Heinrich Spiero
Paul Heyse
Heinrich Spiero

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5. Romane

Wo Paul Heyse die Gesetze der Novelle festlegt, stellt er sie ausgesprochenermaßen dem Roman gegenüber, der Isolierung jener Kunstform den weiteren Horizont und die mannigfacheren Charakterprobleme, die der Roman vor uns ausbreitet. Und erst in späteren Jahren ist er selbst von der geliebten Kunstform, die er früh ergriff, auch zum Roman hinübergelangt. Seine Novellen waren gleich den Meisterstücken der italienischen Literatur, die Aufenthalt und Studium ihm so nahe brachten, jeder Tendenzpoesie fern gewesen und geblieben; durchaus galt für sie, was der Dichter aus seinen Berliner Lehrjahren berichtet: »Wir Jüngern aus dem Kuglerschen Kreise waren, obwohl das Stichwort L'art pour l'art noch nicht ausgegeben war, innigst davon durchdrungen, daß alle sogenannte Tendenzpoesie vom Übel sei, worin wir allerdings insoweit recht hatten, als es stets nur wenigen der Größten gelungen ist, aus der Tagesstimmung heraus eine Dichtung zu schaffen, die, wie der unsterbliche Ritter von La Mancha, das Gelegenheitsinteresse weit überdauert.« Neben dem immer noch schaffenden Heine, von dem sich selbst Gottfried Keller erst durch ein großes Gedicht ausdrücklich befreien mußte, schuf in den Jahren von Heyses voller Entwicklung Gutzkow seine Zeitromane, denen dann mit dem größten Erfolg Friedrich Spielhagen die seinen 71 anreihte, Wilhelm Jordan gelangte von dem großen Zeitmysterium »Demiurgos« zu seinen von entwicklungsgeschichtlichen Tendenzen durchsetzten »Nibelungen«, Turgenjews »Väter und Söhne« mit ihrem starken Zeiteinschlag begannen auch in Deutschland zu wirken – wenn wir das alles uns vor Augen halten, so erscheint Paul Heyses sich in leidenschaftlicher Einsamkeit bildende Kunst um so reiner, er steht um so deutlicher in einer Linie, wenn auch auf einem anderen Querschnitt, wie sein Altersgenosse Wilhelm Raabe und die anderen Realisten jener so ungemein fruchtbaren Jahre von 1850 bis 1870. Und erst als er seine Zeit gekommen glaubte – innerlich –, rundete sich auch ihm ein Stoff zum Roman, und im Jahre 1872 schrieb er die »Kinder der Welt«.

Das reiche Werk ist kein Tendenzroman im engeren Zeitsinn, obwohl es bei seinem Erscheinen das größte Aufsehen erregt hat; denn drängte es schon den Erzähler, hier die Klinge zu heben und nicht so bald wieder zu senken, so war es doch keine vorübergehende Opposition gegen vorübergehende Strömungen, zu der es ihn trieb. Was er hier ausdrücklich Weltkindschaft nennt und aus des Tages Misere und kleinem Streit hervorhebt, ist im Grunde der ewige Zug sicherer und zwar durch innere Kämpfe sicher gewordener Naturen gegenüber dem Herkommen und der sich an Überlieferung klammernden, anders gearteten Welt. Dabei ist denn freilich die andere Seite nicht überall gerecht weggekommen. Und hier liegen in dem Gespinst Fäden, die deutlich ihre Herkunft von den Webstühlen verraten, aus denen das Junge Deutschland und seine Genossen und Nachfahren ihre Stoffe webten. Edwin, der im Sinne des Christentums ungläubige Philosoph, weist 72 sie am deutlichsten auf, er hat, obwohl eine tief leidenschaftliche Liebesnatur echt Heysischer Prägung, doch auch ein gut Stück von jener hell in hell gemalten Vortrefflichkeit in allen Anfechtungen mitbekommen, die jungdeutsche Romanhelden so oft dartun und der die Mädchenherzen von selbst zufliegen. Ihr Urbild ist Gutzkows Prinz Egon in den »Rittern vom Geiste«, wir finden ihn bei Spielhagen wieder, nach dem Helden der »Problematischen Naturen« aristokratisch am klarsten in »Die von Hohenstein«, bürgerlich in dem Kapitän Schmidt der »Sturmflut«, ebenso bürgerlich, wenn auch ganz unpolitisch in Gustav Freytags Anton Wohlfahrt. Er erscheint in Julius Grosses »Getreuem Eckart« wie in seinem »Volkramslied«, ja im Grunde noch, romantisiert, in Scheffels »Trompeter«, und so geht er dann weiter bis zu dem Helden von Sudermanns »Frau Sorge« und zu Gustav Frenssens »Jörn Uhl«. Es fehlt nicht das humoristische Gegenstück, das eine tiefe innere Empfindung hinter humoristischer Aussprache verbirgt, ein tüchtiger Gesell, wie Freytags Fink in »Soll und Haben«, hier, in den »Kindern der Welt«, ist es der ganz vortrefflich gezeichnete Heinrich Mohr. Und auch das schwarze Gegenbild des lichten Helden bleibt nicht erspart, wie es von Hackert in den »Rittern vom Geiste« über Veitel Itzig und den schurkischen Giraldi der »Sturmflut« sich fortgebildet hat – in Heyses Werk trägt es die sehr ausdrucksvollen Züge des Kandidaten Lorinser, dem leider das Gegenstück eines tiefen Herzens-Christen fehlt – diese Seite ist in den Personen des Malers König und der Professorin Valentin nur eben bescheiden in den großen Rahmen hineingestellt.

