Johanna Spyri
Am Felsensprung
Johanna Spyri

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5. Kapitel.
Feielis Freude

Die letzten Tage des April waren gekommen, und das Wetter war sehr wechselhaft. Schien einmal die Sonne recht hell und warm, so zogen am folgenden Tag um so dunklere und dichtere Wolken daher und gossen ganze Ströme in den schon so hoch angeschwollenen Wetterbach hinunter. Aber heute war es, als ob kein Schatten und kein Wölklein mehr am Himmel und auf der Erde zu finden wären. Draußen auf der Bank im strahlenden Sonnenschein saß das Feieli und schaute mit hellglänzenden Augen bald zu dem blauen Himmel auf, bald zu dem sonnenbeschienenen, sprudelnden Wasser nieder. Eine ganz strahlende Freude leuchtete aus seinem Gesicht, so daß der Jos in froher Verwunderung ausrief : »Was hast du, Feieli? Bist du auf einmal wieder ganz gesund?«

»Oh, jetzt habe ich etwas gefunden, Jos, das ich tun kann. Oh, wenn ich dir's nur sagen könnte. Aber ich will dir lieber noch nichts sagen, es wurde dich vielleicht jetzt noch nicht so sehr freuen, aber dann nachher, dann freut es dich um so mehr!«

Jos machte fragend die Augen weit auf: »Ist es etwas wegen unserer Sache? Weißt du jetzt einen Weg?« Das Feieli nickte bejahend und schaute so glücklich drein, und seine Augen glänzten so wunderbar, daß der Jos es immer ansehen mußte. »Kann ich's dann bald wissen?« fragte er jetzt voll fröhlicher Erwartung, denn der Ausdruck in Feielis Augen war so glückverheißend, daß er ganz sicher wurde, nun hatte es einen Ausweg gefunden.

»Ja, vielleicht bald«, erwiderte das Feieli, »wenn ich jetzt nur die Mutter Silvia noch etwas fragen könnte. Aber ich kann nicht bis dort hinaufgehen, von der Haustür bis hier zur Bank war es mir fast zu weit.«

»Bleib du nur ganz still sitzen, ich werde sie holen«, beruhigte sie der Jos und rannte gleich zum Hüttchen der Alten hinauf. Es dauerte auch gar nicht lange, so kam diese schon herangetrippelt. Und sobald sie bei der Bank ankam, fragte sie: »Was hast du denn so Freudiges heute, Feieli? Du siehst so fröhlich aus.«

»Jetzt weiß ich, wie ich dem Jos helfen kann«, gab es mit leuchtenden Augen zur Antwort, »aber ich möchte Sie noch gern etwas fragen« Die Alte hatte sich zu dem Kind gesetzt und erwartete seine Frage.

»Mutter Silvia«, fing es wieder an, »wenn man dann in die stille Ewigkeit eingefahren ist, kann man dann auch noch zurücksehen und wissen, was die daheim machen, die nicht mitgefahren sind ?«

Die Alte antwortete nicht gleich. Erst nach einer Weile fragte sie: »Wie kommst du auf diese Frage, Feieli? Hat die denn etwas damit zu tun, daß du dem Jos helfen kannst?«

»Ja, das hat sie«, nickte das Feieli, »und jetzt will ich Ihnen alles sagen. Jeden Tag habe ich weniger Kraft, ich kann schon fast nicht mehr von der Haustür bis hier auf die Bank kommen, und ich weiß schon, wie es kommen wird. Zuletzt habe ich gar keine Kraft mehr, dann sterbe ich. Und wenn ich dann drüben bin, so komme ich ja zum lieben Gott. Und dann kann ich ihm alles erzählen, wie es ist mit dem Jos, und kann ihn so lange bitten, bis er ihm helfen will. Er wird ihm doch helfen?« Die Mutter Silvia nickte, sie meinte auch, es müsse so kommen. »Aber ich sähe dann so gern die große Freude vom Jos«, fuhr das Feieli fort, »darum habe ich Sie das gefragt. Meinen Sie, daß ich das sehen kann?«

