Johanna Spyri
Am Felsensprung
Johanna Spyri

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1. Kapitel.
Beim Holzlesen

Der ›Schneerücken‹ heißt ein hoher Berggrat, der auf der einen Seite in ein liebliches Tal mit grünen Wiesen und reich belaubten Fruchtbäumen, auf der anderen Seite in tiefe, felsige Schluchten herabschaut, wo der schäumende Wetterbach durchrauscht. Er kommt von dem grauen Gletscher herunter, den man hoch zum Himmel ragen sieht. Und so wild und gewaltig stürzt dieses Bergwasser daher, daß es unten in der Schlucht an den Felsstücken, die ihm im Wege liegen, hoch aufspritzt und mit furchtbarem Tosen über die niedrigeren Steinblöcke hinwegfließt. Am lautesten tost und schäumt der wilde Fluß an einer Stelle, wo einst die gewaltigen Felstücke sich von dem hohen Berggestein losgemacht hatten und heruntergestürzt waren. Diese hemmen nun den Lauf des Wassers so sehr, daß es sich einmal schäumend zwischen ihnen durchzwingen und einmal hoch über sie hinwegfluten muß. Dieser Ort heißt: »Am Felsensprung«.

In diese einsame Bergschlucht hinein, wo kaum eine Menschenstimme vernommen werden kann wegen des unausgesetzten Tosens und Donnerns des wilden Wassers, hatten doch Menschen ihre Häuser gebaut. Hart an dem hohen Felsen stand ein Häuschen mit kleinen Fenstern und einem Schindeldach, auf dem große Steine die Schindeln festhalten mußten, damit der Wind sie nicht wegblase. Da wohnte Josef der Flößer mit seiner Familie. Seinen Zunamen hatte er von seinem Handwerk her. Er mußte die großen Holzstücke überwachen, die weiter oben in den Wetterbach geworfen wurden. Sie sollten abwärts schwimmen, bis sie beim großen Staatsgebäude, das unten im Tal lag, ans Land gezogen wurden.

Oft blieben die Blöcke hinter den hohen Steinen im Fluß hängen, oder sie wurden an das Land geschwemmt und blieben im Gesträuch liegen. Dann mußte der Flößer sie wieder flott machen, damit sie weiter schwimmen konnten. Am Ufer machte er das mit den Händen, wenn er sie dabei auch manchmal an den scharfen Felsen blutig rieb. Mußte er aber die Holzstücke mitten im wirbelnden Wasser freimachen, dann nahm er die lange Holzstange mit dem eisernen Haken zur Hand. Er sprang draußen im Fluß von einem Stein auf den anderen, und wo ein Stück Holz festsaß, wurde es von dem eisernen Haken ergriffen und weitergestoßen. Die Arbeit des Flößers war mühsam und manchmal auch recht gefährlich. Und was er dabei verdiente, war gerade so viel, daß er kümmerlich mit seiner Frau, der fleißigen Marthe, und seinen vier Kindern leben konnte.

Oberhalb des Flößerhauses, kaum hundert Schritte entfernt, war noch ein Häuschen. Das klebte wie ein Vogelnest am Felsen und war so klein, daß nicht mehr als zwei Personen darin wohnen konnten. Es lebte nur noch eine darin, die alte Mutter Silvia. Sie wurde von allen so genannt, die sie kannten und je gekannt hatten. Die Mutter Silvia saß fast immer in ihrem kleinen Stübchen und spann ihren Flachs. Hatte sie dann nach Tagen ihre Arbeit vollendet, so bereitete sie sich auf ihre große Reise vor. Sie mußte den hohen Schneerücken besteigen und auf der anderen Seite ins Tal hinabwandern bis zu dem großen Dorf, wo die schönen steinernen Häuser standen und der Kramladen war. Dorthin trug sie ihre schön gesponnenen Stränge und bekam ihr Geld dafür, von dem sie lebte. Woher der Flachs kam, den sie nachher spann, wußte man nicht, denn die Mutter Silvia hatte kein Feld, sie besaß nichts, als ihr Stübchen und ihr Kämmerlein. Aber irgendwoher kam der Flachs, denn die Mutter Silvia spann immer wieder.

