Johanna Spyri
Wo Gritlis Kinder hingekommen sind
Johanna Spyri

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Zweites Kapitel

Im Hause des Arztes

Die Abendsonne schien lieblich auf die hellgrünen Blättchen der jungen Gemüse, welche in den zwei großen Beeten, die an den Blumengarten grenzten, emporkeimten und eine besondere Freude der Hausfrau waren. Wenn sie auch mit größerer Wonne zwischen all den duftenden Blumen des Gartens hin und her ging, so schaute sie doch immer zum Schluß mit einer besonderen Teilnahme nach den grünen Kräutchen, die sie alle selbst gesät und vom ersten zarten Keime an bewahrt und gepflegt hatte. Der Blumenkohl schien in diesem Jahr besonders wohl geraten zu wollen, denn mit großem Wohlgefallen schaute die Besitzerin auf ihre junge Pflanzung hin, die weithin frisch und unberührt dastand; nirgends waren die verderblichen Spuren gefräßiger Raupen zu sehen.

»Guten Abend, Frau Doktorin«, tönte es jetzt vom Wege herüber, der durch eine Hecke von den Beeten getrennt war. »Sie haben doch immer das schönste Gemüse; man sieht wohl, daß dazu gesehen wird.«

Die Frau Doktorin war an die Hecke hingetreten, und über diese herein streckte jetzt der Taglöhner Heiri seine schwielige Hand, denn er war ein alter Bekannter und wußte wohl, daß er das Recht zu einem guten Händedruck hatte. Er war ja schon mit der Frau Doktorin zur Schule gegangen, und wie oft war er seitdem bei ihr eingekehrt, um Trost und Rat von ihr zu empfangen!

Sie erwiderte freundlich seinen Gruß und fragte dann teilnehmend: »Und wie geht's denn, Heiri; immer viel Arbeit? Ist alles wohl zu Hause, Frau und Kinder?«

»Ja, ja, gottlob!« entgegnete Heiri, indem er die schweren Werkzeuge, die er auf der Schulter trug, auf den Boden legte; »Arbeit gibt's immer, ich muß mit dem Zeug noch in die Schmiede. Aber es braucht auch Arbeit, die Haushaltung wächst an.«

»Eure drei kleinen Buben sehen gut aus; ich habe sie gestern wieder gesehen mit dem Elsli«, fuhr mit freundlicher Teilnahme die Frau Doktorin fort. »Aber das Kind, das Elsli, ist gar so bleich und schmächtig. Ihr vergeßt doch nicht, woran seine Mutter gestorben ist, Heiri? Man darf das Kind gewiß nicht überanstrengen, es ist zu zart und jetzt im strengsten Wachsen. Ihr müßt beizeiten dazu sehen, Heiri, Ihr habt's erfahren, wie bald es mit einem jungen Leben aus sein kann.«

»Ja, ja, das hab' ich, und das vergess' ich auch nicht, wie's war! Ich konnte es nicht sehen, wie sie das Gritli in den Boden hineintaten, so jung noch, so jung! Die Marget ist eine währschafte Frau und brav, aber das Gritli kann ich doch nicht vergessen.« Heiri wischte mit seiner Hand ein paar Tränen weg.

Der mitfühlenden Frau kamen auch die Tränen in die Augen. »Ich vergesse es auch nicht, Heiri; wie gern wäre das arme Gritli noch bei Euch und seinen zwei kleinen Kindern geblieben. Es ging auch so unerwartet schnell mit ihm. Freilich sah es ja immer dünn und schmächtig aus, und ich kann sein Kind, das kleine, gute Elsli, nie sehen, ohne daß es mir Sorge macht, ob es auch nicht zu sehr angestrengt wird; es kann nicht viel aushalten, das ist wohl zu sehen.«

