Heinrich Spiero
Lebensmächte
Heinrich Spiero

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Die Richter

Na, Kollege, heute ist Sedan, da wollen wir Schluß machen,« sagte der Amtsrichter Sonntag zu seinem Referendar, klappte die Schiedsmannsprotokolle, bei deren Prüfung er war, zu, griff nach Hut und Stock und verließ mit dem andern das kühle Amtszimmer. Sie schritten die Treppe hinab. Unten stand der Gerichtsdiener, zu Ehren des Tages mit zwei Medaillen und der Dienstschnalle geschmückt.

»Wenn was passiert, Reinecke, schicken Sie zu mir, Sie wissen schon.«

Und damit schritten die beiden Herren aus dem Torweg und schwenkten zunächst, wie jeden Mittag, auf den freien Platz neben dem Gerichtsgebäude ab. Sie traten an die Brüstung der rings herumgehenden Balustrade und schauten von der beträchtlichen Höhe auf das weite und eigne Bild, das sich ihnen bot. Zu ihren Füßen rankte sich wilder Wein die Zyklopenmauer hinan, dessen Wurzeln sich unten in ein ganzes Gebüsch von Hecken, Flieder und Weißdorn verloren. Grünes Vorland breitete sich bis zur Elbe, die in träger Ruhe, hier und da von einer Buhne eingeengt, das flache Land durchströmte. Geradeaus ging der Blick über ein, zwei Dörfer mit roten Dächern bis nach einem Marktflecken, dessen Doppelturm auf der Kirche weithin ein Wahrzeichen der Gegend bildete. Rechts aber, von dem hohen Gerichtshügel durch eine tiefe Schlucht getrennt, dehnte sich das Städtchen aus, wunderlich gewachsen und geworden im Sturm der Jahrhunderte, die es aus einer mächtigen Residenz zu einem stillen Hafenplatz gemacht hatten. Alte Türme und Tore unterbrachen die Reste der dicken Stadtmauer, neben der längs des Flusses und des bescheidnen Hafens ein hübscher Spazierweg lief. 66 Keines der Bürgerhäuser hob sich durch Größe oder Glanz aus den andern heraus, und nur wenn ein Windstoß die breiten, dunkeln Rauchschwaden von einer der beiden landeinwärts gelegenen Fabriken nach Westen hinüberführte, wurde man inne, daß an Stelle des längst hingegangnen Treibens toter Mächte auch hier eine neue Lebenskraft sich Raum geschaffen hatte.

In hellen Gedanken sahen der Richter und sein junger Gehilfe oder Lehrling in den klaren Herbsttag hinaus. Überall war die Ernte schon eingebracht, so daß der Eindruck der vollkommnen Ebene ihnen so deutlich wie selten entgegen kam. Mit doppelter Schärfe hoben die Gehöfte drüben sich ab, und durch die herbstlich dünne Luft kam der Klang der Glocken und der Schuß einiger Böller aus dem Nachbarstädtchen nachschwingend bis hierher herüber.

Noch in ein amtliches Gespräch vertieft, schritten die Herren an der Vorderseite des Berges die Straße hinab durch zwei alte Tore in die Stadt hinein und fanden sich bald am gewohnten Stammtisch dem Frühschoppen im üblichen Kreise gesellt.

Der Richter ging nach Hanse. Der Referendar blieb im Gasthof, um dort gleich sein Mittagessen zu verzehren, und saß bei einer Zigarre am Fenster, als der Amtsrichter schon wieder zu ganz ungewohnter Stunde erschien.

»Kollege, wir müssen wieder 'rauf. Es geht wie immer. Wochenlang gar nichts und dann gerade an so 'nem Tag wird man gestört.«

Der junge Mann war schon draußen, an der linken Seite des Vorgesetzten. In der Flur des Gerichts stand Reinecke, dem der Richter zurief:

»Nur gleich vorführen!« 67

Oben setzten sich die beiden zurecht, der Referendar legte sich einen Aktenbogen hin. Da tat sich auch schon die Tür auf und der Vagabunde, den man aufgegriffen hatte, wurde vom Gerichtsdiener hereingeführt.

