Johanna Spyri
Aus dem Leben
Johanna Spyri

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Marie

Wenn ich an den blumenbesäeten Abhängen unserer Voralpen, auf das kleine, zarte Hennenauge traf, diese duftige Pflanze, deren blaßrote Blättchen jeder Windhauch erzittern macht, mußte ich stille stehen und sie mit immer neuer Verwunderung betrachten. Wie ein zarter Fremdling stand sie unter den übrigen Bergblumen, als gehöre sie einem andern Lande an und harre still und blaß auf fremder Erde der Hand, die sie versetzen würde nach dem heimatlichen Boden.

Derselbe Eindruck ergriff mich, als ich zum erstenmal die kleine Marie sah mitten unter der lebenskräftigen Kinderschar des Rettungshauses.

Marie war ein fein gebautes Kind, eher klein und schmächtig für seine neun bis zehn Jahre. Ein zartes Rot war auf ihr schmales Gesichtchen gehaucht, aus dem die braunen Augen so tief wehmütig herausschauten, daß es einem das Herz bewegte und die Frage auf die Lippen drängte:

»Was hat man Dir, Du armes Kind, gethan?«

Wie konnte solche Pflanze aus so rauhem Erdreich kommen? Denn den rohesten Händen werden diese Kinder entzogen und errettet, wo möglich.

Auf meine Frage, woher die kleine Marie stamme, vernahm ich, daß sie zunächst aus dem Spital der Stadt komme, wo sie längere Zeit an einem Fußleiden gelegen hatte, und von wo aus sie der Anstalt durch den behandelnden Arzt empfohlen worden war. Vorher hatte Marie bei ihrer Mutter gelebt, die hinten im Lande wohnte und einen sehr schlimmen Namen hatte.

Die Kinder der Anstalt jäteten das Unkraut aus dem sonnigen Garten vor dem Hause, als ich dabei stand und die kleine Marie betrachtete. Ich trat zu ihr heran, um ein wenig bekannt mit ihr zu werden. Sie war schüchtern und gab nur mit halblauter Stimme kurze Antworten, sah mich aber dabei zutraulicher an, als ihre Worte erwarten ließen.

Das Kind interessierte mich mehr als alle, die ich je im Rettungshause gesehen hatte. Als ich einige Zeit nachher mit einer Bekannten des Arztes am Spital zusammentraf, fragte ich nach, ob sie von der kleinen Marie und ihrer Krankheit etwas gehört hätte, was sie bejahte, indem sie mir, wie ich wünschte, weitern Aufschluß über die Sache gab. Der Arzt hatte sich sehr für das Kind interessiert, das ihm, als an einem Fußübel leidend, übergeben worden war. Er hatte gleich erkannt, daß keine Krankheit in dem Fuße war, sondern daß da eine gewaltsame Verletzung mußte stattgefunden haben. Auf seine wiederholte Frage, was ihm begegnet sei, gab das Kind immer dieselbe Antwort, das Übel komme von einer Krankheit im Bein her. Endlich durch das Versprechen, er werde über alles schweigen, und das Kind solle vor allen Folgen, die es befürchten könnte, geschützt werden, hatte der Arzt von Marie vernommen, sie sei mißhandelt worden.

Mißhandelt! Dieses zarte Kind! Der Gedanke verfolgte mich und brannte mir wie eigene Schuld auf dem Herzen.

Daß sich die großen Menschen untereinander schlagen und erwürgen, ist traurig anzusehen, aber daß die wehrlosen Kleinen mißhandelt, daß die zarten Kinderseelen verwundet und getreten werden, das schreit zum Himmel wie keine andere Sünde.

Es mochten einige Monate vergangen sein, als von der Vorsteherin des Kindeshauses Klagen gegen Marie erhoben wurden, die sich von der Zeit an wiederholten und vermehrten. Die Frau beschwerte sich in starken Worten über das störrige Wesen, die Widersetzlichkeit und Verschlagenheit des Kindes. Der Hausvater hatte diese Fehler sich gegenüber nicht zu beklagen; Marie war nach seiner Aussage still und aufmerksam in den Lehrstunden, aber er hatte oft strafend einschreiten müssen, da diese Vergehen gegen seine Frau so häufig vorkamen. Darin konnte er nicht ganz mit der Frau übereinstimmen, daß hinter all' den täglich vorkommenden Unarten und bösen Anschlägen der Kinder Marie als Triebfeder stecke.

