian VII. erklärt worden. zur Behauptung einer bewaffneten Neutralität versammelt hatte, in Kiel. Über meine Lage entsetzt, eilte er zum Regenten, und der wohlwollende Herr, obgleich mit meiner Tätigkeit, wie sie früher in Dänemark stattgefunden hatte, keineswegs zufrieden, ohne allen Zweifel ebenfalls von Teilnahme an meinem Schicksal bewegt, antwortete kurz, aber gütig: »Lassen Sie ihn kommen, es ist ein guter Kopf, wir können ihn wohl brauchen.« Erst nachdem mein Bruder den Kronprinzen gesprochen hatte, wandte er sich an Schimmelmann. Auch der Regent hatte meinetwegen an ihn geschrieben, und ich erhielt kurz nacheinander, zuerst von meinem Bruder und dann von dem Grafen, Nachricht.

Dieser Schritt meines Bruders, die Antwort des Prinzregenten, das Schreiben des Grafen Schimmelmann versetzten mich in eine große Unruhe. Die Teilnahme an Preußen, die mit jeder traurigen Nachricht, die wir erhielten, inniger und wärmer ward, hatte mich bis jetzt weniger an die eigene Not denken lassen, die ich ohnehin mit allen meinen Kollegen teilte. Nie war ich entschlossener gewesen, mein Schicksal an das Preußens anzuschließen, als eben jetzt. Ich sah mich, wie sich von selbst versteht, noch immer als einen preußischen Beamten an; ich konnte dem verhaßten Feinde das Recht nicht zugestehen, die Universität aufzuheben, die Professoren zu entlassen. Die Universitätslehrer hatten die Verpflichtung, sich jetzt mehr als je dem Feinde gegenüber als preußische Beamte zu behaupten, wenn sie auch durch die Gewalttat des Feindes mit ihren Familien in eine noch so bedenkliche Lage versetzt waren: dann aber war es mir nur zu klar, daß ich auf eine unbestimmte Zeit alle Subsistenzmittel verloren hatte; nur zu wahrscheinlich, daß der siegreiche Feind die Provinzen diesseits der Elbe niemals zurückgeben werde; ungewiß, ob der König von Preußen, wenn der unglückliche Krieg beendet war, die Universität von Halle mit dem sämtlichen Personal derselben nach geschlossenem Frieden anderswohin verlegen würde. Ich war erst seit ein paar Jahren preußischer Untertan; es war nicht wahrscheinlich, daß man selbst dann bei einer abermaligen Berufung mich den älteren Untertanen vorziehen würde; und mir war es nicht unbekannt, daß ich, besonders unter den Naturforschern, viele einflußreiche Gegner hatte. Aber was ich in Deutschland suchte, was mich von meinem Vaterlande trennte, hatte für mich einen großen, tiefen, ja oft religiösen Wert: und jetzt, da der Kampf ernsthaft ward, sollte ich den Kampfplatz in dem bedenklichsten Augenblick verlassen? Dieses schien mir auf jeden Fall unwürdig. Indem ich nun aber mit Schleiermacher alle Verhältnisse genau erwog, sah ich ein, daß ich die Aussicht zur Tätigkeit in meinem Vaterlande, die vor mir lag, nicht unbedingt abweisen durfte. Ich hoffte, daß es mir gelingen würde, den Prinzregenten dafür zu stimmen, mich so lange in dem Dienst meines Königs bleiben zu lassen, bis er mich aus diesem, ohne eine Veranlassung von meiner Seite, etwa zu entlassen sich entschließen würde. In diesem Sinne schrieb ich an den Minister v. Massow.Den preußischen Minister der Universitäten. Ich erklärte, daß ich mich noch immer als Professor bei der durch die Gewalttat des Feindes zersprengten Universität betrachte, stellte ihm aber vor, daß mir in Halle alle Mittel, meine Familie zu ernähren, fehlten, und ersuchte ihn, mir einen Urlaub zu erteilen, um nach meinem Vaterlande zurückzureisen. Diesen erhielt ich.

