Johanna Spyri
Wo Gritlis Kinder hingekommen sind
Johanna Spyri

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Viertes Kapitel

Von weiteren Zuständen in Buchberg

Oskar hatte richtig geraten: durch die geöffnete Schulzimmertür war der gewandte Fani unter den ersten hinausgeschlüpft, und Emmi, die auch überall durchkam und schon draußen stand, nahm ihn gleich in Beschlag. »Komm schnell, Fani, ich weiß einen prachtvollen Baum, den du zeichnen kannst, und Papier habe ich schon und alles.«

Fani ging gleich mit großer Freude in den Vorschlag ein, und sofort rannten die beiden davon, erst den Weg hinunter und dann dem grünen Hügel zu, an dem ein schmaler Fußweg zwischen den blumenreichen Wiesen emporführte. Hier beim langsamen Bergansteigen besprachen die Kinder nun ihr Vorhaben, und Emmi erklärte dem Gefährten, wohin sie ihn führen wolle. Es hatten nämlich heute früh die Unterrichtsstunden des Zeichnens stattgefunden, welche die beiden obersten Klassen immer zusammen erhielten. In der fünften Klasse saßen Emmi und Elsli, sowie auch der studienbeflissene Fred, der zwar ein Jahr zu jung war für diese Klasse, aber der Lehrer hatte ihn dahin versetzt, weil er den sämtlichen Vierkläßlern weit voraus war, ja sogar in der fünften Klasse war er noch weitaus der Geschickteste. Nur im Zeichnen nicht, da war Fani allen anderen so weit überlegen, daß der Lehrer öfter bemerken mußte, wenn er seine Zeichnungen ansah: »Siehst du, Fani, wie du's kannst, wenn du willst! Du könntest auch anderes noch besser machen, wenn du dich mehr anstrengtest und nicht so gleichgültig und leichtsinnig wärest!« Heute nun hatte der Lehrer bemerkt, es wäre ihm recht, wenn die Kinder hier und da etwas nach der Natur abzeichneten, einen Baum oder eine Blume, und hatte den Fani noch besonders aufmerksam gemacht, wie gut er die Bäume zu machen verstehe, er sollte sich einen schönen aussuchen. Das war nun der Emmi gerade recht, so etwas ausfindig zu machen, denn an Fanis Zeichnungen hatte sie schon immer eine besondere Freude gehabt. Er hatte ihr auch schon allerhand gezeichnet: Rosen und Erdbeeren und einen Fischer, mit einer Angelrute unter einem Baum am Wasser sitzend; diese Bildchen konnte man als Buchzeichen so schön gebrauchen. Jetzt erzählte ihm Emmi, daß sie auf der Stelle nachgedacht habe, welchen Baum er zeichnen könne; da sei ihr auf einmal die große Eiche in den Sinn gekommen, die sehe jetzt so schön aus; noch vor wenig Tagen habe sie's gesehen, denn sie sei mit der Mutter auf dem Eichenrain gewesen, um der fremden Dame willen. Unter diesen Mitteilungen waren die Kinder nun auf dem Hügel angekommen, welcher um des schönen alten Baumes willen der Eichenrain hieß. Der reichbelaubte Baum stand am Abhang des Hügels und warf seinen Schatten weithin über das kurze Gras des Weidebodens. Fani schaute verwundert in das reiche Gezweig hinauf.

»O, wie schön«, sagte er; »ich bin froh, daß du den gewußt hast, Emmi, der ist prächtig zum Zeichnen! Ich will gleich anfangen, aber ein wenig weiter weg, da oben, hier.« Fani hatte sich den Hügel hinan Schritt für Schritt etwas weiter von dem Baum entfernt, bis er ihm zum Zeichnen paßte. Hier setzte er sich auf den Boden, Emmi gleich darauf neben ihn, indem sie anfing, aus ihrer großen Schultasche einen ziemlichen Reichtum an Papier und Bleistiften herauszukramen.

»O, da kann man viel zeichnen mit so viel Papier und Bleistiften«, sagte Fani und schaute mit sehnsüchtiger Bewunderung auf all das schöne Material.