»Ja, es ist schon ein Schmales und Mageres«, stimmte Heiri bei, »aber sonst schlägt es mehr mir nach, es ist so nicht gerade das Hurtigste und so eher überdacht. Der Bub' ist sonst mehr wie das Gritli selig und hat immer so etwas im Kopf und sitzt nicht gern still, und dann kann er's nicht leiden, wenn die kleinen Buben nicht gerade besonders sauber sind, und sagt etwa, man müsse sie alle drei unter die Brunnenröhre stellen, denn darin ist er punktum wie das Gritli selig; er kann nicht sehen, was wüst ist und unsauber. Aber dann fangen die Buben an zu rufen und zu schreien, bis die Mutter kommt, und dann gibt's noch mehr Spektakel, und so komm' ich fast nie heim am Abend, daß mir die Marget nicht sagt, ich müsse dem großen Buben Ohrfeigen geben, weil er die Kleinen immer plage und mache, daß sie von der Arbeit weg müsse. Aber wenn der Bub' dann so vor mir steht und mich akkurat mit seinen Augen ansieht, wie das Gritli tat, so kann ich ihm keine Ohrfeige geben; das macht dann die Marget bös, und es gibt scharfe Worte, und mir ist es auch nicht recht, weil sie sonst eine brave und schaffige Frau ist. Ich habe schon manchmal gedacht, wenn Sie ihr etwa über die Ohrfeigen ein Wort sagen wollten, Frau Doktorin, so wäre ich froh; sie würde eher auf Ihre Worte hören, und Sie haben ja auch Buben aufzuziehen und wissen, was man mit ihnen etwa machen muß. Sie würden ihr gewiß einmal ein Wörtlein sagen, wenn sie etwa vorbeikommt, nichtwahr, Frau Doktorin?«

»Ja, das will ich schon gern tun; und wie ist es denn mit dem Elsli, kann es die Mutter gut mit ihm?«

»Ja, sehen Sie, das ist so«, und der Heiri kam, um sich recht verständlich zu machen, noch ein wenig näher an die Hecke heran; »das Kind ist mehr so wie ich und gibt nach und hat nicht so seine eigenen Sachen im Kopf, wie das Gritli sie hatte, und so seinen Eigenwillen. Es tut akkurat, was die Marget will, und hat kein Widerwörtlein den ganzen Tag und klagt nie, und wenn es auch von dem an, daß es aus der Schule kommt, bis es ins Bett muß, immer zu helfen hat und die Buben hüten und das Kleine herumtragen muß.«

»Nur auch nicht zu viel, Heiri«, mahnte bekümmert die Frau Doktorin; »es ist mir eine rechte Sorge mit dem Kinde. Schickt mir die Marget bald einmal vorbei, ich möchte auch darüber ein Wort mit ihr reden; sagt ihr, ich habe ihr für die Kinder etwas abzugeben, entwachsene Röckchen von den meinigen!«

»Das will ich gern tun, und nun will ich, denk' ich, wieder weiter. So schlafen Sie wohl, Frau Doktorin, und nichts für ungut und wünsche nur, daß alles gut weiter gedeihe im Gemüsegarten.«

»Danke! Gute Nacht, Heiri!« Noch einmal wurde über die Hecke hin ein Händedruck gewechselt, dann zog Heiri seine Straße weiter.

Die Frau Doktorin blieb sinnend zwischen den Gemüsebeeten stehen; aber ihre Gedanken waren nicht mehr mit den grünen Kräutlein beschäftigt, auf die ihre Augen niederschauten. Heiris Erscheinung und Gespräch hatte frühere Tage in ihrer Seele wachgerufen. Sie sah ein fröhliches Kindergesicht mit großen braunen Augen neben sich und schaute eben mit Verwunderung zu, wie zwei gewandte Hände ein Vergißmeinnicht vorn ins Röckchen und nun noch eins ins Haar steckten, und wie gut das aussah. Das Kind war das Gritli, das neben ihr am Bache saß, wo sie beide eben die blauen Blumen in Fülle gepflückt hatten und sie nun zu Sträußen banden. Das Gritli war armer Leute Kind, aber immer sah es gut und außerordentlich sauber und glatt gekämmt aus, und immer hatte es da und dort ein Blümchen oder ein Schleifchen aufgesteckt, und immer sah es aus, als sei es zu einem kleinen Fest geschmückt, wenn es noch so einfache Kleider auf sich trug. Viele schalten das Gritli darum, und andere verlachten es; das änderte aber nichts: es war ein tiefes Bedürfnis in dem Gritli, etwas Schönes an sich zu haben, und was auch die Leute sagten, unausgesetzt ging das Gritli mit einem Blümchen oder Bändchen geschmückt einher und sah aus, als komme es eben vom Maler, der es zurechtgeputzt, um ein Bildchen aus ihm zu machen. Mit achtzehn Jahren heiratete es den gutmütigen Heiri, der das Gritli schon immer gern gehabt und ihm oftmals gesagt hatte, er wolle schon für beide arbeiten, wenn es nur seine Frau werden wolle. Schon nach fünf Jahren welkte das zartgebaute Gritli an der Schwindsucht dahin. Seine beiden Kinder, der vierjährige Stephan und das dreijährige Elsli, waren von der jungen Mutter vom ersten Augenblick an so schmuck und sauber gehalten worden, daß es den Kindern tief eingeprägt blieb. Der Heiri mußte aber für seine zwei kleinen Kinder wieder eine Mutter haben, und die Leute sagten ihm, er müsse die Marget zur Frau nehmen, denn sie werde ihm gut helfen in aller Arbeit. So wurde die Marget seine Frau und war tüchtig und fest in jeder Arbeit; aber auf Schmuck und Blumen hielt sie nichts und eine besondere Sauberkeit sah sie für unnötig und als eine Zeitvergeudung an, und so bekam Heiris Haushalt einen anderen Charakter. Die drei kleinen Buben und das Kleine in der Wiege sahen nicht aus, wie der Fani und das Elsli ausgesehen hatten als kleine Kinder und auch jetzt noch aussahen, denn die erste Gewohnheit war ihnen geblieben.