Der Tag kam heran, der für meine Audienz bei dem PrinzregentenIn Kiel. bestimmt war. In dem großen Vorsaal, in welchem ich einige Zeit verweilen mußte, fand ich einige Adjutanten. Durch meine Brüder waren sie mir bekannt. Sie hatten die günstigen Urteile des Prinzregenten über mich gehört und kamen mir höchst freundlich entgegen. Herr v. B., der Generaladjutant, erneuerte mit scheinbarer Innigkeit eine frühere Bekanntschaft; Herr v. H, berührte, wie es schien, mit Wohlgefallen entfernte Familienverhältnisse. Ich erschien, ehe ich hereintrat, als ein Begünstigter des Prinzregenten. Ein höherer Beamter wird entlassen, die Tür eröffnet, ich trete hinein. Es war das erstemal, daß ich mit dem Prinzregenten in persönliche Berührung kam. Er hatte in seiner Person etwas Auffallendes. Er war mager, blaß, Haar und Augenbrauen blendend weiß, dennoch waren die Gesichtszüge die bedeutenden des alten Königsstammes; man erkannte den Herrscher und gewann den rein menschlich Gesinnten lieb. Ich verneigte mich tief. »Es ist mir lieb«, sagte der Prinzregent, »daß Sie wieder zu uns kommen; Sie sind ein guter Kopf, wir werden Sie brauchen können: aber Vorlesungen dürfen Sie nicht halten.« Weder Graf Schimmelmann noch mein Bruder hatten mich einen solchen Empfang ahnen lassen. »Ich bedaure«, antwortete ich darauf, »Ew. Königliche Hoheit, daß ich dann mich als aus meinem Vaterlande, aus dem Dienste ausgeschieden betrachten muß.« Diese erste Anrede erschütterte mich so, daß ich mich ganz vergaß, mich verneigte und gegen alle Sitte, Miene machte, mich stillschweigend zu entfernen. Da äußerte sich die persönliche Güte des Prinzregenten. »Sind Sie so kurz angebunden?« sagte er, »wir können doch miteinander sprechen.« Ich blieb stehen. »Ich kann Sie nicht lesen lassen«, fuhr er fort, »Sie machen mir meine Untertanen verrückt.« »Königliche Hoheit«, erwiderte ich, »mir ist das unglückliche Ereignis welches man benutzt hat, um mir in Ihren Augen zu schaden, bekannt.Als Steffens im Winter 1803 in Kopenhagen durch seine naturphilosophischen Vorlesungen Aufsehen erregte, hatte sich auch ein Geisteskranker zwischen seine Hörer gesetzt und später im Irrenhaus, offensichtlich unter dem verwirrenden Eindruck des Gehörten, öfters den Namen von Steffens ausgerufen; man hatte infolge dieses Vorfalles in Steffens einen gefährlichen Neuerer sehen wollen und durch allerlei Gerede sein Weggehen von Kopenhagen mitveranlaßt. Auf dieses Ereignis bezieht sich die Äußerung des Prinzregenten. Eine jede anstrengende Wissenschaft kann einzelnen geistesschwachen Menschen gefährlich werden«, fuhr ich fort; – »wie viele haben durch das mathematische Studium, durch Bibellesen, den Verstand verloren; ja selbst die vortrefflichen Vorlesungen des Professors Moldenhauer haben so unglücklich auf die Geistestätigkeit eines jungen Mannes eingewirkt.« Dieser hatte einen bedeutenden Einfluß, und ich konnte voraussetzen, daß sein Urteil über mich mir schädlich geworden war. Der Prinzregent lachte und schien mich zu verstehen. »Aber, warum wollen Sie lesen?« fuhr er fort, »Sie können ja in Ihrer Wissenschaft Schriften ausarbeiten; bei uns ist Preßfreiheit, und wenn Ihre Schriften nichts gegen den Staat, die Religion und die guten Sitten enthalten, so wird Ihnen kein Mensch Hindernisse in den Weg legen.« Ich suchte ihm nun darzutun, wie ich mir das Talent, mündliche Vorträge zu halten und dadurch die Jugend zu gewinnen, ganz vorzüglich zutraute; wie eben der lebhafte Beifall, den ich in Kopenhagen, wie später in Halle, gewonnen hatte, mir die Verpflichtung auflegte, eine Laufbahn nicht aufzugeben, die ich so glücklich begonnen hatte. Eben die Erfolge, die meine Gegner zu fürchten schienen, waren mir eine Aufforderung, den Wirkungskreis festzuhalten. Zwar glaubte ich eine sonstige amtliche Stellung gewissenhaft übernehmen zu können: aber für eine solche Stellung waren viele da, ich könnte, um in diese Masse zu treten, die mir verliehene Gabe nicht aufgeben; »und dann«, fuhr ich fort, indem der Prinzregent mich mit großer Geduld und Güte sprechen ließ, »habe ich als Promovierter aus einer einheimischen Universität das Recht erworben, Vorträge zu halten und erscheine also als ein Bestrafter. Dulde ich, daß mir dieses Recht genommen wird, so lege ich damit das Geständnis eines Vergehens ab: und ich sollte, was mir als ein Heiliges dünkte, in eine so schiefe Stellung bringen?« Es scheint, als wenn der Prinzregent diese Äußerung mißverstanden hatte, wie spätere Ereignisse beweisen. Auch jetzt schien er verdrießlich.

Der Gang des Gesprächs ist mir nicht vollkommen erinnerlich; aber es schloß auf eine Weise, die mir das höchste Mißfallen des Prinzen zuzog. Er äußerte mit Heftigkeit, daß ich ja gezwungen werden könne, dänische Dienste anzunehmen, weil ich dänische Reisestipendien genossen habe. Ich wagte es nun, und sehe auch jetzt nicht ein, wie ich es hätte umgehen können, den Prinzen daran zu erinnern, daß ich mich, wie meine Pflicht es gebot, eingestellt und ein dänisches Amt angenommen, daß ich nicht heimlich entwichen, sondern in Gnaden entlassen wäre, »und jetzt, Ihre Königliche Hoheit«, so schloß ich, »bin ich Königlich Preußischer Professor, habe keine Entlassung, sondern nur Urlaub erhalten und habe vor meiner Abreise die Erklärung abgegeben, daß ich, selbst wenn in meinem Vaterlande die glänzendsten Aussichten für mich sich eröffneten, in der gegenwärtigen bedenklichen Lage des Landes keineswegs meine Dienstverhältnisse verlassen würde.« Schon im Verlauf des Gesprächs hatte ich früher dasselbe gesagt. Der Prinzregent äußerte sich auf eine mich kränkende Weise über die preußische Armee und fragte mich spöttisch, ob ich etwa, um das Land zu retten, preußischer Soldat werden wolle. Am Schluß des Gespräches war er sehr laut geworden und entließ mich erzürnt. Als ich die Tür öffnete, um herauszutreten, sah ich, wie die Adjutanten sich eilig entfernten. Sie hatten, das war klar, als das Gespräch lauter ward, gelauscht. Ein jeder trat so weit von mir zurück wie möglich, keiner grüßte mich, und ich ward auch von diesen Herren sehr ungnädig entlassen.