»Ich gebe dir dann noch mit heim davon«, versprach Emmi; »ich habe schon daran gedacht, daß du dann wieder ändern mußt und vielleicht noch einmal anfangen, aber komm, da suche selbst einen Bleistift aus!«

Mit Wonne tat Fani, wie er geheißen war. So reichliches Material zu haben, daß man so drauflos zeichnen konnte, wie man wollte, schien dem Fani das Höchste zu sein. Nachdem er noch ein paarmal seinen neuen Bleistift und sein weißes Papier mit Wohlgefallen angeschaut hatte, setzte er sich zurecht und begann seine Arbeit. Emmi war nun ganz still und schaute aufmerksam der Entstehung des Baumes zu.

»O, o! Jetzt ist die Eiche schon ganz kenntlich! Nein, was du aber für schöne Zweige und niedliche Blättchen machen kannst!« rief Emmi jetzt ganz entzückt aus; »nein, so schön hast du gewiß noch nie einen Baum gemacht! Du wirst sehen, was der Lehrer sagen wird; gewiß hast du die allerschönste Zeichnung von allen. Wie machst du's denn nur, Fani? So etwas könnte ich gar nie machen.«

»Ich mache es nur nach«, sagte Fani, dessen Augen beständig hin und her gingen, jetzt zu dem Baum hinauf und jetzt wieder auf das Papier zurück, und ganz flammten vor Eifer. »Sieh nur auch die schönen Zweige, die er hat, und die prächtigen Blätter; kein Blatt ist so schön wie das Eichenblatt. O, und sieh nur oben, wie das so prachtvoll rundum geht, gerade als hätte man expreß die Zweiglein so gemacht, daß es die schöne Form gibt. O, wenn ich nur den ganzen Tag da sitzen könnte und immerfort an dem Baum zeichnen, es gibt gar nichts Schöneres auf der Welt.«

»Jetzt weiß ich etwas«, rief Emmi aus, so als habe sie auf einmal einen großen Fund getan; »du mußt gewiß ein Maler werden, Fani. So fängt es an, wenn einer ein Maler werden muß, das weiß ich bestimmt; sonst könntest du gar nicht sagen, das Schönste auf der Welt wäre, einen ganzen Tag lang vor einem Baum zu sitzen und zu zeichnen, das wäre doch jedem anderen furchtbar langweilig.«

»Ja, du hast gut sagen, ich soll ein Maler werden«, entgegnete Fani mit einem Seufzer; »im nächsten Frühling komm' ich aus der Schule, und dann muß ich in die Fabrik und muß den ganzen Tag spulen vom Morgen bis am Abend; da kannst du dann ein Maler werden, ich wüßte nur gern, wie?«

»Aber wolltest du denn nicht gern alles tun, um ein Maler zu werden, Fani? Denk nur, wie herrlich! Wenn du doch selbst sagst, es wäre das Schönste auf der Welt, da wolltest du doch gern alles wagen, wenn du nur dazu kommen könntest, oder nicht?«

»Freilich wollt' ich, gewiß, aber da ist ja gar nichts zu wagen; was könnte ich denn tun?«

»Wart du jetzt nur, Fani, ich will nun schon anfangen zu denken, was du machen könntest. O denk nur, wenn du dann ein ganz geschickter Maler würdest und gar nichts anderes mehr tun müßtest als nur immer zeichnen und malen, da hättest du doch gar nichts mehr als Freude, dein Leben lang; Fani, glaubst du nicht?«

Emmi war jetzt so ins Feuer hineingekommen durch alle die Pläne und Aussichten, die ihr jetzt schon vorschwebten, daß sie auch den Fani angezündet hatte. Sein Stift war ihm aus der Hand gefallen, und seine Augen waren nicht mehr forschend auf die Eichenzweige gerichtet, sondern rollten hin und her, als suchten sie da und dort etwas, was nicht zu sehen war.

»Glaubst du's sicher, Emmi, glaubst du gewiß, das könnte sein?« fragte er jetzt in großer Aufregung. »Was meinst du denn, das ich tun könnte? Ich wollte es am liebsten auf der Stelle tun; aber was? aber was?«

»Das weiß ich jetzt noch nicht, aber es kommt mir dann schon in den Sinn; du mußt nur ein wenig warten, vielleicht kann ich dir's morgen schon in der Schule sagen. Aber komm, mach noch deinen Baum fertig, und das Papier und die Bleistifte kannst du dann mitnehmen, daß du noch andere Bäume machen kannst. Weißt du, sie werden dann am Examen gezeigt, und weil du nur so graues Papier hast und doch die allerschönsten Zeichnungen machst, so wäre es ja schade dafür.«

