Johanna Spyri
Aus dem Leben
Johanna Spyri

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Daheim und in der Fremde

Am alten Pfarrhaus waren die Junirosen erblüht und erfüllten den ganzen Garten mit süßem Duft. Der frühe Lila-Flieder war vorüber, nur die Blätter waren noch schön grün am Gebüsch und flüsterten über der Bank im leisen Abendhauch. Auf der Bank saß der würdige alte Pastor, mit dem schwarzen Sammtkäppchen auf dem Kopf, und rauchte friedlich aus seiner langen Pfeife. An seiner Seite, wie fast zu jeder Zeit, saß seine kleine, feine Frau, der einige schon grau gefärbte Löckchen, unter der weißen Haube hervorfallend, anmutig die kluge Stirn zierten. Mit ihren zarten Händen schälte sie die grünen Erbsen aus den Hülsen, die eben im saubern Körbchen vor sie hingestellt worden waren von der gewandten Martha, ihrer hoch gewachsenen Tochter, die sich nun zu den Stauden zurückgewandt hatte, ihre Früchte zu Ende zu pflücken. Eben fing die Betglocke der nahen Kirche zu läuten an, den Schluß der Woche verkündend und zum Feierabend einladend alle, die noch in des Tages Müh' und Arbeit standen. Auf und nieder wogten die Glockenklänge und tönten in den Garten herüber. Da legte der Pastor seine Pfeife weg, faltete die Hände und sagte mit der ihm eigenen kindlichen Innigkeit:

»Die Woche ist geendet,
Das Tagewerk vollendet,
Vergessen Not und Schmerz,
Es kommt ein heil'ger Morgen,
Am Sabbath ruhn die Sorgen,
So ruhe denn, mein Herz!«

Martha war hinzugetreten; auch die Mutter hatte ihre Hände gefaltet in den Schoß gelegt. Schweigend hörten sie alle Drei den verklingenden Glockentönen zu.

Auf der Rosenhecke lag leuchtend der Abendschein. Die Luft war still geworden; ein friedliches zur Ruhe Gehen war über Baum und Flur und Wald gehaucht.

In späterer Stunde saßen Vater, Mutter und Tochter bei der Lampe im Pfarrstübchen. Auf die kleine Bank unten am Tisch hatte sich eben das Dienstmädchen hingesetzt, die junge Rosine, die immer und auch jetzt trotz der ernsthaften Miene, die sie aufgesetzt hatte, sehr lustig aus den hellen Augen schaute.

Der Vater hatte die große Bibel vor sich auf dem Tische liegen; er las laut sein Abend-Kapitel; an diesem Tage waren es die Worte:

»Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden.

Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. Da wird man sagen unter den Heiden: Der Herr hat Großes an ihnen gethan.

Der Herr hat Großes an uns gethan, deß sind wir fröhlich.

Herr, wende unser Gefängnis, wie Du die Wasser gegen Mittag trocknest.

Die mit Thränen säen, werden mit Freuden ernten.

Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.«

Nun stand der Vater auf und zog sich zurück, und bald folgte ihm die Mutter, am Sonnabend immer früher als an anderen Tagen, denn am Sonntagmorgen mußte alles zur Zeit bereit sein, um den Pastoren zum Morgen-Gottesdienste zu folgen. Auch Rosine, die erst ihre Geschäfte zu besorgen hatte, mußte mit, und sie versäumte nie, schmuck und rüstig den Zug zur Kirche zu beschließen. Als Mutter und Tochter sich auf dem Hausflur getrennt hatten, ging Martha die Treppe hinunter und trat in den Garten hinaus. Es war eine helle Sternennacht, und sie öffnete das Gartenpförtchen und ging den schmalen Fußweg entlang über die Wiese nach der Halde hinaus, wo die große Birke stand, unter deren leise wehenden Zweigen sie so gerne saß und ihrem Flüstern lauschte. Hoch zum Himmel ragte der Baum, aber oben im Licht beugte er sein Haupt, und die schlanken Zweige neigten sich wieder der Erde zu. Von der schmalen Rasenschanze unter dem Baum fiel der Abhang steil hinunter dem waldumkränzten Thalgrunde zu, den die klaren Bergbäche murmelnd durchzogen.

Martha setzte sich auf die Rasenbank; es war still ringsum, nur der leise Nachtwind säuselte in den Birkenzweigen. Die Landleute der Gegend gingen mit dem Tageslicht zur Ruhe, um mit der Sonne den Tag wieder zu beginnen. Das wußte Martha wohl, und daß auf ihren abendlichen Gängen kein menschliches Wesen sie erschrecken würde. Sinnend schaute sie in die milde Sternennacht hinaus. Über dem Buchenwald stand die schimmernde Sichel des jungen Mondes; gegen Süden hin war ein lichter Streifen am Horizont, auf dem sich noch die Zacken des grauen Felsenstockes zeichneten. Tief unten im Thal fuhr ein Wagen durch die Stille dahin, weit hin, in die ferne Welt hinaus. Martha lauschte dem verhallenden Rollen der Räder.

Hinaus in die Welt! Das war der Gedanke, der ihre Seele erfüllte. Aus diesem stillen, unbewegten, immer gleichen Leben weg, einmal hinaus in die Weite, in die Welt der bedeutenden Menschen, der großen Gedanken, der reichen Interessen!

Martha war eine kräftig angelegte Natur. Mit der Gemütstiefe des Vaters einte sich in ihr das rasche Erkennen, das entschlossene Handeln, das der Mutter eigen war. Das leidenschaftlich Eigenwillige ihres Wesens hatte sie wohl unmittelbar mitgebracht, wie ihre tiefblauen Augen, die unter den schwarzen Wimpern hervorschauten, so feurig, wie die dunkelglühenden Berg-Enzianen im Busch.