 

Den Sommer 1807 nach dieser verunglückten Unterredung über lebte Steffens mit seiner Familie auf Gütern bei holsteinischen Freunden; Bemühungen um eine Anstellung mißglückten. Im Herbst ging die Familie nach Hamburg. Der Kaufmann Sieveking war als bedeutender Handelsherr, der auch öffentliche Ämter bekleidete, Mittelpunkt eines bedeutsamen Kreises gewesen; seine Frau war die Enkelin des Philosophen Reimarus, des Verfassers der durch Lessing herausgegebenen »Wolfenbütteler Fragmente«.

 

Sieveking war seit mehreren Jahren gestorben, aber der Gesellschaftskreis hatte dieselbe, ich darf wohl sagen, geschichtliche Bedeutung behalten; und die Frau war mit ihren in blühender Gesundheit heranwachsenden Kindern die Zierde desselben. Nie habe ich eine Frau gekannt, die mich so ganz beherrschte, deren stets milde Gegenwart dennoch eine unwiderstehliche Gewalt über mich ausübte. Von ihrer frühesten Jugend an hatte sie in der großartigsten Umgebung gelebt. Alle geschichtlichen Bewegungen Europas, geistige wie politische und kommerzielle, umgaben sie durch würdige Repräsentanten, die in ihrer Nähe erschienen. Zwar war die religiöse Überzeugung, die in diesem Kreise herrschte, nicht die meinige. Die Ansicht, die mit Reimarus anfing und mit StraußDavid Friedrich Strauß, 1808-1874, der Verfasser des »Lebens Jesu, kritisch bearbeitet«, 1835, zu dessen von Dogmatismus freier Haltung sich Steffens im Gegensatz befindet. in unsern Tagen den höchsten Gipfel erreicht hat, bildete, wenn auch weniger entwickelt, doch die Grundlage ihrer Religiosität, und dennoch herrschte in diesem Kreise eine Pietät, ja eine Andacht, die ich mit voller Überzeugung eine christliche nennen muß. Das mannigfaltig wechselnde Leben, durch die bedeutendsten Persönlichkeiten der Zeit gehoben, hatte eine feine, im edelsten Sinne vornehme Darstellung der Geselligkeit, eine Sicherheit in jeder Äußerung, ein anmutiges Maß, welches niemals überschritten wurde, erzeugt, und eben dasjenige, was am waffenlosesten zu sein scheint, die weibliche Zartheit, erschien hier als das Gebietende. Es war eine wunderbare Vereinigung bürgerlicher unbefangener Vertraulichkeit, durch welche die freimütigsten Geständnisse hervorgelockt wurden, mit den sichersten Formen der höheren Kreise, die den Umgang stets anregte und zugleich mäßigte. Die unbeschreibliche Güte dieser herrlichen Frau mußte einen jeden hinreißen; sie schien für andere mehr zu leben als für sich selbst; eine jede fremde Sorge trug sie als die eigene, und das Bedenkliche meiner Lage lastete auf ihr wie auf mir. Nie werde ich den zarten Sinn vergessen, mit welchem sie als Freundin den Gast behandelte. In der Hamburger Klassenlotterie war für die letzte Ziehung eine bedeutende Menge großer Gewinne zurückgeblieben. Als die Ziehung zu Ende war, sagte sie: »Kinder, ich hatte voll Hoffnung ein Los für euch genommen, doch ihr habt kein Glück.«