Fani war sehr erfreut, denn oft schon hätte er zu Hause gern eine Zeichnung gemacht, aber da war nichts zu finden, was man dazu brauchte; so war ihm das schöne weiße Papier samt den zwei Bleistiften ein wahrer Schatz. Er ging nun noch einmal an seine Arbeit, und Emmi schaute zu und lobte und bewunderte. Unterdessen war aber die Sonne untergegangen, und leise kam die Dämmerung heran und erinnerte die Kinder daran, daß die Zeit der Heimkehr gekommen sei.

Fred hatte schon seit einiger Zeit seine Nachforschungen nach den Samenkäfern beendigt. Jetzt stand er auf dem Wege außerhalb der Hecke, die den Garten einfaßte, und schaute mit Spannung nach der Schwester Emmi aus, die doch endlich einmal heimkommen mußte und mit der er Abrechnung zu halten gedachte. Innerhalb der Hecke, im Garten, lief Oskar mit demselben Vorhaben hin und her, nur in viel größerer Aufregung, denn den ganzen Abend hatte er vergebens nach Fani herumgesucht. Dieser war völlig verschwunden, und kein Mensch wußte wohin, und da waren noch so viele wichtige Dinge zu besprechen, bevor das Sängerfest stattfinden konnte. Mit dem Feklitus waren solche Besprechungen unmöglich, er faßte zu langsam und hatte nie einen Gedanken. Da war Fani ein ganz anders schneller und erfindungsreicher Genoß. Sicher hatte Emmi den wieder abgefangen, um ihn zu etwas anzustiften, denn dafür war sie bekannt; aber er wollte ihr schon dahinterkommen, was sie heute ausgeführt hatte, und ihre Tätigkeit ein wenig beschneiden, denn das konnte ihm nicht länger passen, daß Emmi den Fani so für sich in Anspruch nehmen sollte. Durch diese Gedanken nahm die Aufregung bei Oskar immer zu, und in immer größeren Schritten ging er im Garten auf und nieder. Jetzt sah draußen der lauernde Fred etwas den Weg heraufkommen; das konnte aber nicht wohl Emmi sein, denn es war eine ziemlich breite Masse, die fast den Weg von einer Seite zur anderen ausfüllte; in der Mitte war sie ein wenig höher, als an beiden Enden. Fred staunte; er konnte nicht erraten, was sich da heranbewegte, es konnte aber eine naturgeschichtliche Merkwürdigkeit sein; Fred lief schnell ein wenig entgegen. In der Nähe erkannte er das Elsli, dem auf der einen Seite der vierjährige Rudi am Röckchen hing, auf der anderen der dreijährige Heirli; auf dem Arm saß ihm der zweijährige Hanseli mit dem dicken Kopf und den festen Armen und Beinen. So keuchte das Elsli mit seinen drei Brüderchen heran, denn das Gewicht von allen dreien hing schwer an ihm.

»Stell doch diesen dicken Hans auf den Boden, du mußt ja fast ersticken«, sagte Fred, indem er die Anstrengungen der drei Brüder, das Elsli umzureißen, mißbilligend betrachtete.

»Ich darf nicht, er fängt gleich an zu schreien und wird bös«, entgegnete Elsli fast ohne Atem und schleppte sich vorwärts, den Weg hinauf.

»Willst du zu uns?« fragte Fred folgend.

»Ja, etwas holen, da hinein«; Elsli hob seinen Arm ein wenig in die Höhe, an dem ihm noch ein großer Sack hing.

»Du kannst ja nichts mehr tragen; stell doch jetzt einmal den Dicken auf den Boden, er drückt dich ja fast zusammen«, sagte Fred mit Ärger.

Sie waren nun oben angekommen und standen am Hause.

»Ja, einen Augenblick muß ich ihn gewiß niederstellen, nur bis mir der Arm nicht mehr so weh tut.« Mit diesen Worten stellte das Elsli den Hanseli hin, der augenblicklich in ein so durchdringendes Zetergeschrei ausbrach, daß aus der Stube Mutter und Tante und aus der Küche die Kathri herbeieilten.

