Henrich Steffens
Was ich erlebte
Henrich Steffens

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Vorwort des Herausgebers

Wir sind es gewohnt, die Wende des achtzehnten Jahrhunderts als die Zeit zu erfassen und zu lieben, in der Goethe und Schiller, Novalis und Hölderlin, Kleist und Jean Paul den deutschen Geist wie auf Flügeln in die Gefilde der Unendlichkeit erhoben. Als die gültigen und bleibenden Zeugnisse einer mächtigen geistigen Bewegung sehen wir ihre Schöpfungen, verbunden mit denen vieler anderer, in die Geschichte eingegangen, während sich die großen zeitgeschichtlichen Gärungen und Entwicklungen, die im einzelnen das Gesicht der Epoche bildeten, meistens vor unseren Blicken verschleiern. Die leuchtenden Gedanken in der Philosophie und Wissenschaft dieser Zeit, die Werke der Künste und der Dichtung beschäftigen uns Heutige aber weniger deshalb, weil ein einmalig Gewordenes, das unsere Erkenntnis reizte, als weil ein Bleibendes in ihnen hervortritt, das unser Leben mitumschließt: die bei gewaltigen Erschütterungen zutage tretende Gemeinkraft unseres Volkes; wir suchen diese als Verbindung von geistigem Erkennen, künstlerischem Schaffen und politisch-staatlichem Wirken gerade in der Epoche unserer Geschichte, die nicht nur wir, sondern alle Völker neben uns als vorbildliche Leistung der deutschen Seele ansehen.

Menschen von einem unheimlich entwickelten Spürsinn haben oft eine nicht minder großartige Bedeutung als jene schöpferischen Genien. Der Beobachter eines Zeitalters in allen seinen Erscheinungen und Verflechtungen kann selber Zeugnis seiner Größe werden, wenn die Erschütterungen des Grundes, die Strömungen des Geistes unabgelenkt durch ihn hindurchfluten und in seinem Innern auf ein von der Natur mit der feinsten Zartheit für das Aufnehmen der Schwingungen ausgestattetes Gemüt treffen. Es bildet sich dann in ihm ein besonderes Kraftfeld, gemischt aus eigener Gestaltung des Erfahrenen und aus genauer Beobachtung; und es bedeutet für die Spätergeborenen gleichermaßen etwas als Vermächtnis einer geistig großartigen Epoche, wie eines in Aufnahme, Ablehnung, Unterscheidung und Bewahrung geübten Herzens. Henrich Steffens' (1773–1845) selbstgeschriebene Erfahrungshinterlassenschaft »Was ich erlebte« (1840–1843 erstmalig in zehn Bänden erschienen) zeigt in einem beispielhaften Grade und Umfange diese Eigenschaften.

Abseits von dem Schauplatz der eigentlichen geistigen Schlachten des achtzehnten Jahrhunderts geboren, in Norwegen, aber als Sohn eines Holsteiners, kam er mit naturwüchsiger Bereitschaft und voll glühender Erwartung nach Deutschland. Er wurde nicht enttäuscht. Schon mit dreiundzwanzig Jahren Dozent für Naturgeschichte an der Universität in Kiel, später in Jena, Halle, Breslau und Berlin, wurde er Schüler des bedeutenden Geologen Werner und einer der treuesten Jünger Schellings und erarbeitete sich mit unverbildetem Sinn für die Einsgestalt in der Natur und mit christlichem Willen, alles Geschaffene als Ausfluß eines ewigen Formgesetzes zu verehren, eine Ansicht über Natur und Mensch, die er in seinen beiden Hauptwerken, den »Grundzügen der philosophischen Naturwissenschaft« (1806) und der »Anthropologie« (1822), niederlegte. Hierin verband sich als gültiger Beweis für deren Gleichgerichtetheit Gefühlschristentum mit den spekulativen Kräften des deutschen Idealismus. Wir betrachten diese Werke als Zeugnisse einer in wunderbarer Weise auf eine Alldurchdringung des Kosmos mit sämtlichen Seelen- und Vernunftkräften vorbereiteten und von Bildungsmächten weitergeleiteten Seele – sie haben aber Steffens' Erdenleben nicht aus den mancher seiner Zeitgenossen herausgehoben. Das Besondere an ihm ist vielmehr seine Glücksgöttin, die ihn wirklich das Geistige mit dem Politischen, das Spekulative mit dem Kämpferischen zusammenwerfen und in eins erfahren ließ: sein mitreißender Einsatz in den Befreiungskriegen 1813 und 1814, sein soldatisches Gewissen, das ihn für die geliebte Sache, für die Existenz des von ihm verfochtenen Geistes auch das Schwert schärfen und es schließlich selbst ergreifen ließ. Im Märzmonat 1813 stand Steffens als preußischer Universitätslehrer in Breslau vor seinen Zuhörern und hielt jene entflammende Rede an die herbeiströmende Jugend, die ihres unmißverständlichen Charakters wegen die Demarche des französischen Gesandten bei dem Staatskanzler von Hardenberg veranlaßte. Wenige Tage darauf wurde der »Aufruf an mein Volk« erlassen. Es mag zu Recht oder zu Unrecht geschehen sein, daß Steffens' rednerische Tat in dem Strudel der in der Folge eintretenden gewaltigeren Ereignisse untertauchte und nicht die von ihm erhoffte Rühmung fand; wie dem auch sei: Zeichen wie die Verleihung des Eisernen Kreuzes sprechen dafür, daß Friedrich Wilhelm III. eine Dankesschuld begleichen wollte, die ihm am Herzen lag. Jedenfalls gehört Steffens in eine Reihe mit Stein, Scharnhorst, Blücher und Gneisenau, hat er doch, wenn auch nicht gradmäßig, so doch artmäßig in der gleichen Weise für Preußen-Deutschland unter vollem Einsatz der Person gekämpft.

