Heinrich Spiero
Lebensmächte
Heinrich Spiero

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Die Schwester

Zu ebener Erde im vorletzten Hause auf der Königstraße wohnten seit zwanzig Jahren die Schwestern Marie und Ottilie Schönwiese. An jedem Tage mit erträglicher Witterung betraten die beiden Damen zur gleichen frühen Nachmittagsstunde die Straße und gingen einen Tag um den andern entweder nach der Stadt hinein über die Schloßteichbrücke bis auf den Königsgarten, machten dort einen Rundgang und kehrten auf einem andern Wege wieder zurück, oder sie gingen durch das Tor aus der Stadt hinaus, durch das Festungsglacis bis zu einem alten Wirtsgarten, wo sie Kaffee tranken und den mitgebrachten Kuchen verzehrten. Am Sonntag fand der Spaziergang schon vormittags statt und endete auf dem Garnisonkirchhof, wo den Gräbern der Eltern ein bescheidener Blumenschmuck, je nach der Jahreszeit Astern, Heidekraut oder Rosen, gespendet wurde.

Dieser regelmäßige und in seinen Zielen fest begrenzte Verkehr aus der Enge des Hauses in die Öffentlichkeit der Stadt war den Nachbarn, ja, darüber hinaus vielen Bewohnern des Ortes schon zu einer Art Zeitmesser geworden; wenn die beiden alten Damen mit ihren weißen Locken links und rechts der Stirn, mit ihren Schulterkragen, im Sommer aus schwarzem Serge, im Winter aus braunem Pelz, die Schloßteichbrücke überschritten, sagte sich mancher, ohne erst die Uhr zu ziehen: jetzt ist es viertel vier, und wenn sie am nächsten Tage wiederum in den kühlen Bogen des Königstors traten, wußte der Posten, daß er noch genau eine Stunde zu stehen hatte, weil es eben drei Uhr war. Dieser schon zum Mechanismus gewordene Gleichklang des äußern Daseins war nur der letzte Zeigergang eines seit zwei Menschenaltern mit 82 ähnlicher Genauigkeit abgesponnenen Lebens. Vor sechzig Jahren hatten die beiden jungen Waisen, die kaum ein Jahr im Alter unterschieden waren, die Eltern verloren, der Vater war durch einen Unglücksfall im Manöver gestorben, die Mutter, zart und anfällig, durch den Schreck heftig erkrankt und ihm rasch gefolgt. Was der Staat den jungen Damen zu bieten hatte, war wenig, auch als die Gnade des Königs in Anbetracht des besonderen Falles das wenige verdoppelte. Einen Beruf hatten beide, der Gewohnheit ihrer Zeit gemäß, nicht ergriffen, besaßen auch, da der Vater aus einem ganz andern Teil des Landes hierher versetzt gewesen war, keinen Anhalt an Verwandte. Aber über all das kamen sie merkwürdig schnell hinweg, oder vielmehr die eine Schwester riß die andre mit in die Höhe. Marie, die Ältere, hatte nur Tränen und verzweifelte Klagen, Ottilie, die Jüngere, hatte sich nach den ersten Wochen rasch gefaßt und binnen wenigen Monaten aus sich und der Schwester zwei eifrig strebende Seminaristinnen gemacht, die alsbald nach dem Bestehen der nötigen Prüfungen einen eignen Schulzirkel eröffneten. Nun kam ihnen die soziale Stellung des Vaters und sein unerwartetes unglückliches Ende zu statten: den Majorstöchtern vertrauten hohe Offiziere, große Besitzer aus der Provinz, Beamte, wohlhabende Kaufleute ihre Töchter gern an, und jeder mühte sich, ihr karges Leben für den jähen Verlust der Eltern durch Zuweisung von Schülern und durch gesellschaftliche Rücksichten zu entschädigen.

Ganz wie von selbst war in diesem neuen Leben Ottilie die Führung zugefallen, die Jüngere war die Vorsteherin der kleinen Anstalt, die Ältere ihre erste Lehrerin, zu der dann nur noch ein oder zwei andere Kräfte traten. Immer 83 lag in allen Fragen, pädagogischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, die Entscheidung bei Ottilie, und man gewöhnte sich mit der Zeit an Maries stete Antwort in solchen Fällen: »Bitte, fragen Sie meine Schwester.«