Aus diesen Gedanken, die so einer nach dem anderen in der sinnenden Frau aufgestiegen waren, wurde sie durch ein fürchterliches Geschrei aufgeschreckt, das vom Hause her ertönte. Jetzt stürzte, fortwährend aus vollem Halse schreiend, das achtjährige Rikli, um die Ecke kommend, auf sie los, hinter ihr her der Bruder Fred, ein großes Buch unter dem linken Arm, den rechten mit geschlossener Faust ausstreckend.

»Rikli, nicht so maßlos«, mahnte die Mutter; »komm doch zu dir. Was ist denn geschehen?«

Rikli schrie fort und steckte ihren Kopf ins Kleid der Mutter hinein.

»Jetzt sieh doch, Mama, warum das vernunftlose Wesen sich so gebärdet«, berichtete der herzugerannte Fred; »hier sieh, dieses niedliche Fröschlein habe ich gefangen und dem Rikli unter die Augen gehalten, daß es das Tierlein bewundern könne, und nun will ich dir gleich lesen, welch ein merkwürdiges Exemplar es ist. Sieh nur, sieh!« Fred hielt seine offene Hand hin, aus der ein grüner Frosch glotzte.

»Rikli, nun sei ganz still, es ist genug«, gebot die Mutter dem immer noch fortschreienden Kinde, »und du, Fred, weißt wohl, daß das Kind sich allerdings unvernünftig vor deinen Tieren fürchtet; warum mußt du diese gerade ihm unter die Augen halten?«

»Es war zunächst bei mir«, erklärte Fred, »und hör nur, wie interessant die Beschreibung ist, Mama!« Fred hatte sein Buch aufgemacht und las: »Der grüne oder Wasserfrosch, esculenta, ist gegen drei Zoll lang, grasgrün mit schwarzen Flecken. Seine Augen haben einen Goldglanz, die Zehen der Hinterfüße eine Schwimmhaut. Seine Stimme, die er besonders in warmen Sommernächten hören läßt, lautet: Brekekekex! Den Winter bringt er im Schlamm zu. Er nährt sich –«

In diesem Augenblick kam ein Wagen herangefahren.

»Es ist die Dame mit dem kranken Mädchen, laß mich, Fred, laß mich«, sagte die Mutter, eilig den Fred etwas beiseite schiebend, der ihr den Weg versperrte. Er rannte ihr aber nach: »Mama, so hör nur noch, du weißt ja noch nicht, womit er sich nährt, er nährt sich von –«

Der Wagen war schon da. Aus dem Stalle kam der Hans, aus der Küche die Kathri gelaufen in einer sauberen weißen Schürze; denn man hatte ihr gesagt: wenn ein Wagen vorfahre, habe sie herauszukommen, um ein krankes Mädchen die Treppe hinaufzutragen. Fred und Rikli waren ein wenig zurückgetreten und standen jetzt mäuschenstill an der Hecke, mit gespannter Erwartung dem Weiteren entgegensehend. Erst trat eine Dame aus dem Wagen und winkte Kathri heran. Dann hob diese eine weiße, zarte, fast durchsichtige Gestalt aus dem Wagen heraus und trug sie die Treppe hinauf ins Haus hinein. Die beiden Frauen folgten gleich nach.