Martha hatte viel gelesen. Ihr Durst nach Wissen und Kennen ging weit über die ihr angewiesenen Quellen hinaus; um so dringender wurde ihr Verlangen nach der unerreichbaren Befriedigung, um so wundervoller standen vor ihr die Schätze, die draußen im reichen Zusammenfluß aller geistigen Kräfte gefunden werden müßten, um so enger und ärmer erschien ihr das wechsellose Leben auf dem schönen aber einsamen Erdenfleck.

Martha wurde aus ihrem tiefen Sinnen aufgeschreckt durch einen nahenden Schritt; es war ihre Mutter, die herantrat.

»Dacht' ich's doch, als ich Dich nicht hereinkommen hörte, Du vergessest Dich auf Deinem Rasensitz,« sagte sie freundlich. »Komm herein, Martha, es ist Zeit.«

»Mutter, ich möchte Dir etwas sagen, setze Dich nur einen Augenblick hier zu mir,« bat Martha.

Die Mutter setzte sich.

Eine Weile war alles still. Vom nahen Garten trug ein Windhauch den süßen Rosenduft herüber. Leuchtend stand die Mondsichel über dem dunkeln Wald.

»Mutter,« sagte Martha jetzt mit bestimmtem Ton, »ich habe alles reiflich überlegt, ich will dem Manne folgen.«

Lange antwortete die Mutter nicht; endlich sagte sie schmerzlich erregt:

»Martha, es kann nicht sein! Du kennst den Mann zu wenig; was Dir unbekannt ist, kannst Du nicht überlegen.«

»Was ich von ihm kenne, ist mir werth,« erwiderte Martha fest. »Es bringt mich in die Nähe einer Stadt, da ich finde, wonach ich verlange, eine geistige Nahrung, die ich hier schmerzlich vermisse. Ich bin nicht mehr so jung, Mutter, nicht zu wissen, was ich will; ich bin entschlossen den Schritt zu thun und wollte Dich bitten, den Vater vorzubereiten.«

Mit dem Ausdruck tiefster Besorgnis stand die Mutter auf, nahm den Arm ihrer Tochter und lenkte dem Garten zu. Einen Augenblick noch blieb sie an der Rosenhecke stehen. Wie oft hatte sie hier mit ihrem Kinde die süßen Düfte eingetrunken an milden Juniabenden, wenn über ihnen die Sterne friedlich schimmerten, wie eben jetzt.

»O Martha,« sagte die Mutter bewegt, »daß Du Gottes Wege, nicht Deine eigenen gehen möchtest, dann möchte ich Dich wohl ziehen lassen!«

Mutter und Tochter traten ins Haus und trennten sich schweigend; beiden war das Herz zu voll zu weiterem Reden.


Es war ein inniges Verhältnis zwischen den liebevollen Eltern und ihrem Kinde; Martha hing mit ganzem Herzen an ihnen; aber in den letzten Jahren waren ihr viele Gedanken gekommen, die sie nicht mehr mit den frommen Eltern austauschen konnte, aus Furcht sie zu erschrecken. Sie ging innerlich ihre eigenen Wege und dachte, der liebe Gott habe für jeden eine besondere Antwort, wie jeder seine besonderen Fragen hat. Fanden nun Vater und Mutter ihren besten Trost und die befriedigende Nahrung für ihr inneres Leben in den Worten des alten Bibelbuches und solcher Schriften, die desselben Sinnes waren, so war es dagegen den Bedürfnissen ihrer Natur gemäß, aus den Worten der Dichter und Weisen zu schöpfen, die ihren Blick weiteten, ihr Denken erhellten und ihr ganzes Wesen festeten, daß sie, der eigenen Kraft bewußt, gerüstet dem Leben entgegentreten könnte. Sie fühlte sich dabei gehoben, wie nie beim Lesen jener Schriften, die ihren Eltern teuer waren; denn nichts erschien ihr so armselig, wie aus Gnaden annehmen zu wollen, was wir mit der eigenen, guten Kraft erringen sollten.

Martha hatte im verwichenen Winter einige Zeit bei einer Freundin zugebracht, wo sie die Bekanntschaft eines Mannes gemacht, dessen Wohlgefallen sie erweckt hatte. Der Mann trug einen guten Namen, und die Freundin wußte von seiner ganzen Familie viel Gutes zu erzählen.

Jetzt lebte er allein auf seinem Gute, in einer weit entfernten, aber für Martha in vielen Punkten lockend erscheinenden Gegend. Vor kurzem hatte der Mann um ihre Hand angefragt. Martha hatte von seiner stillen Weise einen angenehmen Eindruck erhalten; der Eltern liebevolle Einwendungen wurden alle entkräftet durch die Entgegnung, ihre innersten Anschauungen gingen auseinander; sie hatte die Wege zu gehen, die ihrem Wesen vorgezeichnet wären.

Als der Herbst den Buchenwald bunt gefärbt und das Fliedergebüsch entblättert hatte, als an der Hecke nur noch hier und da verloren eine blasse Rose hing, da stand am Pfarrhof ein gepackter Reisewagen. Eben trat der Vater im Sammtkäppchen aus der Hausthür; er hielt sein Kind an der Hand; über seinem sonst so fröhlichen Angesicht lag ein tiefer Schatten; die Mutter folgte mit nassen Augen. Im langen Überrock, zugeknöpft bis an den Hals hinauf, stand ein ältlicher Herr, kaum reichte er an die hochgewachsene Martha heran, es war ihr angetrauter Mann.

Der Vater hob sein Kind in den Wagen; nun fielen ihm die hellen Thränen über die Wangen herab; die Mutter hatte lange schon in der Stille die ihrigen immer wieder weggetrocknet. Der zugeknöpfte Herr stieg ein an Marthas Seite. Sie grüßte und winkte zurück. Der Wagen bog um die Ecke herum.


