Johanna Spyri
Am Felsensprung
Johanna Spyri

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3. Kapitel.
Wie Feieli einen Weg sucht

Eben hatte die Mutter die Milch auf den Tisch gestellt und das große schwarze Brot hingelegt, denn am Sonntag gab es auch ein wenig Brot dazu, nicht nur Kartoffeln, da sah sie von der offenen Küchentür aus die beiden Kinder herankommen. »Komm, Feieli, komm, lauf ein wenig geschwinder«, rief sie ihm entgegen, »mach die Buben los und bring sie zum Essen, der Jos soll den Vater holen.« Das Feieli kam schnell herbei, und der Jos sprang über die Steinblöcke hinunter dem Wasser zu. Er sah sich aber noch einmal um und kam schnell wieder zurückgelaufen, denn er hatte gesehen, wie die beiden Buben sich gebärdeten. Jeder riß am Feieli und stieß und schlug mit dem einen freien Fuß aus. Denn jeder wollte zuerst losgebunden und drinnen am Tisch sein.

Das Feieli konnte aber weder den einen noch den anderen losmachen, so rissen sie es hin und her. Mit einem Satz sprang Jos zu, packte mit jeder Hand einen am Genick und schüttelte rechts und links tüchtig zu. »Ihr Schlingel«, rief er grimmig aus, »so macht ihr es immer mit dem Feieli und stoßt und plagt es. Aber wartet nur, wenn ihr es noch ein einziges Mal stoßt, so pack ich euch alle beide und ziehe dort den höchsten Ast vom Baum herunter und binde euch beide daran fest. Und dann laß ich ihn wieder in die Luft hinaufschnellen, und ihr fliegt mit, und dort oben hängt ihr und zappelt und könnt dann sehn, wer euch wieder herunterholt. Habt ihr verstanden?« Der Bartli und der Töffeli bejahten ganz kleinlaut die Frage, denn die schreckliche Aussicht, so in die Luft hinaufzuschnellen und oben am Ast zu zappeln, hatte sie ganz zahm gemacht. Als der Jos das sah, ging er, und das Feieli konnte nun ohne Mühe seine Arbeit vollenden.

Als nun alle drinnen um den Tisch saßen, schauten sich Jos und Feieli einander von Zeit zu Zeit immer wieder an. Sie verstanden beide ganz gut, was jeder von ihnen dachte. Aber es durfte immer noch keines mit der Sache herausrücken. Schon war die große Schüssel auf dem Tisch fast ganz leer, nur die kleinen Buben löffelten noch mit aller Anstrengung einige Tropfen heraus. Der Vater hatte den Löffel weggelegt. Jetzt sah Feieli den Augenblick kommen, da er nach seiner Kappe langte und hinausging – dann war es zu spät, vielleicht für lange Zeit. »Vater«, rief es auf einmal, so ängstlich, daß die Eltern beide erschrocken aufsahen, was es denn gäbe, – »wir haben noch etwas fragen wollen.«

Nun rückte auch der Jos mit der Sprache heraus, denn nun war ein Anfang gefunden. Er sagte, er möchte gern fragen, ob er nicht ein Mechaniker werden könne, der Schiffe baut.

Jetzt hatte die Mutter genug gehört. »Um Himmels willen, wer redet dir solche Sachen ein?« rief sie jammernd aus. »Das fehlt noch, daß du dir solches Zeug in den Kopf setzt. Wo sollte bei uns das Geld zu einer Lehre für einen solchen Beruf herkommen? Wie kommst du nur auf so etwas, von dem weit und breit noch kein Mensch gehört hat? Ich habe aber immer gedacht, du kämst auf dumme Gedanken, wenn du so mit Messer und Bohrer an jedem Stück Holz herumgestochen hast, anstatt etwas Gescheiteres zu tun. So endet's dann immer.«

»Wir wollen ihn jetzt deswegen nicht schelten«, fiel hier der Vater ein, »ich habe auch einmal so etwas gemacht und aus allen Holzklötzchen Räder geschnitten. Ich wollte ein Mühlenmacher werden, denn ich sah immer die Mühlräder gehen, wenn ich an der Mühle vorbeikam. Es ist mir dann aber von selbst vergangen, und ihm wird's schon auch vergehn. Im Frühling wird er zwölf und kommt aus der Schule. Dann kann er tüchtig helfen beim Flößen, und ihm vergehen solche Gedanken.«

»Nein, Vater, das vergeht mir niemals«, sagte Jos. Er hatte mit einer Aufregung zu kämpfen, die ihm fast den Atem nahm, während das Feieli mit den Tränen kämpfte. »Aber meinst du denn, Vater, das kann ich nie erlernen, nie, solange ich lebe?«