»Das Kind ist viel größer als du, wennschon die Mama gemeint hat, es sei nur acht oder neun Jahre alt«, erklärte jetzt Fred seiner Schwester Rikli. »Das gibt eine Freundin für Emmi und man kann ihm auch ansehen, daß es sich für ein Geschrei bedanken würde, wie du es machst.«

»Ja, ja, es hat auch nicht immer Frösche und Spinnen und Raupen in der Tasche wie du«, wehrte sich Rikli und wollte eben noch einiges beifügen, das die Berechtigung ihres Geschreies beweisen mußte, als Fred die Hand aufmachte, um nach seinem Frosch zu sehen, und dieser mit einem großen Satz gegen das Rikli hin entsprang. Mit einem durchdringenden Geschrei rannte das Kind ins Haus hinein, wo es aber nicht weit vordringen konnte, denn die Kathri schoß ihm mit einem ganz überwältigenden »Bsch! Bsch!« entgegen. »Wenn ein Krankes drinnen ist, so zu tun!«

»Wo ist die Tante?« fragte Rikli; eine Frage, welche die Kathri beantwortete, bevor sie recht ausgesprochen war, denn sie kannte diese Frage, die des Tages viele hundert Male in dem Hause gehört wurde.

»In der anderen Stube; hier drinnen ist das Kranke, geh nicht dahinein, die Mama hat's verboten; und das Schreien wie von einem angestochenen Spanferkelchen ist auch nicht erlaubt im Hause drinnen«, fügte die Kathri aus eigener Beurteilung hinzu.

Rikli eilte in die andere Stube hinein, um der Tante die Geschichte mit dem Frosch zu klagen, denn es konnte nicht darüber wegkommen, daß er ihm fast ins Gesicht gesprungen war. Aber die Tante war schon in Anspruch genommen: Oskar, der älteste Bruder, saß neben ihr, in ein ernsthaftes Gespräch vertieft.

»Weißt du was, Tante? Wenn der Feklitus nicht nachgibt, so könnte man beide Sprüche zusammensetzen; dann wäre doch der unsere da, und die anderen hätten den ihrigen auch, meinst du nicht?«

»Ja, das könnte man tun«, stimmte die Tante bei; »so ist allen geholfen, und die Verse sind gedankenreich, wie es bei solchen Gelegenheiten sein muß.«

»Hilf du dann auch der Emmi brodieren, Tante«, bat Oskar; »weißt du, sie macht sonst die Fahne nie fertig, sie läuft gewiß hundertmal davon weg, etwas anderem nach.«

Die Tante versprach ihre Mithilfe. Hocherfreut sprang Oskar auf und davon, denn er mußte seinen Freunden schnell noch Mitteilung über den glücklich gefundenen Ausweg mit den Sprüchen und das erfreuliche Versprechen der Tante machen. Bevor aber Rikli noch zu Worten kam für seine Froschgeschichte, war schon die ältere Schwester Emmi hereingestürzt und rief in großer Aufregung: »Tante! Tante! Sie gehen alle in die Erdbeeren, ein ganzer Trupp; darf ich noch mit? Sag doch schnell ja, ich kann nicht zur Mama, und es pressiert.«

»Einmal in die Veilchen und einmal in die Erdbeeren und einmal in die Heidelbeeren und immer in etwas, so ist's bei dir, Emmi. So geh, aber komm nicht spät heim!«

Emmi war schon draußen.

»Ich auch! Ich auch!« schrie Rikli und lief der Forteilenden nach. Aber Emmi war in zwei Sätzen die Treppe hinunter und rief zurück: »Nichts! nichts! du kannst nicht mit, im Wald hat's Käfer und rote Schnecken.« Rikli kehrte schleunig um, aber zum Ersatz wollte es nun einmal seine bedauerliche Geschichte erzählen. Doch jetzt kam Fred hereingelaufen mit seinem Buch unterm Arm. Er setzte sich sogleich so nah als möglich zu der Tante hin und schlug das Buch auf. »Das ist gut, daß du da bist, Tante, die Mama hat gar nicht zu Ende hören können, und es ist ein gar merkwürdiges Tier, ich hatte ein prachtvolles Exemplar gefangen. Aber du mußt nicht zu kurz kommen, Tante, morgen such' ich schon wieder einen und bring' ihn dir.«