Die Mutter Silvia nahm die Hand des Kindes und sagte mit Rührung: »Feieli, das ist mir eine große Freude, daß du so froh bist, hinüberzugehen und zum lieben Gott zu kommen, der dich ruft. Und wenn du auch nicht zurücksehen könntest, so ist doch eines sicher, daß ich dir bald nachkommen werde. Und dann will ich dir berichten von der Freude, die der Jos erlebt.«

Das war ein ganz neuer Gedanke für das Feieli. Sie war glücklich über die freudige Aussicht, daß die Mutter Silvia auch bald nachkommen und ihm von allem erzählen und mit ihm zusammen in der stillen Ewigkeit wohnen werde. »So behüte dich Gott, Feieli, und auf Wiedersehen!« sagte jetzt die Alte, indem sie aufstand und die Hand des Kindes noch einmal drückte. Dann wandte sie sich und ging. Aber noch einmal schaute sie zurück, und Feieli winkte ihr noch einmal zu.

Während der kommenden Nacht brach ein Unwetter los, wie seit langer Zeit keines vorgekommen war. Oben im Wald krachten hohe, feste Tannen in dem rasenden Sturm zusammen. Und das Flößerhäuschen bekam solche Stöße, daß man glaubte, es müsse in den Wetterbach hinuntergeschleudert werden. Unten schwoll das Wasser immer höher und höher, und zwischen den Felsen durch dröhnte und donnerte der Bach, als wollte er sie zersprengen. Als der Morgen kam, sah man, daß das wilde Wasser schon bis zum Fichtenbäumchen hinaufkam. Und spritzte der Wind wieder die Wellen auf, so übergoß es alle Fensterscheiben am Häuschen. Dazu ballten sich die schwarzen Wolken von Zeit zu Zeit so zusammen, daß es ganz dunkel wurde. Dann auf einmal stürzte ein solcher Strom von Regen und Hagel nieder, daß der Wetterbach immer weiter anschwoll und vor Wut heulte. So ging es den ganzen Tag über.

Schon am Morgen war der Flößer mit dem Jos fortgegangen, es gab nun Arbeit auf allen Seiten, und sie war gefährlich, das wußte die Frau Marthe wohl. Sie hatte einen bösen Tag, sie wußte nicht mehr, was sie tun oder lassen sollte. Alle Augenblicke dachte sie: Der Sturm reißt das Haus nieder. Dann jammerte sie wieder: »Was wird nur aus dem Vater und dem Jos werden!« und lief an die Haustür, um zu horchen, ob sie noch nicht zurückkommen. Aber sie hörte nur den tobenden Wetterbach. Dann ging sie wieder in das Zimmer, wo die kleinen Buben schrien, denn sie wollten nicht allein sein. Dann eilte sie hinauf in Feielis Kämmerlein, wo das Kind zu Bett lag, denn heute morgen war es liegengeblieben, als es aufstehen wollte, es war zu schwach gewesen. Da hatte die Mutter angeordnet, es solle heute liegenbleiben und sich ausruhen. Wenn dann die Sonne wieder komme, könne es wieder hinaus. Das Feieli war gern liegengeblieben, es war so kraftlos. Schon mehrmals war die Mutter heraufgekommen und hatte laut geklagt, dann war sie fortgelaufen. Jetzt kam sie wieder. Das Feieli lag ganz still auf seinem Kissen. Wenn der Sturm einen Wasserguß an das kleine Fenster hinaufspritzte und laut heulte dazu, machte es die Augen auf und schaute hin. Dann schloß es sie wieder und lag völlig ruhig da.

»Ach Feieli, was ist das für ein Wetter!« jammerte die Mutter, »ich weiß auch nicht, wie ich überall sein kann. Die Buben wollen nicht allein sein, und draußen muß ich immer wieder nachsehen, ob ich noch nichts vom Vater und vom Jos entdecken kann. Und dich kann ich auch nicht allein lassen, du mußt dich ja auch fürchten.«

»Nein, Mutter«, sagte das Feieli leise, »laß mich nur allein, ich fürchte mich nicht, ich kann so etwas Schönes denken, wenn es still ist. Ich träume von dem sonnenhellen Wasser dort drüben, und ich weiß schon, wer das Schifflein sicher lenkt, wenn der Bach so tost und es so dunkel wird.« Die letzten Worte sagte das Feieli immer leiser. Es schloß die Augen und atmete in langen Zügen. »Es will ein wenig schlafen«, sagte die Mutter und ging leise zur Tür hinaus.