Wenn ein Glied der Vorsteherschaft Marie vornahm, um von ihr heraus zu bringen, wie weit sie sich schuldig fühle, kam nichts weiter zu Tage, als daß Marie ohne Widerrede zugab, sie gebe der Mutter hier und da keine Antwort und höre nicht recht zu, was sie sage.

Etwas Rohes hatte die Frau, doch mußte man annehmen, Marie habe heimlich ein störriges und widersetzliches Wesen, obwohl es kaum mit der kindlich schmiegsamen Weise, die jedermann an ihr wahrnahm, in Einklang zu bringen war.

Da die Lage der Dinge nicht besser, eher schlimmer wurde, beschloß man, Marie für einige Zeit in andere Hände zu geben.

Kurz vorher sah ich sie noch einmal im Kinderhaus. Sie hatte sich wenig verändert in ihrem Äußern, etwas mehr Farbe war auf die schmalen Wangen gekommen. Ihre Stimme war sanft, doch weniger schüchtern; etwas leise Anschmiegendes that sich in ihrem ganzen Wesen kund.

Ich hatte neuerdings von ihr den Eindruck eines zarten noch unentfalteten Kindes, das eher ein offenes Herz für freundliche Worte als einen verschlagenen Sinn vermuten ließ.

Marie kam in ein ordentliches Bauernhaus, wo sie einige Jahre blieb; es liefen keine weiteren Klagen über sie ein.

Noch einmal kam sie in die Rettungsanstalt zurück. Die früheren Hauseltern hatten dieselbe verlassen, eine freundliche Hand leitete das Haus. Über Marie wurde nicht die geringste Klage mehr geführt.

Mit sechzehn Jahren wurde Marie konfirmiert und verließ die Anstalt, um in der Stadt in Arbeit einzutreten am Seidenrade. Um diese Zeit sah ich Marie öfter. Sie hatte sich mehr aufgeschlossen in den letzten Jahren; zutraulich wurde sie aber erst jetzt zu mir, da sie mich fast jeden Sonntag-Nachmittag besuchte. Wir brachten diese stille Zeit allein mit einander zu, von ihrer jetzigen Beschäftigung, ihren Freuden und Sorgen der Gegenwart redend, die beide nicht groß waren für fremde Augen; aber ihr kindliches Gemüt konnte sich jeder Blume am Wege freuen. Selten sprachen wir über die vergangenen Tage. Vieles in ihrem Lebensgange war mir ganz unbekannt geblieben, denn während der Zeit, die Marie im Kinderhause zubrachte, sprach man von ihrem früheren Leben bei der Mutter nicht mit ihr.

Eines Sonntags saß ich im Garten am Hause unter dem schattigen Fliedergebüsch, als Marie herantrat. Sie war nicht sehr groß geworden, ihre Figur war zart und schmächtig geblieben, leicht und leise ging sie einher. Die weichen, schwarzen Haare lagen sehr ordentlich in Flechten um den Kopf gebunden, und die braunen Augen schauten mit der alten Wehmut, aber jetzt mit einem solchen Glanze mich an, daß ich mich einer leisen Befürchtung nicht erwehren konnte, um so weniger, da ein hohes Rot auf den sonst so zart gefärbten Wangen lag. Marie war eine liebliche Erscheinung geworden.

Als sie neben mir auf der Bank unter den grünen Zweigen saß, fragte ich mich: woher der warme Hauch, der über des Mädchens Zügen liegt, als hätte die Sonne jenes Landes sie beschienen, da:

»Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht.«

Marie hatte die Blumen ringsum aufmerksam betrachtet; nun kehrte sie sich zu mir und sagte fast traurig:

»Haben Sie denn gar keine weißen Lilien im ganzen Garten?«

Ich hatte nie besonders daran gedacht, weiße Lilien zu haben, es waren wirklich keine da.