»Nein, nein!« schrie das Rikli auf; »sag nein, Tante, er springt einem fast ins Gesicht und hat gelbe Augen, wie ein Drache und –«

Fred hatte aus seiner leeren Hand eine Faust gemacht, hielt diese plötzlich dem Rikli vor das Gesicht und schnellte sie auf; mit Geschrei sprang das Kind weg und zur Tür hinaus. »So, jetzt kann man doch ruhig lesen«, sagte Fred, befriedigt über die Wirkung, legte seine Hand auf das Buch und begann: »Der grüne oder Wasserfrosch, esculenta –«

In dem Augenblick ging drüben die Tür auf, man hörte Schritte und Stimmen.

»Komm«, sagte die Tante, »wir müssen das kranke Kind abfahren sehen, wir kehren nachher zum Frosch zurück.« Sie ging ans Fenster. Auf das Gesicht der Tante kam ein trauriger Ausdruck, als sie sah, wie das Kind in den Wagen gehoben wurde.

»O, wie blaß und krank sieht das liebliche Gesichtchen aus! Du armes Kind! Nein, du arme Mutter!« korrigierte sie sich, als ihr Blick auf die Dame fiel, die herzlich der Hausfrau die Hand drückte, während ihr große Tränen die Wangen hinabflossen. »Ach Gott!« seufzte die Tante noch einmal. Der Wagen rollte fort. Fred hatte sein Buch wieder ergriffen; aber die Geschichte des Frosches konnte nicht mehr aufgenommen werden, denn jetzt kam die Mutter herein und war sehr erregt von dem eben Erlebten. Sie mußte gleich der Tante Mitteilung davon machen, hatte diese doch von jeher alles mit ihr durchgelebt, was in Freud' oder Leid sie bewegte. Die Tante gehörte auch so ganz und gar zu ihrem Haus, daß die Kinder alle sich ein Haus ohne Tante eigentlich gar nicht vorstellen konnten, denn diese war doch so notwendig da wie ein Papa und Mama. Fred nahm schnell der Tante noch das Versprechen ab, vor dem Augenblick des Aufrufs zum allgemeinen Rückzug nach den Nachtquartieren noch die Lebensweise des Frosches anhören zu wollen; dann befolgte er die Anweisung der Mutter, sich ein wenig hinauszubegeben. Die Mutter erzählte nun, welche tiefe Teilnahme die fremde Dame, Frau Stanhope, und ihr krankes Töchterchen ihr eingeflößt haben. Sie fand, das zarte Geschöpfchen mit den großen, blauen Augen und dem feinen, farblosen Gesichtchen sehe aus, als ob es nur noch halb der Erde angehöre. Die arme Mutter aber könne sichtlich diesen Gedanken nicht ertragen, denn schon beim ersten Wort der herzlichen Teilnahme, das sie, die Doktorsfrau, ihr ausgesprochen hatte, sei sie in schmerzliche Tränen ausgebrochen und habe gesucht, sich selbst zu täuschen mit dem Trost, die Reise habe ihre Nora so sehr angegriffen, daß sie nun gar so blaß und durchsichtig aussehe. Jetzt in der frischen Bergluft werde es gewiß bald anders werden, darauf hatte sie ihre ganze Hoffnung gesetzt.

Soweit hatte die Mutter berichtet, als sie den Hufschlag eines Pferdes vernahm; sie wußte, es war ihr Mann, der von seinen ärztlichen Besuchen heimkehrte. Augenblicklich ging sie ihm entgegen und benachrichtigte ihn davon, daß die erwartete Dame mit dem kranken Kinde angekommen sei. Der Doktor machte sich auch, nachdem er vom Pferde gestiegen, gleich wieder auf den Weg, um seinen ersten Besuch bei der neuen Patientin zu machen. Er hatte eine Wohnung gefunden, die, soweit es überhaupt in dieser ländlichen Gegend möglich war, den Wünschen entsprach, welche sein Freund, der Arzt am Rhein, für die Kranke und ihre Mutter ausgesprochen hatte. Erst spät am Abend kehrte der Doktor wieder zurück, als die Kinder schon verschwunden waren, nicht ohne daß Fred noch seinen Zweck erreicht hatte. Die letzte halbe Stunde lang war er unausgesetzt mit seinem Buch unterm Arm der Tante auf Schritt und Tritt nachgegangen, um den geeigneten Augenblick zur Mitteilung wahrzunehmen, was heute, wie schon öfter, längere Zeit erforderte, denn die Tante war wieder einmal von allen Geschwistern zugleich in Anspruch genommen, während auf der einen Seite die Mutter und auf der anderen die Kathri zu gleicher Zeit noch einen Rat von ihr begehrten. Aber Fred hatte viel Beharrlichkeit, und er konnte auch heute sich beruhigt niederlegen, denn er hatte die Tante trotz allen Nebenansprüchen an sie noch mit den sämtlichen Lebensbedingungen des Wasserfrosches bekannt gemacht.