Von dem Gesicht des Mannes war so gut wie nichts zu sehen. Was ein ungepflegter, schütterer Bart nicht verdeckte, war gewissermaßen in sich zusammengekrochen, wie die ganze Gestalt in ihrem verschossenen, alle Spuren einer langen Wanderung tragenden Rock in sich zusammengeschrumpft war. Mit einem gewissen Befremden sah der Amtsrichter nur auf die Hände, die aus dem schmutziggrauen Rock mehr herausfielen, als sich herausstreckten. Es waren feine, schlanke Hände, denen auch die dick emporquellenden Adern nichts von dem Eindruck vornehmer Körperlichkeit nahmen.

Der Referendar hielt schon lange die Feder über dem Papier und sah den Amtsrichter fragend von der Seite an. Der fuhr sich mit einer seinem Untergebenen wohlbekannten Bewegung links und rechts über die Stirn und fragte zunächst den Diener, der sich im Hintergrunde hielt:

»Wo haben Sie den Mann gefunden?«

Reinecke nahm die Hacken zusammen und antwortete:

»Bei den Steinlegener Tannen hat ihn der Gendarm aufgegriffen; er hatte keine Papiere.«

Nun wandte sich Sonntag an den Vorgeführten selbst:

»Wie heißen Sie?«

Keine Antwort.

Der Richter fragte den Gerichtsdiener:

»Hat der Mann dem Gendarmen etwas geantwortet?«

»Soviel ich weiß, nein.«

»Vielleicht ist er kein Deutscher und versteht uns nicht,« 68 meinte der Amtsrichter und wiederholte die Frage in englischer Sprache.

Wieder kam keine Entgegnung, aber es flog wie ein leises Zucken um die Augen des Landstreichers.

Der Amtsrichter fragte wieder:

»Ne voulez-vous pas dire votre nom?«

Es war in dem ungeübten, falsch betonten Französisch eines kleinstädtischen Juristen gesagt, der die Schulbank längst abgesessen hat.

Das Zucken in den Mienen des Landstreichers wiederholte sich, strich in leisen Linien bis zum Mund herunter, wurde hier fast ein Lächeln, und nun ertönte in tadellosem Französisch die Antwort:

»Monsieur, je vous prie le deux mots entre nous seuls.«

Der Gerichtsdiener hatte nichts verstanden und starrte nur höchst erstaunt auf den herabgekommenen Mann, der diese fremde Sprache gebrauchte, von der er selbst nur eben noch den Klang aus seiner Kriegszeit im Ohr hatte. Der Referendar hatte hoch aufgehorcht, der Richter sann auf eine französische Antwort. Es war eine lautlose Stille, in den Sonnenstreifen, die durch das Zimmer fielen, tanzten die Stäubchen, aus der benachbarten Gerichtsschreiberei hörte man das Kratzen einer emsigen Feder wie ein lautes Geräusch.

Da geschah etwas Seltsames. Durch die Gestalt des Mannes vor dem Richtertisch ging ein Zucken, ein plötzliches Aufraffen. Er schien zu wachsen, wie er in dem schlottrigen Rock die Schultern hob, die Brust reckte; die Augen, bisher niedergeschlagen, strahlten auf, zwei braune Sterne, deren Glanz freilich durch das Leben matter 69 geworden schien, aber doch von großer Schönheit. Die Hände, bisher schlaff, strafften sich, die Rechte tastete am Rock empor bis zum Aufschlag, aus dem der Richter jetzt mit Erstaunen ein Bändchen, wie ein verblichenes Ordenszeichen schmal hervorschauen sah. Sonntag beugte sich unwillkürlich vor – da sprach der Mann laut und deutlich, mit einer doppelt so scharfen Stimme schien's wie vorher die französische Phrase:

»Herr Sonntag, könnte ich Sie nicht ein paar Minuten ohne den Kollegen (sein Blick flog zu dem Referendar hinüber) sprechen?«

Die Stille war gebrochen, der Gerichtsdiener trat von einem Fuß auf den andern, eines Befehls zur Abführung gewärtig, der Referendar schob seine Papiere geräuschvoll durcheinander, nur der Richter starrte, keines Wortes fähig, dem Manne vor ihm in das nun so lebhafte Gesicht. Wieder fuhr er sich mit beiden Händen über die Stirn nach dem Scheitel hinauf, aber ehe er noch ein Wort hätte antworten können, hatte der Landstreicher irgendwoher einen schmierigen Zettel aus der Tasche gezogen, vom Pult des Referendars einen Bleistift genommen, ein paar Worte geschrieben und dem Richter das Blättchen überreicht.

