Heinrich Spiero
Paul Heyse
Heinrich Spiero

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3. Literarische Verwandtschaften

Es ist mehr als ein müßiges kritisches Spiel, wenn beim Auftreten eines neuen Talents mit persönlichen Zügen der Literaturhistoriker der Frage nachsinnt, wie es sich zu den richtunggebenden Begabungen stellt, die das literarische Leben beherrschen oder doch stark beeinflussen. Wie heute unwillkürlich der Beobachter des dramatischen Nachwuchses immer wieder fragt: wie steht der und der zu Hebbel? wenn er den Lyriker, ohne ihn in ungehöriges Maß zu schnüren, doch auf sein Verhältnis zu Liliencron und Dehmel hin ansieht, wenn wir endlich darüber hinaus immer wieder bei Schiller und Goethe Maßstäbe suchen, so fragte in der Zeit, da Heyse auftrat und sich innerlich emporarbeitete, die Genossenschaft und er mit ihr: Wie stehst du zu Tieck, zu Heine, zu Geibel?

Uns ist das Bewußtsein von Ludwig Tiecks einstiger Herrscherstellung verloren gegangen, und wir müssen sie uns historisch rekonstruieren. Sie war doch aber einmal vorhanden und für Heyse insofern besonders wichtig, als Tieck, noch dazu sein Berliner Landsmann, der erste wirkliche deutsche Novellist war; Heyse nennt ihn geradezu »den Schöpfer der modernen Novelle«. Meisterhaft, wie fast immer, wenn er charakterisiert, hat Heyse Tiecks novellistische Dichtung umrissen: »Tieck erscheint in seinen Novellen durchaus nicht immer meisterhaft. 36 Da ihm die naive Vollkraft der Phantasie, die den großen Dichter macht, gebrach, die berüchtigte romantische ›Ironie‹ sich so oft als Spielverderberin einmischte und nur allzuoft die alte Schwiegermutter Weisheit das zarte Seelchen beleidigte, gelang es ihm selten, auch eine glückliche Erfindung rein durchzuführen, ohne durch störende Zutaten, witzige oder lehrhafte Gespräche, die den Personen äußerlich angeheftet sind und nicht aus ihrem Charakter entspringen, oder durch willkürliche Führung der Fabel den vollen Eindruck zu schädigen. Selbst ein so geistreich konzipiertes Kabinettstück wie ›Des Lebens Überfluß‹ mutet uns heute nicht mit so natürlicher Frische an, wie es die Zeitgenossen bezauberte.«

Ich möchte die Empfindung, die wir in der Tat und nicht nur durch das raschere Zeitmaß unseres Lebens gegenüber Tiecks Novellen haben, noch dahin verschärfen: wir haben zu oft das Gefühl (zum Beispiel auch im »Aufruhr in den Cevennen«), nicht recht weiterzukommen, unnütz aufgehalten zu werden. Und hier setzt dann Heyses bisher unwiderlegte und unübertroffene Novellentheorie ein, die, aus der Praxis geboren, nicht nur sein ganzes Schaffen durchzieht, sondern ihn auch zu dem vortrefflichsten Beurteiler fremder Novellen machte: seine Sammlungen »Deutscher Novellenschatz« und »Neuer Deutscher Novellenschatz«, die erste mit Hermann Kurz, die zweite mit Ludwig Laistner gemeinsam herausgegeben, sind unübertroffene Auslesen aus der ganzen deutschen Novellenliteratur, und die kurzen, zumeist von Heyse verfaßten Einleitungen sind oft kleine Kabinettstücke der Charakteristik eines Novellisten. Immer wieder findet er da heraus, worauf es im Grunde ankommt, so, wenn er über Rudolf 37 Lindaus von so wenigen nach ihrer vollen Meisterschaft erkannte Novelle sagt: »Ein Weltbild von großer Weite und Tiefe tat sich auf, und der Ton, in welchem von dem Fremdesten und Befremdlichsten gesprochen wurde, verlor nie jene eigentümliche Ruhe und Schlichtheit, die uns die sicherste Bürgschaft für die innere Wahrheit alles Geschilderten gibt.« Oder wenn vor Ferdinands von Saar »Marianne« die sichere Kunst gerühmt wird, mit der die verschiedenen Charaktere »gleichsam wie mit einem Silberstift deutlich überschrieben und die seelischen Vorgänge bei aller Mäßigung klar und ergreifend geschildert sind«. Noch deutlicher wird vielleicht, worauf Heyse hinauskommen will, in den Worten vor Wilhelm Jensens »Lycaena Silene«: »Eine Makartsche Neigung zu ganzen Farben, zu üppiger Beleuchtung und auf die Spitze getriebenen Motiven macht manche von Jensens bedeutendsten Arbeiten doch nur zu blendenden Proben eines ungewöhnlichen Talents, in dessen Schöpfungen wir Maß und Ruhe und den dämonischen Reiz des Einfachen vermissen. Wo jedoch der Dichter sich zu zügeln und mit seinem Reichtum hauszuhalten weiß, stehen ihm alle Gaben der Anmut, alle gewinnenden Herzenstöne zu Gebote, wie in der kleinen Novelle, die wir hier mitteilen, und deren lichte Tagesfarben nach unserem Dafürhalten das bengalische Feuer, das die Figuren des berühmten ›Eddystone‹ umflackert, in gesunder Frische und Klarheit überglänzen.«