Der Doktor hatte sich jetzt zu seinem Nachtessen gesetzt. Mutter und Tante saßen neben ihm und erwarteten mit Spannung seine Mitteilungen über die junge Kranke: wie er ihren Zustand gefunden habe und ob er die Hoffnung hege, der Sommeraufenthalt werde die gewünschte Genesung bringen. Aber der Doktor schüttelte den Kopf. »Da ist wenig zu hoffen«, sagte er, »es ist keine Lebenskraft in dem Pflänzchen. Es handelt sich nicht um heruntergekommene Kräfte, sondern um den völligen Mangel derselben von Anfang an. Ob unsere Bergluft Wunder tun kann, wollen wir sehen; ohne ein solches ist keine Hilfe.«

Diese Nachricht stimmte die Frauen sehr traurig; sie hatten ja beide gesehen, wie schwer der armen Mutter die Trennung von ihrem Kinde werden würde. Sie hielten beide noch an der Hoffnung fest, die stärkende Luft werde ihre wohltuende Wirkung auf das kranke Kind um so eher ausüben, als sie für dasselbe ganz neu und ungewohnt war.

»Emmi soll das Kind besuchen und es kurzweilen und aufheitern«, sagte der Doktor wieder; »die hat ja immer zuviel Zeug im Kopf, da kann sie etwas ablagern und stiftet unterdessen keine ihrer beliebten Unternehmungen an, die alle in irgendein Unheil auslaufen. Dieses Wesen wird sie höchstens zum Erstaunen bringen, aber gewiß zu keiner Mitwirkung hinreißen; so ist es für beide gut, wenn sie recht oft hingeht.«

Die Mutter stimmte bei, Emmi sollte so oft als möglich die kranke Nora besuchen; der Gedanke war der Mutter selbst sehr lieb; sie zweifelte nicht daran, daß zwischen den Kindern ein Freundschaftsverhältnis entstehen werde, das für beide sehr wohltätig werden müßte. Die stille, zarte Nora könnte einen besänftigenden Einfluß auf das rasche und stürmische Wesen ihrer Emmi ausüben, und diese mit ihrer frischen, lebendigen Weise müßte neue, frohe Gedanken und Erheiterung in das einförmige Leben der jungen Kranken bringen.

Als später der Doktor auf seiner Stube noch allerlei Vorbereitungen für den folgenden Tag traf, saßen Mutter und Tante wie gewöhnlich beim großen Flickkorb zusammen, besprachen die Ereignisse des Tages und erzählten sich gegenseitig alle Erlebnisse, die sie heute mit den Kindern gehabt, und alle Beobachtungen, die sie an ihnen gemacht hatten. Dies war für die Schwestern die einzige Zeit des Tages, daß sie zu einem ruhigen Aussprechen kamen, was ihnen ein großes Bedürfnis war; denn da waren so viele Angelegenheiten, für die sie gemeinschaftlich lebten und handelten. Vor allem die Kinder mit all ihren Freuden und Schmerzen, ihren Wünschen und Bedürfnissen, dann die Kranken, die von nah und fern ins Haus kamen, und endlich alle Trost- und Hilfsbedürftigen der ganzen Umgegend, die mit allen ihren Bedrängnissen dahin kamen, wo sie einer warmen Teilnahme und der Unterstützung mit Rat und Tat allezeit sicher waren. So hatten Mutter und Tante an diesem wie an jedem anderen Abend so viele Dinge zu verhandeln und zu besprechen, daß unter ihren fleißigen Händen die Haufen der heilsbedürftigen Strümpfe im großen Flickkorb unbemerkt zusammenschmolzen und Mutter und Tante sich endlich eines späten, aber wohlverdienten Feierabends freuen konnten.


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