Wo das Land flach ist, und weit umher die großen Felder den Boden bedecken, steht ein altes, graues Haus mit einem großen Thurm; es wurde das Schloß genannt. In dem verwilderten Garten am Hause stand die junge Rosine und staunte um sich.

Die Eltern hatten gewünscht, daß sie ihre Tochter Martha nach der fernen Gegend hin begleiten möchte als treues Dienstmädchen, wie sie Rosine kannten.

In dem grauen Schlosse war nur ein einziges lebendes Wesen außer ihr vorhanden, der alte Felix, der langjährige Hausknecht. Er stand am andern Ende des Gartens und schlug Pfähle in den Boden, damit der Gartenzaun wieder mit Recht so genannt werden dürfte.

»Wann wird die Herrschaft anlangen, Felix?« rief Rosine über den Garten hin.

»Heut,« erwiderte der Alte.

»Heut,« wiederholte Rosine ärgerlich, »daß weiß ich so gut wie Ihr, ich meine, wann heut?«

»Weiß nicht,« war die kurze Antwort. Rosine schaute über das lange Feld zur Rechten gegen das graue Fichtengehölz, das auf dieser Seite hin das Feld abschloß. Zur Linken lag an des Feldes Ende ein grüner Teich und weiterhin unabsehbare Felder, zur Seltenheit von dünnen Fichten und Haselgebüsch unterbrochen.

»Felix,« rief Rosine nach einer Weile der Betrachtung, »meint Ihr etwa, es sei schön bei Euch?«

Keine Antwort.

»Wo ich herkomme, ist es anders, das kann ich Euch sagen. Wie muß man sich denn nur hier drehen, daß man einen Berg sehen kann?«

Keine Antwort.

Rosine rupfte einiges Unkraut aus; dann schaute sie wieder auf, ein neuer Gedanke mußte sie beunruhigen.

»Und wo ist denn die Kirche?« rief sie, mit den Augen umhersuchend, »weit und breit ist keine zusehen! Hört Ihr nicht, Felix? Wo geht Ihr denn zur Kirche?«

»Geh' nicht.«

»Pah, ich meine, wo andere gehen, wenn Ihr nicht geht. Wo geht der Herr zur Kirche?«

»Geht nicht.«

»So, seid Ihr denn alle Türken hier? Meint Ihr etwa, wir seien auch so? Wo sollen denn wir zur Kirche gehen, die Frau und ich? Hört Ihr nicht? Habt Ihr etwa keine Kirche? Oder wißt Ihr gar nicht, was eine Kirche ist?«

Hier streckte Felix den Arm aus und deutete gegen das Fichtengehölz hin, ohne ein Wort zu sagen. Rosine folgte dem Wegweiser mit den Augen. Richtig, dort hinter den Bäumen war ein roter Kirchturm zu sehen, breit und niedrig, nicht spitz und schlank, wie die Kirche der Heimat – und weiterhin zeigten sich die hohen Türme der Stadt auf dem hellen Horizont. Rosine machte noch einige vergebliche Anstrengungen zu weiterer Unterhaltung; der Alte hämmerte schweigend fort. An demselben Abend fuhr der Reisewagen an dem grauen Schlosse vor. Martha betrat ihre neue Heimat.


Der Winter war vergangen, die junge Saat der Felder grünte. Im Fichtengehölz war der Kuckuck erwacht und rief zum grauen Hause herüber. Martha stand am offenen Turmfenster, sie lauschte dem Rufe, wie gut kannte sie den Ton!

So hatte sie im Frühjahr lauschend draußen unter der Birke gestanden, wenn er vom hellgrünen Buchenwald herauf erklang und sich in das laute Sprudeln der frisch genährten Bergbäche mischte. Sie sah den Thalgrund vor sich mit den vollen Vergißmeinnichtreihen dem Bache nach, den Buchenwald im Morgensonnenschein und drüberhin die weiß schimmernden Schneefelder.

Ja, es war schön dort wie nirgends sonst!

Drüben erhoben sich die Türme der Stadt.

Was hatte sie sich geträumt von den geistigen Gütern und Herrlichkeiten dieser Stadt! Einige Male war sie mit ihrem Manne hinübergefahren zu Gesellschaft, zu Vorträgen, zum Theater. Gestillt hatte sie ihren Durst nicht, aber irgendwie war schon ihr brennendes Verlangen nach alle dem ermattet. Ja, ihre Mutter hatte recht bekommen: sie hatte nicht bedenken können, was ihr unbekannt war. Sie hatte noch keinen Menschen gekannt, der am irdischen Gute nur um des Besitzes willen hängt in einer Weise, daß jede Lebensregung ihn peinigt; sie hatte nie gesehen, wie Geist und Seele in dieser Öde des Daseins verdorren.

Martha hatte von Kind auf den Seelenadel der ihr nahe Stehenden eingeatmet wie die natürliche Lebenslust; wer fragt, ob diese ihm fehlen kann?

Daß es eine andere Luft giebt, eine erdrückenden Erdenluft, in der die Menschen auch leben können, hatte sie nun erkannt, und diese sollte die Luft ihres eigenen Hauses sein! Ein lähmender Bann hatte sich auf ihre Seele gelegt. Aber zu erliegen gedachte sie nicht; nun galt es, seine Kraft zu gebrauchen. Das wollte sie auch thun. Sie hatte diesen Weg gewählt, sie wollte ihn stillschweigend gehen, niemand sollte mit ihr leiden, am wenigsten ihre alten Eltern.