Freilich bedeuten diese Verwandtschaften, so stark sie sich dem vergleichenden Blick aufdrängen, nicht das 73 Letzte für die Beurteilung des Werks. Denn gerade hier erweist sich Heyses Kunst des Kolorits in einer Reinheit und Schönheit wie selten. Wie ist das Berlin der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hingemalt bis zu der Berliner Madame und Hauswirtin, bis zu dem Schopenhauer mißverstehenden Handwerker und seinen Gesellen hinab, wie hat Heyse hier seiner Vaterstadt als eine späte Gabe ein farbiges und feines Bild aus ihren dürftigeren Tagen hingestellt, aus den Tagen, in denen Wilhelm Raabe sein ebenso schlichtes Berlin der »Sperlingsgasse« und der »Leute aus dem Walde«, sein auch schon von Zeitströmungen heftig bewegtes Berlin des »Hungerpastors« geschrieben. Allein schon die Tonne, jenes schmale Zimmer in der Dorotheenstraße, das Edwin mit seinem Bruder bewohnt und das der Sammelplatz ihrer Freunde wird, ist ganz meisterlich als immer wieder alle herbergendes, ärmliches Obdach in die erste Hälfte des Romans hineingestellt. Und mit fast noch größeren Reiz umfängt uns die Welt, die der Maler König, nach seinen Zaunbildchen der Zaunkönig genannt, sich in dem bescheidensten Häuschen auf einem Holzplatz des Schiffbauerdamms an der Spree aufgebaut hat. Hier darf das biographische Moment dem Dichter gegenüber einmal betont werden, der gesagt hat: »So würde die heut so unheilvoll im Schwange gehende Methode, Dichterwerke als eine genau zu berechnende Summe biographischer Faktoren darzustellen, an meinen novellistischen Arbeiten keinen dankbaren Stoff finden.« Ist Heyse doch selbst an jenem damals so stillen Uferplatz der Spree zur Welt gekommen. Und innerhalb dieser Umgebungen wachsen denn auch die beiden schönsten Charaktere des Buches heran, Edwins Bruder Balder und Edwins spätere Gattin Lea König. 74 Beide, wie alle ihre Freunde, Kinder der Welt, das heißt durchaus erfüllt von dem Gefühl, daß keine Offenbarung über das Wesen des Himmlischen etwas auszusetzen wüßte, daß kein Gott und kein Heiland eine Erlösung des Menschen und seiner Sünde brächte und vollbrächte, aber beide voll tiefster Ehrfurcht vor dem Leben, voll klarster Reinheit der Empfindung. Ganz lebendig und wirklich und dennoch wie ein Grüßender aus einer anderen Welt lebt der junge, kranke, schöne und zarte Balder, ein Augentrost und ein Herzenstrost nicht nur den Freunden, sondern jedem, der mit ihm in Berührung kommt, einer von den Menschen, in deren Gegenwart alles Unreine schweigt, jeder besser zu werden glaubt. Wir denken wieder an jene venezianische Kunst auf Goldgrund, wenn wir dieser Gestalt gedenken. Und während die zweite weibliche Heldin des Romans, die schöne Toinette, ein wenig auf die Spitze getrieben erscheint, ihre Herzensumpanzerung etwas künstlich erklärt durch das auch im jungdeutschen Roman so beliebte Motiv der dunklen Geburt aus einem liebelosen Bunde, so wirkt Lea, die seltener im Vordergrund steht, mit einer rührenden, leidenschaftlichen Echtheit. Sie ist das Kind einer Mischehe, wie Heyse selbst, auch dadurch ganz echt in dem Berlin jener Jahre, von dem Theodor Fontane sagt: »Es war die recht eigentliche Zeit der jüdisch-christlichen Eheschließungen, von denen man jetzt nur deshalb so wenig weiß, weil alles, was derart vorkam, ganz natürlich gefunden und nicht als etwas Besonderes in die Herzen oder Zeitungen eingetragen wurde.«