Diese zwei Häuschen waren weit und breit die einzigen menschlichen Wohnungen. Zu den Häusern und der kleinen Kirche auf dem Schneerücken hatte man mehr als eine Stunde weit in die Höhe zu steigen. Der Herbst war gekommen und hatte früh schon rauhe Tage mitgebracht. Dort unten am Felsensprung war es auch immer früher kalt und rauh, als oben an den sonnigen Berghängen. Denn die Sonne ging früh hinter den hohen Felsen unter, dann wurde es gleich feucht und kalt in der Schlucht. Über den Felsen im Gehölz sauste der Wind durch die alten Tannen und Lärchenbäume und schüttelte ihnen die Blätter und Nadeln herunter.

Ein kräftiger Junge, der unter den Bäumen das dürre Holz zusammenlas, schaute von Zeit zu Zeit um sich, als müßte er jemand bewachen. In einiger Entfernung ging ein schmales, blasses Mädchen von Baum zu Baum und verrichtete dieselbe Arbeit. Jetzt ließ es die Zweige aus seiner Schürze auf den Boden fallen und lehnte sich, als ob es Schutz suchte, an einen Tannenbaum. Jetzt hob der Junge den Kopf.

»Feieli«, rief er hinüber, »fürchtest du dich, weil der Wind die Bäume so schüttelt?«

»Nein, nein«, rief das Mädchen zurück, »aber ich kann fast nicht atmen, der Wind läßt mich nicht und macht mich auch so müde.« Das Kind war noch bleicher geworden und setzte sich am Baum nieder.

»Laß nur alles liegen, Feieli, und tu gar nichts mehr, ich will schon alles selbst machen«, rief der Bruder nun in beschützendem Ton, »ich will schon genug zusammenbringen, damit die Mutter zufrieden ist, das sollst du jetzt gleich sehn.«

Und der Junge raffte nun mit solchem Eifer seine Holzstückchen unter allen Bäumen zusammen, daß er in kurzer Zeit einen ganzen Haufen aufgeschichtet hatte. Jetzt stand er neben dem sitzenden Feieli, aus dessen schmalem, farblosem Gesichtchen zwei große dunkle Augen voller Liebe zu ihm aufschauten, während er sich den Schweiß trocknete.

»Du mußt immer doppelt arbeiten, Jos, weil ich so wenig tue«, sagte das Kind wehmütig, »wenn ich nur bald stärker wurde.«

»Das ist ganz gleich, und einmal wirst du schon stärker, wenn du groß bist«, tröstete der Bruder. »Aber komm, Feieli, jetzt habe ich Holz genug, wir wollen noch ein wenig dort sitzen, wo man das Wasser kommen sieht.« Damit zog Jos das Feieli vom Boden auf und hinter sich her bis zum Rand des Felsens, von wo man den schäumenden Wetterbach schon eine Strecke weit daherstürzen sah. Hier setzten sich die Kinder unter die verwitterte uralte Tanne, deren langen Äste über die Felswand niederhingen.

Jos und Feieli waren des Flößers älteste Kinder. Sie waren bald nacheinander zur Welt gekommen und wurden beide dem Vater nach benannt. Aber ihre Namen wurden so abgekürzt, wie sie jetzt gerufen werden. Der elfjährige Jos sah breit und kräftig aus und war gerade das Gegenteil von dem zehnjährigen, zartgebauten Schwesterchen. Ihr hätte man wohl drei Jahre weniger als dem stämmigen Bruder gegeben. Jos ging, so oft es die Arbeit des Vaters erlaubte, die er schon an manchen Tagen zu verrichten hatte, zur Schule auf den Schneerücken hinauf. Und dann freute er sich, denn er hatte viel Freude beim Lernen. Am liebsten hätte er alles gelernt, was nur zu erlernen war. Das zarte Feieli konnte ihn nur wenig begleiten, obwohl es auch zur Schule gehen sollte. Aber der Weg war so lang und im Winter so verschneit, daß der starke Junge oft fast nicht durchkommen konnte. Das Feieli blieb aber doch nicht so ganz unwissend, denn die größte Freude des Jos war es, seiner Schwester alles zu erzählen und zu erklären, was er gelernt hatte. Das Feieli war sein bester, eigentlich sein einziger Freund, mit dem er alles besprechen mußte. Das Kind liebte auch den Jos über alles, und wenn er erzählte, was er gelernt hatte, dann schaute es mit seinen ernsten, großen Augen unverwandt zu ihm auf und sagte kein Wort. Und diese Aufmerksamkeit und die Erwartung in den sprechenden Augen regte den Jos zu immer neuen Mitteilungen und eigenen Gedanken an.