»Wie kommst Du dazu, Marie,« fragte ich, »die weißen Lilien besonders zu kennen und zu wünschen?«

»Weil es die schönsten Blumen von allen sind,« erwiderte sie. »Wo ich früher daheim war, wußte ich einen großen Garten in der Nähe, nicht weit vom Dorfe, da waren weiße Lilien drin. Ich wußte immer, wann sie aufgehen würden, und wie lange sie offen blieben. O, die waren so schön und schneeweiß in der Sonne! Jeden Tag lief ich hinunter an den Garten, so lange sie da waren.«

Da Marie ungesucht von ihrer früheren Heimat zu sprechen begonnen hatte, fragte ich, wie sie da gelebt, und ob sie Geschwister habe. Sie erzählte mir, ungefähr dreiviertel Stunden von dem großen Fabrikdorfe entfernt hätten sie in einem kleinen Hause gewohnt, ihre Mutter mit ihr und mehreren kleinen Geschwistern. Ihren Vater hatte Marie nie gekannt, sie wußte nicht wer, noch wo er war. In dem Hause wohnten noch viele Leute. Ihrer Mutter gehörte eine Stube mit einer kleinen Küche nebenan; in der Stube wohnten und schliefen sie allesamt.

Schon als Marie noch klein war, wurde sie täglich ausgeschickt von der Mutter, um im Dorfe und auf den umliegenden Höfen zu betteln. So kam es, daß sie in der ganzen Umgegend jedes Haus, jeden Garten und jede Blume darin kannte, wie sie sagte, denn die Blumengärten waren ihre Freude. Am liebsten von allen hatte sie den Garten vor dem großen Hause draußen vor dem Dorf. Da standen die weißen Lilien, und manche Stunde bei Sonnen- und auch beim Sternenschein hatte Marie an dem Garten gestanden und über den Haag geschaut nach den schönen Blumen und alles darüber vergessen.

»Bei allem, was mich traurig machte,« sagte Marie, »dachte ich an die Lilien, und daß ich am Abend hinlaufen könnte, sie anzusehen, das machte mich wieder froh.«

Auch als Marie anfing zur Schule zu gehen, mußte sie noch am Abend »etwas holen«, wie es die Mutter nannte, wenn sie das Kind zu betteln ausschickte.

»So war es auch an jenem Abend, als ich nachher fortkam,« fuhr Marie zu erzählen fort. »O, wie waren die Lilien schön und der Himmel ganz dunkelrot darüber, daß der rote Schein auf allen Blumen lag!«

»Wie war das, Marie? Erzähl' mir's.« sagte ich.

Marie erzählte mir, sie sei damals aus der Schule gekommen und schon auf dem Heimweg habe sie den Himmel so rot gesehen wie fernes Feuer. Da habe die Mutter ihr gesagt, sie müsse noch gehen etwas holen, sonst hätten sie nichts zum Abendessen, sie solle aber laufen, es gebe Gewitter. Marie ging gern und lief aus allen Kräften, daß sie die Lilien noch sehen könne. Als sie an den Garten kam, waren die Blumen wie noch nie.

