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Ein Contumazhaus

Schneegestöber fuhr über die Berge, im Thale war kaum fortzukommen. Die schmale Straße war zum Theil aufgewühlt, zum Theil verschüttet und verweht, abschüssig und glatt an vielen Stellen, die der Wintersturm kahl gefegt hatte. Trotz allen Unbilden der bösen und rauhen Witterung stolperten zwei Wanderer die Heerstraße entlang. Der Eine hielt ziemlich gemessenen Schritt, gebeugt unter ein schweres Felleisen; der Andere, ohne Gepäck, luftig und ärmlich gekleidet, hatte das Nachtquartier später verlassen, holte aber, schnelleren Schrittes, seinen Vordermann wohlgemuth ein. Die beiden Männer kannten sich nicht und stießen auf dem fremden Wege zusammen, wie Schneeflocken, die der wirbelnde Luftstrom von Süd und Nord zusammenjagt. »Guten Tag,« grüßte der jüngere, leichtfüßige Wanderer den schon bejahrten, schwerbeladenen Straßengefährten. »Schönen Dank, und gleichfalls,« versetzte der Begrüßte. Dann kam das Wetter im Gespräch an die Reihe, und endlich das »Woher?« und »Wohin?« An den Rhein wollten Beide: der Eine, weil er dort zu Hause war und seinen Kindern das in der Fremde ersparte Brod zu bringen hatte, der Andere, weil er dort Unterkommen und Glück zu finden hoffte. Ein ehrlicher Weber der Aeltere, der in fremdem Lande eine kleine Erbschaft geholt, ein vacirender Thunichtgut und Allerleimann der Jüngere, der in der fernen Fremde sein Bischen Erbtheil verthan und seine Hoffnung auf Gott und die Zeit gestellt. Bei ihm bedeutete aber Gott das Glück, und zwar nicht das bescheidene bürgerliche Glück, sondern die buhlerische Fortuna auf der unstäten, wildrollenden und zielermangelnden Kugel. Der Weber war dagegen ein hausbackener frommer Mann, dem eine Predigt das Höchste schien und die Obrigkeit das Nächste am lieben Herrgott. Dann kam erst die Familie, dann das Handwerk, und endlich zuletzt die eigene, an Entbehrung und Beschränkung gewöhnte Person.

»Wie weit noch bis zur Grenze?« fragte der Thunichtgut Conrad den frommen Leineweber, und dieser versetzte: »Drei Stunden noch durch Dick und Dünn, aber Gott wird uns auch bis dahin helfen.« – »Verdammtes Wetter! Es sollte kein Winter sein.« – »Der liebe Gott hat die Welt gemacht und Alles aufs Beste eingerichtet.« – »Nur meinen Beutel nicht, der immer leer ist, und nicht meinen Magen, der immer hungert, und nicht meine Kehle, die beständig durstet.« – »Arbeit und Gottesfurcht helfen zu Brod und Ehre.« – »Ich habe nicht sonderlich Lust an der Arbeit, guter Weber. Ein großer Herr ist an mir verdorben.« – »Gott wird Euch schon wieder auf die rechten Wege führen, lieber Conrad.« – »Das will ich erwarten, lieber Meister.« – »Ihr seyd noch jung, und Jugend hat nicht Tugend. So Ihr aber einst Euer eigenes Hauswesen führt, wird's schon anders lauten.« – »Gott sey Dank, daß ich keines habe. Das könnt' ich brauchen! Ich habe nur gern mit mir allein zu thun.« – »Ich möchte nicht allein stehen, lieber Conrad.« – »Und ich bin froh, daß ich nicht einmal mehr meine Eltern am Leben weiß. Der Vater brummte immerdar, die Mutter grämte mir jede Freude ab. Haben auch schlecht für mich gesorgt, und wenn ich einst glücklich werde, haben die Eltern gewiß keinen Theil daran. Jetzt leb' ich ganz ruhig in den Tag hinein, habe die bösen Lehrjahre überstanden, mich von der Conscription freigespielt, und sogar der Cholera ein Schnippchen geschlagen, weil ich früher ausriß, als sie mir auf den Hals kam.«