Jetzt war der schönste Augenblick seines Tages gekommen. Fröhlich wischte er die letzten Schweißtropfen von seiner Stirn, setzte sich auf seinem Stein zurecht und sagte: »Sieh jetzt das Wasser, Feieli, wie es dort herausgeschossen kommt und an den Steinen aufspritzt. Nicht wahr, du meinst, das tut es immer. Das stimmt nicht! Weiter unten, weit, so weit wie du noch nie warst, mündet es in ein anderes Wasser, und dann laufen sie zusammen und kommen noch in ein größeres, und das ist dann ein See. Der ist so breit und tief, daß ein großes Schiff darüber fahren kann und ganz ohne Ruder. Nicht wahr, das kannst du nicht begreifen, Feieli? Aber es stimmt, und ich weiß, wie es geht. Ein Mensch hat eine Maschine erfunden, die treibt das Schiff. Und jetzt möchte ich noch gern wissen, wie die Maschine ist. Weißt du, Feieli, Schiffe kann ich schon machen aus Holz, und die schießen auf dem Wetterbach wohl allein davon. Aber auf dem stillen Wasser würden sie nicht mehr weiterkommen. Daß sie aber dort weiterfahren, das möcht ich so recht verstehen und machen können!«

»Wer kann das machen?« fragte Feieli, das sehr aufmerksam den Worten des Jos gefolgt war.

»Wie die heißen, die alles zuerst erfinden und ausdenken, weiß ich nicht«, antwortete Jos, »aber nachher machen es die Mechaniker, die haben große Werkstätten, da werden dann die Maschinen gemacht.«

»Könntest du nicht Mechaniker werden, Jos?« fragte das Feieli rasch, und vor freudiger Hoffnung flog eine leichte Röte über das bleiche Gesicht.

»Das ist gerade, was ich Tag und Nacht denke, Feieli«, sagte der Bruder mit großer Befriedigung. Denn daß das Feieli nun auch auf seinen Gedanken gekommen war, gab ihm neue Zuversicht. »Und siehst du«, fuhr er eifrig fort, »ich arbeite auch immer, sobald ich nur einen Augenblick Zeit habe, an einer Schiffsmaschine, sieh«, damit zog Jos aus seiner Tasche ein wunderliches Stück Blech, an dem zwei Drahträder festgenagelt waren, je eines an einer Seite.

»Sieh, Feieli«, und Jos ließ die Räder sich rasch drehen, »das kommt dann in das hölzerne Schiff hinein, dann muß es laufen.«

Das Feieli schaute bewundernd auf die kunstreiche Erfindung. Dann richtete es seine großen, glänzenden Augen auf den Bruder und sagte voller Verlangen: »O Jos, was könnten wir tun, damit du bald ein Mechaniker werden könntest? Aber dann müßtest du gewiß fort, und ich könnte es fast nicht mehr aushalten, wenn du nicht mehr da wärst.« Auf das schmale Gesichtchen kam ein Ausdruck von solcher Traurigkeit, daß der Jos es nicht ertragen konnte.

Augenblicklich rief er: »Nein, nein, daran mußt du nicht denken! Ich will dir sagen, was ich noch im Sinn habe. Wenn ich dann ein Mechaniker bin, dann kann ich viel verdienen, und dann bist du immer bei mir, und wir leben miteinander ganz fröhlich. Und du mußt keine schwere Arbeit mehr tun und kein Holz sammeln. Wenn ich dann ein Schiff fertig gemacht habe, fahren wir miteinander darin auf einem großen Wasser umher, weißt du, so auf einem breiten, glatten, nicht wie der Wetterbach ist. Nicht wahr, dann haben wir's gut? Dann mußt du nicht mehr husten und frieren und so herumkeuchen, um der kleinen Buben willen. Dann mache ich, daß es dir immer gutgeht, und ich arbeite nur noch ganz allein. Aber was hast du? Frierst du, Feieli?« Das Kind war schon ein paarmal zusammengeschauert, aber die Beschreibung des Jos hatte es so erfüllt, daß es nichts anderes gefühlt hatte. Als der Jos zu Ende war, merkte es seinen Zustand.