»Wie goldenes Feuer lag es auf den Lilien, o, wie leuchteten sie!« rief Marie aus, und ihre Augen glänzten, als sehe sie die Blumen noch vor sich stehen. – »Und ich dachte: so muß es im Himmel sein, und ganze Felder muß es dort geben von den weißen Lilien, und in alle Ewigkeit darf man davor stehen und sie anschauen, und es macht einem nicht mehr angst, daß man zu spät heimkommen könnte. Es hatte schon ein paarmal gedonnert, und es war mir ein wenig angst, aber es war so schön, und ich blieb immer noch stehen. Aber auf einmal wurde es ganz grau von dicken Wolken, und dann kamen so helle Blitze, daß ich mich fürchtete. Ich legte mich auf den Boden und drückte das Gesicht in die Erde, daß ich sie nicht sehe, aber bald kam ein solcher Regen, daß ich im Augenblick ganz naß war, durch und durch, und es wurde auch Nacht, ganz dunkel, daß ich nicht mehr in die Häuser gehen konnte; da lief ich heim. Das Wasser floß ganz von mir herunter, als ich in die Küche trat. Da stand die Mutter und war schon böse, daß ich so aussah, und wie ich nun sagen mußte, ich bringe gar nichts, nahm sie mich beim Arm und sagte, sie wolle machen, daß ich ein andermal daran denke, warum ich auf der Straße sei, und schlug mich an die Herdplatte, und dann noch einmal, daß mir der Fuß so weh that, ich konnte nicht mehr stehen darauf. Ich saß lange auf dem Boden und weinte. Die Mutter sagte dann, ich solle aufstehen und sie nicht noch böser machen; aber ich konnte es nicht, und als sie das sah, brachte sie mich ins Bett. Ich konnte aber nicht mehr aufstehen, der Fuß wurde sehr geschwollen, ich hatte auch viel Schmerzen. Da sagte die Mutter, sie gehe nun zum Herrn Pfarrer; ich müsse in das Spital und dürfe nie dem Pfarrer oder dem Herrn Doktor im Spital sagen, wie es mit dem Fuß gegangen sei, ich müsse sagen, es käme alles von einer Krankheit im Bein her, und wenn der Herr Doktor sage, es sei sonst noch etwas an dem Fuß, dann müsse ich sagen, ich sei darauf gefallen. Dann führte mich die Mutter auf einem Wägelchen in das Spital.«

Ich fragte Marie, ob sie nachher nicht mehr nach Haus zurückgekommen sei, bevor sie in das Kinderhaus eintrat, worauf sie mir weiter erzählte, der Arzt habe sie gleich gefragt, was sie mit dem Fuße gemacht habe. Sie habe so geantwortet, wie es die Mutter ihr vorgesagt hatte; vielleicht habe sie es aber nicht mehr recht gewußt, sagte Marie harmlos, der Herr Doktor habe ein wenig gelacht. Nach einigen Tagen habe er wieder gefragt, und sie habe dasselbe geantwortet. Da sei der Herr Doktor ganz freundlich zu ihr herangekommen und habe gesagt, er wisse ganz gut, was mit dem Fuße vorgegangen sei, und daß ich ihm nicht die Wahrheit sage; ich solle ihm nur alles erzählen von Anfang an und niemand fürchten, er wolle dafür sorgen, daß mir nichts geschehe.

»Weil nun doch der Herr Doktor schon alles wußte,« schloß Marie ihre Erzählung, »und es doch recht von Anfang wissen wollte, so erzählte ich ihm alles und fing von vorn an bei den Lilien. Und er war nachher sehr gut gegen mich und gab mir die Hand und sagte, ich müsse nicht mehr zurück zur Mutter und nie mehr betteln gehen. So war es auch; aus dem Spital kam ich gleich in das Rettungshaus.«

»Marie,« sagte ich nach einer Weile, »etwas hätte ich noch gerne gewußt: wie kam es, daß die Hausmutter dort nicht mit Dir zufrieden war; Du gingst doch gern dahin?«

»Ja,« sagte Marie, »ich ging gern und wäre auch gern dort gewesen, nur –«

Als Marie zögerte, ermunterte ich sie, mir alle Wahrheiten zu sagen, worauf sie erwiderte, sie wolle es wohl thun, wenn ich es wünsche, nur denke sie selbst nicht mehr gern daran.

Sie erzählte mir nun, sie hätte bald bemerkt, daß die Hausmutter sie nicht gern mochte und ihr alles, was sie that, anders auslegte, als sie es meinte; aber es wäre doch immer noch gegangen bis zu dem Reischen im Sommer.

»Von da an,« fügte Marie bei, »konnte sie mich gar nicht mehr leiden, und ich sie auch nicht.«

»So, Marie? Und was ging denn auf dem Reischen vor?« fragte ich weiter.