Mit den übrigen Gliedern der Familie lebte ich auf einem vertrauten Fuße. Der Greis ReimarusReimarus beschäftigte sich in seinem Alter mit der Erforschung der Kunsttriebe der Tiere. zog mich sehr an, und ich versetzte mich gern auf den Standpunkt der Naturwissenschaft, in welchem er sich bewegte, der jetzt zwar als ein veralteter erschien, mich aber mit allem Zauber jugendlich glücklicher Erinnerung umgab. Seine Frau ist selbst in der deutschen Literatur nicht unbekannt geblieben. Sie war in ihrem hohen Alter rüstig, ihre Gesichtsbildung hatte etwas Strenges, und sie besaß jenen bedeutenden körperlichen Umfang, der bei den Frauen in Hamburg wie in Holstein im höheren Alter nicht selten ist; ihre Behauptungen waren schneidend, ihre Ansichten, in der Richtung der sogenannten Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts ausgebildet, entschieden, und ihre Urteile über Menschen, mit deren Benehmen sie unzufrieden war, fielen hart aus. Mich schonte sie nicht und fand auch genug an mir zu tadeln; was sie von meinen philosophischen Ansichten gelegentlich erfuhr, erschien ihr unverständlich und daher verwerflich. Daß ich meine Familie durch einen tadelnswerten Streit mit dem dänischen Regenten in eine so bedenkliche Stellung versetzte, erschien ihr töricht und auf keine Weise zu entschuldigen. In meiner damaligen Stimmung war ich nun keineswegs geneigt, Äußerungen der Art stillschweigend zu dulden. Ich erinnere mich, einmal ihr entschieden entgegengetreten zu sein. »Es kann«, sagte ich, »unmöglich Ihr Ernst sein, das zu vertreten, was Sie gegen mich behaupten.« Sie hatte nämlich zugegeben, daß der Mann jedes Opfer seiner Überzeugung bringen dürfe, wenn er allein für sich zu sorgen habe: anders aber verhielte es sich, wenn das Schicksal der Frau und der Kinder von seinem Benehmen abhängig wäre. »Sie, meine Gnädige«, äußerte ich, »die Korrespondentin des kühnen Lessing, sollten zugeben, daß eine Frau die Grundpfeiler der männlichen Überzeugung erschüttern dürfe? Sie sollten es lobenswert finden, wenn die Mütter die tapfern Söhne zurückhielten von einem gefährlichen Kampfe für das Vaterland? Sie schätzen die Würde Ihres Geschlechts zu hoch, stellen diese zu entschieden in ihrer Reinheit dar und würden selbst, wie in einem bedenklichen Kampfe die spartanische Mutter, so auch als Frau den Mann ermuntern, mit ihr das Elend zu wählen, wo es einem Kampfe für seine Überzeugung galt. Die Verachtung gegen einen Mann, der sich einer in seinen Augen schlechten Sache verkaufte, um sich zu erhalten, würde Ihnen furchtbarer erscheinen als Armut und Verfolgung.«

Was mich schnell bei diesem Streit versöhnte, war die wirkliche Güte, mit welcher sie eine solche harte Erwiderung duldete und, obgleich sie in der Familie eine anerkannte Herrschaft ausübte, mir als Gast eine freiere Sprache erlaubte.

Im Sievekingschen Hause erschien auch der Graf Wallmoden, der die unglückliche Kapitulation im Jahre 1803 an der Elbe schloß; mit ihm der Erbprinz von Lippe-Bückeburg und die Schwester des Freiherrn vom Stein. Ich habe nicht leicht eine Frau gesehen, in deren Gesichtszügen sich mehr eine imponierende echt adlige Gesinnung aussprach. Die Lage dieser bedeutenden Personen war im höchsten Grade bedenklich, ihre Länder in feindlicher Gewalt, ihr Eigentum in Gefahr. Bernadotte hielt Hamburg besetzt, und sein Benehmen ward im ganzen gelobt. Desto mehr ward BourrienneDer französische Gesandte in Hamburg. getadelt. Napoleon, behauptete man, dem er beschwerlich war, wollte ihn von seiner Person entfernen, zugleich aber, da er vieles wußte, was der Kaiser nicht durfte bekannt werden lassen, sein Stillschweigen erkaufen. Es war leicht vorauszusehen, daß durch die Kontinentalsperre die ausgedehnteste Schmuggelei einer Handelsstadt wie Hamburg notwendig ward, wenn nicht alle Handelsverhältnisse zerstört werden sollten. Diese wurde nun durch eine Übereinkunft mit Bourrienne befördert; alle bedeutenden Handelshäuser standen mit ihm in Verbindung, und er mußte durch bedeutende Summen erkauft werden. Seine Finanzen waren bekanntlich im höchsten Grade zerrüttet, und er soll, nachdem kaum einige Monate seines Aufenthalts in Hamburg verflossen waren, über eine Million Franken nach Frankreich geschickt haben. Bernadotte, wurde erzählt, habe sich bei einer öffentlichen Tafel über dieses verächtliche Benehmen streng und unverhohlen in Bourriennes Gegenwart geäußert.

Hamburg war damals natürlich in einer sehr unangenehmen Lage; mehrere der größten und reichsten Handelsherren würden sich zurückgezogen haben, wenn ihre Entfernung nicht den sichern Ruin der Stadt herbeigeführt hätte. Besonders waren die bedeutenden Summen, die in der Bank lagen, gefährdet, aber aller Kredit der Handelsstadt wäre verschwunden, wenn man sich die Kapitalien, die hier ruhten, hätte auszahlen lassen. Jerome Sillem war damals schon mit dem russischen Hofe durch bedeutende Finanzangelegenheiten verbunden; er dachte wohl an die Möglichkeit, wenn Hamburg lange in französischer Gewalt blieb, wenn die Kontinentalsperre fortdauerte, Hamburg zu verlassen und alle seine bedeutenden Kapitalien nach Petersburg hinzuziehen. Aber die Liebe zu seiner Vaterstadt hielt ihn noch immer von diesem Entschluß zurück. In den geselligen Verhältnissen der großen Handelshäuser merkte man zwar keine Veränderung; bei der Tafel herrschte der nämliche Luxus: aber ein innerer Wurm zehrte an diesem äußern Glanz, und die Häuser, die mir bekannt waren, Sillem, Hamburry und Sieveking, verbargen es nicht, daß sie jährlich bedeutende Verluste erlitten.