Ohne eine Bemerkung nahm Sonntag und las. Ich heiße Cornelius, stand auf dem Blatt geschrieben.

Der Richter sah auf, sah in den Schimmer der Augen dieses Schreibers hinein, überlegte einen Augenblick und sagte dann sehr bestimmt:

»Reinecke, führen Sie den Mann wieder ab. Es ist doch jetzt nichts aus ihm herauszubekommen, führen Sie 70 ihn morgen um halb neun, vor der Grundbuch-Sitzung, wieder vor.«

Im nächsten Augenblick hatte sich die Tür hinter den beiden geschlossen, und der Referendar fragte:

»Was soll ich schreiben?«

Der Richter, der den Zettel irgendwo eingesteckt hatte, antwortete:

»Lassen Sie es ganz, lieber Driesen, der Mann war heute vielleicht durch Hunger oder Ermüdung nicht ganz zurechnungsfähig, wir machen morgen eine ordentliche Aufnahme.«

Die Juristen gingen den Weg zurück, den sie vor kurzem heruntergekommen waren.

Gegen sieben Uhr stieg Amtsrichter Sonntag, zum drittenmal heute, die Straße zum Gerichtsgebäude empor und klopfte bei dem Gerichtsdiener.

»Reinecke, ich möchte 'mal das Gefängnis revidieren.«

Der Diener nahm eine Laterne und führte den Richter von Zelle zu Zelle. Es war ein kleines Gefängnis mit wenig Insassen, in der einen Zelle eine Frau, die eine kurze Gefängnisstrafe verbüßte und der man ihr Kind, das sie nährte, mitgegeben hatte, in der andern ein paar wegen Bettelns aufgegriffene Männer, zwei standen leer, in der letzten endlich saß der rätselhafte Mann von heute nachmittag nachdenklich auf einer Pritsche. Als der Schein der Laterne durch den fast ganz dunklen Raum ihm ins Gesicht fiel, erhob er sich, sah den Richter ruhig an und vernahm anscheinend ohne Erstaunen, daß dieser den Diener hinausgehen hieß und die Tür hinter Reinecke schloß.

Die Männer standen sich allein in der engen Zelle 71 gegenüber. Dem Amtsrichter wurde es schwer zu beginnen; aber schließlich sagte er stockend:

»Sind Sie Eduard Cornelius?«

»Ja, ich bin der vormalige Amtsrichter Eduard Cornelius; ich sehe, Sie entsinnen sich meiner noch, wir waren ja zusammen Referendare in Naumburg.«

Sonntag nickte.

»Das war kurz nach dem Kriege.«

Er machte eine Bewegung nach dem Bändchen am Rock des andern hin, das ehemalige Schwarzweiß leuchtete jetzt unter dem Strahl der Laterne deutlich hervor. Lächelnd faßte Cornelius nach dem kleinen Ehrenzeichen, lächelnd ließ er die Hand wieder fallen.

»Wie kommen Sie hierher?« begann Sonntag wieder, und mit demselben ruhigen Lächeln erwiderte ihm der andere:

»Haben Sie eine halbe Stunde Zeit? Dann will ich's Ihnen erzählen.«

Amtsrichter Sonntag überlegte einen Augenblick. Aber sein menschliches Interesse siegte über das Gefühl korrekter Amtspflicht. Er schickte den Gerichtsdiener fort mit dem Geheiß, ihn nach einiger Zeit abzuholen, setzte sich neben den Gefangenen auf die Pritsche, und jener begann:

»Als wir zusammen in Naumburg waren, hatte ich, wie Sie wissen, eben den Krieg mitgemacht. Gestern vor zwanzig Jahren stand ich bei Sedan als Vizefeldwebel in einem Infanterie-Regiment. In der letzten Stunde der Schlacht wurde ich schwer verwundet, blieb liegen, an einer einsamen Stelle. Ich hatte das Glück, dicht neben mir einen kleinen Bach rauschen zu hören, konnte meinen Durst löschen und wurde so – mein Brotbeutel war leer – 72 vor dem Verschmachten bewahrt. Aber der Platz war so abgelegen, daß man mich später nicht fand. Ambulanzen gingen ein paar hundert Schritt an mir vorbei, mein Rufen wurde nicht gehört, und ein paar Erlen entzogen mich jedem Blick. Fortschleppen konnte ich mich aber nicht, da meine Wunde im linken Bein bei jeder Bewegung zu stark schmerzte, zu sehr blutete. Ich war nicht fähig. mich zu erheben.

Am 3. September lag ich sehr entkräftet, schauernd in der Abendkühle da, als sich Schritte näherten. Ich war so erschöpft, daß ich die Augen zunächst nicht öffnete, aber unwillkürlich lauschte ich der Unterhaltung zweier Männer mit einer Frau. Man hielt mich zunächst offenbar für tot, und der eine Franzose riet, mich einfach liegen zu lassen. Der andere aber neigte sich über mich, ich riß mich aus meiner Betäubung los und sagte ihm leise: »Je ne suis pas mort, je ne suis que blessé.« Er fuhr zurück, murmelte etwas zu seinen Begleitern, wie ich jetzt sah, einem Herrn und einer Dame, und alle drei entfernten sich ohne ein weiteres Wort. Die Anstrengung des Sprechens und die Spannung des Augenblicks hatten mich völlig entkräftet, ich muß wohl in eine tiefe Ohnmacht gefallen sein, jedenfalls empfand ich meine Existenz erst wieder, als ich in einem kleinen und sauberen Zimmer erwachte. Mein erster Blick fiel auf ein Bild über dem Fußende meines Bettes – es war der Napoleon von Delaroche mit seinem Blick, der für mich immer etwas Bannendes gehabt hat. Ich wußte also, daß ich in einem französischen Hause war. Nach einer Weile kam ein Herr herein, in dem ich denselben erkannte, der sich am Bach über mich gebeugt hatte. Er stellte sich vor, mit spröden, aber nicht unfreundlichen 73 Worten, es war ein Weingutsbesitzer. Er war der einzige Mensch aus dem Hause, den ich all die Zeit über zu sehen bekam, die vollen drei Wochen hindurch, die ich im Bett verbringen mußte. Ab und zu kam ein Arzt, sah nach meiner Wunde und verband sie, so oft es nötig war, aufs neue. Sie heilte vollkommen, aber mein Bein blieb zunächst so schwach, und der Blutverlust war so stark gewesen, daß ich den Boden des französischen Hauses, der mir unter den Füßen brannte, nicht ohne Lebensgefahr verlassen durfte. Meine Angehörigen hatte ich vom Bett aus unterrichtet, mich bei meinem Regiment gemeldet und Befehl erhalten, sobald es der Arzt erlaubte, nach Versailles zu meiner Truppe abzugehen.

Mein erster Ausgang war in den Garten meines Wirtes. Und hier trat mir jene Frauengestalt entgegen, die ich damals im Erlengebüsch hatte sprechen hören und deren Stimmklang ich durch die einförmigen Wochen hindurch im Ohr behalten hatte. Es war ein junges Mädchen, Anfang der Zwanzig, sehr lebhaft, sehr französisch, ohne Hehl ihres Hasses gegen uns. Aber wir waren in dem sonnigen Garten dieser späten Septembertage ganz auf uns angewiesen. Ihre Mutter war tot, ihr Vater meist abwesend und des Deutschenhasses seiner Tochter so sicher, daß er von dem höflich geduldeten, aber doch überlästigen Fremdling keine Gefahr befürchten zu müssen glaubte.