Da schlug der Weber die Augen dankbar und wohlgemuth zum trüben Schneehimmel auf, hielt stille, und faltete die Hände mit dankbarer Inbrunst. »Gott straft die sündige Menschheit hart und schwer,« sagte er aus vollem Herzen, »aber Preis und Dank dem Schöpfer, der sich meiner erbarmte und um meiner Frau und Kinder willen die Zuchtruthe an mir vorübergehen ließ!« – »Allen Respekt vor Eurem Dankgebet, lieber Meister, aber mein Grundsatz ist: weit davon ist gut für den Schuß. Man lebt nur einmal, und das Leben wird uns ohnehin so schwer gemacht, daß es überflüssig wäre, an einer so elenden Seuche dahin zu sterben. Lieber barfuß durch die Welt laufen, bis nach Stralsund, wo sie mit Brettern vernagelt seyn soll. Heute hier und morgen da, ubi bene ibi patria. Herrgott! Wie ich schon in der Welt herum patrouillirte! Ich habe alle Grenzen im römischen Reiche und außer demselben kennen gelernt, manche Rauferei mit Thorwächtern und Landjägern abgehalten, und oft mein ehrliches Wanderbuch verfälschen müssen, um nur mit der Polizei honnet auszukommen. Darum fürcht' ich mich auch vor keinem Grenzpfahl mehr und gehe bei einem jeden vorüber, als ob er mein eigener Thürpfosten wäre.«

Bei diesen Worten sahen die Wanderer in ihrer Nähe das Grenzhaus und suchten Beide vorsichtig und sorgsam nach ihren Pässen. Ein Gensdarm, der an der Straße herumvigilirte, citirte sie in die Zollstätte, durchspähte die Papiere und Gesundheitsatteste und sprach mit barschem Ton: »Die Papiere sind richtig, aber Ihr müßt Contumaz halten, so will es die allerhöchste Verordnung.«

Conrad zog ein langes befremdetes Gesicht, und der Weber verbeugte sich mit stiller Ergebung. »Wo befehlen Sie, daß wir eintreten?« fragte er den Gensdarmen demüthig, und dieser versetzte, nach einem unfern liegenden Hause deutend: »Ihr marschirt vor der Hand nach dem Wirthshause dort und wartet geduldig ab, bis die Contumaz von ihren dermaligen Gästen geräumt werde, sonst soll Euch …« – »Das Donnerwetter auf die Köpfe fahren!« ergänzte Conrad halblaut des Gensdarmen Rede und trollte sich murrend an der Seite seines Cameraden nach dem Wirthshause.


Die Kneipen an jeder Grenze sind Musterwirthschaften voll Schmutz, Unfreundlichkeit und Zerrüttung. Wo Zöllner, Orgelspieler und andere Sünder einkehren, zu jeglicher Stunde des Tages und der Nacht, kann's nicht wohl anders seyn. Zumal am engen Grenzpaß eines Gebirgslandes findet man obige Annehmlichkeiten doppelt und dreifach. Im Winter 1830 hatten solche Häuser ganz eigenes Glück, ganz absonderlichen Stern. Sie lagen vollgepfropft von allen Klassen der Gesellschaft, die in bunter Eintracht daselbst den Augenblick erwarteten, der ihnen den Eintritt ins Nachbarland erlauben würde. Daher fanden der Weber und sein Gefährte nur allzu viele Genossen ihres Schicksals zwischen den vier Pfählen der unappetitlichen Schenke versammelt. Da waren Kaufleute und Bänkelsänger, polnische Emigranten und wälsche Viehtreiber, zarte Damen und rohe Handwerksbursche, ruhige Geistliche und unruhige Gaukler, und Alle warteten auf Erlösung, und Alle schmiegten sich unter das rauhe Gesetz und die willkürlichen Ordonnanzen der fettglänzenden Wirthin, die wie eine scythische Königin unumschränkt waltete und herrschte, über den Reichen wie über den Bettler, über den Schwachen und den Starken. Alle Räume des unansehnlichen Gebäudes wimmelten von Zwangsgästen, und die Gräfin sah sich genöthigt, mit ihrer Dienerin den Winkel schwesterlich zu theilen, den die Haustyrannin ihr für vieles Geld und recht viele schöne Worte einzuräumen für gut befunden hatte. Die reputirlichen Leute saßen beisammen und gähnten, oder sprachen von dem beliebten Thema der Witterung und Cholera, oder spielten, um die Zeit zu betrügen; denn zu vernünftigem Gespräch war nirgends der Ort, die Gelegenheit, Will' und Laune vorhanden. Nur sprach sich öfter die allgemeine Stimmung in gewichtigen Verwünschungen aus, die bald deutsch, bald französisch, polnisch und englisch durcheinander wetterten, gleich dem brillantesten Kreuzfeuer. Kinder schrien dazwischen, Hunde bellten drein, die Wirthin schalt vom Morgen zum Abend, die Pferde schlugen sich im überfüllten Stall halb todt, und das nie ruhende Wurstmesser klapperte von früh bis spät wie ein unerträgliches Mühlrad durch den tobenden Lärm. Die gemeinen Leute fanden sich natürlich am besten in den Spektakel, aber auch in ihrer Stube, auf ihrer Streu trieben sich Flüche und Klagen in Menge durcheinander. Den Reichen fehlte es nur an Geduld, die Zeit der Trübsal auszuhalten, den Uebrigen mangelte es aber größtentheils an Geld.

