Johanna Spyri
Wo Gritlis Kinder hingekommen sind
Johanna Spyri

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Neuntes Kapitel

Eine letzte und eine erste Reise

Eben war ein großer Reisewagen am Hause des Arztes vorübergefahren, worin ganz allein eine schwarze Frau saß. Das mußte die Klarissa sein, die gekommen war, Nora heimzuholen. Die Doktorskinder standen alle vier im Garten und schauten still dem Wagen nach, denn sie empfanden, wie traurig diese Reise sein mußte. Die Tante stand oben am Fenster und schaute mit ihnen dem Wagen nach. Als er unten um die Ecke verschwunden war, winkte sie dem Fred, heraufzukommen; sie stand in seinem Zimmer. Er kam augenblicklich heraufgerannt.

»Sieh, Fred, ich räume dir ein wenig auf, du hast hier eine ziemliche Unordnung, und Dinge, die keinen Wert haben, wollen wir nicht aufbewahren. In dieser Schachtel ist ein totes Tierchen, das werfe ich nun fürs erste fort.« Die Tante ging ans Fenster mit der Schachtel.

»Um's Himmels willen, Tante, was willst du machen?« schrie Fred auf und stürzte sich auf die Schachtel; »das ist meine schönste Raupe, das gibt ja den prachtvollen Totenkopf nachher, das ist der allerschönste Schmetterling mit der wundervollsten Zeichnung auf den Flügeln.«

»Ach was noch gar«, sagte die Tante, »dies Tier hier ist ganz tot und bewegt sich gar nicht mehr, da ist ja alles fertig.«

»Aber Tante, weißt du denn gar nichts von der Geschichte der Raupe? Das ist ja schrecklich!« rief Fred in großer Aufregung aus, die Schachtel so fest als möglich in seiner Hand haltend. »Siehst du, hier liegt sie jetzt eingepuppt und ist ganz wie tot; und diese Hülle, die du siehst, ist auch tot, die wird nachher zurückgelassen. Aber siehst du, darunter, zu allerinnerst, ohne daß du es sehen kannst, ist doch etwas lebendig geblieben, denn auf einmal, wenn es Zeit ist, verläßt es diese Schale, denn die gehört nun nicht mehr zu ihm, und auf fliegt es mit schönen Flügeln und ist ein ganz neues, prächtiges Geschöpf.«

»Das kann ich aber nun wirklich nicht begreifen, Fred«, sagte die Tante, »wie es zugeht, daß ein Wurm, der immer an der Erde gekrochen hat, erst ganz tot daliegt und dann auf einmal schöne Flügel hat und davonfliegt als ein neues Geschöpf und den alten Leib, mit dem er an der Erde kriechen mußte, zurückläßt. Kannst du das begreifen, Fred?«

»Nein, ich begreife es schon nicht«, entgegnete Fred; »aber es ist ja gewiß so, Tante, ganz gewiß, wenn man schon nicht begreift, wie das so sein kann.«

»Fred«, sagte die Tante ernsthaft, »wenn nun das Innerste, das in der Nora lebendig war, gerade so die tote Hülle verlassen hätte und aufgestiegen wäre zu fernen, schönen Höhen, um dort als ein neues, herrliches Wesen fortzuleben?«

Fred wurde ganz nachdenklich. »Daran habe ich gar nicht gedacht«, sagte er dann, »jetzt muß ich ganz anders an die Nora denken. Die wird aber froh gewesen sein, so frei aufzufliegen, da sie doch so krank gewesen war in der ersten Haut! Aber gelt, Tante, du bist auch froh, daß du nun die Geschichte der Raupe so klar weißt; die ist doch sehr merkwürdig.«

»Gewiß ist sie, Fred. Man kann auch so gut daraus sehen, daß es Dinge gibt, die wir nicht begreifen und erklären können und die doch geschehen, die auch kein einziger Gelehrter noch ergründet hat. Darum, wenn du dann einmal ein Gelehrter wirst, Fred, – und das kannst du schon werden in deinem Fach, wenn du so eifrig fortfährst – und du auf die unbegreiflichen Dinge stößest, dann sage dir nur jedesmal demütig: ›Da ist etwas, das ich nicht erklären kann, da kommt der liebe Gott!‹ Und dann bewundere seine Größe, die weit über dich hinausgeht!«

Fred packte ganz andächtig seine eingepuppte Raupe wieder zusammen und schaute sie noch einmal lang und genau an, denn er mußte jetzt erst recht über die Verwandlung nachdenken, die sich in dem Tierchen vollzog, während es ganz tot dalag. –