Wenn am Sonntag die Glocken der fernen Kirche über das Fichtengehölz her erklangen, ging ein wehmütiges Gefühl durch ihr Herz. Sie sah den ehrwürdigen Vater andächtig zur Kirche gehen, die Mutter an seiner Seite; es war ihr, als ob sie ihr winkten; aber es zog sie nicht hin. Sie schickte sonntäglich Rosine hinüber zur Kirche.

Den Eltern schrieb Martha von ihrer bleibenden Liebe für sie; was sich etwa als Schatten in die Briefe einschlich, bezeichnete sie als »ein wenig Heimweh«. Was Vater und Mutter noch aus den Briefen lasen, was sie darin vermißten, und was sie dabei empfanden, das wußte oder bedachte Martha damals freilich nicht.

Als Martha oben am Fenster in den Frühlingsmorgen hinausblickte, stand Rosine unten am Gartenzaun; sie erwartete den alten Felix mit den Holzstangen, an die sie die jungen Erbsen aufbinden wollte. Der Alte nahte mit seiner Bürde und steckte schweigend eine Stange nach der andern in die grünen Ranken.

Rosine hatte ihre Herrin am Fenster gesehen und war mit richtigem Instinkt ihren Gedanken gefolgt. Jetzt wischte sie eine Thräne weg und trat zu dem Alten heran:

»Felix,« rief sie mit erregter Stimme, »ich wollte, daß Euer Herr sechstausend Jahre lang in seinem Turmloch sitzen und fortbrüten müßte zur Strafe, daß er so dasitzt und brütet einen Tag um den andern und kein Leben führt mit seiner Frau und schuld ist, daß sie ganz anders aussieht als früher. Und ein Gesicht macht er immer, daß man denken kann, er müsse über seine Sünden brüten.«

»Junges Geschöpf,« sagte Felix fast lebhaft, indem er inne hielt mit seiner Arbeit und sich direkt zu Rosine kehrte, »Du redest unnötige Worte, der Herr hat nichts begangen.«

Einen Augenblick war Rosine wortlos vor Erstaunen. Es war das erstemal, daß sie von Felix etwas anderes als eine Antwort von zwei Worten hörte. Den ganzen Winter durch hatte sie ihre täglichen Mahlzeiten, die sie, dem Alten gegenüber sitzend, einnahm, mit ihren Selbstgesprächen und ewig unbeantworteten Fragen würzen müssen. Jetzt hatte Felix einen ganzen Satz gesagt.

»So begeht er jetzt etwas,« fuhr sie auf, als ihr Erstaunen sich gelegt. »Hat er sein Leben bekommen, daß er Tag für Tag sitze und ausbrüte, was um ihn her nicht recht gehe, oder vielmehr nicht liegen bleibe? Ginge alles nach seinem Kopf, so dürfte keiner von uns mehr Atem holen, nur damit er nicht wieder hergegeben werden müßte.«

»Es fehlt dem Herrn irgendwo,« fügte Felix.

»Ja, das glaube ich auch,« entgegnete Rosine schnell, »mich wundert, wo es ihm nicht fehlt.«

Es wunderte sie aber doch auch ein wenig, wo es ihm besonders fehlen könnte, auch war ihr das Ereignis, den Alten reden zu hören, zu merkwürdig, um sich nicht so lang' als möglich daran zu verwundern.

»Sagt, Felix, wo fehlt's ihm denn am meisten?« fragte sie, wieder einlenkend.

»Willst Du nicht mehr unnötig reden, wenn ich Dir sage, was ich meine?« fragte der Alte entgegen.

»Nein, nie!« versicherte Rosine.

»Ich meine, es ist bei dem Herrn da nicht mehr richtig,« sagte Felix, auf seine Stirne deutend.

»Ja, und wird auch immer unrichtiger werden,« fuhr Rosine beistimmend fort. »Wem nimmt der Herr ein vernünftiges Wort ab? Wenn er auf seine Frau hören wollte, käm' es anders, aber es heißt nicht vergebens: Ein Narr hat nicht Lust am Verstand, sondern was in seinem Herzen steckt!«

Der Alte hatte seine Arbeit vollendet und war mitten in Rosinens Rede davon gegangen. Er schien überhaupt anzunehmen, das wünschbarste Schicksal der meisten Menschenworte sei, ungehört zu verklingen.


Als wieder die Felder grünten und der Kuckuck rief, saß Martha an ihrem Fenster und hielt einen rosigen blonden Jungen im Arm, der mit seinen großen blauen Augen zu ihr auflachte wie die helle Freude. Und welche Freude war auch in der Mutter Herzen aufgegangen! Ein neues Leben lag vor ihr. Alles, was sie vergebens für sich ersehnt, alle gescheiterten Hoffnungen und unerreichten Ziele erstanden vor ihren Augen mit neuem Reiz; in ihrem Kinde konnte, ihr alles in Erfüllung gehen, und voller, umfassender, als sie es je für sich vorausgesehen, denn dem Sohne standen ja alle Wege offen.

Das begabte, früh sich entwickelnde Kind berechtigte auch die Mutter zu großen Hoffnungen; sie wußte, worauf sie baute.

Schnell und ausnehmend lieblich wuchs der kleine Willi heran. Früh rief er alle Bewohner des Hauses beim Namen und deutlich begriff er die Weise eines jeden, der sich mit ihm abgab.

Für seine Mutter hatte der Kleine eine nie versiegende Zärtlichkeit; sie lebte auch nur für ihn, und früh konnte sie mit dem klugen Kinde von vielem sprechen, das ihr Herz bewegte. Sie verstand es auch wohl, mit ihm in seiner Sprache zu reden, sie kannte ja ihren Kleinen in jeder Regung des Herzens, in jedem Zuge seiner Gedanken.