»O, das Reischen war schön!« fuhr sie fort. »Wir gingen an den See hinunter, da waren schöne Blumengärten, und auf einmal sah ich weiße Lilien stehen, nach so langer Zeit zum erstenmal wieder. Ich lief an den Garten und schaute voller Freude hinein. Da stand eine Frau bei den Beeten, die fragte mich, ob ich gern eine solche Blume hätte. Vor Freude konnte ich kaum Ja sagen, ich hatte nie gedacht, daß ich eine für mich bekommen könnte! Aber die Frau gab mir wirklich eine große, weiße Lilie in die Hand. Wie war sie schön! Ich durfte sie kaum festhalten. Als wir heimkamen, stellte ich sie gleich ins Wasser auf das Brettchen unten am Bett und in der Nacht, als der Mond in die Kammer hineinschien stand ich zweimal auf, um sie anzusehen. Am Morgen darauf waren wir alle spät aufgestanden, wir hatten uns verschlafen, weil wir müde waren. Da kam die Mutter herein zu uns und war sehr böse mit allen, und mit mir erst recht, und sagte, ich wolle immer das Frauenzimmer machen. Das sei auch wieder so etwas, und damit nahm sie meine Lilie aus dem Glase und brach den Stiel mitten von einander, und die schneeweiße Blume zerdrückte sie in ihrer Hand, daß ich laut aufschreien mußte. Von dem Tage an ging ich der Mutter aus dem Wege, und es ist wahr, ich gab ihr manchmal keinen Bescheid, ich hätte lieber nichts mehr gehört von allem, was sie sagte; ich war auch froh, daß ich fortkam und sie nicht mehr sehen mußte. Ich weiß aber schon, daß das auch nicht recht war,« fügte Marie bei.

Ich war froh über diese letzten Worte, denn es wäre mir in dem Moment schwer geworden, sie selbst Marie zu sagen.

Als sie aufstand um fort zu gehen, begleitete ich sie durch den Garten und fragte sie, wo sie meine, daß weiße Lilien wohl am besten ständen; auf den nächsten Sommer müßten wir doch solche haben, und die ersten sollten immer ihr gehören, da sie die Blumen in den Garten gebracht hätte. Ihre Augen leuchteten auf. Gleich lief sie auf das Blumenbeet zu, wo die bunten Farben des Sommerflors durcheinander schillerten.

»Hier,« sagte sie, »ich habe schon lange gedacht, wie schön es wäre, wenn hier lauter weiße Lilien ständen.«

Wir machten aus, es sollte so werden, um jeden Sonntag des künftigen Sommers müßte sie kommen, ihre Blumen zu sehen.

Marie kam noch einige Sonntage nacheinander; sie war nun heimisch und vertraut geworden; am liebsten saß sie im Garten unter den Blumen, von denen sie jede einzelne kannte. Wie konnte der kleine Strauß, den sie mitnahm, jedesmal ihr Kinderherz erfreuen!

Mehrere Male fragte ich sie besorgt, ob sie oft den trockenen Husten habe; sie meinte aber, das sei nicht wichtig, sie sei sonst wohl. Dann blieb sie längere Zeit aus.

Der Herbst war gekommen, schon wehten die scharfen Winde die Blätter von den Bäumen, da erschien Marie noch einmal bei mir. Ich erschrak. Diese glühenden Farben mußten die Vorboten eines schnellen Erbleichens sein

»Du hast Fieber, Marie,« sagte ich gleich.

Sie erwiderte mir, dies sei auch der Grund, warum sie so lange ausgeblieben sei, sie habe seit einiger Zeit immer Husten und Fieber. Sie kam auch heute, mir zu sagen, daß sie nun nach dem Krankenhause gehe, wo sie bleiben dürfe, bis es besser sei mit ihr. Vielleicht könne sie nun lange nicht mehr zu mir kommen, meinte sie.

»Dann komme ich zu Dir, Marie,« sagte ich, herzlich erfreut, zu wissen, daß sie in die gute Pflege kam. Wie wohl wußte sie dies zu schätzen!