»Dich wollt' ich lehren!« bemerkte die letztere mit einer schwingenden Bewegung der flachen Hand und zog sich wieder zurück. In großem Schrecken hatte das Elsli den Buben gleich wieder auf den Arm genommen; er schrie aber noch eine Weile fort über das Unrecht, das ihm geschehen war.

»Mama, sag doch dem Schreihals, daß er auf dem Boden stehen soll, er drückt ja das Elsli ganz zusammen«, rief Fred zornig aus.

Auf diesen Ausspruch hin schrie der Hanseli noch viel ärger und drückte nun seinen Kopf noch so schwer auf Elslis Schulter nieder, daß es sich kaum mehr aufrechthalten konnte.

»Du darfst ihn wirklich auf den Boden stellen, Elsli«, sagte die Mutter hier; »er wird sich wohl zufriedengeben, komm!« und die Mutter wollte helfen, den kleinen Hans von dem Kinde abzulösen und auf den Boden zu stellen; aber es war schwere Arbeit: er hielt sich mit Armen und Beinen fest und zappelte und schlug aus mit den Füßen. Endlich aber stand er doch unten; nun aber erhob er ein so wütendes Geschrei und riß so heftig an dem Elsli herum, daß es in seinem Schrecken ihn schnell wieder auf den Arm nahm, und mit Ergebung in sein Schicksal sagte es: »Er will nicht, er wird immer bös, wenn ich ihn nur einen Augenblick hinstelle, und wenn ich aus der Schule heimkomme, so muß ich ihn auf der Stelle auf den Arm nehmen, sonst fängt er gleich so zu tun an.«

»Aber der schwere Hans ist ja längst zwei Jahre alt, er muß ganz gut gehen, nicht nur stehen können«, sagte nun die Mutter ein wenig unwillig über den kleinen Tyrannen, »und dann ist ja das Kleine noch da, das wirst du auch herumtragen müssen. Wie machst du's denn, Elsli?«

»Ja, da wird er noch viel böser, wenn er sieht, daß ich das Kleine nehme; dann schlägt er drein und stößt mit den Füßen und schreit so furchtbar, daß es die Mutter an allen Orten hört, wo sie ist, und es macht sie böse, wenn er so tut. Dann ruft sie gleich, ich soll machen, daß der Lärm aufhöre, ich werde doch wohl den kleinen Buben noch zum Schweigen bringen können; aber er hört nie auf zu schreien, bis ich das Kleine wieder in die Wiege lege und ihn auf den Arm nehme; dann stoß' ich eben die Wiege hin und her, so lange, bis das Kleine dann wieder gut ist oder einschläft.«

»Komm einen Augenblick herein, Elsli, du siehst ja so müde aus«, sagte die Mutter teilnehmend; »und du, Hanseli, stehst jetzt auf deine Füße und wanderst selbst hinein, das kannst du ganz gut, und drinnen liegt ein schönes Stück Brot und ein Apfel, das bekommst du.«

»Wenn du aber nicht gehen willst«, fügte hier die Tante bei, »so lassen wir dich hier stehen, aber Rudi und Heirli kommen gern mit und holen sich Brot und Apfel, nichtwahr? Und das können sie auch ganz gut tun, ohne das Elsli halb umzureißen; komm mit mir!«

Die beiden liefen gleich der Tante nach, und der kleine eigensinnige Hans hatte den Sinn der Rede auch gefaßt; er war ganz still, als das Elsli ihn nun wieder vom Arm heruntergleiten ließ, und wackelte ohne Widerrede an der Hand der Schwester neben der Frau Doktorin her ins Haus hinein. Hinterdrein kam Fred und schwang ein Weidenrütchen in der Hand, so, als wollte er damit andeuten, daß es ein Mittel gebe, widerspenstige Buben zum Marschieren zu bringen. Drinnen in der Stube angekommen, sperrten die drei Buben ganz weit die Augen auf, denn sofort ging die Mutter an den Schrank und holte den großen Brotkorb heraus und schnitt vier ungeheure Stücke von dem mächtigen Laib herunter; auf jedes legte sie einen schönen, roten Apfel, den sie nur aus dem Schrank herausholen konnte; da lagen sie wohl schon für die eigenen Kinder bereit. Jetzt wurde jedem der Buben und auch dem Elsli sein Stück mit dem Apfel gereicht, und Fred sagte: »Nun, frisch, beißt einmal los!« Augenblicklich gehorchten alle drei und knackten und knusperten nun darauflos, daß es jedem Lust gemacht hätte mitzuhalten. Elsli sagte nun, warum es gekommen sei, und zeigte seinen Sack. Die Mutter hatte es geschickt, die Sachen, welche ihr die Frau Doktorin versprochen hatte, in dem Sack heimzuholen.