Der Leineweber erkaufte sich ein stilles Plätzchen hinter dem glühenden Ofen, wo die nassen Mäntel und durchgeweichten Pferdedecken aufgehangen waren, trank seinen Krug Bier, speiste die unvermeidliche Wurst, das einzige Nahrungsmittel, das immer zur Hand war, dachte seiner lieben Kinderlein und las im Gesangbuch, das er stets bei sich führte. Conrads Platz war dagegen allenthalben, er übte seine Industrie auf mannichfache Weise, amüsirte die Honoratioren der Schenke mit der Kunst, die er innehatte, aus einem Bogen Papier vierzigerlei Figuren zu falten, sammelte für die erbärmliche Gaukelei ein paar Groschen des Mitleids, betrog hin und wieder einen ehrlichen Landmann um ein Glas Branntwein, um eine Pfeife schlechten Tabaks und theilte mit dem gutmüthigen Weber dessen Mahlzeiten, gerade als ob es so seyn müßte. Gottfried, der Weber, hatte schon einmal auf der Hinreise dieses Wirthshaus besucht und sagte zu der Wirthin in zutraulichem Tone: »Wie war es doch anders, als ich vor ein paar Monaten hier übernachtete. Dazumal glaubten wir nicht, daß uns diese böse Krankheit so viele Molesten machen würde. Ihr wißt ja kaum, liebe Frau, wo Euch der Kopf steht vor dem vielen Volke.«

Da warf die dicke Frau das Haupt stolz in die Höhe und versetzte ziemlich ungeschliffen: »Hm, es passirt wohl noch. Es können Alle froh seyn, die bei mir einkehren. Sie bekommen's überall schlechter, als hier. Wem's nicht gefällt, der kann im freien Felde schlafen. Ich habe Euch Alle zusammen nicht gerufen, kann schon leben ohne all das Volk. Ihr bezahlt mir aber die fünf und vierzig Kreuzer, die Ihr heute mit Eurem Kameraden verzehrt habt, denn ich schreibe nicht auf. Da hätte ich viel zu thun, wenn ich Allen nachlaufen wollte.«

Gottfried bezahlte ohne Widerrede und sagte sehr gutmüthig: »Seyd nur nicht böse, ich will Euch gewiß nicht lange zur Last fallen, denn sobald das Contumazhaus nur wieder leer ist …«

»Da könnt Ihr noch ein Weilchen warten. Die Leute haben noch fünf Tage zu sitzen, und in der Barake ist für keine Maus mehr Platz. Alsdann werdet Ihr Jesum Christum erst erkennen lernen. Hier seyd Ihr in Abrahams Schooß, aber dort habt Ihr vierzehn Tage Fegfeuer auszuhalten.«

Dem armen Gottfried fiel der Muth außerordentlich, und er seufzte vor sich hin: »Fünf und vierzehn machen neunzehn Tage, und längstens in acht Tagen hoffte ich bei den Meinigen zu seyn! Das ist hart!«