Es kamen nun die dunkeln Nebelmonate und dann der harte Winter. Die welkende Marie an ihren warmen Plätzchen zu finden, wenn ich sie besuchte, war mir ein wohlthuendes Gefühl bei manchem schweren Gedanken daneben. Marie hustete stark, doch litt sie nicht viel, die Fieber verzehrten sie leise.

Wußte sie, daß sie schnell ihrem Ende entgegenging? Noch hatte ich nie ein bestimmtes Wort von ihr darüber gehört, auch wußte ich nicht, was in ihr vorging bei dem Gedanken, ihr Erdenleben vergehen zu sehen, eh' es nur einmal recht aufgeblüht war.

An einer kleinen Weihnachtsgabe konnte sie sich so ganz als Kind erfreuen, daß es mir rührend war.

»Lieber hätte ich Dir von Deinen Lilien gebracht, Marie,« sagte ich, »aber die kommen noch lange nicht.«

»Nicht mehr, so lange ich da bin,« erwiderte sie.

»So weißt Du, daß Du bald gehen wirst? Kannst Du ruhig an dieses Fortgehen denken?« fragte ich.

»Ja, jetzt wohl,« sagte sie. »Es thut mir um nichts leid auf der Erde, und in den Himmel zu gehen, freue ich mich. Ich habe mich immer auf den Himmel gefreut; aber dann« – hier zögerte sie – »eine Zeit lang wäre ich nicht gern gestorben.«

»Was war das, Marie?« fragte ich.

Sie zögerte neuerdings; dann sagte sie, sie wisse nicht, ob man so etwas erzählen könne, sie habe nie davon geredet; wenn ich es aber gerne wissen wollte, so würde sie mir's erzählen, so gut sie könnte.

Ja, ich wollte gerne wissen, was in dieser Seele vorging. Ich bat Marie, mir alles zu erzählen, ich wollte sie schon verstehen.

Nun erzählte mir Marie, als ihr damals die Hausmutter ihre Lilie geknickt hatte, habe sie in ihrem Herzen gedacht: wenn nur jemand wäre, der der Mutter auch etwas zu Leide thäte, das ihr recht weh thun würde; aber es war niemand, der es durfte. Die Kinder fürchteten sie alle, und auch der Hausvater schwieg, wenn sie böse war. »Es war,« sagte Marie, »wie wenn sie zu oberst wäre, wo niemand sie erlangen könnte. Da dachte ich: der liebe Gott kann es! Von da an wünschte ich immerfort, daß ihr der liebe Gott etwas zu Leide thue, und lange Zeit dachte ich gleich am Morgen beim Erwachen daran, und eh' ich einschlief, wünschte ich es wieder. Noch als ich schon lange aus dem Kinderhaus fort war, dachte ich gern daran, daß der liebe Gott das thun könnte.«

»Da träumte mir einmal, ich sei gestorben und komme in den Himmel; das hatte ich mir oft ausgedacht, und was ich dann gleich thun wollte. Nun lief ich auch durch den weiten Himmel und suchte die weißen Lilienfelder, und dort im hellen Sonnenschein sah ich sie leuchten und lief atemlos, daß ich die glänzenden Blumen in der Nähe sehe. Und fast war ich dabei, da stand auf einmal ein Engel da mit einem Schwert in der Hand, der zog eine große, graue Wolke grad' vor das Lilienfeld und vor die Sonne, daß alles grau war und ich nichts mehr sah. Ich stand still und wollte warten, bis der Engel die Wolke wieder wegziehen würde. Aber er sah mich sehr ernsthaft an und sagte: »Nein, nein, für Dich habe ich die Wolke hierher gezogen!« daß ich ganz zitterte vor Schrecken. Dann sagte er, der liebe Gott habe ihm geheißen, die Wolke vor mich hinzustellen, weil ich immer gewünscht habe, daß Er jemandem ein Leid anthue; da habe ich das Leid und die Lilien könne ich nie mehr sehen. Da hielt ich sehr an bei dem Engel, daß er doch gehe und dem lieben Gott sage, ich wolle nie, nie mehr der Mutter und keinem Menschen etwas Böses wünschen. Aber der Engel sagte: Das ist alles zu spät! und ging fort, und ich stand allein da vor der großen Wolke. O, wie war mir da zu Mute! In Ewigkeit sollte ich nun in dem grauen Himmel sein und nie mehr die Lilien sehen. Ich fing so zu weinen an, daß ich davon erwachte. Mein Kopfkissen hatte ich ganz naß geweint, und als ich mich recht besann, mußte ich wachend erst recht weinen, denn ich dachte, wenn ich nun sterben müßte, so käme es gerade so mit mir.«