Gegen Abend ließ der Sturm nach. Der Flößer kam endlich mit Jos heim. Sie hatten schwere Arbeit gehabt, aber es war alles ohne Unfall getan worden. Marthe war sehr erleichtert und erzählte, welche Angst sie ausgestanden hatte. Dann setzte sie ihnen das Abendessen vor. »Was macht das Feieli?« fragte Jos, und die Mutter berichtete, wie ruhig es bei dem Sturm gewesen und wie es eingeschlafen sei. Sie ging jetzt, um einmal wieder nach ihm zu sehen. Es lag noch ganz so da, wie sie es verlassen hatte. Ein Zug des Friedens und tiefer Ruhe lag auf dem stillen Gesichtchen. Die Mutter beugte sich ein wenig herab, denn das Kind war so blaß. Es atmete nicht mehr, das Feieli war gestorben. Einen Augenblick lang stand die Mutter starr da. Sie hatte keine Ahnung gehabt, daß ihr das Kind so schnell genommen werden könnte. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich um das Kind zu kümmern. Was hatte sie ihrem Kind in diesem Leben Gutes geboten? Gar nichts. Doch hatte sie das Feieli so liebgehabt, und nun war alles aus, sie konnte nichts mehr für das Kind tun. Es war fort, fort für immer. Jetzt brach die Mutter zusammen. Am Bett des Kindes kniete sie nieder und schrie: »O Gott im Himmel, nimm doch das Kind zu dir und ersetz ihm, was ihm gefehlt hat. O straf mich, wenn ich vor deinen Augen nicht bestehen kann, aber nimm das Kind in deinen Himmel! O nimm es zu dir und laß es ihm gutgehen!«

Der Jos war in die Kammer eingetreten und hörte die Mutter schluchzen und beten. Er sah auf das Feieli. Es sah so friedlich aus, aber so ernsthaft, er nahm es bei der Hand. Sie war ganz kalt. Auf einmal schrie er auf: »Ist es tot? Ist das Feieli tot?« Die Mutter stöhnte und drückte ihren Kopf an das Bett des Kindes. »Wo ist es jetzt? Wo ist das Feieli?« schrie Jos wieder auf. »Mutter, kann man es nicht mehr zurückrufen? Hat es ganz allein gehen müssen? Oh, es hat sich ja gefürchtet! Wo ist es, Mutter? Wo ist es?«

Jetzt war auch die Mutter Silvia in das Kämmerlein eingetreten, sie wollte sehen, wie es dem Feieli gehe. Als sie den Jos so aufschreien hörte, verstand sie gleich alles. Sie trat an das Bett heran und warf einen Blick auf das friedvolle Gesichtchen. Dann legte sie dem Jos die Hand auf die Schulter und sagte: »Sieh es an, sieh, wie still und friedlich es aussieht! Weißt du, wo es jetzt ist? Beim lieben Gott ist es und bittet für dich. Das war seine letzte Freude, daß es gehen und für dich bitten konnte.«

»Ich will auch zum lieben Gott«, rief Jos, während die heißen Tränen seine Wangen herunterliefen. Er warf sich neben der Mutter auf die Knie und rief schluchzend: »O lieber Gott, das Feieli hat gar nichts Gutes auf der Erde gehabt, und jetzt hat es schon sterben müssen. O mach, daß es ihm gutgeht und daß es nicht allein sein und sich nicht fürchten muß! O laß es ihm wohl sein!«

Die Mutter Marthe fing auch wieder zu schluchzen an. Aber die Mutter Silvia sagte jetzt leise: »Sie haben beten gelernt, den Segen hat ihnen das Kind erworben«, dann verließ sie still die Kammer.