Klarissa war bei Frau Stanhope angekommen, aber ihr Erscheinen brachte der Trauernden keinen Trost; es war, als ob nur alle Erinnerungen in ihr mit erneutem Schmerz aufstiegen. Klarissa wollte so gern etwas von den letzten Tagen der Nora hören und wie sie entschlafen war; aber es war der Mutter nicht möglich, darüber zu sprechen, und Klarissa schwieg still, denn jede Frage brachte einen neuen Ausbruch des Schmerzes hervor. Sie setzte sich dann hin und schaute in das friedliche Angesicht der Nora, das für sie eine Sprache hatte, die ihr wohltat. Als sie aber am folgenden Tage hörte, daß das Kind Elsli allein bei der Nora gewesen sei, als sie entschlief, da wünschte sie sehr, das Kind zu sehen, und schickte nach ihm aus, daß es zu ihr komme. Als nun das Elsli zum ersten Male wieder in die Stube eintrat, wo es so viele glückliche Stunden mit der Nora verlebt hatte, und dort ihren leeren Sessel am Fenster stehen sah, mußte es sehr weinen. Klarissa nahm das Kind mit großer Freundlichkeit bei der Hand und setzte es neben sich hin. Dann fing sie an, von der Nora zu sprechen, und jetzt ging dem Elsli das ganze Herz auf, denn seit es von der entschlafenen Nora weggegangen war, hatte es noch kein Wort von ihr sprechen können, und doch erfüllte sie ja alle seine Gedanken. Dem Elsli verging völlig seine große Schüchternheit, und es erzählte in einem Flusse fort von allen Worten der Nora, wie sie ihm von dem schönen Lande erzählt hatte, wo sie zusammen hingehen wollten, und welch schönes Lied sie immer zusammen gesagt hatten, und das Elsli sagte im vollen Zug der Erinnerungen das ganze Lied vom kristallenen Strom und den leuchtenden Blumen. Und zuletzt erzählte es, wie auf einmal ganz still die Nora allein fortgegangen sei, daß es aber auch bald gehen werde, da die Nora gewiß den lieben Gott bitte, daß Er ihm rufe. Klarissa hatte mit Rührung und Verwunderung dem Elsli zugehört. Das war ja ihr Lied, das die Nora als kleines Kindlein, auf ihren Knieen sitzend, schon erlernt hatte. Das waren ihre eigenen Worte, mit denen sie der Nora von dem Lande drüben erzählt hatte, – und, wie wunderbar! das Elsli hatte ja völlig den Ton der Stimme der Nora, es hatte die Bewegungen ihrer Hand; jedes Wort brachte der Klarissa die entschwundene Nora ganz lebendig vor Augen. Sie umfaßte das Elsli und weinte vor Leid und Freude zugleich. Dann lief sie zu Frau Stanhope hinein und rief in großer Aufregung einmal ums andere aus: »O, das ist ja unser Kind, liebe Frau Stanhope! Es ist ja die Stimme und die Worte unseres Kindes, unserer Nora! Es ist ihre Schwester, unser Kind!«

Erst hatte Frau Stanhope sich plötzlich erhoben und aufgehorcht; als sie aber verstand, was Klarissa meinte, schüttelte sie nur traurig den Kopf und legte ihn wieder auf das Lager der Nora nieder.

Aber die Klarissa war so erfüllt von ihrem Eindruck, daß die Teilnahmlosigkeit der Frau Stanhope sie nicht entmutigte. Sie ging hinaus und führte das Elsli herein, dem nun gleich wieder die Tränen die Wangen herabrollten, wie es die Nora so still daliegen sah. Klarissa führte es nahe zu dem weißen Lager heran und legte Elslis Hand in die der Nora. Dann sagte sie bittend zu der Mutter, die immer noch, ihr Gesicht auf den Rand des Lagers gebeugt, an dem Bette kniete: »Schauen Sie auf, Frau Stanhope, unser Kind hat Ihnen noch etwas zu sagen.« Die Mutter erhob sich. Ihr Kind hielt ihr mit ausgestrecktem Arm das Elsli entgegen. Einen Augenblick schaute sie starr auf die Kinder. Dann faßte sie die beiden ineinandergelegten Hände in die ihrigen und sagte schluchzend: »Ja, Nora, ich weiß es, du hast das Kind lieb gehabt, ich will es nicht mehr von mir lassen.« Und die gute Klarissa weinte mit, aber es waren helle Freudentränen, die sie weinte, und einmal die Nora und einmal das Elsli streichelnd, wiederholte sie zärtlich: »Ja, ja, wir müssen wieder ein Kindlein haben, für das wir sorgen und es lieb haben können.«

Wie im Traum ging das Elsli nach Hause. Es hatte verstanden und wieder nicht verstanden, was mit ihm werden sollte. Es hatte fest geglaubt, die Nora helfe dazu, daß es bald in den Himmel gerufen werde, dann komme sie ihm entgegen. Jetzt war es so, als wäre sie schon gekommen, aber um es anderswohin zu führen.

Nora war mitten unter Blumen in ihr letztes Bettlein hineingelegt worden, in dem sie die Reise nach Hause machen sollte. Das hatte alles die treue Klarissa besorgt. Nun machte sie sich auf den Weg, um Elslis Mutter aufzusuchen, mit der sie eine eingehende Besprechung vorhatte. Diese dauerte indessen nicht so sehr lange und bot nicht so viele Schwierigkeiten, wie Klarissa befürchtet hatte, denn sie fand bei der Marget ein sehr geneigtes Ohr für ihre Vorschläge, besonders als diese vernahm, daß Frau Stanhope nicht nur im Sinn habe, das Elsli ganz und gar zu sich zu nehmen und für immer für das Kind zu sorgen, sondern daß sie auch der Eltern eingedenk sein wolle, indem sie ihnen die Hilfe, die das Kind ihnen hätte leisten können, auf andere Weise ersetzen wollte. Die Marget hatte eine unverhehlte Freude an diesem unerwarteten Glück für das Elsli und an dem Gewinn, den es ihr selbst bot. Sie meinte, das Elsli habe zum strengen Arbeiten doch keine Kraft und Gesundheit, und seit dem langen Umgang mit der Nora sei es auch sonst so mit allen Gedanken und der ganzen Art aus seinem Geleise geraten, daß es gar nicht mehr hineinkomme. Das merke man am besten am Tun der kleinen Buben und besonders des kleinsten, der jetzt den ganzen Tag überlaut schreie, daß man fast das Gehör verliere, und früher habe es ihn doch noch zum Schweigen gebracht: da nehme man ebensogut wieder die Wiege zur Hand. So schieden die Marget und die Klarissa in großem Frieden und Übereinstimmung, und die letztere versprach, daß womöglich jedes Jahr einmal das Elsli nach seiner Heimat zurückgeführt werden solle.