»Du hast dann doch wohl verstanden, wo es Dir fehlte, nicht wahr, Marie?« sagte ich, als sie schwieg.

»Ja,« fuhr sie fort, »als ich an jenem Morgen im Vaterunser an die Bitte kam: ›Vergieb uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldnern‹, da sagte ich sie ganz anders als sonst, zwei oder dreimal mußte ich sie sagen und recht beten, daß der liebe Gott mich doch erhöre, weil es noch Zeit sei. Ich versprach ihm auch fest, daß ich der Mutter nichts mehr nachtragen und nichts Böses mehr wünschen wolle.«

»Und hast Du auch recht gehalten, was Du versprochen hast?« fragte ich noch.

»Es war mir gewiß ein rechter Ernst, es zu thun,« erwiderte Marie, »ich wünschte auch nie mehr, was ich der Mutter gewünscht hatte. Aber doch manchmal, wenn ich sagen wollte: ›wie auch wir vergeben unseren Schuldnern‹ – so merkte ich, daß es nicht mit mir war, wie es sein sollte, und daß ich nicht die rechten Gedanken für die Mutter hatte, ich hätte sie auch nicht sehen mögen. Dann wurde es mir angst, der liebe Gott behalte auch etwas gegen mich, und ich wußte nicht, wie ich aus der Angst herauskomme. Da stand eines Morgens in meinem Spruchbüchlein der Vers:

›Denn was ich nicht vollbringen kann,
Das hast Du schon für mich gethan.
Drum wenn mir angst und bange ist,
Flieh' ich zu Dir, Herr Jesus Christ.‹

Das war gerade für mich. Ich war so froh und sagte den Vers immer wieder, bis ich ihn ganz im Herzen hatte.

Es kam mir denn auch vieles so klar in den Sinn, das ich schon gewußt hatte, aber jetzt war alles für mich wie nie zuvor. Es wurde mir so leicht, als ich verstand, daß unser Heiland gerade denen helfen will, die sich nicht aus dem Bösen heraushelfen können. Ich hielt mich auch fest an Ihm, und wenn mir die alten Sachen aufkommen wollten, sagte ich gleich:

›Denn was ich nicht vollbringen kann,
Das hast Du schon für mich gethan.
Drum wenn mir angst und bange ist,
Flieh' ich zu Dir, Herr Jesus Christ.‹«

»Das half mir auch,« sagte Marie fröhlich, »die alten Gedanken vergingen mir ganz, und jetzt habe ich nie mehr Angst, ich bin gewiß, daß ich in den schönen Himmel gehe und selig werde.«

Als die milden Föhnlüfte heranwehten und der Schnee im Garten schmolz, ging ich im sonnigen Nachmittag wieder hinaus, den bekannten Weg, um mich mit Marie des nahenden Frühlings zu freuen.

Ich wurde nicht in den Krankensaal, sondern in das kleine Zimmer nebenan geführt. Da lag Marie auf dem weißen Bett, bleich und still mit gefalteten Händen. Wie friedlich lag sie da. Ein Hauch der kommenden Herrlichkeit lag auf dem stillen Angesicht.

Mir fielen die heißen Thränen auf die Leiche des entschlafenen Kindes. Aber nun war er ja vorüber, sein kurzer, dunkler Erdentag; nun stand das verklärte Kind an den leuchtenden Lilienfeldern, und kein Engel hatte ihm den Zutritt wehren dürfen.

 


 


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