Unten trat sie noch in die Stube ein. Der Flößer saß müde am Tisch bei den zwei kleinen Buben. »Nachbar«, sagte sie, »Ihr Feieli liegt oben wie ein Englein. Geht und seht es an, dem geht es gut, es ist im Himmel.«

»Hat es schon alles überstanden? Es ist ihm zu gönnen. Wie konnte es so leise fortgehen?« fragte der müde Mann, so als wollte er sagen: »So täte ich es auch gern.«

»Es gibt einen Helfer, der kann uns leise hinüberführen. Das Feieli hat ihn angerufen, wir wollen es auch tun, Nachbar.« Die Mutter Silvia gab ihm die Hand und wollte gehen. Der Flößer hielt sie noch fest. »Seht, Mutter, wenn ich manchmal so von einem hohen Stein auf den anderen springen muß und unter mir das hohe Wasser brüllen höre und weiß, tust du einen Fehltritt, so bist du verloren, da muß ich oft zu unserem Herrgott hinaufrufen: Hilf du mir doch hinüber! Und dann muß ich manchmal denken: Das wird wohl dein letzter Stoßseufzer sein.«

»Das wird es und meiner auch, aber wir wollen ihn auch manchmal vorher tun, Nachbar, damit uns der liebe Gott nicht überhört, wenn wir nur so ein einziges Mal rufen.« Jetzt drückte die Alte ihrem Nachbar die Hand und ging weg.

Am Morgen darauf hatte der Jos einen schweren Gang zu tun. Er hatte den Auftrag, zum Schreiner zu gehen, der auf der anderen Seite vom Schneerücken unten im Tal wohnte. Bei dem sollte Jos das hölzerne Bettlein bestellen, in dem das Feieli in die Erde gelegt werden sollte. Ein leuchtender Sonnenschein lag über Berg und Tal an diesem ersten Maientag, und vom gestrigen Regen her funkelte und schimmerte es ringsum auf den hellgrünen Blättern der jungen Buchen. Jos lief dahin und hob nicht ein einziges Mal den Kopf in die Höhe, er sah nichts von dem Leuchten ringsum. Er konnte keinen Augenblick vergessen, warum er auf der Straße war und was er auszurichten hatte. Von Zeit zu Zeit wischte er schnell eine Träne aus den Augen. Es war der Weg, auf dem er an manchem schönen Sommertag mit Feieli zur Schule hinauf gewandert war. Über den Schneerücken hin blies ein frischer Wind, und als nun Jos oben war, fing er noch schneller zu laufen an, denn nun ging es abwärts auf der anderen Seite.

So rannte er immer weiter, bis ihm auf einmal ein angenehmer Duft in die Nase stieg, so daß er einen Augenblick lang stehenblieb. Er schaute um sich. Hier unten war der Mai in seiner ganzen Fülle eingezogen. Rote und weiße Blüten schimmerten auf allen Bäumen. Auf der Hecke vor ihm lagen die Weißdornblüten wie dichter Schnee. Darüber wiegten eine ganze Reihe lilafarbiger Fliederbäume ihre vollen Blumentrauben, die so würzig dufteten. Goldschimmernde Akazienzweige hingen darüber hin, und über allem stiegen zwitschernd und jauchzend die Vögel in den blauen Himmel hinauf. Jos stand eine kurze Weile still und starrte in den Glanz und die ganze Maienherrlichkeit hinein. Sie brannte wie Feuer in sein Herz, er konnte das Schimmern und Leuchten nicht mehr ansehen. Wo er stand, warf er sich auf die Erde und schluchzte laut auf: »Und das Feieli muß in den dunklen Boden hinein!« und in herzzerbrechendem Jammer blieb er liegen und weinte und stöhnte in die Erde hinein. Jetzt trat eine Frau aus der Laube im Garten heraus und beugte sich über die Hecke.