In der kürzesten Zeit war im ganzen Dorfe die Nachricht verbreitet, daß das Elsli von der reichen Frau Stanhope angenommen worden sei und mit ihr schon morgen nach ihrem schönen Gut am Rhein verreise. Die Nachricht brachte einen ungeheuren Eindruck hervor. Wo zwei einander antrafen auf dem Wege, standen sie still, um das Glück zu besprechen, das so unerwartet dem Elsli zuteil wurde. Die Kinder in der Schule konnten vor Aufregung gar nicht mehr still sitzen; es war, als erwarteten sie alle durch diesen Glücksfall irgend etwas Unerhörtes. Sogar Herr Bickel wurde durch das Ereignis zu einem ungewöhnlichen Schritt veranlaßt. Er nahm seinen Stock zur Hand und sagte: »Frau, es schickt sich, daß wir jetzt der Frau Stanhope einen Besuch machen und ihr zeigen, daß das Kind denn doch auch noch rechte Verwandte hat. Vielleicht braucht sie auch einen Rat, das Kind betreffend; da bin ich ihr Mann. Es kann auch sein, Frau, daß wir einen Besuch bei den Verwandten machen, wenn sie dann daheim sind – denn es gibt dort in ihrer Gegend große Spinnereien –, und vielleicht hat die Frau Stanhope Beziehungen mit solchen Häusern, da wäre denn etwas für das Geschäft zu machen.« Aber Herr Bickel mußte noch einmal seinen Stock hinstellen, denn so schnell war seine Frau nicht in dem Zustande der Vervollkommnung angelangt, in dem allein sie einen solchen Besuch unternahm.

Die größte Aufregung und Freude über das Ereignis herrschte aber im Hause des Arztes. Mutter und Tante waren voller Lob und Dank, daß das zarte Kind in so freundliche Hände kommen und es ihm auf einmal so gut gehen sollte. Es lag ja nun ein ganz neues Leben vor ihm; was konnte nun auch aus dem bildsamen Kinde gemacht werden! Sie mußten immer wieder davon sprechen. Die Kinder hatten gar keinen anderen Gedanken mehr.

Oskar ging den ganzen Tag in tiefem Sinnen umher; er suchte den Punkt auf, von wo aus er das neue Ereignis für seine Pläne verwerten könnte. Es lag dem Oskar fortwährend schwer auf dem Gemüt, daß die schöne brodierte Fahne unbenutzt liegen bleiben und nicht irgendein Fest in Aussicht stehen sollte, welches die Anwendung der herrlichen Fahne durchaus erheischte.

In einem ähnlichen Zustand des Sinnens und Trachtens lief die Emmi den Tag durch hin und her, und der schlaue Fred sagte ein paarmal, wenn sie in seine Nähe kam: »Die hat etwas im Sinn.« Er selbst saß an dem Tag längere Zeit in eine Arbeit vertieft am Tisch. Es war eine lange, lange Liste von den Namen aller derjenigen Raupen, Käfer und Schnecken, die er als Bewohner der Rheinlande und deren Umgebungen kannte. Um der größeren Klarheit willen setzte er immer auch den lateinischen Namen des Tieres neben den deutschen hin.

Am Abend dieses Tages saß das Elsli auf der langen Bank in der Stube; man konnte es aber nicht sehen, denn mitten auf ihm saß der feste Hanseli, und zu beiden Seiten saßen der Heirli und der Rudi, jeder auch noch so weit auf dem Elsli, als er Platz fand. Es ließ ganz geduldig sich fast erdrücken; es war ja der letzte Abend, für lange Zeit das letzte Mal, daß die drei auf ihm sitzen würden.

Das Elsli wußte jetzt wohl, was mit ihm geschehen sollte, und es freute sich darüber. Die gute Klarissa hatte in der kurzen Zeit das Herz des Kindes so ganz gewonnen, daß es sich zu ihr wie zu einer Mutter halten konnte, und mit ihr konnte es so voller Zutrauen reden, wie es nur mit der Nora, sonst noch mit niemand hatte reden können. So wollte es gern mit ihr fortziehen und bei ihr bleiben, und wenn auch Frau Stanhope ihm immer noch ziemliche Scheu einflößte, so war sie ja die Mutter der Nora, und das Elsli war schon deswegen ihr sehr anhänglich; auch war sie ja immer gut zu ihm gewesen, nur nicht so vertraulich, wie Klarissa es war. Was aber sein künftiges Leben sein werde, davon konnte das Elsli sich keine Vorstellung machen, und leise kam ihm schon ein ängstlicher Gedanke: wie es dann auch sein werde, wenn es so weit weg sei, und ob es auch alles recht tun könne, was es dann zu tun habe. Aber es hatte den festen Glauben, daß die Nora es dorthin führe, und das gab ihm Hoffnung und Freude ins Herz. Aber auf das Weggehen hatte es doch ein wenig Kummer und solchen noch besonders im Gedanken an den Fani, von dem es nun so weit wegkam und den es vielleicht jahrelang nicht mehr sehen sollte. Wie das Elsli so in seinen Gedanken dasaß und nicht einmal merkte, daß der Hanseli schon längere Zeit ungeduldig mit Händen und Füßen um sich schlug, kam auf einmal die Emmi in die Stube hereingerannt.

»Elsli«, rief sie schon unter der Tür, »morgen gehst du, ich muß dir noch etwas Wichtiges sagen. Stell doch den Hanseli auf den Boden und komm schnell mit mir!«

»Er schreit«, wandte das Elsli ein. Schon hatte er auch begonnen. Aber der Emmi flößte das keinen Schrecken ein. Sie stellte den Hanseli fest auf den Boden und zog das Elsli fort, hinaus, ums Haus herum und hinter den großen Apfelbaum.

»Hier«, sagte nun Emmi, »das mußt du mitnehmen, Elsli«, und sie streckte ihm eine dicke Rolle entgegen, »und jetzt will ich dir etwas erklären. Siehst du, auf eurer Reise kommt ihr auch nach Basel, das habe ich gehört –«.

»Glaubst du?« unterbrach sie das Elsli mit leuchtenden Augen.

»Ja, ja, es ist sicher«, fuhr Emmi fort, »und nun, weißt du, zu der Frau Stanhope mußt du nichts sagen, sie ist jetzt so traurig, daß sie nicht zuhört; aber der Frau Klarissa, die so gut ist, mußt du erzählen, daß der Fani dort in Basel ist und daß du ihm gern wolltest Lebewohl sagen. Dann geht sie gewiß geschwind mit dir zu ihm, und dann gibst du ihm dies von mir und sagst, ich lasse ihn grüßen, und hier hast du auch seine Adresse.«

»O, ich bin so froh, daß du mir das gesagt hast, Emmi«, sagte das Elsli, und eine große Freude glänzte in seinen Augen. »Glaubst du auch, daß ich es sagen darf?« »Gewiß mußt du es tun, ganz sicher, denk, wie wird es den Fani freuen! Versprich, daß du es sicher tun willst –«.