»Ja, es ist kalt und auch spät. Sieh, es wird schon dunkel«, sagte es ängstlich.

Jos sprang auf. Auch er hatte über seinen Plänen alles vergessen. Er lief zu der Stelle zurück, wo sein Holzbündel lag, schwang es rasch auf seinen Rücken und wollte losrennen. Aber das Feieli kam nicht nach, es keuchte unter seiner Last und hustete ohne Unterlaß.

»Laß alles liegen, Feieli, ich hole es schon noch«, rief Jos mitleidig, »komm, du mußt nicht so husten.«

Das Feieli folgte ihm. Es brachte seine Last nicht weiter, kaum konnte es dem rennenden Jos nachfolgen. Unten beim Häuschen angekommen, warf Jos sein Bündel hin und lief wieder zurück. Die Mutter stand in der offenen Tür, sie kochte die Kartoffeln zum Abendessen in der kleinen Küche, in die man unmittelbar von dem schmalen Felsenweg eintrat.

»Komm, komm«, rief sie dringend dem herannahenden Kind zu, »komm, Feieli, mach doch ein wenig geschwinder! Wo bleibt ihr denn auch so lange? Warum läuft er wieder fort? Der hat doch immer etwas anderes im Kopf. Geh schnell hinein und sieh zu, daß die Buben nichts anstellen. Die Kartoffeln sind gleich fertig, und der Vater kommt auch bald. Lauf, lauf, Feieli, mach den Tisch zurecht, bring die Buben zum Schweigen, hörst du, wie sie lärmen?« Das Feieli war immer noch stehengeblieben, weil es gern der Mutter erklärt hätte, warum der Jos wieder zurückgelaufen sei und daß er nichts Unrechtes im Kopf habe. Aber dazu kam es nicht. Es war immer so mit der Mutter. Die gute Marthe hatte viel zu tun und noch viel mehr, weil sie meinte, gleich im allerersten Augenblick und noch im allerletzten des Tages müsse man etwas mit den Händen tun, sonst sei die Zeit verloren.

Bald nachdem das Feieli drinnen mit großer Mühe die zwei kleinen Buben hinter den Tisch gebracht und jedem seinen runden Löffel in die Hand gegeben hatte, kam von oben herunter der Jos mit seinem zweiten Bündel und von unten herauf der Vater mit der großen Stange über der Schulter. Er hatte einen anstrengenden Tag gehabt, das konnte man, ihm ansehen. Jetzt lehnte er seine Stange ans Häuschen und trat herein. Gleich darauf saß die ganze Familie in der kleinen Stube um den viereckigen Tisch, und mit großem Appetit bissen sie alle in die dampfenden Kartoffeln. Nur das Feieli schien keinen Hunger zu haben. Es führte ein paarmal den Löffel in die große Schüssel ein, aus dem alle die saure Milch schöpften. Sie legte ihn dann weg und schaute staunend zu, wie die zwei kleinen Buben immer weiter aßen, bis alles aufgegessen war. Dann sagte die Mutter eilig: »Nimm sie, Feieli, nimm sie, damit wir fertig werden.« Feieli sollte die zwei Buben in ihre Schlafkammer bringen. Das war keine leichte Sache, und mit aller Anstrengung brachte das Feieli sie nicht weiter als bis zum Ofen. Denn wie es auch an dem vorderen Buben zog, damit er die erste Stufe erreichte, es brachte ihn nicht hinauf, es half alles nichts. Endlich kam der Jos aus dem Geißenstall wieder herein. Er half nun von unten herauf mit so kräftigen Stößen nach, daß die Buben mühelos hinaufrollten. Nun war denn auch für Feieli der Feierabend gekommen. Als es nun in dem kleinen Kämmerlein auf seinem Bett lag, da mußte es immer noch nachdenken, ob es denn nicht irgend etwas tun könnte, damit der Jos ein Mechaniker würde.


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