»Was hast du, Junge, was fehlt dir?« fragte sie mit freundlicher Stimme und ging die Hecke entlang, um auf den Weg hinaus zu kommen. Jos stand auf und wollte davonlaufen. Eben jetzt trat die Frau auf den Weg hinaus und stand vor ihm. Er starrte sie an, er hatte sie erkannt. Jetzt stürzten ihm die Tränen aufs neue aus den Augen. Es kam ihm alles wieder in den Sinn. Mit halb erstickter Stimme sagte er: »Das Feieli möchte sich bei Ihnen tausendmal bedanken.«

Die Frau schaute mit tiefer Teilnahme auf den Jos. Sein großes Leid ging ihr zu Herzen. Sie hatte ihn jetzt auch erkannt und konnte gleich erraten, woher sein brennender Schmerz kam.

»Komm mit mir herein und erzähl mir alles«, sagte sie so herzlich, daß Jos ihr gern folgte. Sie hatte ja auch dem Feieli etwas Gutes getan. Drinnen in der großen Stube war kein Mensch. Die gute Frau setzte sich auf den alten Lehnstuhl, und Jos mußte sich vor sie hinsetzen. Als nun ihre guten Augen so teilnehmend auf ihm ruhten, wurde es ihm ums Herz leichter, und er erzählte ihr alles. Er sprach vom Feieli und seinem Leben und von den Plänen und Hoffnungen, die sie miteinander geteilt hatten, und von Feielis Krankheit und der großen Stärkung, die ihm der Johannisbeersaft gebracht hatte. Auch von Feielis täglichem Dank ihr gegenüber berichtete er noch, und wie es dann gestern abend auf einmal ganz still geworden sei. Er sagte, wohin er nun gehen müsse, und bei dieser Erinnerung überkam der Schmerz den Jos aufs neue, er konnte kein Wort mehr sagen.

Die Frau hatte schweigend zugehört. Jetzt fing sie an, den Jos zu trösten. Sie sagte ihm, das Feieli sei ein überaus zartes Kind gewesen, das habe sie damals gleich gesehen. Und sie habe bei sich denken müssen: Was wird dem armen Kind im Leben bevorstehen! Es wird nur Mühe und Leiden und kummervolle Tage kennenlernen. Statt dessen habe der liebe Gott das Kind allem Leiden enthoben und zu sich genommen, wo nur Freude und ein Dasein voller Wonne sei. Das können wir uns nur vorstellen, wenn wir so von Glanz und Duft umgeben in den blauen Himmel hineinschauen wie heute morgen. Daran solle Jos nun denken, wie wohl es jetzt dem neu erwachten Feieli dort oben sei, viel wohler noch, als wenn es mit ihm auf seinem selbstgebauten Schiff gefahren wäre.

Die Frau hatte so zuversichtlich und so liebevoll zu ihm gesprochen, daß Jos einigermaßen getröstet war. Er stand jetzt auf, um seinen Weg fortzusetzen. Draußen lief er aber nicht so dahin wie vorher. Er schaute alle Augenblicke zu dem leuchtenden Himmel auf, und einmal mußte er fast laut rufen: ›O Feieli, wenn du nur auch ein einziges Mal herunterschauen könntest, damit ich auch sicher wüßte, wo du bist!‹

Die Frau hatte dem Jos noch lange mit teilnehmenden Blicken nachgeschaut. Sein großes Leid, das kurze Leben des zarten Feieli und die still gehegten Hoffnungen der beiden Kinder hatten sie tief bewegt. Jetzt ging sie in die Stube zurück, setzte sich an ihren Schreibtisch und schrieb an alle ihre Freunde unten in der Stadt. In allen Briefen stand dasselbe.

Es waren zehn Tage vergangen, seit das Feieli aus dem Flößerhäuschen fortgetragen worden war. Eben trat der Vater mit Jos aus der Tür, um wieder zur Arbeit zu gehen. Da erblickte Jos die Frau vom jenseitigen Tal, die er so gut kannte. Er lief ihr gleich entgegen. Sie sagte, sie komme um diese Zeit, damit sie auch den Vater treffe, sie habe mit ihm und der Mutter zu reden. Sobald die erstaunte Marthe sich drinnen in der Stube neben sie gesetzt und der Vater und Jos an den Ofen gelehnt vor ihr standen, sagte die Dame: »Wenn es Ihnen recht ist, Flößer, und auch Ihrer Frau, so will ich Ihren Jos zur Stadt in die Lehre bringen, in ein großes Geschäft, das ich kenne, wo er Mechaniker werden kann. Sie brauchen sich um kein Kost- und Lehrgeld zu kümmern. Gute Freunde von mir unten in der Stadt interessieren sich auch für den Jos und wollen helfen, daß er gut und gründlich diesen Beruf erlerne. Aus ihm soll werden, was ihm und Ihnen Freude machen wird.«