Das Elsli konnte nichts mehr versprechen, eben kam der Oskar herangelaufen und nahm es gleich bei der Hand: »Ich habe dich allenthalben gesucht, Elsli«, rief er eilig; »jetzt find' ich dich endlich! Komm mit mir, ich habe dir etwas zu sagen!« Damit zog er das Elsli ohne weiteres fort, von neuem ums Haus herum und hinter die Haselnußhecke; hier blieb er stehen. Die Emmi folgte nicht nach, sie fand es besser, den Oskar nicht noch zu reizen. Da sie soeben alle Bleistifte im ganzen Hause zusammengerafft und für den Fani fortgenommen hatte samt allem weißen Papier, das ihr und den Brüdern zu ihren verschiedenen Zwecken übergeben und immer zu schnell verschwunden war, sah sie ohnedies einem Zornesausbruch von seiten der Brüder entgegen.

»Jetzt hör, Elsli, was ich dir erkläre«, sagte Oskar eindringlich; »es ist für dich selbst sehr wichtig. Siehst du, jetzt kommst du ins Ausland und da bist du dann zuerst fremd. Aber es hat dann schon auch noch Schweizer an dem Ort, und da könnt ihr dann einen Verein gründen, einen Vaterlandsverein; da kommt ihr dann jede Woche einmal zusammen und sprecht so von allem im Vaterland –«.

»Ja, aber ich weiß dann gewiß nichts zu sagen«, warf das Elsli etwas ängstlich dazwischen.

»Das ist gleich, die anderen reden dann schon«, fuhr Oskar eifrig fort; »aber jetzt hör die Hauptsache! Im nächsten Sommer, wenn du dann heimkommen darfst, da mußt du mit allen den Mitgliedern, die dann auch kommen, einen Ort verabreden, wo ihr dann zusammenkommen wollt, da wird dann das Stiftungsfest gefeiert. Dann kommt man scharenweis von allen Seiten, und ich komme mit einer prachtvollen Fahne, und es gibt ein ungeheures Fest mit einem Umzug. Schreib mir dann, sobald der Verein gegründet ist.«

»Ja, ich will schon «, sagte das Elsli ein wenig zaghaft, denn es sah noch nicht recht klar vor sich, wer den Verein gründen würde. Es konnte aber keine weiteren Fragen tun, denn eben kam der Fred dahergestürmt mit einem langen Papierbogen in der Hand; hinter ihm her keuchte das Rikli. Oskar ging seiner Wege.

»Elsli, komm, lies«, rief jetzt der Fred; »sieh, alle diese schönen Raupen und die seltenen Käfer und diese Schneckenart, die wirst du alle dort unten finden, am Rhein und in der Umgegend. Du mußt nur auf den Spaziergängen immer in die Hecken hineinkriechen und überall ein wenig den Boden aufscharren, dann kommen die Kerle schon heraus, und dann schickst du mir alle Exemplare, die du fangen kannst, nicht wahr? Ich schicke dir dann auch etwas Schönes zurück. Du kannst nur alles durcheinander in die Tasche stecken, bis du vom Spaziergang daheim bist, und dann so die Hand obendrauf halten, daß sie nicht unterdessen herauskrabbeln, siehst du, so, wie ich es immer mache«, und Fred breitete die Hand beispielsweise weit aus über seine Tasche, so als wollte es überall darunter hervorkrabbeln.

Das Rikli schauderte über und über.

Elsli wollte so gern dem Fred den Gefallen tun, aber der Auftrag war ihm nicht viel klarer, als der von Oskar, und es sagte demütig: »Ich wollte es gewiß gern tun, Fred; aber wie muß ich es denn machen, daß ich die Käfer und die Raupen kenne, die so heißen?«

Das war ein völlig klarer Einwurf. Fred erkannte die Wahrheit dieses Hindernisses; aber er war nicht der Mensch, so bald vor Hindernissen zurückzuweichen. Er schaute seinen Bogen an. Wenn er zu jedem Namen das Tier hinzeichnen, dann malen würde? Richtig!

»Morgen früh, eh' du abreisest, komm' ich noch einmal«, rief er und stürzte fort.

Das Rikli, das so teuer seine Lehre bezahlt hatte, schrie wirklich nie mehr unsinnig auf, wenn der Fred sich mit einem Tierchen nahte; aber es bewachte sorgfältig alle Bewegungen des Bruders, daß nicht einmal unversehens aus dessen Faust oder Tasche ein grünäugiger Frosch ihm entgegenspringe. Aber ohne den Fred konnte das Rikli doch nicht sein, es lief ihm überall nach. Nun er sich entfernt hatte, trat es schnell zum Elsli heran und sagte eindringlich: »Aber nicht lebendig, die vielen schrecklichen Käfer und Schnecken; nur ausgestopft mußt du sie schicken, weißt du, Elsli.«

In diesem Augenblick kam der Feklitus herangeschritten im Sonntagsstaat. Zu gleicher Zeit erscholl die Stimme der Mutter aus der Stube heraus, wo der Hanseli ohne Unterlaß in seinem Geschrei verharrte: »Es nimmt mich nur wunder, Elsli, ob du heut' auch noch einmal ins Haus hereinzubringen bist!«

Das Rikli lief davon. Der Feklitus aber hatte schon das Elsli beim Arm gepackt und hielt es fest: »Ich muß einen Besuch machen auf dem Eichenrain bei der fremden Frau und sagen, daß ich dein Vetter bin und daß wir dann einmal dich besuchen wollen dort unten am Rhein«, knurrte er, »aber ich geh' nicht allein, das geniert mich, du mußt mit.«

»Laß mich los, du hörst es ja, ich muß ins Haus hinein, ich kann nicht mit dir«, sagte das Elsli und suchte sich loszumachen.