Die Schule war inzwischen geschlossen worden, sie hatte den Schwestern so viel eingebracht, daß die Rücklagen für ein ruhiges Leben ohne Amt reichten, sie hatte ihnen zugleich in vierzig Jahren einen großen Kreis von Menschen geschaffen, die den ehemaligen Lehrerinnen oder den ehemaligen Erzieherinnen der Kinder verbunden blieben. Die Schwestern Schönwiese waren in ihrem bescheidenen Stübchen durchaus, wenn nicht eine gesellschaftliche Macht, so doch eine gesellschaftliche Station, an der man in der Stadt nicht gut vorbei konnte und zu der mehr oder minder jeder irgend eine Beziehung unterhielt. Oft und oft hielten die Wagen der Rittergutsbesitzer aus der Umgegend vor dem Tor des Hauses, und elegante Damen besuchten die beiden Greisinnen oder stellten den ehemaligen Lehrerinnen die herangewachsenen Töchter, die heranwachsenden Enkelkinder vor. Und immer war auch jetzt noch Ottilie das Haupt des Hauses, sie bestimmte, sie leitete, ohne daß doch je eine Mißstimmung, ein unangenehmes Übergewicht fühlbar geworden, ja, ohne daß es im mindesten vorhanden gewesen wäre.

An einem warmen Spätherbsttage hatten die Schwestern den Tor-Spaziergang unternommen und kehrten nun von Fliedermühle, wo sie Kaffee getrunken hatten, nach Hause zurück. Im Festungsgraben lag viel gelbes Laub, die Wege im Glacis waren bunt, Altweibersommer spann sich von Baum zu Baum, und durch die schwere Luft, die warm und feucht war, klang matt die Glocke der Pferdebahn 84 und das Rädergeknarr eines Lastwagens. Ottilie stützte sich stärker als sonst auf ihren Schirm und atmete lauter, plötzlich blieb sie stehen und sagte zu Marie:

»Mich schwindelt.«

Marie, besorgt, stützte die Schwester und führte sie bis zu einer Bank. Mit leisen Fragen suchte sie herauszubekommen, ob Ottilie Schmerzen hätte; diese verneinte, raffte sich plötzlich auf und ging mit gewohnten, energischen Schritten weiter. Marie folgte, schon wieder halb beruhigt, und wirklich konnte Ottilie den Weg bis nach Hause zurücklegen, kam aber eben gerade nur bis ins Zimmer und fiel hier bewußtlos in einen Sessel.

Marie, völlig verwirrt, eilte ängstlich hin und her, bis Ottilie, halb wieder zu sich gekommen, ihr das Wort »Doktor« zuflüsterte.

Das Mädchen wurde nach dem Arzt geschickt, und dieser stellte fest, daß keine besondere Erkrankung vorläge, nur eine große Schwäche, die in solchen herbstlichen Übergangstagen immerhin beachtet werden müsse. Er empfahl Bettruhe und einige unverfängliche Mittel.

Marie begleitete den Arzt hinaus, und draußen faßte der Geheimrat, der nicht viel jünger war als sie, ihre Hand und sagte:

»Fräulein Schönwiese, nehmen Sie die Schwester sehr in acht, seien Sie recht vorsichtig, der Zustand ist recht ernst.«

Marie sanken die Arme am Leibe herab, der Arzt merkte im Halbdunkel der Flur ihre Erschütterung nicht und war im nächsten Augenblick im Garten verschwunden. Erst als sie seinen Wagen rollen hörte, raffte Marie sich auf und ging ins Schlafzimmer zurück. Hier fand sie Ottilie, 85 die eben noch ziemlich teilnahmlos im Bett gelegen hatte, aufrecht sitzen, mit leicht flackernden, aber klaren Augen.

»Marie, komm' einmal heran!«

Das war ganz die energische, klare, ruhige Stimme der Schulvorsteherin gegenüber der ersten Kollegin. Marie wurde schon wieder mutiger.

»Setz' dich hier her.«

Marie saß.

»Geheimrat Schieferdecker hat dir wohl gesagt, wie es mit mir steht. Es geht zu Ende, ich weiß es. Wir wollen überlegen, was noch zu tun bleibt«

Ohne Fassung starrte Marie die Schwester an:

»Überlegen?« kam es langsam aus ihr heraus.

Es zuckte in dem kleinen, alten Gesicht, die großen, schneeweißen Locken links und rechts zitterten, und eine große Träne fiel auf die welken Hände, die sich suchend im Schoß bewegten.

»Aber Marie, klang es vom Bett weich, beruhigend, ich bin achtzig Jahre, da muß man doch zum Gehen bereit sein. Daß eine von uns vor der andern sterben müsse, das haben wir uns doch immer denken können und denken müssen.«

»Aber du vor mir,« war die einzige Antwort, »du vor mir!«

Es gelang Ottilie nicht, die Schwester so rasch zu beruhigen, und erst als die bestellten Arzneimittel kamen und Marie die Kranke bedienen mußte, fand die Gesunde ein wenig Gleichmut.