Der Flößer und seine Frau waren so überrascht, daß sie kein Wort sagen konnten. Jos hatte immer größere Augen gemacht, während die Dame sprach. Es war, als wollte er damit ihre Worte verschlingen. Jetzt rief er auf einmal aus: »Das kommt vom Feieli!« und große Tränen schossen ihm in die Augen, denn die Mutter Silvia hatte ihm mehrmals erzählt, was Feielis letzte Freude gewesen war.

Von den vielen Danksagungen der Eltern begleitet, verließ die gute Frau das Flößerhäuschen. Und die Freude, die nun wieder aus den Augen des Jos leuchtete, als sie ihm die Hand zum Abschied reichte, sagte ihr mehr, als alle Worte es hätten tun können.

Im Flößerhäuschen bleibt jeden Abend Frau Marthe zuletzt noch eine Weile mit ihren kleinen Buben am Tisch sitzen und betet mit ihnen. Sie hat nicht mehr das Gefühl, daß ihr dazu die Zeit fehle, sondern daß das die segensreichste Zeit ihres Tages sei, in der sie Kraft und Freudigkeit für die harte Arbeit schöpfen kann. Der Flößer hat das Wort der alten Mutter Silvia nie vergessen, daß so ein einziger Ruf, den er einmal in der Not tun wollte, vom lieben Gott auch überhört werden könnte. Er sitzt gern dabei am Abend, wenn die Mutter mit den Buben betet, und wenn sie das Gebet beendet hat, sagt er meistens: »Marthe, wir wollen auch noch darum beten, daß uns der liebe Gott einmal gnädig hinübernehme, wie er das Kind genommen hat.«

Der Jos ist seit drei Jahren unten in der Stadt, und sein Meister kann der Dame am Schneerücken nicht genug sagen, mit welch außerordentlichem Fleiß und Geschick der Junge bei seiner Arbeit sei. Er müsse auch ein ganz eigenes Verständnis für die Sache haben, denn schon mehrmals habe er ihn, den Meister, auf Dinge aufmerksam gemacht, die ihm für sein Geschäft von großer Wichtigkeit waren.

Wenn am Samstagabend seine Kameraden ihn oftmals necken und sagen: »Komm doch morgen einmal mit uns, du brauchst nicht immer in die Kirche zu laufen und besser sein zu wollen als wir«, dann antwortet er kein Wort, denn darüber will er nicht reden. Aber am anderen Morgen geht er regelmäßig wieder in die Kirche und hört gespannt auf jedes Wort. Immer mit dem Verlangen im Herzen, daß der Herr Pfarrer nun wieder vom ewigen Leben zu reden anfange und ihm von neuem die Gewißheit gebe, daß es denen am wohlsten ist, die der liebe Gott zu sich genommen hat. Und die frohe Hoffnung, daß wir einmal wieder mit ihnen zusammenkommen, tröstete ihn. Denn sein liebes Feieli hatte den ersten Platz in seinem Herzen eingenommen. Was er auch tut und denkt, alles muß er im stillen immer noch mit dem Feieli besprechen. Und er merkt auch, daß es ihn immer fortzieht, wenn seine Kameraden ihn bei ihren lärmenden Feiertagsfreuden festhalten wollen.

Die Mutter Silvia war fröhlich, als sie die Stunde herannahen fühlte, da sie das Versprechen halten konnte, das sie dem Feieli gegeben hatte. Lange schon hat sie ihm die Nachricht von der Freude des Bruders und seinen schönen Aussichten überbracht.


 << zurück