Philipp Otto RungePhilipp Otto Runge ist 1777 in Wolgast geboren, er lebte seit 1804 in Hamburg. Sein Bruder Daniel gab seine »Hinterlassenen Schriften« im Jahre 1840 heraus. – Er ist der Schöpfer eines reichen, von außergewöhnlicher Intuition zeugenden, romantischen Werkes auf dem Gebiete der Malerei, der Porträtkunst und des allegorisierenden Stiles. Durch seine Verbindung mit Tieck trat er auch als Schöpfer von Märchendichtungen (»Van dem Machendelboom« und »Vom Fischer un syner Fru«) hervor. Er starb 1810. war, als er bei meinem früheren wie späteren Aufenthalte in Hamburg in dem vertrautesten Umgange mit mir lebte, dreißig Jahre alt. Seine erste Bekanntschaft hatte ich mehrere Jahre früher in Dresden gemacht, wo er in dem genauesten Umgange mit Tieck lebte. Dieser nur zu früh gestorbene Künstler erregte zu seiner Zeit eine große Teilnahme, und da das Andenken an ihn durch die Herausgabe seiner hinterlassenen Schriften erneuert ist, so halte ich mich um so mehr verpflichtet, das Bild dieses in vieler Rücksicht merkwürdigen Mannes zu geben, wie es mir erschien und so gut ich es zu entwerfen vermag.

Das seinen Schriften vorgedruckte Bildnis ist nach dem Ölgemälde, welches er selbst gemalt hat, und man kann es ein ziemlich gelungenes nennen. Er war von mittlerer Größe, schlank gebaut, zeichnete sich aber besonders durch einen starken Knochenbau aus, den man an den Händen und Füßen, aber auch im Gesicht erkannte. Seine Gesichtszüge waren dessenungeachtet höchst einnehmend und bedeutend; jeder, der ihn sah, ahnte in ihm eine phantasiereiche Dichternatur. Seine großen, lebendig sinnenden Augen waren gewöhnlich nach innen gekehrt und hatten eine unbeschreiblich anziehende Gewalt. Seine dicht geschlossenen Lippen waren ungemein zart, und aus den leisesten Bewegungen derselben sprach sich etwas Sinniges und Geistreiches aus. Er war in Gesellschaft unbekannter Menschen still und verschlossen; im vertrauten Kreise aber gab er sich gern und willig hin. Er lebte in Hamburg als glücklicher Ehemann, und ich brauche dieses Verhältnis nur kurz zu erwähnen. Die Briefe an seine Frau, vor und nach seiner Ehe, wie viele Briefe an seine Freunde, die jetzt gedruckt sind, enthüllen uns die Tiefe der mit allen seinen künstlerischen und dichterischen Gedanken innig verbundenen Neigung. Es gibt wenige Menschen, die sich so ganz als Fremdlinge auf der Erde darstellen wie er. Alle seine Gedanken, dichterische wie künstlerische, bewegten sich in einer höhern geistigen Welt, in welcher er lebte, und aus welcher jede Äußerung entsprang. Wenn junge Männer nicht selten sich bemühen, einem in allen äußeren Rücksichten gefesselten sinnlichen Dasein äußerlich eine höhere Bedeutung zu geben, das Gemeinste und Geringste mit hohen, aber leeren Worten zu übertünchen – ein Versuch, der immer auf eine widerwärtige Weise mißlingt –, so erschien Runge hingegen mit einer unbefangenen und ungesuchten Wahrheit. Er suchte nie Worte, ich hörte nie einen Menschen sprechen, der mit großer Tiefe so einfach sich äußerte wie er; gewöhnliche Menschen übersahen ihn ganz, aber die wärmste Neigung eines jeden Menschen, der ihm einmal nahegetreten war, erwarb er sich auf immer. Es entstand fast unvermeidlich ein Gefühl in seinen Freunden, durch welches sie gezwungen wurden, ihm tätig zu dienen, alles in seiner Umgebung so zu ordnen, daß das innere, in der Erscheinung fremde Dasein in allen Richtungen sich frei entwickeln und äußern konnte. Dieses, daß, wer ihm nahetrat, ihm dienen mußte, gestaltete sich deswegen als eine unvermeidliche Forderung, weil die verschiedenen Richtungen seiner Arbeiten weit auseinander lagen und dennoch so durchaus von einem einigenden Lebensprinzip durchdrungen waren, daß seine Freunde mit der gespanntesten Erwartung der reichen, lebendigen Gestalt entgegensahen, deren Geburt angekündigt war und die nun erscheinen mußte. Dieses erkannten seine Freunde, seine Familie, vor allen der Herausgeber seiner hinterlassenen Schriften, sein Bruder, der ganz für ihn lebte und sich opferte.

Wenn Runge unter seinen Freunden saß, erschien er im wahrsten Sinne kindlich. Die geringsten, gewöhnlichsten Ereignisse erhielten einen dichterischen Anstrich, und das Unbedeutendste erschien ihm märchenhaft. Ich habe auf diese Weise Abende erlebt, durch die Unterhaltung, die von ihm ausging, so seltsam gehoben, daß, wäre es möglich, sie, wie sie waren, darzustellen, eine Dichtung zum Vorschein kommen würde, die zu den vorzüglichsten gerechnet werden müßte, die jemals erschienen sind. Das Phantasiereiche und Kindliche in der plattdeutschen Sprache trat dann mit einem unwiderstehlichen Zauber hervor; die beiden in der deutschen dichterischen Literatur allgemein bekannten und geschätzten Märchen hörte ich an solchen Abenden von ihm erzählen, als sie noch nicht gedruckt, ja noch nicht aufgeschrieben waren; und sie erschienen da um so bedeutender, weil sie nicht isoliert etwa als ein verfertigtes vorgelesenes Gedicht fremdartig in eine prosaische Welt hineintraten, weil wir vielmehr sämtlich als Kinder von dem wunderbaren Grauen des Lebens ergriffen waren, so daß die Märchen uns fast wie das Natürlichste, die gewöhnliche Reflexion aber als etwas Unwahres und Nichtiges erschien.