Diese Kinder der Welt sind, wie Edwin es einmal sagt, »diejenigen, die den Kreis ihrer Pflichten und 75 Rechte, ihrer Mühen und Freuden hier auf Erden geschlossen sehen und nicht vollkommener, nicht wissender, nicht unsterblicher zu werden begehren, als man es mit menschlichem Geist und Sinnen zu werden vermag«. Und Balder läßt vor seinem frühen Tode seines Herzens Empfindung ausströmen:

Sich selbst zu fühlen
In allen Brüdern,
Nur im Erwidern
Sein Herz zu kühlen;

Gewiß des Guten,
Vom Schönen erbaut,
In Lebensgluten
Dem Tod vertraut.

An das Geheime
Ahnend zu rühren,
Der Wahrheit Keime
Im Geist zu spüren,

Die sich erschließen
Dem Licht entgegen,
Still zu genießen
Ihr heilig Regen.

Vom Hauch der Musen
Das Herz geschwellt,
Mit reinem Busen
Ein Kind der Welt –

Wer das genossen,
Wem das beschieden,
Muß der hienieden
Nicht selig sein?

Also diese Kinder der Welt sind alles andere als platte Nüchternlinge, und ihre Aussprache, ihr nach der 76 Wahrheit suchendes reines Leben muß, wie Heyse es darstellt, auch den ergreifen, dem die von ihnen geleugnete Offenbarung und Erlösung innerlich erlebte Wahrheiten sind.

Der vier Jahre jüngere Roman »Im Paradiese« ist ausdrücklich als Liebesgabe an München dargebracht worden, wie die »Kinder der Welt« im Grunde Berlin gehören. Hier sind die Schicksale mannigfacher durcheinander gewoben als in dem ersten Roman, die Tendenz tritt dafür noch mehr zurück. Auch hier wird bekämpft der Hochmut, mit dem Bekenner des Alten auf die herabsehen, die sich alter Lehre nicht fügen wollen. (Wie tief haben sich seitdem die Zeiten ins Umgekehrte verwandelt!) Und das Glück, das den Helden schließlich doch erreicht, muß zunächst im Widerspruch zu den Satzungen der Welt und der bürgerlichen Gesellschaft hingenommen werden. Aber das alles tritt etwas zurück, wie schon der Titel doppelsinnig jenen Zug zur Lebensgestaltung abseits der toten Gesetze mit dem Namen eines heiteren und ernsten Künstlerkreises verbindet, hinter dem wir, nun schon die biographische Andeutung der Romane gewohnt, leicht den Kreis der Krokodile erkennen. Wie ein Rest aus den jungdeutschen Zeiten tritt hier ein kokettes Frauenbild auf, wie es noch einmal in »Über allen Gipfeln«, ja, noch in der »Geburt der Venus« emportaucht. Aber es wandelt so unaufdringlich vorbei, daß wir die etwas grelle Zeichnung nicht voll empfinden. Um so lebhafter steht das ganze Künstlervolk, vor allem der Bildhauer Jansen, uns vor Augen, und hell brennt hier das heilige Feuer jener Kunst, die immer wieder unterscheidet, wählet und richtet, so hell, daß es ganz realistisch unter einmütigem Beifall ein Bild verzehrt, 77 dem die beiden Schleier, Schönheit und Grauen, fehlen, das die Braut von Korinth nicht mit Goethe, sondern mit Sankt Priap darstellt.