»Du mußt«, rief der Feklitus, faßte noch fester an und zog das Elsli mit Gewalt davon, denn etwas so Ungewöhnliches unternahm der Feklitus nicht allein.

Oskar, Emmi, Fred und Rikli erhielten alle den gleichen Empfang, wie sie so eins nach dem anderen heimgelaufen kamen. Auf den Stufen vor dem Haus stand die Kathri und rief einem nach dem anderen mit abwehrender Gebärde zu: »Bsch! bsch! Mach keinen solchen Lärm! Die Frau Stanghopf ist drinnen und nimmt Abschied.«

Elsli war von den Aufträgen und Eindrücken dieses Abends und den Gedanken an den folgenden Morgen so erfüllt, daß seine Augen keinen Schlaf fanden in dieser letzten Nacht im Elternhause, und wie im Traum fuhr in der Frühe des folgenden Morgens das Kind, mit den beiden Frauen in dem großen Wagen sitzend, durch die noch ganz stille Landschaft der Hauptstraße zu. Auf einmal flog ein groß gefaltetes Papier, mit einem Steinchen beschwert, um nicht danebenzufallen, in die Kutsche hinein.

»Leb wohl, Elsli, ich wollte, ich könnte mit«, tönte es dazu von der Seite her. Es war Fred, der mit seinem Werk nicht eher fertig geworden war und in aller Frühe noch die letzten Schnecken gemalt hatte und nun seinen Bogen nur noch in dieser Weise dem Elsli übergeben konnte.

Dieser letzte Gruß brachte dem Elsli die Tränen in die Augen. Jetzt fühlte es auf einmal klar, daß es von der Heimat fort und weit, weit weg zog. Die gute Klarissa hatte alles bemerkt; sie faßte das Elsli freundlich bei der Hand und hielt es fest, so daß es fühlen konnte, es zog mit einer Mutter fort. –

Die nächsten zehn Tage lang waren alle Reden und Gedanken der vier Geschwister mit den Ereignissen der vergangenen Woche beschäftigt, von der Ankunft der kranken Nora an bis zu der Reise des Elsli, und wenn alle die damit zusammenhängenden Tatsachen von allen Seiten beleuchtet und gründlich durchgesprochen waren, dann fing man wieder von vorn an. Am zehnten Tag kam ein großer Brief vom Elsli an, der brachte eine neue Bewegung in die Gesellschaft. Mutter und Tante sahen mit Verlangen den Nachrichten entgegen. Die Kinder steckten alle vier ihre Köpfe über dem Brief zusammen; jedes begehrte zuerst zu wissen, was darin stand. Er war an Emmi adressiert. Sie zog sich aus dem Knäuel zurück, machte den Brief auf und rief: »Ich will ihn vorlesen! Acht Seiten ist er lang!« Dann begann sie zu lesen:

»Lindenhalde am Rhein, 28. Sept. 18–.

Liebe Freundin!

Ich danke Dir viel tausendmal, daß Du mir den guten Rat gegeben hast, denn wenn Du es mir nicht so gesagt hättest, so hätte ich nie ein Wort vom Fani sagen dürfen.