So sehr auch Novalis durch Bildung und Ansichten des Lebens von Runge verschieden war, so wurde ich doch immer an jenen erinnert. Novalis lebte in einer reichen Mythenwelt, wie sie sich geschichtlich gestaltet hatte, er lebte forschend, grübelnd, bildend in ihr und sprach aus ihr heraus. Hier aber glaubte ich das Mythen erzeugende Organ inmitten einer kalt reflektierten Zeit unmittelbar wahrzunehmen.

In der Tat: es war merkwürdig, wenn man nun neben dieser rein phantastischen Richtung seines Geistes die Schärfe der Auffassung bestimmter Gegenstände, denen er in allen ihren Beziehungen nachforschte und sie zu verfolgen suchte, wahrnahm. Als Maler war ihm die Natur und Bedeutung der Farben höchst wichtig, aber obgleich auch diese in einer tiefern, fast mystischen Bedeutung aufgefaßt wurden, so vergaß er doch keineswegs die durchaus äußeren, für das Technische wichtigen Verhältnisse. Es wäre in der Tat wünschenswert, wenn die Untersuchungen, die er anstellte, die Versuche, durch welche er den Farben Dauer zu erteilen unternahm, selbst wenn sie nicht ganz gelungen waren, allgemeiner bekannt wurden. Da in den letzten Dezennien die Malerkunst wieder aufzuleben anfängt, nachdem sie fast verlorengegangen oder mit untergeordneten Gegenständen beschäftigt und in untergeordneten einseitigen Manieren gefesselt war, ist es mit Bedauern bemerkt worden, wie schnell mehrere der vorzüglichsten Bilder der neuesten Zeit nachgedunkelt sind. Die Kunst, welche die Alten so wohl verstanden, der Frische und dem Glanze der Farben in ihren Bildern Dauer zu verschaffen, scheint in der Tat verschwunden oder wenigen Malern nur noch wie durch einen Zufall eigen zu sein. Auf diesen Gegenstand war Runges Aufmerksamkeit sorgfältig gerichtet. Was Albrecht Dürer und vorzüglich Leonardo da Vinci über die Farben geschrieben hatten, war ihm wohlbekannt. Einen alten chemischen Laboranten in Altona, der sich viel mit Versuchen in der Farbenchemie beschäftigte und im Besitz bestimmter Geheimnisse zu sein glaubte, hatte er persönlich kennengelernt. Seine Geheimnisse gab dieser nicht für eigene Erfindungen, vielmehr für Überlieferungen aus, und Runge verschmähte es nicht, sich mit ihm einzulassen. Das große lebhafte Interesse, welches er zeigte, erwarb ihm das Vertrauen des alten Adepten. Runge selbst stellte eine Menge Versuche an. Inwiefern diese Arbeiten zu irgendeinem bedeutenden Resultate führten, ist mir unbekannt geblieben. Die Schwierigkeit bleibt immer, daß das entscheidende Urteil erst nach einer bedeutenden Länge von Zeit gefällt werden kann.

Aber mit welcher Strenge und Schärfe der Beobachtung er einen bestimmten Gegenstand behandelte, beweist seine Schrift: »Die Farbenkugel«, in welcher er die Verhältnisse aller Mischungen der Farben zueinander in ihrer vollständigen Verwandtschaft zu konstruieren und eine Ableitung der Harmonie in der Zusammenstellung derselben nachzuweisen suchte. Diese Schrift, streng auf ihren Gegenstand beschränkt, ist als ein Muster einer in sich ganz abgeschlossenen Untersuchung, selbst für die Naturwissenschaft, zu betrachten.

Obgleich nun diese Arbeit in ihrer Abgeschlossenheit ebenso abgesondert von der großen, künstlerisch-dichterischen Unternehmung Runges wie von der theoretisierenden Physik daliegt, einem vollendeten Faktum ähnlich, so ist doch die Betrachtung desselben für einen jeden, der Runge richtig schätzen will, von großer Bedeutung. Es gibt keinen Künstler der neueren Zeit, der sich so unbedingt seiner reichen Phantasie hingab, und bei dem ersten Anblicke scheinen seine Produkte mehr einem willkürlichen Traume ähnlich, in welchem alle bestimmten Gestalten sich durch unsichere Verwandlungen in das Gestaltlose hineintauchen und zu verschwinden drohen. Wenn wir nun aber sehen, wie dieser scheinbar träumerische Künstler mit der kältesten Besonnenheit einen verwickelten Gegenstand in allen seinen Beziehungen zu umfassen vermag, dürfen wir dann voraussetzen, daß er in seinen Darstellungen alle Besinnung verloren hat? Muß man nicht vielmehr glauben, daß die wunderbare Freiheit soviel wagt, weil sie von einer besonnenen Zuversicht sicher getragen wird? Daß sich eine verhüllte, tiefe Absichtlichkeit in dem scheinbar willkürlichen Spiel verbirgt? Seine Produkte mögen uns rätselhaft erscheinen, aber die Rätsel sind sinnvoll, sie stoßen nicht zurück, sie ziehen uns vielmehr an, und wir können sie nicht verlassen, ohne mit aller Anstrengung ihre Lösung zu versuchen.