»Nein, Kind, davon ist keine Rede«, sagte diese bestimmt; »wie könntest du noch einen Sack mit Kleidern tragen! Sag du deiner Mutter, daß sie selbst einmal kommen soll; ich muß auch sonst mit ihr reden, dann nimmt sie die Sachen mit.«

»Elsli, hast du denn gar keine Lust zu deinem Apfel? Und magst du auch kein Bröckchen Brot essen?« fragte hier die Tante, die gesehen hatte, wie das Kind sorgfältig seinen Apfel in die Tasche gesteckt hatte, während es das Brot unberührt in der Hand hielt.

Elsli wurde ein wenig rot, so als habe es etwas getan, das vielleicht nicht erlaubt war, und sagte schüchtern: »Ich möchte nur gern mit dem Fani teilen, er bekommt doch heut' nichts mehr.«

»Das darfst du schon sagen, Elsli, daß du dem Fani davon geben willst, das ist ganz recht«, sagte die Tante freundlich; »aber warum bekommt denn der Fani heut' nichts mehr?«

»Wir haben nun schon zu Nacht gegessen, gerade eh' wir kamen, und der Fani ist wieder nicht heimgekommen, wie schon manchmal, und dann ißt man die saure Milch alle auf und auch die Erdäpfel, weil sonst schon nicht so viel sind, und der Vater sagt: ›Wer nicht da ist, hat keinen Hunger.‹ Aber der Fani hat freilich Hunger; ich weiß schon, er vergißt nur, daß es Zeit ist.«

»Wo ist er denn aber? Muß er dir nicht etwa helfen, die kleinen Buben zu hüten am Abend?« fragte die Tante weiter.

»Nein, nein, das kann er nicht. Die Mutter sagt, sie tun nur viel ärger, wenn er dabei ist, er solle nur laufen; und so kommt er so manchmal um sein Nachtessen, und ich kann ihm nichts behalten, und doch ist er immer so gut mit mir. Wenn er dann heimkommt, macht er mir immer meine Aufgaben mit den seinigen, weil ich das nie kann; ich habe zu tun, bis die Mutter das Licht nimmt und ich ins Bett muß.«

»Der Fani kommt eigentlich nur aus Leichtsinn um sein Nachtessen, das könnte er ja anders haben, und von den Aufgaben, die du nicht selbst machst, wirst du auch nicht viel profitieren, Elsli«, sagte die Tante.

Elsli wurde ganz rot und seine sanften, blauen Augen füllten sich mit großen Tränen.

»Ich weiß schon«, sagte es zaghaft; »darum bin ich auch so ungeschickt in der Schule, fast das Ungeschickteste in der ganzen Klasse.«

»Nein, nein, das bist du noch lange nicht«, fiel Fred beschützend ein; »du kannst nur deine Aufgaben nie, was wir auswendig lernen müssen und nachlesen, und jetzt weiß ich auch, warum, und wenn dich noch ein einziges Mal einer auslacht, so will ich ihm dann zeigen, mit wem er es zu tun hat.«

Auf dem Elsli lag so viel, das ihm schwer machte und ihm weh tat, daß es fast nie recht froh und lustig aussah wie die anderen Kinder. Auch jetzt schaute es wohl dankbar für seinen Trost den Fred an, aber es kam keine Fröhlichkeit auf sein schmales Gesichtchen; und wie es nun aufstand und seine Bürde wieder auf sich lud – denn der Hanseli hatte schon lange an ihm gerissen, um zu verstehen zu geben, daß er wieder auf den Arm wolle –, da sah das Kind so matt und müde aus, daß es den Frauen recht zu Herzen ging. Sie schauten ihm nach, wie es mühsam die Treppe hinunter und über den Platz ging, Rudi und Heirli auf beiden Seiten an ihm hangend, der schwere Hanseli auf ihm liegend.