»Räsonnir' Er nicht,« schnurrte ein Zollgardist, der in der Nähe seinen Kümmel schluckte. »Es ist einmal so befohlen, und ist nur seine Schuld, daß Er von einer verdächtigen Seite herkommt.«

»Nun, nun, ich bin ja schon zufrieden,« antwortete der Weber leise, obgleich mit Thränen in den Augen, »man muß ja der Obrigkeit gehorchen; es wird schon vorübergehen.«

»Denk's auch; wenn wir und andere vornehme Leute es uns gefallen lassen, wird ein Mensch wie Er ein Auge zudrücken können. Nur nicht räsonnirt, der Herr Commandant vom Cordon ist verzweifelt strenge und macht nicht viel Federlesens.«


Gottfried schlummerte und träumte von der Heimath, als sich plötzlich Jemand neben ihn auf die Ofenbank warf und ihn somit aufweckte. Conrad war's, der von einem Gelage kam, das er mit einigen unsaubern Gesellen in irgend einem Winkel gehalten. Er flüsterte dem Weber zu: »Schnarcht doch nicht so unanständig, wie die übrigen Kerle, die in der Stube umherliegen, wie das liebe Vieh, und laßt Euch etwas Vernünftiges sagen. Ich bin Euer Freund geworden und will Euch daher etwas vertrauen, das für Euch von großer Wichtigkeit ist. Ich kann's unmöglich hier aushalten, und wenn ich an die vierzehn Tage denke, die wir noch in dem Zuchthause drüben verseufzen sollen, so wird mir ganz schlimm. Ich geh' morgen Nacht fort. Es waren ein paar ehrliche Bursche aus dem Gebirge hier, die sich öfters den Spaß machen, Zucker, Kaffee und Tabak herüberzubringen, ohne die Mauthner zu fragen. Die braven Leute kümmern sich weder um Paß, noch um Contumaz, und schlugen mir vor, um die Zeit nicht unbenützt zu verschlummern, eine Patrouille mit ihnen zu machen. Bin ich erst im flachen Lande, so helf' ich mir schon ordentlich fort bis an den Rhein, und Ihr sollt mit von der Partie seyn, wenn Ihr Eure Kinder recht lieb und ein Bischen Courage im Leib habt.« – Gottfried überlegte eine kleine Weile, und sagte dann, obschon mit wehmüthigem Herzen: »Das geht nicht, guter Freund. Was Ihr mir vorschlagt, ist ja verboten, und würde mir wenig Glück bringen, denn die Obrigkeit ist von Gott eingesetzt, und ein rechtschaffener Mann muß ihr folgen. Bedenkt auch Ihr, was Ihr thut. Wenn man Euch erwischt und ins Zuchthaus setzt, oder wenn ein Cordonist Euch auf den Pelz schießt, was habt Ihr dann davon?« – »Ei was! Schießt mich Einer nieder, so hat die arme Seele mit einem Male Ruh', und führt man mich ins Zuchthaus, so hab' ich noch immer Hoffnung, wieder auszureißen, und endlich muß ein ehrlicher Kerl doch etwas wagen. Ich würde ja hier verhungern, denn Ihr seht mir gar nicht aus, als ob Ihr mich zwanzig Tage lang freihalten würdet. Um zu leben, muß ich frei seyn; ich bin nicht gemacht, um in einer Contumaz zu versauern. Seyd auch meinetwegen unbesorgt, und wenn Ihr mir etwas aufzutragen habt, so thut's bei Zeiten. Morgen mit Einbruch der Nacht geh' ich durch.«

Sie schliefen Beide ein, und der folgende Tag verging wie der erste. Wie es dunkelte, näherte sich Conrad noch einmal dem auf seinem Lager hingestreckten Weber und wiederholte seine Vorschläge. Abermals schüttelte Gottfried den Kopf und sagte nur: »Geht nur allein, und Gott beschütz' Euch. So Ihr an den Rhein kommt und an meinem Städtlein vorüber, so grüßt Weib und Kind von mir und kündigt meine nahe Rückkehr an. Damit Ihr jedoch Lust gewinnt, dieses zu thun, so nehmt von mir ein kleines Reisegeld.«