So erfreulich das Wiederaufleben der Kunst in unseren Tagen ist, so gern wir die Bewunderung der bedeutenden Talente, die zum Vorschein gekommen sind, teilen: so müssen wir doch gestehen, daß eine so tief geistig bewegte Zeit wie die unsere eine neue, ihr zugehörige eigentümliche Kunst fordert. Was wir besitzen, ist mehr oder weniger Wiederholung des Dagewesenen; von dieser Überzeugung war Runge durchdrungen und in dieser Hinsicht recht eigentlich ein Kind der lebendigen neuen Zeit, die hervortrat; in seiner reinen Ursprünglichkeit dem Tiefsten, was damals laut wurde und sich wechselseitig verständigte, gleich.

Alle Kunst ist Mythe, ja diese findet ihre reine, vollendete Darstellung erst in der Kunst. Allerdings hat eine jede Religion, auch die wahrste und heiligste, ihre mythische Seite, aber keine, auch nicht die verirrte, entspringt aus der Mythe. In der Religion bewegen sich alle Momente des Daseins, und in dieser lebendigen Einheit aller geht sie einer höheren, über das bloß sinnliche Dasein hinausreichenden Entwicklung entgegen: aber sie will, ja sie soll sich auch sinnlich darstellen, sie soll innerhalb der sinnlichen Entwicklungsstufe, auf welcher wir leben, eine vollendete Gestaltung erhalten, sie soll irdischer Natur, d. h. Kunst werden. In dieser Richtung bleibt das Dasein zwar, wie jede historische Erscheinung, wo es eine wahre Bedeutung behält, wo es also als eine Verklärung der Geschichte erscheint, in seiner Quelle religiös. Die Religion ist das Gewissen der Kunst wie jeder irdischen Tat. Die Richtung gegen die Kunst aber ist in der Bewegung der erscheinenden Geschichte als eine besondere befangen, nicht eine Bewegung des ganzen Daseins wie die Religion, sie ist Poesie, Mythe. So ist in der lebendigen Zeit des Katholizismus auch die christliche Religion dichterisch geworden, und diese Dichtung hat ihre Vollendung gefunden in einer mythischen Kunst. Das Christentum hat nicht angefangen mit einer Mythe; wer diese Behauptung aufstellt, verkennt durchaus seinen göttlichen Ursprung. Eine bestimmte irdische Entwicklungsstufe aber schloß mit einer solchen, wie mit einer bestimmten Bildung der Wissenschaft, des Volkslebens, des Staates. Wir haben recht, wenn wir die tiefe göttliche Absichtlichkeit, die sich in diesen Bildungen verbarg, bewundern: aber sie bilden sämtlich unsere Vergangenheit, die nicht verdrängt, wohl aber einer höhern reicheren Metamorphose entgegengeführt werden und in dieser selbst eine tiefere Bedeutung erhalten soll.

Runge hat sich selbst über seine Ansicht einer neuen Kunst geäußert, und diese Äußerungen liegen uns jetzt in aller Ausführlichkeit vor. So aber, wie sie da sind, waren sie nicht für das Publikum bestimmt, es war vielmehr eine innere tiefe Aufgabe, die Verständnis, Lösung und Mitteilung bei den nächsten Freunden suchte. Der Reichtum, der in diesem Anfange einer neuen Kunst lag, stimmte mit der geistigen Bewegung der ganzen Zeit überein. Der Keim der neuen Entwicklung schloß den Menschen nicht als ein isoliertes, leibliches, sinnliches Gebilde in sich, vielmehr ihn selbst mit seiner Welt; alle Naturgebilde sollten den Menschen mit seinen inneren Kämpfen und Siegen darstellen, und der Mensch sollte wiederum ganz Natur sein. Ich selbst gehörte zu denen, die, als die hinterlassenen Schriften erschienen, die große Ausführlichkeit zu tadeln geneigt waren. Je mehr ich mich aber mit diesen Schriften beschäftigte, desto entschiedener trat die Überzeugung hervor, daß nichts fehlen dürfe. Wer würde es wagen, an diese Konfessionen die abkürzende Hand zu legen?

Die Arabesken, mit welchen er anfing, enthielten den lebendigen Keim einer neuen Kunst; in einem solchen Keim aber liegt ein überschwenglicher Trieb der Bildung, eine reiche, aber unbestimmte Zukunft, die geweissagt, angedeutet, aber nicht dargestellt werden kann. Die Tageszeiten, wie sie zuerst erschienen, zeigten in ihrer Komposition etwas Architektonisches; das Beweglichste erhält dadurch einen ruhenden Charakter und wird plastisch, und alle drei Richtungen der Kunst treten in diesem Anfange in ihrer Einheit hervor. Die tiefe Absichtlichkeit, die in den Darstellungen sich ausspricht, ist leicht zu entdecken. Der heiße Tag, der kühle Abend, die träumerische Nacht, alle diese Darstellungen sprechen uns in ihrer Eigentümlichkeit unmittelbar an; aber der tiefe, verborgene Sinn, durch welchen die Bilder sich in Schriften reichen Inhalts verwandeln, Gestalten Worte und die bedeutungsvollsten Worte Gestalten werden, treten erst nach einem langen Studium dem Betrachtenden entgegen. Der Ausdruck »Symbol« wäre hier ein schwacher und schiefer; in diesem nämlich liegt immer etwas von äußerer Beziehung zwischen Gestalt und Wort; es fällt keinem ein, die Worte Symbole der Gedanken zu nennen, und wie das treffende Wort der reinste Ausdruck der Gedanken, so sind in diesen Darstellungen die Gestalten die reinsten Ausdrücke der Worte.