Der Abend brach herein, das Mädchen brachte die alte Öllampe mit dem grünen Schirm. Ottilie rief ihre Schwester wieder an ihr Bett, hieß sie die Lampe auf den 86 Tisch dicht neben ihrem Lager stellen und fing nun ganz ruhig wieder an:

»Sieh' mal, Marie, ich bin jetzt viel schwächer noch als am Nachmittag. Wir müssen einmal mit aller Vernunft und Ruhe überlegen, was nun zu tun ist.«

Und sie begann der Schwester, die still und wie in ein unbekanntes Geschick ergeben, dasaß, auseinanderzusetzen, was sie nach ihrem Tode tun sollte. Sie erinnerte daran, wo das Versicherungspapier der Sterbekasse lag, daß sie zum Standesamt und zur Polizei schicken müsse, daß der Platz für das Grab neben den Eltern bereits gekauft war; sie sprach von dem Geistlichen, der ihr die Trauerrede halten sollte, von einem kleinen Legat, das sie ihrer ehemaligen Schuldienerin ausgesetzt hatte, und von solchen Verfügungen mehr.

Immer ruhiger, sachlicher war unterdem Marie geworden. Wie sie einst als Beamtin ihrer Schwester gewohnt gewesen war, Anweisungen entgegenzunehmen und zu befolgen, so geschah es auch jetzt. Und erst als der Aufgaben immer mehr wurden, als dahinter immer bedrohlicher die Vorstellung emporwuchs, binnen kurzem ganz allein, ungestützt dazustehen, überfiel es Marie von neuem mit ungewissem Bangen.

Schließlich war nur noch eins nicht besprochen: die Todesanzeige. Ottilie wünschte, daß nicht nur in den Zeitungen eine solche erschiene, sondern daß ihren Freunden, ehemaligen Schülerinnen und Bekannten innerhalb und außerhalb der Stadt auch unmittelbar die Nachricht zugehen sollte.

Sie erörterten hin und her, wer eine Anzeige bekommen sollte, aber schließlich sprang Marie auf, rang die 87 Hände und, wie denn so oft nicht der große Schmerz, sondern erst einer seiner kleinen Begleiter uns im Tiefsten trifft, gebärdete sie sich gegenüber dieser Pflicht völlig ohne Fassung.

Da kam es über die greise Kranke wie ein letztes Lächeln. Wieder rief sie die Schwester zu sich und sagte:

»Marie, geh einmal in das Papiergeschäft an der Ecke und kaufe zweihundert Briefumschläge mit Trauerrand.«

Ohne zu fragen, wie seit sechzig Jahren, gehorchte die Schwester und kam nach einigen Minuten mit dem Paket zurück. Ottilie ließ sie Tinte und Feder holen, hieß sie am Tisch niedersitzen, und nun diktierte sie ihr Kuvert für Kuvert die Namen und Adressen aller derer, denen ihre eigne Todesanzeige nach wenigen Tagen, wie sie meinte, ins Haus fliegen sollte. Hin und her wurde bei dem einen und dem andern Namen überlegt, dieser verworfen, jener hinzugefügt, schließlich war die Reihe fertig, nur ein Umschlag übrig.

Ottilie atmete auf, als ob sie ein großes Werk vollbracht hätte, und ohne zu sprechen, saßen beim matten Schein der Lampe die beiden alten Damen mit den einander so ähnlichen Gesichtern sich gegenüber und zwischen ihnen türmten sich die dunkel gerandeten Papiere.

Es schlug neun. Ottilie war eingeschlummert, Marie erhob sich fröstelnd.

Der Bann war gebrochen, Ottilie schlief, ihr Wort konnte nicht mehr beruhigend, lenkend auf die Schwester wirken. Die sah jetzt nur den Haufen Trauerpapier vor sich, wie die Ankündigung des Furchtbaren, das ihr bevorstand, der Einsamkeit und Selbständigkeit, die ihr, der 88 Unselbständigen, ein unabwägbar schwerer Gedanke war. Sie nahm das leere Kuvert und ging aus der Stube.

Am andern Morgen fühlte Ottilie sich frischer, es schien ihr, als ob die Krankheit vorübergegangen sei. Sie rief nach Marie. Keine Antwort. Sie ging an ihr Bett. Da lag die Schwester, mit sorgfältig frisiertem Haar, in Ruhe, mit einem letzten Lächeln auf den Lippen, tot da. Auf der weißen Decke vor ihr lag das letzte der zweihundert Trauerkuverts. Mit festen Zügen hatte sie darauf geschrieben:

»Sei mir nicht böse, Ottilie, ich kann dich nicht überleben. Marie.«



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