Wenn in der Dämmerung die Mutter still an ihrem Turmfenster saß, dann kletterte der Kleine regelmäßig auf ihren Schoß, und sie mußte erzählen vom Großvaterhaus und allen Bäumen und duftenden Blumen im Garten. Wenn dann der lichte Mond über dem Fichtengehölz erschien, wollte das Kind immer wieder hören, wie er leuchtend über dem Buchenwald gestanden hatte, als die Mutter am Abend dort draußen unter der Birke saß und der Nachthauch den süßen Rosenduft zu ihr herübertrug. Dann wurde Willi ganz belebt, und seine großen blauen Augen glänzten vor Eifer, wenn er der Mutter erklärte:

»Ja, und wenn ich groß bin, dann baue ich Dir ein schönes Haus dort droben unter der großen Birke, und ihre Zweige wehen immerfort darüber hin, und ich mache eine Hecke um das ganze Haus herum voller roter Rosen, die blühen immerfort und duften in die Fenster hinein, wo wir sitzen, Du und ich und der Großpapa mit einer langen Pfeife und die Großmama: und dann bist Du immer fröhlich und nie, nie mehr traurig!« Dann schmeichelte sich Willi an die Mutter und streichelte ihre Wangen, bis sie versprach, dann wollte sie nie, nie mehr traurig sein.

In das Zimmer des brütenden Vaters durfte der Kleine täglich zu einer bestimmten Stunde für kurze Zeit eintreten. Er wußte perfekt, daß er dann seine Füßchen ganz leise aufsetzen mußte und seine Fingerchen an keinen Gegenstand im Zimmer legen durfte.

Bei Rosine war jede Spur von Heimweh, langer Weile und jeglichem Leid gänzlich verschwunden, seit das Kind erschienen war. So war ununterbrochen im hellen Entzücken über den Kleinen, jedes Jahr ein wenig mehr. Sie betrachtete ihn durchaus als ihr halbes Eigentum, die andere Hälfte kam der Mutter zu. Willi hing auch mit besonderer Liebe an der fröhlichen Rosine.

An wem hing auch das liebreiche Kind nicht mit warmer Liebe, und wessen Herz gewann es nicht für sich?

Der alte Felix mochte stehen und gehen, wo er wollte, erblickte er das blonde Lockenköpfchen, so blieb er stehen und streckte seine Hand aus. Dann lief Willi herzu, legte sein Tätzchen hinein und fragte gleich nach dem Lerchennest drinnen im Kornfeld. Und immer war dem Alten die Zeit gelegen, den Kleinen dahin zu führen.

Dann wanderten sie Hand in Hand, langsamen Schrittes; der schwere Gang der alten Beine paßte gerade zu dem Trippeln der sehr jungen, und auf dem ganzen Wege hatte der alte Felix von all' den Singvögeln zu berichten, die ringsum ihre Nester hatten, drinnen im Kornfeld und hoch oben in den alten Birnbäumen.

Der schweigende Alte hatte noch erzählen gelernt.

Ein warmer, belebender Sonnenstrahl war in das steinerne Haus gefallen.


Die Aprilsonne hatte schon heiß auf die Felder geschienen und die frühe Saat hervorgelockt; dann hatte ein rauher Schneewind dahergeweht, eine feuchtkalte Nebelluft lag draußen, und große graue Wolken zogen über das Fichtengehölz hin.

Martha saß auf ihrem Fenstersitze in der Dämmerung und schaute in den trüben Abend hinaus. Nun hörte sie ihren Kleinen herankeuchen unter einer großen Last. Er legte seine Bürde bei der Mutter auf den Fenstertritt nieder und atmete auf.

»Was hast Du für schwere Arbeit, Willi?« fragte die Mutter.

»Ich will werden, was der Großpapa ist,« antwortete der Kleine ernsthaft.

»Da thust Du wohl daran,« stimmte die Mutter bei, »aber was hast Du denn hergeschleppt?«

»Das Buch brauche ich dazu,« sagte Willi, auf die niedergelegte Bürde am Boden deutend.

Nun erst erkannte Martha die große Bibel, die unberührt im Schranke gelegen hatte. Der alte Vater hatte sie Martha mit auf den Weg gegeben. Sie könnte das Buch wohl brauchen, hatte er ihr dazu gesagt. Sie hatte es nie gebraucht. Mit großer Mühe mußte es Willi heruntergeholt haben.

»Was weißt Du von diesem Buche, Kind?« fragte Martha jetzt.

»Rosine sagt,« begann Willi, wie seine Sätze häufig zu beginnen pflegten, »der Großpapa nimmt alles aus der großen Bibel, die vor ihm auf dem Tische liegt, dann geht er auf die Kanzel und predigt es. Das kann ich auch thun. Rosine sagt, das ist eine ganz gleiche Bibel; nun will ich Dir predigen, Mama.«

Die Mutter zog den Kleinen an sich und strich ihm das weiche Lockenhaar aus der Stirne. Konnte die kurze Anstrengung die Stirne so heiß gemacht haben? Aber auch der Husten des Kindes war heut Abend rauher, als er die vorhergehenden Tage gewesen.

Martha nahm den Kleinen bei der Hand und machte Anstalten, ihn zu Bett zu bringen. »O Mama, erst möcht' ich noch predigen!« bat Willi.

Aber die Mutter blieb dabei, erst sollte er schlafen gehen, dann würde er morgen ganz frisch sein zum Predigen.

Willi verzichtete ungern auf seine erste Predigt, aber er war ein lenksames Kind; nur sollte die Mutter versprechen, die Bibel da liegen zu lassen, wo er sie hingelegt, daß er sie gleich am Morgen finde und beginnen könne.

In der Nacht brach das Fieber aus; am Morgen lag der Kleine glühend auf seinem Kissen, alle Pulse schlugen heftig an ihm. Der herbeigerufene Arzt sagte nicht viel; als Martha das Wort »Lungenentzündung« aussprach, wich er aus und meinte, es könne ein vorübergehender Anfall sein.