Der Roman steht uns auch zeitlich näher, er spielt über die Tage des Deutsch-französischen Krieges hinüber, bringt einen warmen nationalen Einschlag und gibt ganz echt Münchener Stimmungen jener Tage. Wie aus den »Kindern der Welt« die Dürftigkeit des alten Berlins, so liegt auf diesem Roman der Kunstglanz, den München noch heute hat, der aber das minder vielgestaltige Leben der Stadt in früheren Jahrzehnten noch heller bestrahlt haben muß. Freilich ist die Technik dieses Werkes nicht so straff wie die des ersten. Mehr Schicksale, heitere und ernste, schlingen sich durcheinander, gehen auch einmal nur lose verbunden nebeneinander her, wir begleiten neben dem heranwachsenden Liebesgeschick eine Männerfreundschaft durch alle Katastrophen zweier sich anziehender und wieder fliehender Lebensläufe; aber das Buch ist vielleicht noch liebenswürdiger, noch lebhafter, als es die »Kinder der Welt«, wenigstens nach Balders Tod, in ihrer zweiten Hälfte sind.

Um so straffer faßt Paul Heyse sich in seinem dritten Roman zusammen, der nach einer langen Pause erst im Jahre 1887 ans Licht trat und sich »Der Roman der Stiftsdame« nennt. Das Werk ergänzt äußerlich die beiden ersten durch seine Schöpfung aus der märkischen Natur und Umgebung. Mit großer Kunst wird die Schönheit eines märkischen Sees, bei dem die Wanderung des Dichters nach dem Gut eines Jugendfreundes beginnt, vorbereitet durch die leblose, gewitterschwüle Stimmung einer wenig versprechenden Kleinstadt. 78

»Dieser Eindruck des Märchenhaften, Verschollenen und Verzauberten wurde noch verstärkt durch die gewitterhafte Windstille, die über den Straßen und Plätzen lag und die Bewohner in ihren Häusern hielt. Nur hie und da sah ich hinter den blanken Fensterscheiben den Kopf einer alten Frau oder eines blonden jungen Mädchens, die zwischen den Geranium- und Kaktustöpfen nicht einmal mit kleinstädtischer Neugier nach dem Fremden spähten, sondern mit einem seltsamen Ausdruck stiller Traurigkeit vor sich hin blickten. Auch die wenigen Gesichter, die mir auf der Straße begegneten, hatten diesen in sich gekehrten Zug, als hätte sich irgendeine große, allgemeine Kalamität ereignet, die selbst bei den Gleichgültigsten keine heitere Stimmung aufkommen ließ.«

Aus dieser druckhaften Schwüle heraus tritt der Dahinwandelnde an den See, der mit seinen Ufern ein Bild von überraschendem Reiz bietet. Und diese gebannte Stimmung bildet nun, überaus fein, nicht nur den Auftakt zu dem schönen Naturbild, sondern zugleich zu dem unvermuteten Anblick einer Toten, kurz bevor der Sarg gehoben und ihr Leib unter Teilnahme der ganzen Stadt der Erde übergeben wird. Das alles bis zu dem rätselhaften Wort »die Stiftsdame« – denn ein Stift befindet sich nicht in dem kleinen Nest – erfährt dann seine Aufklärung durch die Erinnerungen des ehemaligen Kandidaten der Theologie Johannes Theodor Weißbrod, die dem Dichter zur Hand kommen und nun wiedergegeben werden. Und aus diesen Blättern tritt eins der adligsten und schönsten Frauenbilder hervor, die Heyse je gezeichnet hat. Nicht umsonst trägt die Gestalt in ihrer norddeutschen Einfachheit – immer wieder muß dies Wort wiederholt werden – den teuern 79 Namen Luise. Was ein weibliches Herz um einer großen Liebe willen fortgeben kann, und was eine weibliche Seele auch dann nicht erträgt, die Berührung des sittlichen Schmutzes – das erweist diese Gestalt, die wohl ihren Stolz, nicht aber ihre innere Reinheit demütigen und preisgeben kann. Das Stiftsfräulein, die Anwärterin auf die Stelle in einem adeligen Damenstift, folgt dem Direktor einer wandernden Schauspielertruppe – aus einer Liebe, die dem Mitleid, der Scham über die Brutalität der eigenen Sippe einen guten Teil ihrer Entstehung verdankt. Langsam gehen ihr die Augen auf, langsam löst sie sich innerlich von dem ihrer unwürdigen Manne, dessen ganze Oberflächlichkeit sich beim Tode ihres Kindes zeigt, und löst sich endlich auch äußerlich, da er sie zu beschmutzen und zu entehren unternommen hat. Und dann lebt sie als ein Segen des kleinen Städtchens ihre Tage zu Ende in der Nähe des alten Freundes, der sie geliebt hat, und in dessen zartem und frommem Bilde Heyse ein schöneres Gegenstück zu jenem anderen Kandidaten der »Kinder der Welt« geschaffen hat. Luise steht zwischen den schönsten und klarsten Gestalten, die Heyses Kunst uns je gegeben hat, und der Roman gehört zu unseren feinsten psychologischen Schöpfungen.