Jetzt will ich vorn anfangen, Dir alles zu erzählen: Als der Fred mir noch Lebewohl gesagt hatte und ich dann von allen wegfuhr, mußte ich ein wenig weinen. Aber die Tante Klarissa – denn jetzt soll ich immer ›Tante Klarissa‹ sagen – war sehr gut mit mir und sprach freundlich zu mir und sagte, ich soll ihr nur immer alles sagen, was mich traurig mache, wir wollen es dann miteinander tragen. Die Frau Stanhope hatte die Augen zugemacht und lag ganz still in der Ecke, und ich dachte, sie sei ein wenig entschlafen, und dann dachte ich, ich wollte am liebsten gleich alles sagen mit dem Fani, wie Du es mir gesagt hattest, und dann tat ich es. Die Tante Klarissa wußte gar nichts von dem Fani und auch nicht, daß er lebte. Da erzählte ich ihr alles, wie es mit ihm gegangen war und wie lang ich ihn nicht mehr gesehen hatte. Dann sagte sie gleich, gewiß müsse ich meinen Bruder noch sehen, wir haben schon Zeit in Basel, da wir heute nicht weiterreisen. Und sie sagte, sie wolle dann schon mit mir gehen, den Fani aufzusuchen, Frau Stanhope werde uns das gern erlauben. Als wir in Basel ankamen, fuhren wir in ein so großes Wirtshaus, wie ich noch keins gesehen hatte. Ich konnte fast nichts essen vor Freude, daß ich nun gleich zum Fani gehen durfte. Jetzt war es drei Uhr. Gleich nach dem Essen sagte die Tante Klarissa zu Frau Stanhope, wenn es ihr recht sei, so gehen wir nun miteinander, meinen Bruder zu besuchen. Sie sagte, sie bleibe nicht allein da, sie komme mit uns. Wir gingen über eine lange Brücke über den Rhein und dann noch ziemlich weit. Zuletzt kamen wir zu kleinen Häusern, da fragten wir nach dem Maler Schulz. Da standen wir gerade vor seinem Haus. Frau Stanhope ging voran und machte die Tür auf und trat in die Werkstatt ein, und wir kamen hinter ihr her. Da tat der Fani einen lauten Freudenschrei und kam auf die Frau Stanhope zugesprungen und umklammerte sie und hatte vor Freude die Augen ganz voll Tränen, denn er hatte furchtbar das Heimweh gehabt, und jetzt sah er jemand, der aus der Heimat kam. Dann sah er erst, daß ich auch dabei war, da war er noch froher. Aber er lief vor Freude wieder zur Frau Stanhope zurück und genierte sich gar nicht vor ihr; aber Du weißt es schon, der Fani hat sich ja nie geniert, er konnte immer alles sagen. Und er umfaßte immer wieder die Frau Stanhope und rief: ›O, gottlob, daß ich jemand sehe von daheim!‹ Du kannst Dir nicht vorstellen, wie freundlich die Frau Stanhope zu ihm war. Zuletzt sagte sie, er solle seinen Meister rufen, sie wolle mit ihm reden. Dann kam der Meister, und sie ging mit ihm hinaus. Als sie wieder hereinkam, sagte sie zu Fani: ›Wolltest du gern mit uns kommen und mit deiner Schwester bei uns leben?‹ Jetzt kann ich Dir nicht sagen, wie es mir wurde. Zuerst konnte ich gar nicht mehr atmen vor Freude, und dann auf einmal meinte ich, es sei gewiß nicht möglich, was ich verstanden hatte. Aber der Fani schrie auf vor Freude und nahm die Frau Stanhope bei der Hand und bat so mit den Augen und versprach, daß er arbeiten wolle, soviel er nur könne, daß sie mit ihm zufrieden sei, wenn er nur mitkommen dürfe. Da sagte Frau Stanhope: ›Du kommst mit uns‹ und erklärte ihm, wann er am anderen Morgen auf der Eisenbahn sein mußte. O was für eine Nachricht für den Fani und für mich! Wir gingen ins Wirtshaus zurück. Auf dem Wege sagte Frau Stanhope zu der Tante Klarissa: ›Du hast doch die Ähnlichkeit bemerkt? Kann er nicht aus den großen braunen Augen einen anschauen, wie mein Philo tat?‹ Die Tante Klarissa war so froh über diese Ähnlichkeit und sagte, jetzt wisse sie erst, warum der Fani ihr gleich so lieb vorgekommen sei. Denn, weißt Du, Philo war der Bruder der Nora. Am Abend sagte Frau Stanhope noch zwei- oder dreimal von der Ähnlichkeit, und es war zum ersten Male, daß sie ein wenig mit uns redete. Am anderen Morgen, als ich erwachte, konnte ich es nicht mehr glauben, daß der Fani mit uns komme. Ich dachte: ein so großes Glück kann ja nicht sein, ich habe es gewiß geträumt. Aber beim Kaffeetrinken sagte Frau Stanhope gleich wieder von der Ähnlichkeit, die ihr aufgefallen sei, sobald der Fani sie angeblickt habe, und sie sagte, sie freue sich, den Jungen mitzunehmen. Mußt Du Dich nicht sehr verwundern, daß Frau Stanhope das von dem Fani sagte? Als wir auf der Eisenbahn anlangten, kam uns der Fani gleich entgegengelaufen. Er hatte drei Stunden auf uns gewartet. Er sagte, er sei schon um sechs Uhr dahin gegangen, wenn ihm schon Frau Stanhope gesagt hatte, wir kommen um neun Uhr, denn er habe es nicht erwarten können. Da hat die Frau Stanhope zum ersten Male ein wenig gelacht. Wir fuhren den ganzen Tag in der Eisenbahn, und der Fani kam gar nicht aus der Freude heraus. Und wenn man an den Stationen stille hielt und etwas geholt werden sollte und die Tante Klarissa schnell gehen wollte, dann hielt sie die Frau Stanhope zurück und sagte: ›Nein, nein! Nun haben wir einen Begleiter, der soll alles verrichten.‹ Dann erklärte sie dem Fani, wie er es machen müsse, und Du hättest nur sehen sollen, wie der umherschoß und alles besorgte! Und er schaute dann immer die Frau Stanhope an, ob er es ihr auch recht mache, und sie war zufrieden mit ihm, man konnte es schon sehen. Es war schon Nacht, wie wir wieder ausstiegen, und Frau Stanhope sagte, jetzt seien wir in Mainz, wieder am Rhein, und morgen würden wir erst recht den Fluß sehen. O, wo kamen wir hin am folgenden Morgen! Auf ein so prachtvolles Dampfschiff, wie man sich gar nicht vorstellen kann, wenn man es nicht gesehen hat. Der Fani war den ganzen Tag wie ein Unsinniger vor Freude, daß er so etwas Schönes sehe, und die Frau Stanhope erlaubte ihm, daß er auf dem ganzen Schiff umherlaufen und alles, alles ansehen dürfe. Dann habe ich ihn manchmal eine ganze Stunde lang nicht mehr gesehen. Zuletzt kam er und holte sein Geschenk von Dir und nahm Papier und Bleistift heraus und sagte, er wolle alles abzeichnen, daß er sich immer wieder erinnern könne, was er alles gesehen habe und wie das ganze Schiff eingerichtet sei. Und er läßt Dir viel-, vielmal danken für Dein schönes Geschenk; das habe ich noch vergessen im Anfang des Briefes. Am Abend, als wir aus dem Schiff stiegen, stand eine große Kutsche da und noch ein Wagen, denn Du weißt, die Nora fuhr ja immer mit uns. Wir fuhren wohl eine halbe Stunde in der Kutsche. Dann kamen wir zu einem Haus, das stand mitten in einem großen Garten mit vielen Bäumen, da war die Frau Stanhope daheim. Und beim Aussteigen sagte der Fani zu mir: ›Meinst du, daß ich hier in dem großen Garten arbeiten müsse oder etwa im Stall?‹ Aber das konnte ich ja nicht wissen, ich wußte auch nicht einmal, was ich selbst arbeiten sollte. Aber es ist so anders gekommen, als wir gemeint haben und als Du gewiß auch meinst. Zuerst war die Frau Stanhope so traurig, daß wir sie drei Tage lang nicht sahen. Aber die Tante Klarissa war so gut mit uns, wie noch nie ein Mensch auf der Welt. Sie führte uns in dem großen Garten herum und zeigte uns alles und auch, wo der Philo begraben lag. Da stand ein weißes Kreuzchen mit seinem Namen. Und wir drei aßen zusammen an einem Tische; sonst war niemand da. Dann wurde die Nora begraben neben ihrem Bruder bei den großen Lindenbäumen. Die Tante Klarissa sagte uns, jetzt komme Frau Stanhope noch nicht zu uns, weil sie so traurig sei, daß sie alles wiedersehe in der Heimat, nur die Nora nicht. Aber am vierten Tage kam die Frau Stanhope auch zu uns an den Tisch und war freundlich und sagte, nun wollen wir auch zu arbeiten anfangen. O wie mußten der Fani und ich staunen darüber, was es war, und jeden Abend freuen wir uns so stark auf den anderen Morgen, denn so geht es nun immerfort. Was meinst Du, was für schwere Arbeit wir zu verrichten haben? Gar keine! Das kannst Du nun fast nicht glauben, aber es ist gewiß wahr. Den ganzen Morgen lang dürfen wir immer in den Unterrichtsstunden sitzen und so viel neue Sachen erlernen! Um neun Uhr kommt ein Lehrer zu uns und bleibt bis um ein Uhr, und zu dem Unterricht sind nur allein der Fani und ich. Natürlich ist der Fani viel geschickter als ich, aber der Lehrer ist so gut mit mir; wenn ich nichts kann, so sagt er nur ganz freundlich: ›Nun wollen wir aber recht tapfer sein, daß wir dem Bruder nachkommen!‹ Nun muß ich nie, nie mehr Angst haben, daß ich die Aufgaben nicht machen kann und daß ich mich dann nachher schämen muß vor allen Kindern in der Schule. Es ist aber immer so schnell ein Uhr, daß wir es nie glauben können, und immer freuen wir uns, daß es morgen wieder angeht. Wenn wir dann zu Mittag gegessen haben, gehen wir alle in den Garten hinaus; dann geht Frau Stanhope immer mit dem Fani, und er muß ihr erzählen von den Stunden und was er will, und man kann schon sehen, Frau Stanhope hat ihn sehr gern, natürlich viel lieber als mich, denn Du weißt schon, wie er ist. Er kann alles sagen, was er denkt, und kann so gut seine Freude zeigen und wie furchtbar froh er ist, daß er da sein darf und daß er es so gut hat. Und das alles sagt er immer wieder der Frau Stanhope so vorweg, wie es ihm in den Sinn kommt, und dankt ihr auf einmal vor Freuden tausend-, tausendmal und hält ihre Hand fest; und wenn er dann so ganz voll Glück zu ihr aufsieht, dann streichelt sie ihm das Haar und ist so freundlich mit ihm, wie ich nie Frau Stanhope gesehen habe als nur zu der Nora. Aber ich kann nie tun wie Fani, und wenn ich schon ganz dasselbe im Herzen habe, so kann ich es nicht sagen, und Frau Stanhope glaubt gewiß gar nicht, daß ich so dankbar sei, und ich kann auch schon ganz gut begreifen, daß sie nie so zu mir ist wie zum Fani. Aber die Tante Klarissa ist so gut mit mir, und wenn wir aus dem Garten kommen, dann bin ich bei ihr in einer Stube, und sie lehrt mich so schöne Arbeiten machen und auch brodieren – wie Du kannst; und sag auch dem Oskar, wenn wir vielleicht keine Mitglieder in den Verein finden, so will ich ihm dafür noch eine Fahne zu dem großen Fest brodieren – Tante Klarissa hat es mir schon erlaubt –; er soll mir dann nur schreiben, was für ein Spruch darauf muß. Unterdessen hat in der anderen Stube der Fani Unterricht im Zeichnen; dazu kommt ein anderer Lehrer und bleibt zwei Stunden lang. Frau Stanhope sitzt dann fast immer dabei, weil es ihr so große Freude macht, daß der Fani so schnell lernt und schon ganz schöne Sachen zeichnet.