Der Kleine lag im Fieber den ganzen Tag. Martha sah, daß sich gegen Abend der Zustand steigerte; sie wich nicht einen Moment von des Kindes Seite. In der Nacht fing Willi an, irre zu reden; er hörte das Wehen der Birkenzweige und wollte hinaus; dann fuhr er unruhig umher mit den Händchen und wollte eine der schönen Rosen herunterholen von der Hecke.

Eine unnennbare Angst erfaßte Martha. Zum erstenmal kam der Gedanke über sie, daß ihr Kind dem Tode nahe sei. Sie warf sich auf die Kniee nieder und rief überlaut:

»Nein, Gott im Himmel, Du kannst mir das Kind nicht nehmen!«

Willi war erschreckt aufgefahren, er saß aufrecht in seinem Bett: die Nachtlampe warf ihren Schein auf das glühende Gesichtchen.

Das brachte Martha zur Besinnung. Sie raffte alle Kraft zusammen, stand leise an dem Bettchen auf und ergriff des Kindes Hand.

»Lieber Willi, bist Du erschrocken?« fragte sie mit leiser Stimme.

»Ja, Du hast so laut gebetet!« sagte der Kleine, »aber, Mama, wir haben auch vergessen zu beten vor Schlafengehen.«

Willi faltete seine Händchen.

»Willst Du gern selbst beten, oder soll ich es thun?« fragte die Mutter.

»Ich will,« Und Willi betete:

    »Müde bin ich, geh' zur Ruh',
Schließe beide Äuglein zu,
Vater, laß das Auge Dein
Über meinem Bette sein,

    Hab' ich Unrecht heut gethan,
Sieh es, lieber Gott, nicht an!
Deine Gnad' und Jesu Blut
Machen allen Schaden gut.«

Hier fiel der Kleine auf sein Kissen zurück, das Fieber ergriff ihn mit neuer Gewalt.

Martha selbst hatte das Kind diese Worte beten gelehrt, wie konnte es sein, daß sie nun als etwas ganz neues sie mitten ins Herz trafen!

»Deine Gnad' und Jesu Blut
Machen allen Schaden gut« –

hörte sie fort und fort die Stimme ihr in die Seele hineingerufen.

In jener Nacht trat der Schaden ihrer Seele vor ihre Augen, wie sie ihn nie gesehen hatte, und fing an, in ihrem Gewissen zu brennen als ein verzehrendes Feuer. Nun sie in der großen Not sich an Den wenden wollte, den sie als den alleinigen Helfer empfand, mit einer Gewißheit, die allen früheren Zweifeln zum Trotz ihrer Seele erfaßt hatte, da erfuhr sie, wie von diesem Erretter aus ein helles Licht in ihr Herz fiel und tief in alle dunkeln Falten ihres Wesens drang und sie offen legte, daß sie davor erschrak. Sie hatte sich seit lange losgemacht von der Hand des Führers, dem ihr Vater sie frühe übergeben hatte als Demjenigen, der allein den Irrenden leiten und den Gefallenen aufrichten kann. Sie selbst wollte damit fertig werden, den rechten Weg zu finden und ihn auch zu gehen. Wie war sie ihn gegangen? Hatte sie den treuen Eltern gegenüber ein frohes Gewissen? Wie stand sie in ihrem Innern zu dem Manne, dem sie mit Willen gefolgt war? Hatte sie je ihr Kind dem Herrn übergeben, aus dessen Hand sie es nun erbitten wollte? Was war es, daß sie überall sich abwandte wie vor beflecktem Grunde, wo ihr Auge hintraf, ihr eigenes Wesen durchschauend wie es war, denn das Licht der Wahrheit hatte es getroffen. Diesem Lichte entfliehen konnte sie nicht mehr, wollte sie nicht mehr. In Angst und großer Qual fiel sie noch einmal auf ihre Kniee am Bette ihres Kindes und rief zu Gott, nicht rechtend mehr, nein, aus tiefer Not nach Hilfe schreiend, um Gnade und Erbarmen stehend.

Martha lag auf ihren Knieen noch als der Morgen graute. Ihr Wille war gebrochen, ihre Seele hatte den Weg zurückgefunden zur Heimat des Vaterherzens, aus der sie sich verirrt, so lange und so weit verirrt, daß ihr ein Zurückkehren unmöglich geschienen hatte. In stiller Fassung setzte sie sich neben ihren Kleinen, auf dessen blasses Gesichtchen das Morgenlicht fiel. Die Fieber waren vorüber; matt und still lag das Kind auf seinem Kissen, sein Händchen in die Hand der Mutter gelegt. Es schien, als sei ihm ganz wohl, so ruhig und friedlich lag es da, die schönen blauen Augen von Zeit zu Zeit zu der Mutter erhebend, wie sich zu versichern, daß sie noch da sei; die große Stille wurde nur hin und wieder unterbrochen durch Rosinens Eintreten, das Martha mit leisem Wink zu beschränken suchte. Das arme Mädchen war so überwältigt vom Schmerz, daß es sich des lauten Schluchzens nicht erwehren konnte beim Anblick ihres Lieblings.

Die Sonne schien warm ins Fenster, man hörte die Vöglein singen draußen im Frühlingsmorgen.

»Ich möchte aufsitzen, Mama, und die Vöglein sehen,« sagte Willi.

Martha richtete den Kleinen auf und hielt ihn fest in ihrem Arm, am Bettchen niederknieend; er war durchsichtig blaß.