Die Tendenz war in diesem Werk ausgeschaltet, um so stärker trat sie in dem nächsten Roman »Merlin« (1892) wieder hervor, und hier denn freilich mit solcher Stärke, daß sie, zum erstenmal, dem Dichter das Konzept völlig verrückte und ihn nicht über die Tendenz zur befreienden Kunst hinausgelangen ließ. Das ist nur zu verständlich. Denn der Roman erwuchs aus den Stimmungen der Kampfjahre, die 1882 einsetzten, und in denen die jüngere literarische Bewegung, der 80 Impressionismus, zunächst mit allem Überschwang tatendurstiger Jugend sich austobte. Heyse hatte, so darf man in diesem Fall sagen, das Unglück, ein sogenannter Lieblingsschriftsteller des gebildeten Publikums zu sein, und nichts war nun natürlicher und freilich ungerechter, als daß mit dem Familienblattroman, dem archäologischen Roman, dem feuilletonistischen Drama, der Butzenscheibenlyrik und der Pseudoepik der Epigonen Scheffels auch dieser Dichter wie mit nicht klugen Sinnen angegriffen und herabgesetzt wurde. Es hieße heute nur noch literarhistorisch wertvollen, weil für eine Zeitstimmung charakteristischen Sätzen zu viel Ehre antun, wenn man etwa das wiederholte, was Karl Bleibtreu in seiner berühmten Kampfschrift »Die Revolution der Literatur« über Paul Heyse geschrieben hat. Aber es war ein Ausdruck der Stimmung, die von vielen geteilt wurde, nachdem eben noch 1881 ein sonst gerade von den Modernsten sehr gelobter dänischer Kritiker, Georg Brandes, Paul Heyse in einer sehr lesenswerten Arbeit an die Spitze seiner Sammlung »Moderne Geister« gestellt hatte, unmittelbar vor Max Klinger. Nun wäre freilich das Persönliche in all diesen Angriffen Heyse, der über Kritik sehr kühl denkt, verhältnismäßig gleichgültig gewesen, wenn sich nicht sein Kunstgefühl gegen die später so rasch überwundene naturalistische Theorie empört hätte; hatte er doch, wie wir sahen, einen Gegensatz von Realismus und Idealismus niemals anerkennen können. Er konnte etwa, gleich Gustav Freytag, Hermann Sudermanns erste Romane bewundern, aber er wandte sich im »Merlin« mit aller Schärfe seines warmblütigen Temperamentes gegen die naturalistische Theorie, gab dabei freilich als Nebentendenz die Forderung hinein, daß der Dichter, der seine Berufung erkannt habe, nichts sein 81 dürfe als nur Dichter. Treu blieb ihm auch in diesem Roman die Kunst, weibliche Gestalten von hohem Reiz zu zeichnen, Frauen mit der Fähigkeit einer nie wieder zu erstickenden, das ganze Leben füllenden Liebe (was dann die damaligen Zeitgenossen einseitige Erotik nannten). Aber die Durchdringung der ganzen, zu weit ausgesponnenen Handlung mit den Kampfrufen gegen die Ästhetik der Zeit hat der Gestaltung geschadet und läßt uns nur an wenigen Stellen mehr in dem Werk finden, das mit schönen Versen durchsprengt ist, als eben einen für Heyses Entwicklung nicht unwichtigen und für die damalige Zeit sehr charakteristischen Beitrag zur Kulturgeschichte in Form eines Romans. Es ist ein Buch in der Art von Immermanns »Epigonen« und steht zu einem so für sich lebenden Werk, wie »Der Roman der Stiftsdame«, wie Immermanns Buch zu der »Oberhof«-Episode seines anderen größeren Werkes.