Als der Weber das lederne Beutelchen hervorzog, worinnen er wenige Thaler und Scheidemünze, zur Zehrung bestimmt, aufbewahrte, und darinnen nach einem Geldstück suchte, sagte Conrad mit einiger Rührung zu ihm: »Laßt nur das Geld stecken, lieber Meister. Ich habe schon so viel, als ich brauche. Euer Beutelchen wird Euch schon noch zu Gute kommen. Schlaft ruhig, ich will die Eurigen schon in Eurem Namen grüßen. Weil aber noch nicht Alles im Hause schläft, leg' ich mich noch ein Weilchen neben Euch, bis die wackeren Cameraden kommen, mich abzuholen.«

Er duckte sich stille auf das Stroh, Gottfried verrichtete sein Nachtgebet, und als die Wirthin kam, das Licht auszulöschen, und Alle in der Stube schliefen, schlummerte auch der Weber ein und träumte wieder von der Heimath und wachte erst spät auf und sah, daß Conrad in der That Abschied genommen. Nach einigen Minuten bemerkte er aber zugleich, daß sein Felleisen verschwunden war und mit demselben seine ganze Habe an Geld und Kleidungsstücken. Er weinte bitterlich bei dem Verlust und klagte so herzzerschneidend, daß selbst die gefühllose Wirthin ihm ein Wort des Mitleids schenkte. Besser tröstete ihn jedoch seine Frömmigkeit und sein Gottvertrauen. »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen«, sagte er zu sich selbst und trocknete seine Thränen und fand wieder neuen Muth. Er dankte sogar dem schnöden Diebe, daß er ihm nur das Beutelchen gelassen, welches den letzten Rest seines kleinen Schatzes enthielt.


Am düstern Frühmorgen – ein paar Tage waren verflossen – trat ein Gensdarm in die Schenke und forderte die ganze Versammlung von ehrenwerthen Gästen auf, ihm nach dem Contumazhause zu folgen. Ein Jeder nahm sein Bett oder sein Bündel auf sich und trat nach vollendeter Ueberzählung in die Fußstapfen des vorangehenden Führers. Weichliche Damen am Arm ihrer Ehrenritter oder Kammerfrauen, grobe Bäuerinnen und Bettelweiber mit halb erfrorenen aufgedunsenen Kindern auf dem Rücken, des niedern Trosses lautlose und verdutzte Schaar, gleiteten unsicheren Fußes über das Glatteis der Straße, über den Schnee des Feldes den kleinen Hügel hinan, wo das Pestgebäude stand. Der Zug glich nicht wenig einem Leichenconduct, der Himmel hing seinen Trauerflor darüber, und die Bajonnette einiger daneben schreitenden Cordonssoldaten glimmten durch den finstern Wintermorgen gleich erlöschenden Grabfackeln. In dem Augenblick, als die Spitze der Colonne an die Pforte der Contumaz gelangte, verließ der Schweif der abziehenden Gefangenencolonne das Haus und wälzte sich nach der Heerstraße. Die Erlösten waren fröhlichen Muthes und drängten sich, Wagen an Wagen, Pferd an Pferd, die Fußgänger in dichten Haufen, ins Freie. Sie lachten, sie schäkerten, sie sangen, die Glücklichen. Selbst die Verwünschungen, die sie noch der Contumaz zurückließen, klangen humoristisch und burlesk; sie brachten der Cholera und den Sanitätscommissionen aller Länder ein muthwilliges Pereat. Die Einziehenden hätten dagegen gar zu gerne ein Libera, ein De profundis geheult. Die Pforte ihres Bagno stand offen und der ganze Umkreis des Gebäudes schien mit unzähligen Lücken versehen, indem der Sturm verwichener Nächte bald hier, bald dort einen Theil der leicht aufgeschlagenen Barake eingeriffen, hie und da das kümmerliche Schindeldach abgehoben. Der arme Weber Gottfried war einen Augenblick versucht, das ihm so heilige Gesetz zu übertreten und sich in die Reihen der abziehenden Contumazpfleglinge zu detaschiren, aber ein rauhes »Zurück« eines aufmerksamen Cordonisten, wie ein damit verbundener Kolbenstoß trieb ihn plötzlich wieder in den Kreis seiner Pflichten. »Mir geschieht Recht«, sagte er zu sich selbst. »Die Strafe folgt dem Vergehen auf dem Fuße.«