Die Romantik von Jena, die nationale Erneuerung Preußens und die Kämpfe um eine religiös begründete Staatsauffassung nach dem Kriege sind die entscheidenden geistigen Wesenheiten, die Steffens miterlebte, in sich aufnahm und mit dem wunderbar zarten und zugleich bestimmten Instrument seiner Sprache der Nachwelt übermittelte. Die politischen Begebenheiten in den Freiheitskriegen wirken in der Steffensschen Schilderung – und diese Erkenntnis macht sie so besonders wertvoll – als eine der Einwirkung von Seiten eines mächtigen Feindes wie einer vorübergehenden Lähmung im Inneren still und unablässig vom Grunde her entgegenwirkende Bewegung eines im Metaphysischen verankerten Volkskörpers, dessen Zukunft ständig von geistigen Impulsen angestoßen und gestaltet wird. Sinnbildliche Namen hierfür sind in Steffens' Rückschau Gneisenau, Stein, Schleiermacher, Wilhelm von Humboldt, Scharnhorst und Blücher; sie stellen die nach außen erkennbaren, in die Breite wirkenden gleichen Entladungen jener völkischen Energie dar, die sich, ins Innere gewendet, in Goethe, Fichte und Schelling anschickte, die Weltherrschaft für den deutschen Geist zu erobern. Denn alle Taten der Führer und Helden als ein geistig Gemeinsames mit denen der Dichter und Denker zu sehen, blieb dieser rein gestimmten Seele ein unumstößliches Erleben. Der Greis schrieb seinen Lebensrückblick am Ende seines Lebens; er bedauerte es, daß sich kein großes welthaltiges Gedicht wie etwa Dantes Commedia aus ihm heraus hatte vollenden wollen; Steffens hat aber – so scheint es uns heute – die ihm von der Natur gestellte Aufgabe nicht besser erledigen können als mit Hilfe seines durch die Strenge des Philosophen auf das Zusammenschauen eingestellten Blickes, der uns in seinem Vermächtnis die eindrucksstärkste Bildersammlung aus einer großartigen Epoche der deutschen Geschichte geschenkt hat.

Aus der Art des Gegenstandes ergab sich für den Herausgeber die besondere Verpflichtung, das Werk »Was ich erlebte« in der Anlage als Ganzes zu erhalten, aber das aus ihm auszuscheiden, was unter der veränderten Blicklage zu sehr auf Einzelheiten eingeht oder ein durch die Geschichte bewiesenes irriges Urteil des Verfassers verrät. Die zehn Bände des ursprünglichen Werkes wurden insofern als Einheit in sich erhalten, als sie von dem Herausgeber gleichsam komprimiert und mit überleitendem (im Satz unterschiedenem) Bericht versehen wurden, so daß der Fluß des Steffensschen Lebens gewahrt blieb und der Leser ohne Unterbrechungen dem Gang der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte in Deutschland von den achtziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts bis zur Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. und ihren wesentlichen politischen Zeitgeschehnissen folgen kann. Vor allem sind die geistigen Grundrichtungen des Mannes und des Werkes rein mitgeteilt.

Willi A. Koch


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