Nachher gehen der Fani und ich noch allein in den Garten und laufen herum in alle Ecken, denn da stehen allenthalben die schönen Bänke und weiße, steinerne Figuren, und das ist so schön, und der Garten ist so groß und geht bis an den Rhein hinunter, und dort stehen die großen, schönen Lindenbäume, und es ist so herrlich und prächtig überall, daß es auf der ganzen Welt nicht schöner sein könnte. Sag auch dem Fred, daß ich gewiß immer auf die Käfer sehe, aber ich kann sie nicht fangen; er soll aber nicht bös werden mit mir, vielleicht fang' ich doch noch einen. Nach dem Abendessen sitzt die Tante Klarissa ans Klavier, und dann singen wir das Lied, das die Nora so gern hatte, und noch zwei oder drei andere hat mich nun die Tante Klarissa noch gelehrt. Dann sitzt der Fani meistens in der anderen Stube und zeichnet noch für sich, aber wenn er mit uns singt, tönt es viel schöner, und nur wenn er mitsingt, kommt Frau Stanhope auch und hört zu. Zuletzt machen wir noch unsere Aufgaben. Aber ein Tag ist so geschwind vorbei, wie ich nicht beschreiben kann, und jeden Abend reut es uns so stark, den Fani und mich, daß wir nun ins Bett gehen müssen und nicht noch lang, lang immer fortfahren können. Ich bin auch fast nie mehr müde, o wie ist es auch so schön, hier zu leben und immer der Fani und ich zusammen, und wie haben wir es so gut! Wenn wir zum Essen hereinkommen, dann sagt gewiß die Tante Klarissa jedesmal: ›Gott sei Dank, daß wir wieder mit Kindern zu Tische sitzen können!‹ Und als sie gestern so sagte, da antwortete die Frau Stanhope: ›Gewiß wäre dir am wohlsten, wenn wir das ganze Haus voller Kinder hätten.‹ Und die Tante Klarissa sagte: ›Ich hätte deren nie zu viel.‹ Da sagte Frau Stanhope: ›Ich weiß etwas: im nächsten Jahre müssen wir die Freunde aus der Schweiz zu uns einladen; da sollen alle vier Doktorskinder kommen, und das kleine Rikli kannst du dann in deine besondere Obhut nehmen.‹ Da hat der Fani vor Freude ganz laut aufgejauchzt, und ich konnte keinen Ton von mir geben, aber vor Freude konnte ich gar nicht mehr schlucken, und auch die Tante Klarissa freute sich so stark über die Worte, daß sie in die Hände geklatscht hat, und dann hat sie gesagt: ›Elsli soll es schnell schreiben; das müssen wir gleich ganz festmachen, daß es uns nicht entgeht.‹ Und dann sagte sie immer wieder voller Freude: ›Das ist ein herrlicher Gedanke, Frau Stanhope, das ist ein herrlicher Gedanke.‹ Und der Fani und ich sind gestern Abend im ganzen Garten herumgelaufen und haben alles, alles aufgesucht, was wir Euch dann zeigen müssen: die schönen, steinernen Figuren und alle Bänkchen in den Gebüschen und die großen, hohen Lindenbäume, wo man unter den langen, langen Zweigen verborgen sitzen und auf den Rhein schauen kann. Und ich bin auch so froh wegen der Käfer; der Fred kann sie dann alle selbst fangen. Der Fani wird Dir bald einen großen Brief schreiben und dann auch einen dem Oskar. Er will nur zuerst die Lindenbäume und das Plätzchen darunter fertig zeichnen, zu einem Geschenk für Dich.