»Ja, ja, das mein ich, das ist nicht anders«, sagte der Vater bestimmt und stand auf. »Schlag dir's nur ganz aus dem Sinn. Zu so einer Lehre muß man Geld haben, viel mehr für ein einziges Jahr, als ich in zweien verdiene. Denke nur nicht mehr daran, das ist das Beste.« Damit ging der Vater hinaus, und der Jos lief ihm mach, denn er mußte seinem Schmerz draußen Luft machen. Jetzt wußte er, woran er war. Das Feieli schluchzte leise in sich hinein, es mußte sich aber noch überwinden, denn während des Gesprächs waren die zwei kleinen Buben fest eingeschlafen und mußten jetzt in die Kammer hinaufgeschafft werden. Als es aber später allein war in seinem Kämmerlein, da weinte es erst lange Zeit und wußte keinen Trost. Es schlief auch die ganze Nacht nicht, denn es mußte immer daran denken, ob es denn nicht irgendeine Hilfe für den Jos ausfindig machen könnte. Als am anderen Morgen das Feieli sah, wie traurig der Jos hinter dem Vater her zur Arbeit schlich, lief es ihm leise nach, winkte dem Bruder und sagte tröstend: »Sei nur nicht so traurig, ich habe in der Nacht etwas ausgedacht. Ich kann dir vielleicht doch helfen, du mußt nicht denken, daß jetzt alles aus ist, Jos. Es wird alles gut werden.« Diese zuversichtlichen Worte machten dem Jos wirklich neuen Mut. Sein Gesicht hellte sich auf. »Meinst du?« fragte er, und sah das Feieli dankbar an. Es nickte ganz ermunternd, und nun ging der Jos mit neuer Hoffnung im Herzen an seine Arbeit. Das Feieli strengte sich heute besonders an, der Mutter so viel wie möglich zu helfen, damit sie mit ihm zufrieden sei. Gegen Abend fragte es dann zaghaft, ob es nicht einmal zur Mutter Silvia hinüber dürfe, es möchte gern ein wenig mit ihr reden. Die Mutter meinte, mit der alten Nachbarin werde es wohl nicht viel zu reden haben, aber es habe brav gearbeitet, es könne gehen.

Die Mutter Silvia saß am Spinnrad. Sie empfing das Feieli sehr freundlich. Es mußte sich zu ihr setzen und ihr sagen, wie es mit dem Husten gehe und ob es gestern nicht zu müde geworden sei, es sei so bleich heute. Da sagte das Feieli, es habe die ganze Nacht nicht schlafen können, sondern immer an etwas denken müssen. Und jetzt wolle es die Mutter Silvia fragen, ob sie ihm einen großen Gefallen tun werde.

»Was denn, Feieli?« fragte sie freundlich.

»Ich möchte so gern spinnen lernen«, erwiderte es, »und dann wenn ich große Stränge gesponnen hätte, so wie sie es machen, dann könnte ich über den Berg gehen und sie verkaufen und das Geld sparen. Und nach und nach hätte ich dann so viel, daß der Jos doch noch in die Lehre gehen und Mechaniker werden könnte. Denn Vater und Mutter haben gesagt, das könne er nie tun, weil es viel mehr Geld kostet als sie haben.«

Das Feieli war, während es sprach, so aufgeregt geworden, daß seine Wangen jetzt wie dunkelrote Rosen glühten. Die Mutter Silvia hatte schweigend zugehört und das erregte Kind aufmerksam betrachtet. Als es alles gesagt hatte, schaute es mit seinen glänzenden Augen erwartungsvoll zu der alten Mutter auf. »Ja, das ist schon recht, Feieli, daß du gern dem Jos helfen willst«, sagte diese jetzt bedächtig, »aber wenn du nun spinnen kannst, woher kommt dann der Flachs, den du spinnen mußt, um Stränge verkaufen zu können?«

Daran hatte das Feieli gar nicht gedacht. Es wurde auf einmal schneeweiß. Ja, woher sollte es auch Flachs nehmen? Zaghaft fragte es jetzt: »Wo nehmen Sie ihn her, Mutter Silvia?« Sie lächelte ein wenig und sagte: »Das könnte ich dir schon erzählen, wenn es dir etwas helfen könnte. Aber komm, ich erzähl dir's, es kann doch zu etwas gut sein. Du kannst daraus sehen, wie der liebe Gott uns unerwartet hilft und uns einen Weg zeigt, wo wir nicht denken müssen, wir kommen nicht mehr weiter. Verstehst du, was ich da sage, Feieli?«