»Ach Gott, wenn doch ein Sonnenschein in dieses freudlose Kinderleben fallen wollte«, seufzte die Mutter, und die Tante wollte eben mitfühlend einstimmen, als ein auffallender Lärm ertönte und immer lauter herankam. Emmi war eben den Weg heraufgekommen, und beide Brüder waren sofort auf sie eingedrungen und schrieen nun gegenseitig auf sie los, immer einer den anderen überschreiend. »Warum hast du den Fani abgefangen?« – »Was hast du wieder mit allem Papier angefangen?« – »Wozu hast du ihn jetzt wieder aufgestiftet?« – »So kann ja kein Mensch seine Aufgaben machen, und daran bist du schuld!« – »Sag, wo du ihn hingelockt hast, daß er sein Versprechen nicht hält, zur Sitzung zu kommen?« – »Sag, wo das Papier ist, so kann man endlich etwas tun!«

Die Schreienden, mit Emmi in ihrer Mitte, waren nun an der Haustreppe angekommen. Die Mutter war eben abgerufen worden; die Tante trat zu den Kindern heran.

»Still! still! Nicht solchen Lärm machen!« wehrte sie. »Emmi kann euch ja nicht einmal Rechenschaft geben, wenn ihr unaufhörlich beide miteinander auf sie losschreit.«

Emmi rettete sich augenblicklich zu der Tante und flüsterte ihr in die Ohren, wozu sie das Papier alles gebraucht habe, und bat dringend: »Hilf mir doch, Tante, bitte! bitte! Du weißt ja, sonst tut der Oskar noch ärger!«

Die Tante fand die Anwendung des Papiers nicht so schlimm und erklärte, sie werde gleich anderes Papier herbeischaffen, und nun sollten alle hereinkommen und an die Aufgaben gehen und es solle Ruhe und Stille herrschen; und um ihren Worten Nachdruck zu geben, fügte sie bei: »Gleich wird auch der Papa nach Hause kommen; ihr wißt, daß er keinen Lärm hören will!« Das wirkte besänftigend. Alle traten ins Haus ein, und bald nachher saßen die Kinder alle vier, schweigend und eifrig arbeitend, um den Tisch herum, denn die Tante hatte neues Papier hergeschafft, auch dem Oskar erklärt, daß Fani um seiner Schularbeiten willen verschwunden sei. Nun schien der Abend in Frieden und Stille zu Ende gehen zu wollen. Aber auf einmal erhob Rikli ein Mark und Bein durchdringendes Geschrei, warf seinen Sessel zurück und stürzte durch die ganze Stube und weit in den Gang hinaus, nicht anders, als liefe ein Ungeheuer hinter ihm her. Alle Köpfe erhoben sich, und mit Schrecken schaute jeder um sich, die Ursache des Wehegeschreis zu entdecken.

»Hier! hier!« sagte Emmi und wies mit ihrem Zeigefinger auf den Tisch. Da spazierte ganz gravitätisch ein grünschimmernder Goldkäfer über das weiße Papier hin, der soeben der Tasche des unermüdlichen Sammlers entstiegen war.

»Aber Fred, in der Tasche trägt man doch nicht lebende Käfer umher«, mahnte die Mutter; »dafür hast du doch Behälter. Bedenke nur, welchen Unannehmlichkeiten alle deine Nachbarn, auch du und die armen Tiere selbst, ausgesetzt sind!«

»Fred war immer ein wandernder Menageriekäfig, dem kein ordentlicher Mensch nahe kommen darf«, bemerkte Oskar über sein Buch hin.

»Ja, aber meine Sammlungen fallen denn nicht alle Augenblicke in nichts zusammen wie deine Vereine«, warf Fred zurück; »und siehst du, Mama, es ist ein so schönes und nützliches Tier, ich will dir nur gleich lesen, was darüber steht«, und Fred langte schnell sein Buch herbei, das er immer in der Nähe hatte. »Der Goldkäfer, auratus, mit gewölbten Flügeldecken und starken Freßzangen, nährt sich von Raupen, Larven und anderem Ungeziefer, wodurch er sehr nützlich wird. Statt, wie er verdient, geschont zu werden, wird er überall vom Unverstand verfolgt und zertreten. – Siehst du wohl, Mama?«

»Wir wollen ja deinen Käfer gar nicht mit Unverstand verfolgen, nur gehört er anderswohin als in deine Tasche und auf den Tisch; trag ihn weg«, befahl die Mutter.