Ich habe oben unter den Tageszeiten die Darstellung des Morgens nicht genannt. Runge war mit dieser nicht zufrieden. Eine spätere in sich klarere Darstellung schickte er mir in einer Zeichnung kurz vor seinem Tode. Es ist das einzige Bild, welches auch als Ölgemälde ausgeführt wurde. In diesem treten auch die Farben in ihrer mythischen Bedeutung hervor. Das Gemälde ist in dem Besitze des Bruders, und wenn es als Ölgemälde nicht verglichen werden kann mit den Werken großer Meister, so darf man nicht vergessen, daß diese Werke die künstlerische Vollendung einer vergangenen Zeit, das Gemälde meines Freundes aber der erste unvollkommene Anfang einer neuen Kunst ist. Die für mich entworfene Zeichnung, die ich als einen großen Schatz bewahre, ist in Hamburg lithographiert. Das, worauf ich bei dieser aufmerksam machen will, ist der Gegensatz zwischen der Morgenröte und einem auf dem Rücken liegenden, spielenden Kinde. Die natürliche Lage des Kindes, wodurch es sich von allen Tieren unterscheidet, ist, daß es auf dem Rücken liegt; daß sich bei den neugebornen Tieren so früh das Gehen entwickelt, beweist eben, daß sie der Vormundschaft der Natur noch nicht entrückt sind. Das hilflose Kind, welches man bedauert, ist aber von der Natur losgesprochen; es ist in eine höhere Welt versetzt, es ist geboren, von den Armen der Liebe getragen zu werden. Wenn das nackte Kind gegen das Ende des ersten Jahres, von aller Bedeckung entblößt, frei und spielend auf dem Rücken liegt, dann gibt es keinen heiligern Ausdruck der Morgenröte als der in dieser Gestaltung ausgesprochen wird. Das Kind ist schon durch das Säugen mit den Armen vertraut; Organe, die tätig sind, sind schon durch die Tat der Reflexion entronnen, und wenn ein Kind sich zuviel mit der Betrachtung der Hände und Finger beschäftigt, so kann man fast eine Krankheit voraussetzen. Die Beine und Füße dagegen bleiben in den ersten Monaten untätig; sie erscheinen fast als dem Kinde nicht zugehörig; eine innere Ahnung aber zieht die Aufmerksamkeit auf diese Glieder, wie später auf andere Kinder, in welchen der Keim gegenseitiger Entwicklung derselben Stufe sich ahnungsvoll ausspricht. Die Betrachtung geht nun in eine lebhafte Bewegung über. Das Kind rührt die unteren Glieder fortdauernd spielend und kann nicht müde werden, es zu tun; das Kriechen oder Gehen ist als Gegenwart in dieser Bewegung gar nicht gegeben; es scheinen diese beiden Bewegungen sogar noch immer unmöglich: und dennoch scheinen sie in einer Gegenwart, welche die bestimmte Tätigkeit ausschließt, ein dunkles Bewußtsein des zukünftigen Kriechens und Gehens, die Vorübungen, ich möchte sagen, die Studien einer spätern Tätigkeit zu verbergen. Das Kind kann nicht sprechen, das Lallen enthält ebensowenig die Elemente der Sprache wie das Spielen mit den Füßen die Elemente des Gehens. Was ist nun dieses jubelnde Lallen, das gar nicht aufhören will? Es ist die noch geschlossene, aber schwellende Knospe der Sprache. – Eine jede Mutter, die so das spielende Kind betrachtet, trägt einen Himmel der Zuversicht und der Hoffnung in sich.

So als ein mit den Füßen spielendes, mit der Zunge lallendes Kind, aber auch mit der Prunklosigkeit der Entwicklung des Kindes und von der reichen Hoffnung erfüllt, muß man jene Rungeschen Anfänge der Kunst betrachten. Das Spielen zwischen Kindern und Blumen, die sich wechselseitig verständigen, soll einen Tag der Kunst herbeiführen, stellt ihn aber noch nicht dar; daß jedoch dieses scheinbar nutzlose Spiel nicht ein leeres sei, das beweist die tiefe Absichtlichkeit, die in ihm verborgen liegt wie in dem Organismus des Kindes.

Meine Bekanntschaft und innige Verbindung mit Runge rief zuerst die Bedeutung einer neuen Kunst, einer neuen Poesie, die ich erwartete, hervor; sie schwebt mir noch immer wie eine zukünftige, lebendige Hoffnung vor der Seele, obgleich die ersten Töne der Poesie, welche die künstlerische Vollendung der Mythe verkündigen und beleben sollten, mit der Tieckschen Märchenwelt ebenfalls in ihrem kindlichen Lallen verklangen. – Runge war dem Tode geweiht; die hektische Konstitution sprach sich entschieden aus, die roten FIecken auf den Wangen verkündigten die Annäherung der letzten Stunden, und ein tief wehmütiges Gefühl durchdrang mich, als ich mich zuletzt von ihm trennte.


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