»Ja, ja, gewiß«, sagte das Kind eifrig und schaute begierig auf, um zu hören, wie der liebe Gott helfen könne, wenn wir gar keinen Weg mehr vor uns sehen. Die Mutter Silvia hörte auf zu spinnen und begann: »Ich habe einen einzigen Sohn, Feieli, und er war meine einzige Freude. Mein Mann war früh gestorben, als der Dietli kaum zwei Jahr alt war. Hier in dem Häuschen wohnte ich mit dem Buben, und wir lebten fröhlich zusammen. Gab es auch manchmal harte Arbeit und wenig Brot, so hatte ich doch meinen kleinen Dietli, und er durfte nie Mangel leiden. Er wurde groß, brav und gut und wir teilten alles miteinander. Da sagte er eines Tages: ›Wenn es dir recht ist, Mutter, so will ich die Lise zur Frau nehmen.‹ Die Lise wohnte auf der anderen Seite vom Schneerücken weit unten im Tal. Sie hatte einen schönen Hof und war Herrin über alles, denn die Mutter war tot und der Vater schon alt. Ich sagte: ›Tu's mit Gott!‹

Dann ging er und wohnte unten bei der Lise, denn sie wollte ihn für sich haben. Zuerst kam er noch ein paarmal am Sonntag zu mir, dann nicht mehr, und ich dachte, wenn sie nur den Frieden haben, so will ich schon vergessen sein. Dann kamen ein paar schwere Jahre für mich. Und zuletzt sah ich nichts anderes vor mir, als daß mir mein Häuschen weggenommen werde und ich in meinen alten Tagen noch betteln müsse. Meinst du, es sei mir da nicht auch schwer gewesen, Feieli? Ich verzagte auch, aber ich sagte im stillen zu mir:

›Du kannst mich nicht verlassen,
Du selbst versprichst es mir,
Und soll der Weg durch Trübsal gehn,
So geht er doch zu dir.‹

Da kommt auf einmal mein Dietli gelaufen, und vor Weinen kann er fast nicht reden. Er hatte auch wieder einen kleinen Dietli gehabt, der mußte nun etwa fünf Jahre alt sein. Endlich sagte er: ›Mutter, der Dietli ist uns gestorben, gestern abend am Scharlach, es ist uns alle Freude genommen.‹ Und wie ich nun ein wenig mit ihm geredet und ihm Trost zugesprochen hatte, sagt er wieder: ›Ich muß dir noch etwas sagen, Mutter. Ich habe gestern nacht zur Lise gesagt: Es ist gewiß auch nicht recht, daß wir die Mutter so verlassen. Ich war ihr auch so lieb, wie uns der Dietli war, und jetzt hat sie nichts mehr von mir. Da wurde die Lise ganz kleinlaut und sagte, wir haben vielleicht etwas an dir verschuldet, wir wollen es gutmachen. Da haben wir ausgemacht, wir wollen dir das Flachsfeld unten am Haus geben, wo der Dietli immer die blauen Blümlein sehen wollte. Jetzt will ich dir den Flachs, wenn er gehechelt und geröstet ist, immer bringen.‹ Das haben sie getan, und seither geht es mir gut. Und seit der Dietli den Weg zu mir wieder gefunden hat, kommt er auch öfter im Jahr. Siehst du, Feieli? So kann der liebe Gott auf einmal in einer Art helfen, wie wir's gar nicht voraussehen konnten.«

Das Feieli war mit der größten Spannung den Worten der Mutter Silvia gefolgt. Jetzt sagte es mit einem Seufzer: »Auf die Art kann mir der liebe Gott den Flachs nicht schicken, aber vielleicht auf eine andere. Meinen Sie nicht, Mutter Silvia?«

»Ja, ja, Feieli, das meine ich auch«, bestätigte diese. »Der liebe Gott hilft jedem auf eine besondere Weise, es ist auch nicht gesagt, daß er dir nun gerade Flachs schickt wie mir. Er weiß wohl einen anderen Weg für dich und den Jos. Du mußt nur nicht vergessen, dem lieben Gott alles recht zu sagen und ihn herzlich zu bitten, daß er uns helfe, wo wir keinen Weg mehr vor uns sehen.« Das Feieli war froh zu wissen, daß es doch etwas tun konnte. Es hatte nie so recht gewußt, daß man so dem lieben Gott im Himmel alles sagen kann, auch solche Sachen, wie die traurige Lage vom Jos, die ihm so sehr am Herzen lag. Es ging nun zufrieden wieder nach Hause. Denn wenn es auch mit dem Spinnen nichts geworden war, so konnte es doch hoffen. Wenn es den lieben Gott recht darum bitten wurde, so zeigte er ihm einen anderen Weg, wie es für den Jos etwas tun könnte, damit er sein Ziel erreichte.


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