Indessen erscholl ein gebieterisches »Halt!« Der Zug stockte, er stellte sich in Reih' und Glied, und heran kam auf bereiftem Pferde der Militärcommandant der Station, ein langgedienter Secondelieutenant, der die Inspection der Fremdlinge vorzunehmen hatte. Er hielt sich immer fünfzehn Schritte von der Schaar und roch beständig an einem in Räucheressig getauchten Schnupftuch: eine Maßregel, die gewaltig mit dem ungeheuren Schnurrbart contrastirte, der über seine Lippen hing. Ein warmer Mantel deckte seine Schultern, die Ohren hatte er gegen die Kälte mit einem schwarzseidenen Tuche verwahrt und darüber das Sturmband seiner Mütze geknüpft. Seine Worte klangen rauh und gebieterisch; es machte ihm Freude, sich durch ein Tyrannenstündchen für die Langeweile zu entschädigen, die ihm der Cordondienst bereitete. Die Fleischtöpfe der Garnison lagen ja weit hinter ihm und seine Dame tanzte ja mit einem Andern aus den Bällen der Residenz. Er publicirte das strengste Reglement und bedrohte kurz und gut einen jeden Choleraverdächtigen mit dem Erschießen, wenn derselbe wagen würde, die Contumaz heimlich zu verlassen. Dieser Empfang war für die Reisenden schon ominös, aber ihre Angst stieg, als sie endlich in den ungeheuerlichen Chlordampf getrieben wurden, der schon unter der Pforte des Zwanghauses ihnen entgegenqualmte. Eine Räucherung der gräßlichsten Art wurde mit ihnen sammt und sonders vorgenommen; in wenig Minuten stank das Gepäck pestialisch, nicht ausgenommen die zarten Schleierflore und köstlichen Shawls der Damen, welche obendrein von plötzlicher quälender Engbrüstigkeit befallen wurden. Die armen Schönen, die in ihrer Heimath nur die feinsten Wohlgerüche athmeten, sahen sich hier im Nu in der unvermeidlichsten Atmosphäre, die nur der grausamste Chemiker erfinden konnte, um seine zart organisirten Mitmenschen zu quälen. Ein Nebel von Chlor, Essigdunst, Tabakswolken jeglicher Art und Gattung, Ofenrauch und dergleichen schwamm über dem verhängnißvollen Hause. Zusammengepfercht in ein paar elende Gemächer – die übrigen Theile des Hauses waren von den Elementen ruinirt – brachen die Unglücklichen in namenlosen Jammer aus und fragten sich gegenseitig, was sie denn verbrochen, daß man sie so behandle. Bajonnette vor den Thüren, ekelhafte Gemeinschaft und Berührung mit dem Gesindel, erbärmliche Lagerstätten und rohe Contumazdiener … was fehlte noch zu einer Galeerenkeuche? Gerade nur die Fesseln.

Der Director der Anstalt überzählte seine Leute abermals wie eine Schafheerde, der Arzt, dem man das Mißvergnügen auf der Stirne ansah, stellte brutal seine Fragen, fühlte mit abgewandtem Gesichte den Puls seiner Zwangsclienten und verordnete die nöthige von der Commission beliebte Diät. Ach, sie war leicht zu halten. Die mitgebrachten Nahrungsmittel waren verdorben durch des Chlors Pestillenz, und der Knecht des Hauses, der die Verköstigung desselben zu besorgen hatte, verschaffte den Hungrigen für das theuerste Geld so wenig als möglich. Da sah man vornehme Leute, die dem Bengel den Hof machen mußten, um nur eine Tasse Kaffee zu erhalten, welche dem Lieferanten für vierundzwanzig Kreuzer noch zu wohlfeil bezahlt schien, so schlecht sie auch bereitet war. Da sah man Mütter, die halbe Tage lang für ihre Kinder um ein bischen Suppe, um ein wenig Milch supplicirten. Ein Stück Fleisch wurde oft Tage lang erwartet, eine Pfeife Tabak im unmäßigsten Preis gehalten. Keine Klagen halfen, keine Beschwerde wurde beachtet. Man mußte froh seyn, wenn der Director dabei nur die Achseln zuckte und nicht in Schimpf und Drohungen ausbrach. – So wimmelte die Pesthütte, von allen Seiten dem Frost und der Nässe preisgegeben, von einem Haufen armseliger Menschen, die sich nie hätten träumen lassen, daß sie in eine so verzweifelte Lage gerathen würden.