»Mama,« sagte er nach einer Weile, »wenn ich sterbe und in den Himmel gehe, willst Du dann mit mir kommen?«

»O Kind,« – und Martha kämpfte die innere Erregung nieder, daß sie das Kind nicht beunruhige – »über alles gern wollte ich mit Dir kommen; aber wer sagt Dir vom Sterben?«

»Rosine sagt, ihr kleiner Bruder sei auch einmal krank geworden und gestorben und in den Himmel gegangen. Willst Du dann mit mir gehen?«

»Sieh, mein Kind, wir können nicht sterben, wann wir wollen, nur wenn der liebe Gott uns ruft,« sagte die Mutter.

»So will ich dem lieben Gott sagen, wenn ich in den Himmel komme, er soll Dich bald rufen.«

Der Kleine lehnte sich matt an die Mutter, dann sagte er

»Wie ist Sterben, Mama? Was muß ich thun?«

»Lieber kleiner Willi,« antwortete sie, alle Kraft zusammenraffend, »Du thust Deine lieben Augen zu und schläfst ein, und ich halte Dein Händchen fest, bis der liebe Gott ein Engelein vom Himmel schickt, das nimmt Dich bei der Hand und führt Dich durch das Todesthal in den Himmel hinein, wo Du auch ein fröhliches Engelein wirst.«

»Mama, laß meine Hand nicht los, bis es kommt,« sagte Willi leise, »und wenn Du dann bald stirbst, so will ich das Engelein sein, das Dir der liebe Gott entgegenschickt, und ich führe Dich an der Hand durch das Thal in den Himmel hinein.«

Die Mutter koste den Kleinen und legte sein Köpfchen auf ihre Schulter; er schmiegte sich nahe an sie, dann sagte er kaum hörbar:

»Mama, ich bin müde, ich muß schlafen gehen – aber bet' auch noch!«

»Ja, Willi, ja, das will ich auch thun!«

Sie neigte ihr Gesicht auf das schlafende Kind – es hatte aufgehört zu atmen.

Nun brach Martha zusammen; aber sie hatte sich ergeben. Unter strömenden Thränen rief sie aus: »Ja, Herr, nimm ihn in Dein Himmelreich, so muß er nie das bittere Leid der Erde schmecken!« Schon fiel das Abendlicht durch die Fenster herein, und noch kniete Martha am Bettchen; sie konnte ihren kleinen Willi nicht aus dem Arm legen. Noch hielt sie das kalte Händchen fest, als hatte sie das Kind noch zu begleiten. Aber es mußte sein. Sie durfte auch wohl die kleinen Hände aus den ihrigen legen und in einander falten, sie wußte ja, ein besserer Führer hatte sie erfaßt.

Bei der Kirche hinter dem Fichtengehölz wurde Willi in die Erde gelegt. Weiße Rosen bedeckten bald den ganzen kleinen Grabhügel.


Noch in denselben Tagen schrieb Martha unter heißen Thränen, aus den Tiefen ihres Herzens heraus, an ihren alten Vater:

»Vater, ich habe gesündigt im Himmel und vor Dir, und bin hinfort nicht mehr wert, Dein Kind zu heißen.«

Aber reichlicher noch als beim Schreiben dieser Worte weinte Martha, als sie die Antwort ihrer Eltern darauf las, diese Worte voll alles vergessender Liebe, voll laut dankender Freude über das wiedergefundene Kind.

Daß die ernst mahnenden Worte des Vaters, nun stille zu halten in willigem Gehorsam und aus der Hand Gottes anzunehmen, auch was ihr Schweres durch Menschenhand auferlegt würde, aus derselben Liebe und Fürsorge für sie hervorgingen, verstand Martha ja so gut und nahm die Worte auch wohl zu Herzen.

Sie beugte sich und nahm willig an, was ihrer thatkräftigen Natur am schwersten zu ertragen war und sie tief demütigte, daß der Mann an ihrer Seite immer mehr versteinerte. Sein Inneres schien erstorben zu sein für jedes Interesse, das der Menschen Herz bewegen kann. Nur ein Gedanke schien ihn zu erfüllen, wie er sein wohl gehütetes Haus vor aller Berührung mit der Außenwelt bewahre. So krankhaft hatte sich seine Abneigung vor aller Bewegung des Lebens gesteigert, daß ihm die leiseste Veränderung im Hause unerträglich war.

Der Tod seines Kindes war ihm eine Störung, die er so schnell als möglich vorüber wünschte, daß alles in die alte Unbeweglichkeit zurückkehre. Es mochte wohl auch ein tieferes Gefühl noch der Unruhe zu Grunde liegen, mit der er suchte gleich alles wieder in den alten Geleisen zu sehen. Daß er lieber dem bemühenden Eindruck sich entzog, war wohl zu sehen.

Wenn jene Wurzel alles Bösen, das sich Festklammern am Besitz, einmal mächtig Grund gefaßt hat in einem Herzen, so erstickt sie ringsum alle Lebenskeime und führt zur Narrheit, die den ganzen Menschen lähmt und lebensunfähig macht. Wenn im tiefsten Innern dieses Mannes noch ein Lebensfunke schlummerte, so vermochte Gott allein ihn noch anzufachen, das wußte Martha und auch, daß sie es verdiente, ihre Ohnmacht demütigend zu erfahren. Ihr stilles Gebet ging täglich dahin, daß ihres Mannes Seele noch zum Leben erweckt werden möchte, wenn es auch vor ihren Augen verborgen bleiben sollte.

Martha war in ihrem innersten Wesen gebrochen, sie war nicht mehr, die sie gewesen; aber wo in ihr das alte zusammengefallen, da war ein neues Leben im Erstehen. Sie hatte ihre Bibel aufgehoben, da, wo sie der kleine Willi niedergelegt; sie hatte das Buch aufgemacht, und ihr Vater hatte wahr gesagt; o, wie gut konnte sie diese Worte gebrauchen!