»Und du, Rikli«, winkte die Tante durch die offene Tür, »komm du wieder herein, und gebärde dich nicht, als ob ein Käferchen dich gleich umbringen könnte. Sieh, wenn du fortwährend um solcher Kleinigkeiten willen ein so furchtbares Geschrei erhebst, so wirst du einmal gestraft werden, denn jeder wird denken, wenn er dich hört: das hat nichts zu bedeuten, und man sieht nicht nach dir, wenn dir auch wirklich etwas begegnen sollte, daß du mit allem Grund schreien könntest.«

Rikli kam herein, und Fred wollte eben mit seinem Käfer hinaustreten; unter der Tür kamen sie zusammen. Fred sagte im Vorbeigehen: »Auf dich will ich einmal ein Gedicht machen, weil du so schöne Töne von dir gibst; du hast auch noch einen Bruder in der Kunst.«

»Ja, ja, Fred«, eiferte das Rikli, »man kann auch ein Gedicht darauf machen, wie die gräßlichen Käfer aus deiner Tasche kommen und mit so dünnen, furchtbaren Beinen über den Tisch kriechen.«

»Das kann man«, bestätigte Fred und ging, seinen Käfer in eine Schachtel einzulogieren.

Als die Kinder zusammenpackten, um sich zurückzuziehen, sagte die Mutter: »Morgen nachmittag habt ihr frei, da darfst du die kranke Nora besuchen, Emmi, und so immer an den freien Nachmittagen und auch am Sonntag; sie freut sich auf deinen Besuch.«

»Das ist doch ein Glück, daß Emmi endlich eine Freundin bekommt; so hört sie einmal auf, anderer Leute Freunde für sich in Anspruch zu nehmen«, sagte Oskar mit Befriedigung.

Emmi erwiderte nichts, sondern ging ganz ruhig ihrer Wege, sie hatte aber nicht im leisesten im Sinn, etwas von ihrer Freundschaft mit dem Fani abzugeben.

Als der Zug sich die Treppe hinauf nach den Schlafzimmern bewegte, voran Oskar, dann Emmi, dann die Tante und zuletzt die beiden Jüngsten nebeneinander, sagte Fred, zu seiner Nachbarin gewandt: »So, jetzt paß einmal recht auf, Rikli!« Dann sang er mit lauter Stimme nach selbstgemachter Melodie:

    »Das Rikli und der Hanseli
Sind ganz wie zwei Geschwister;
Sie singen wie die Amseli,
Nur unerhört viel wüster.«

Eben wollte das Rikli mit klagendem Geschrei die vergleichende Dichtung beantworten, als die Tante sich umkehrte und es bei der Hand nahm.

»Nein, Rikli, heute nicht mehr«, sagte sie bestimmt, »und lieber gar nicht wieder! Zeig du dem Fred, daß er völlig unrecht hat mit seiner Vergleichung.«

Wenn die Mutter nicht, wie so oft geschah, um diese Zeit zum heimgekehrten Vater oder zu Krankenbetten oder zu anderen Hilfsbedürftigen abgerufen wurde, so machte sie die Wanderung zu den oberen Räumen mit, und die Kinder konnten sich dann in Mutter und Tante teilen, um am Schluß des Tages noch alles, was ihnen auf dem Herzen lag, bei der einen oder anderen abzulegen. War aber, wie oft und auch heute, die Mutter abgerufen und die Tante allein zum Begleit da, so hatte sie sehr zu wehren, daß es zu keinem Kampf kam, denn jedes meinte, das andere habe die Tante länger an seinem Bette festgehalten. Heute kam es aber dem Fred auch gar zu arg vor, wie lange erst die Schwestern drüben und nun noch Oskar die Tante für sich behielten, und als sie endlich zu ihm herantrat, sagte er statt aller Mitteilungen: »Am liebsten wollte ich, Tante, man könnte dich in zwei Hälften teilen und dann mit vier multiplizieren, dann gäbe es für jeden zwei Tanten; so käme man doch einmal zu seinem Recht.« Die Tante wollte auch dem Fred sein Recht noch werden lassen, aber schon rief unten die Kathri mit solcher Dringlichkeit nach ihr, daß sie aufbrechen mußte, nicht ohne dem Fred zu versprechen, morgen abend zuallererst an sein Bett zu kommen.


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