Heyses vier Spätromane tragen manchen gemeinsamen Zug, vor allem wieder den der Beschränkung auf unkomplizierte Linien, schon in der äußeren Rahmengebung. »Über allen Gipfeln« (1895) bewegt sich kaum aus Schlössern und Park einer kleinen Residenz, »Crone Ständlin« (1905) aus der Umgebung eines Kurhauses in den Vorbergen, die Heyse auch in einem ganzen Novellenkreis (»Aus den Vorbergen« 1892) zum Schauplatz seiner Fabeln wählte; die weltliche Klostergeschichte »Gegen den Strom« (1907) konzentriert die Handlung in und um die Räume eines ehemaligen Klosters hoch über einer kleinen Stadt, und die »Geburt der Venus« (1909) greift zwar wieder in die Kreise zurück, die Heyse einst im »Paradiese« gab, hält aber auch Personen und Konflikte sehr streng zusammen. Der erste und der dritte dieser Romane sind von Tendenzelementen nicht 82 ganz frei – im ersten scheitert ein etwas künstlich erworbenes Übermenschentum, um im Hafen einer lange verloren geglaubten Liebe zu landen, im dritten muß die Weltflucht innerlich tief gekränkter und zerstoßener Naturen vor dem Ruf des Lebens weichen, der sie wieder zu Kindern der Welt macht. Aber in allen bewegen uns mehr Stimmungswerte als die Charaktere selbst. Das Kolorit ist uns in ihnen nun schon die Hauptsache geworden, während es in den Meisterschöpfungen der ersten Romanjahrzehnte nur die Einbettung für die Gestalten war, die uns denn doch vor allem das Herz warm machten. Nichts mehr von der Zerflossenheit mancher Strecken des »Paradieses«, von der Übersteigerung der Tendenz in manchen Abschnitten des »Merlin« ist hier zu spüren, aber in den letzten ein leiser Alterszug, der anderen Spätwerken Heyses, Novellen und Gedichten, nirgends abzumerken ist.

In Heyses erstem Roman liest die schöne Toinette Marchand Balzacs »Père Goriot«, und Edwin befragt sie über die Eindrücke des Buches. Da erwidert sie:

»Er interessiert mich wenigstens. Es ist so gutes Französisch und – so guter Ton. Manches freilich empört mich wieder. Diese herzlosen Töchter, die es ruhig annehmen, daß der alte Vater sich für sie ruiniert – es ist abscheulich.

»Ich danke Ihnen, mein Fräulein, sagte er lebhaft. Es freut mich, daß Sie so urteilen. Guter Ton, aber schlechte Musik. Aber es ist merkwürdig, was ein geistreicher Autor uns alles bieten kann. Wenn wir solchen Menschen im Leben begegneten, ich glaube, wir würden uns dafür bedanken, mit Ihnen umzugehen. In Büchern lassen wir uns die fatalste Gesellschaft gefallen.«

Diese Äußerung Edwins erinnert ein wenig an die 83 Worte, die einmal Fanny Lewald zu Karl Frenzel sagte: »Warum soll ich mich in die Geschichte von Menschen vertiefen, die in der Wirklichkeit nie meine Stube betreten dürften?« Sie haben für Heyses Kunst eine gewisse Bedeutung, aber doch nur eine sehr begrenzte, weil wir sie zusammenhalten müssen mit dem, was er über Wirklichkeit und Wirklichkeitssinn gedacht und gesagt hat. Er ist nie dem Leben ausgebogen, aber er hat die bloße Darstellung eines beliebigen Stückes Leben nie für Kunst gehalten. Durchaus treu dem, was er nach rasch verbrausten Jünglingsjahren vor allem von Goethe gelernt hat, gelangte er schließlich schon in seinem ersten Roman dahin, was sein lichter Held, der unvergeßliche Balder, sagt: »Ich glaube wie Sie an die Macht des Bluts, aber auch an die Macht des Geistes und an die Übermacht der Liebe. Nur eins scheint mir hoffnungslos: das Gemeine« 84

 


 


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