Das tiefste Begehren ihrer Seele ging jetzt nach einem unvergänglichen Sein, nach einem Leben, das schon mitten im Erdenleben weit über die Erde und all' ihr Wesen hinausgeht.

Durstig suchte sie nach jedem Worte Dessen, der ihr sagen konnte: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.

Und Leben und Wahrheit kamen ihr entgegen aus jedem seiner Worte, die in ihr trauriges Herz fielen, erquickend, wie der Morgentau auf das verlangende Erdreich. Das alte Buch war ihr bester Besitz geworden, sie begriff nicht mehr, wie an ihren Ohren in früherer Zeit die Worte hatten ungehört vorbeigehen können, die sie immer wieder lesen mußte, so tief und schön klangen sie jetzt in ihre Seele:

»Wie sich ein Vater über seine Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, so ihn fürchten.

Denn Er kennet, was für ein Gemächte wir sind, Er gedenket daran, daß wir Staub sind.

Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem Felde.

Wenn der Wind darüber gehet, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr. Die Gnade aber des Herrn währet von Ewigkeit zu Ewigkeit über die, so ihn fürchten.«


Dreimal war der Frühling über den kleinen Grabhügel gezogen und hatte ihn grünen gemacht. Da wurde hart daneben ein großes Grab aufgethan, und Willis Vater hineingesenkt. Ein Hirnschlag hatte seinem Leben plötzlich ein Ende gemacht.

Es war die Zeit der jungen Saaten. Zu dem wohlgeordneten Garten stand noch einmal die staunende Rosine, denn sie verglich in ihrem Sinn die grünenden Beete mit dem verwilderten Gestrüpp, daß sie hier zuerst begrüßt hatte.

Der alte Felix nahte dem Garten; Rosine blieb in ihrer Betrachtung stehen; er kam zu ihr heran und stand still, ohne daß weit und breit irgend welche Arbeit da für ihn zu thun war. Das war nie vorgekommen in den zehn Jahren, die Rosine an dieser Stelle verlebt hatte. Der Alte stand und rückte seine Kappe auf dem Kopfe hin und her.

»Warum wollt Ihr nicht mit uns kommen, Felix?« begann Rosine, da der Alte das erste Wort nicht zu finden schien. »Die Frau hätte Euch gern mitgenommen, und Ihr solltet nur wissen, wie schön es bei uns ist!«

»Ich muß in den Boden hinein, auf dem ich achtzig Jahre herumgetreten bin,« versetzte er. »Aber Du kannst mir etwas verrichten.«

»Wenn ich Euch einen Gefallen thun kann, so freut's mich,« – und Rosine meinte, was sie sagte – »es ist der erste, um den Ihr mich fragt; sagt nur, was Ihr wünscht.«

»Ich hätte gern unserer Frau noch Dank gesagt; das Haus ist ein anderes geworden, seit sie hereingekommen ist,« sagte der Alte mit bewegter Stimme.

»Wollt Ihr, daß ich der Frau dies bestelle von Euch?« fragte Rosine.

»Ja, das hätte ich gern.«

»Das will ich auch gern thun. Und so will ich Euch noch danken, Felix. Ihr hättet wohl hier und da ein wenig freundlicher sein können, aber Ihr waret doch auch gar nie gehässig gegen mich.«

»Und Du nicht gegen mich.«

Und nun gaben sie sich die Hand, aber nur kurz. Der Alte kehrte sich um, er mußte seine Augen auswischen; auch Rosine trocknete die ihrigen. –

Die Sonne des milden Junitages war im Sinken; ihre letzten Strahlen schimmerten am Kirchendach, das die Schwalben friedlich umschwirrten, als Martha mit Rosine um die Ecke bog – da lag das alte Pfarrhaus im Abendschein. Sie traten in den Hof und durch das Pförtchen in den Garten hinein; die Rosenhecke stand in voller Blüte. Martha konnte nicht weiter; sie sank in ihre Kniee und barg ihr Angesicht in beide Hände. Aber schon war der alte Vater mit offenen Armen aus der Thür geeilt; er hob Martha auf und drückte sie an sein Herz. Dann führte der silberlockige Greis mit strahlendem Angesicht sein Kind der harrenden Mutter zu in die alte friedliche Heimat ein.

An diesem Abend hatte am festlich geschmückten Tische auch die treue Rosine ihren guten Platz. Immer wieder blickte sie nach ihrer Herrin hin, freudeglühend wie die Junirosen draußen an der Hecke, zu denen sie sich zurückgesehnt, mehr, als Martha je gewußt hatte.

Als der Abend zu Ende ging, öffnete der Greis mit fröhlichem Angesicht seine Bibel, und die um ihn saßen stimmten aus tiefer Seele ein in die Worte, die er las:

»Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes gethan hat. Der dir alle deine Sünde vergiebt und heilet alle deine Gebrechen,

Der dein Leben vom Verderben erlöset, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit.

Der deinen Mund fröhlich macht, und du wieder jung wirst, wie ein Adler.«

Unter dem grünen Kirchhofrasen schlafen sie schon alle Drei. Martha hat ihren greisen Eltern die treuen Augen zugedrückt; dann ist sie ihnen freudig nachgefolgt. Mit lautem Dank auf den Lippen ist sie von der Erde geschieden.

Kein Stein verkündet es, aber jedem, der Martha gekannt hat, tönen aus ihrem Grabe die Worte entgegen:

›Die mit Thränen säen, werden mit Freuden ernten.

Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.‹

Rosine ist eine wackere Frau geworden, die viel aus vergangenen Tagen zu erzählen weiß. Noch heute, wenn ihr ein blondgelocktes Büblein in den Weg läuft, kommt ihr das Wasser in die Augen; den kleinen Willi hat sie nie vergessen.

 


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