Es war noch Niemand in dem Hause krank geworden, ein Wunder ohne Zweifel. Wer aber die Sehnsucht und das Heimweh so recht tief und schmerzlich im Busen trägt und noch obendrein von Mangel und Haft darniedergedrückt ist, sieht sich leicht einem Krankheitssturme unterworfen. Der arme Weber Gottfried war in diesem Falle. Nachdem er mehrere Tage dem Mißgeschick, das ihn betroffen, mit gläubiger Zuversicht widerstanden, fand man ihn plötzlich in einem Winkel todesmatt und ohne Besinnung. Ein glühendes Fieber kochte in seiner Brust, während der Frost seine Glieder starr machte. »Die Cholera!« schrie der entmenschte Wärter, der ihn in diesem trostlosen Zustande fand. »Die Cholera!« jammerten entsetzt alle Genossen des Unglücklichen. Der herbeigerufene Arzt zog ein bedächtiges geheimnißvolles Gesicht und verordnete einen Platzregen von Kampferspiritus. Dieser gab dem Kranken den Rest, und er schien sterbend, als man ihn in den Korb warf und in die entlegenste Spelunke des Nothstalls schaffte. Eine Empörung drohte unter den Contumazisten loszubrechen, die nun von nichts Anderem, als von der greulichsten Ansteckung träumten und mit Ungestüm ihre Freilassung forderten, sich dem sichern Tode zu entziehen. Mit Waffengewalt wurde die Rebellion unterdrückt, wurden die Cholerasträflinge immer enger eingesperrt, obgleich auf der Heerstraße zahllos einander jagende Couriere ungehindert passirten, mancher reisende Stabsoffizier durch den Zauber seines Rangs von dem Stationscommandanten Weiterreise erzwang, und ganze Banden von pfiffigen Schleichhändlern durch die Cordonslinie schlüpften.


Auch Conrad war unter den Letzteren, wie bekannt, und sein Wagestück glückte vollkommen. Von seinen Freunden, den Contrebandiers getrennt, das gestohlene Felleisen auf dem Rücken, schlug er dem Cordon und der Contumaz ein Schnippchen und brachte sich getrost, vermittelst Geld und Unverschämtheit, bis an die Ufer des Rheins. Durch das nassauische Land dahinschlendernd, gerieth er an einem hübschen Morgen in die Heimath des armen Gottfried, und, hatte er sich gleich kein Gewissen daraus gemacht, dem Weber das Seinige zu entwenden, so hätte er doch nicht übers Herz bringen können, der Familie desselben den aufgetragenen Gruß nicht auszurichten. Somit klopfte er an die Thüre von Gottfrieds Hütte und rief mit dem unbefangensten Gesichte dem bekümmerten Weibe und den verwaisten Kindern zu: »Seyd munter und wohlauf, Ihr guten Leute. Der Vater läßt Euch grüßen, und wird bei Euch seyn, ehe der Monat zu Ende geht!« – Dann wanderte er fort, als hätte er alle seine Sünden gut gemacht, verspielte und verschlemmte des armen Webers Erbschaft und wurde, neuerdings ein Bettler, belgischer Soldat.

In des Webers Hütte war große Freude, himmlische Hoffnung. Die Frau schmückte sich, die Kinder putzten sich, Kuchen wurde gebacken, Wein herbeigeschafft, wie nur an den Festtagen. So warteten die Armen, geschmückt und sehnsuchtsvoll, von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag, von Woche zu Woche … Der Vater kam aber nimmermehr heim.

 

Ende des ersten Bandes.

 


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