Es waren Tage, wie für schwere Entscheidungen bestimmt. In den Weingärten hingen ungeerntet die vollen, farbigen Trauben. Überall blühten noch späte Rosen in hundert Farben, ein paar Orangen, die Helene sich zog, durchdufteten die Luft mit ihrem süßen, weichen Geruch. Ich konnte nun schon wieder gehen, langsam am Stock 74 ein paar Schritte durch die Gänge machen, lernte meine Kräfte wieder fühlen und gebrauchen. Ganz von fern hallten dann und wann Trommelschlag und Trompetensignal zu uns herüber. Ganz von fern klang aus den französischen Zeitungen der weiterschreitende Krieg in unsere Stille. Wir schienen wie in anderm Luftbereich zu leben, es kam etwas über uns wie das Bewußtsein, das zwei Menschen haben müssen, die auf einer vergessenen Insel in einem Meer des Südens, vom Leben der andern beurlaubt, nur sich leben dürfen.

Und noch einmal, wir waren beide jung und empfanden, je schwächer der Hall des Feldzugs zu uns kam, desto stärker, daß wir beide Menschen waren, nicht mehr Deutscher und Französin.

Wir brauchten uns nicht erst zu sagen, daß wir uns liebten, als ich mich, jetzt ganz gesundet, aus dem Traum emporriß und zu meinem Regiment zurückreiste. Hier erwartete mich das Eiserne Kreuz, in Deutschland die gewohnte Arbeit. Helene und ich schrieben einander, immer in dem Gedanken, daß ich sie nach dem zweiten Examen nach Deutschland, zu mir holen sollte.

Sie haben mich damals in Naumburg gekannt und werden, wie die andern, in mir einen Sonderling gesehen haben, der sich von allem, insbesondere von den Geselligkeiten der jungen Kollegen zurückzog. Ich war kein Sonderling, ich ging nur umher wie in einem Gewölk, wie in dem Mantel einer Leidenschaft, die mich gleich einer Lohe gegen alles sonst abschloß. Meine Liebe wuchs wie die ihre immer wärmer empor.

Dann hatte ich die Prüfung bestanden und fuhr nach Frankreich hinüber. Als ein armer Mann, als ein 75 Beraubter kehrte ich zurück. Der Vater hatte dem Deutschen die Tochter nicht geweigert, aber auf den Boden des feindlichen Landes wollte er sie nicht hingehen lassen, und nun stand in uns beiden auf, was so lange geschlafen hatte, das Bewußtsein unserer Nation. Ich war ohne Besinnen entschieden, nicht, auch Helene zuliebe nicht, nach Frankreich zu gehen, ich schien mir in neu emporschlagendem Volksgefühl wie ein Verräter, wenn ich's hätte tun wollen; und an meinem Widerstand erwuchs der ihre, jetzt war sie ganz die Französin, als die ich sie ganz zuerst, im Beginn jener Schmerzenstage hatte kennen lernen, jetzt verlangte sie von mir, daß ich wählen sollte zwischen meinem Vaterlande und dem ihren, mit dem sie sich eins fühlte.

Es war zu Ende und war doch nicht zu Ende. Ich bin in den zwei Jahren meines Amtsrichtertums in der kleinen Stadt am Harz wohl ein sonderbarer Richter gewesen. Sie nicken. Ich sehe also, auch Sie wissen's noch, haben's wohl von Bekannten gehört. Es riß unablässig in mir, und nichts brachte mich über den Zwiespalt hinweg, der nun einmal in mir aufgegangen war.

Fünf Jahre nach dem Kriege hatte ich als Leutnant eine Übung bei einem Metzer Regiment zu machen. Es waren wieder warme, farbige Septembertage. Eine Felddienstübung im Regiment führte uns bis an die Grenze bei Pagny. Ich erhielt eine Offizierspatrouille, die dem äußersten linken Flügel voraus das Gelände erkunden sollte. In einer kleinen Schlucht hatte ich mich von den mir mitgegebenen Mannschaften getrennt, wir mußten ganz nahe am Gegner sein, den ein andres Bataillon stellte, und ich kroch vorsichtig auf allen Vieren einen von dichtem Gebüsch besetzten Hang empor. Wie ich den Kopf über 76 den Rand der Schlucht hob, sah ich kaum hundert Schritt vor mir die Tafeln in den deutschen und französischen Farben die Grenze bezeichnen. Dicht jenseits lag ein Hügel, und auf ihm erblickte ich eine kleine Gesellschaft von Damen und Herren. Die Bewegungen der einen Dame fielen mir irgendwie auf, ich hob den Krimstecher und erkannte im ersten Augenblick Helene. Was da mit mir vorging, habe ich nie beschreiben können, es riß mich empor, jeder Vorsicht vergessend, rannte ich der Grenze zu, an dem französischen Pfahl vorbei, auf jene Gesellschaft los, die erschreckt aufsprang, und stand Helene gegenüber, die mir an die Brust flog.