Wir lassen alle in Euerem Hause viel tausendmal grüßen und dann auch den Vater und die Mutter und die kleinen Buben. Der Fani läßt Dich noch besonders grüßen.

Deine treue Freundin

Elsli.«

Als der Brief zu Ende gelesen war, brach ein Jubel aus, der gar kein Ende nehmen wollte. Welche Nachrichten enthielt er auch für die vier Geschwister! Welche Aussichten auf Dinge und Ereignisse, die zu den herrlichsten Zukunftsplänen Stoff boten. Auch Mutter und Tante waren ganz erfüllt von dem, was sie eben vernommen hatten, und voller Dank und Freude darüber, daß ihnen die große Sorge um den Fani für immer abgenommen war und daß der liebe Gott den zwei Kindern, die ihnen so sehr am Herzen lagen, einen so über alles Erwarten herrlichen Lebensweg aufgetan hatte.

Welches von den vier Kindern des Hauses aber das allerglücklichste ist in der Aussicht auf die bevorstehende Rheinreise, das kann man gar nicht sagen, und so sehr sind sie alle vier davon erfüllt, daß sie fast von nichts anderem mehr reden können. Ein jedes von ihnen ist auch in einer außerordentlichen Weise von den Plänen und Gedanken in Anspruch genommen, welche die Aussicht auf das große Ereignis hervorbringt. Oskar sieht mit Wonne die Scharen der Schweizer im Auslande vor sich, die er dann, von Fani unterstützt, in den neuen Verein hereinziehen wird. Mit nicht geringerer Begeisterung sieht er der zweiten Fahne entgegen, die das Stiftungsfest zu einem außerordentlich glänzenden erheben wird. Er sucht nun rastlos in allen Werken der Literatur nach einem Spruche, der den Zweck und die Größe des Festes in würdigster Weise dartun würde. Sollte ihm da oder dort eins der Kinder, die diese Ereignisse durchlesen, etwa einen Spruch einsenden wollen, so daß er unter vielen den schönsten auswählen könnte, so wäre er sehr erfreut darüber. – Emmi ist in einem ununterbrochenen Freudenfieber. Nun ist ja der Fani wirklich auf dem Wege, nach dem sie so lange für ihn gestrebt hatte: auf dem Wege, ein großer Maler zu werden. Denn da Frau Stanhope eine solche Vorliebe für ihn gefaßt hat, wird er gewiß alles von ihr erbitten können, auch seinen Beruf. Emmi kann aber das Zusammenkommen mit dem Fani fast nicht erwarten, denn jeden Tag kommt ihr ein neuer Vorschlag in den Sinn, den sie ihm durchaus für seinen künftigen Lebensweg machen muß. – Fred hat alle Hände voll zu tun. Er sieht einer so ungeheuren Bereicherung seiner Insekten- und Amphibiensammlungen entgegen, daß er jetzt nur darum besorgt ist, wie er denn alle seine Reichtümer unterbringen werde. Er hat der Tante das feste Versprechen abgenommen, daß jede große und kleine Schachtel des Hauses, die nicht weiter gebraucht wird, in sein Zimmer kommt, wo schon ein beträchtlicher Haufen aufgeschichtet steht. Auch er würde gern, wie Oskar, eine Bitte in die Welt hinausschicken, daß man ihm alle entbehrlichen Schachteln von überallher zusenden möchte: aber die Mutter ist nicht einverstanden damit, denn die freundlichen Beiträge könnten für den vorhandenen Raum zu großartig werden. – Das Rikli aber kann zum ersten Male in seinem Leben sich ohne geheime Schrecken der Freude auf einen großen Genuß hingeben. Da ihm bisher alle Freuden in Gemeinschaft mit seinem Bruder Fred zuteil geworden waren, so hatte in seinem Empfinden hinter jeder derselben etwas Erschreckliches gelauert, das auf einmal hervorkriechen oder einen fürchterlichen Sprung tun konnte. Jetzt weiß das Rikli, daß es unter den Schutz der guten Tante Klarissa kommen wird und von da aus ohne Gefahr alles mitmachen kann, was in dem herrlichen Haus und Garten am Rhein ausgeführt werden soll.

Der Fani und das Elsli aber werden von Tag zu Tag glücklicher und heimischer in ihrem neuen Leben und haben gar keinen Wunsch mehr, als nur daß bald die Zeit komme, da ihre guten Freunde anlangen und all das Schöne, das sie umgibt, kennen lernen und es mit ihnen teilen können.

Die gute Klarissa aber sorgt dafür, daß der Fani und das Elsli den lieben Gott nicht vergessen, der sie zu solchen Freunden geführt hat. Sie geht gern mit den Kindern auf die Stätte, wo Philo und Nora begraben liegen, und erinnert sie hier daran, wie schnell und unerwartet das Leben der Menschen aus Leid in Freude sich verwandeln kann, wie sie beide, Fani und Elsli, es erfahren hatten; daß es aber ebenso schnell sich aus Freude in Leid verkehren und mitten in seinen Sonnenschein hinein der Schatten des Todes fallen kann und daß nur diejenigen sicher und fröhlich bleiben, die auf den lieben Gott vertrauen, der alles in seiner Hand hält und zum Guten führt.


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