In der nächsten Minute tauchten die kappenbedeckten Helme des Gegners auf, ein Unteroffizier machte den Führer auf mich aufmerksam, es war ein Bekannter, auch ein Reserveoffizier, der winkte, ich gab keine Antwort und schritt mit Helene weiter hügelabwärts ins Land.

Sie werden wissen, daß ich wegen Fahnenflucht, abwesend, verurteilt wurde, daß man mir auch das Amt nahm – mit Recht. Was Sie nicht wissen können, ist, wie es mir seitdem gegangen ist. Nach dem ersten Rausch kam ein gräßliches Erwachen, eine Erschütterung ohnegleichen. Der Zerbrochene konnte kein Weib an sich fesseln, ich irrte in Frankreich, in halb Europa umher, immer wieder fand ich mich nach langen Fahrten an der deutschen Grenze. Helene hat den Trost gefunden, den ihre Kirche ihr gewährt, ich warte auf das Ende. Aber als ich mich vor dem jungen Mann neben Ihnen entdecken sollte, hat mich ein letzter Rest von, nennen Sie es Scham, zurückgehalten. Freilich, ich kenne noch das deutsche Recht. Sie müssen nach dem Gesetz handeln, so ist mir nur eine 77 Galgenfrist geblieben. Immerhin: ich habe mich einmal aussprechen können. Tun Sie mit mir, was Sie wollen.«

Das alles hatte geklungen wie ein Spiel auf einem einst von einem Meister geschaffenen, nun aber verstimmten und schadhaft gewordenen Instrument. Grell, dann wieder stumpf, oft versagten alle Töne; und dazwischen Laute wie aus einer andern Welt, volle Akkorde, Ahnungen einstiger Schönheit.

Amtsrichter Sonntag saß ganz still. Die Narben des alten Burschenschafters glühten in dem bleich gewordenen Gesicht. Dann sagte er:

»Ich werde Sie morgen als »Unbekannt« wegen Umherstreichens ohne Papiere zu einer Geldstrafe verurteilen. Man hat Ihnen ja einige Taler abgenommen. Aber dann?«

Eduard Cornelius hatte den Kopf gesenkt und sah stumm vor sich hin.

Sonntag fuhr fort:

»Ich habe Verwandte in Hamburg. Fahren Sie dorthin, ich will dafür sorgen, daß Sie nach Amerika gehen können.«

Ein Röcheln ließ ihn emporblicken. Cornelius rang nach Luft, es rasselte in ihm. Es ging vorüber. Dann sagte er mit dem feinen Lächeln, das sein Gesicht in der abgebrochenen Gerichtsverhandlung überflogen hatte:

»Sie sehen, es tut nicht mehr not. Aber haben Sie Dank. Denken Sie von morgen ab an mich als an einen Toten, auch wenn Sie nie eine Anzeige meines Endes erhalten werden. Denn wenn ich sterbe, wird ja niemand wissen, wer ich war. Aber lassen Sie mich doch das eine wissen: ich habe alles, meine Familie, meinen Beruf, mein 78 Portepee verloren. Werden Sie dennoch an mich denken als an einen, der dem deutschen Namen keine Ehre gemacht hat, aber der ihn schließlich doch nicht ganz verraten hat?«

Es klopfte an der Tür. Amtsrichter Sonntag stand auf, um zu öffnen. Vorher aber ging er zu dem nun aufgestandenen Manne heran, streckte ihm die Hand entgegen, und indem jener mit zuckenden Fingern die dargebotene ergriff, sagte der Richter tief erschüttert:

»Ja!«



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