Maß, Ruhe, dämonischer Reiz des Einfachen, gesunde Frische und Klarheit – das führt uns dann ohne weiteres zu Heyses eigener Novellentheorie, zu dem berühmten Wort vom Falken, den der Novellist auf der Hand haben muß. »Von einer Novelle, der wir einen künstlerischen Wert zuerkennen, verlangen wir, wie von 38 jeder wirklichen dichterischen Schöpfung, daß sie uns ein bedeutsames Menschenschicksal, einen seelischen, geistigen oder sittlichen Konflikt vorführe, uns durch einen nicht alltäglichen Vorgang eine neue Seite der Menschennatur offenbare. Daß dieser Fall in kleinem Rahmen energisch abgegrenzt ist, wie der Chemiker die Wirkung gewisser Elemente, ihren Kampf und das endliche Ergebnis isolieren muß, um ein Naturgesetz zur Anschauung zu bringen, macht den eigenartigen Reiz dieser Kunstform aus, im Gegensatz zu dem weiteren Horizont und den mannigfacheren Charakterproblemen, die der Roman vor uns ausbreitet.«

Über Tieck hinaus wies Heyse dann, insbesondere, nachdem er Berlin verlassen hatte, sein eigener, reifender Kunstverstand und der Einfluß seines Bonner älteren Freundes Jakob Bernays auf Goethe, bei dem er dann freilich weniger für die Technik der Novelle an sich – trotz der wundervollen Löwennovelle – als für die Technik der Prosaerzählung überhaupt vieles lernen konnte; an ihn, vor allem an die »Wahlverwandtschaften« knüpft Heyse im Grunde mit vielem ganz unmittelbar an. Alles, was er, zuerst instinktiv, dann bewußt, Maß und Lösung tiefer Probleme in äußerer Beschränkung nannte, traf mit dem, was Goethe, und gerade in seinem Meisterroman, weniger gelehrt als selbst schöpferisch dargestellt hatte, zusammen. In Heyses Lyrik finden wir freilich zunächst andere Spuren. War nach eigenem Geständnis in jenen Jugendmärchen der Einfluß Klemens Brentanos, in manchem Liede der Josephs von Eichendorff mächtig gewesen, so konnte sich Heyse, wie jeder Sohn seiner Zeit, dem Brentano mannigfach verwandten Geiste Heinrich Heines nicht ganz entziehen – wie er ihn überwunden hat, wird später zu zeigen 39 sein. Damals hat er mit all seinen Freunden Heine ganz selbstverständlich gründlich überschätzt und hat, wie noch im Jahre 1854 Hebbel, für Heine die seit Goethe verwaiste Krone der deutschen Lyrik gefordert – in einer Zeit, die Storm und Mörike noch nicht kannte und so zerrissen und politisch erregt war, wie Heyses Jünglingsjahre, nur zu selbstverständlich und im Hinblick auf die etwa in Frage Kommenden, Uhland, Eichendorff, Lenau und Geibel, nicht einmal ästhetisch sonderlich anfechtbar. »Deutschlands größte Dichterin«, Annette von Droste, hat Heyse wohl auch erst gleich Mörike später kennen gelernt und dann mit dem vollen Klang eines mitlebenden Herzens gefeiert. Und dennoch war Heyse, solang er, bis heut, an Heines Größe festgehalten hat, schon in den jungen Jahren der Kuglergruppe des Tunnels durchaus davon durchdrungen, »daß alle sogenannte Tendenzpoesie vom Übel sei«. Wie weit das unberechtigt war, hat er später klar erkannt, damals aber führte ihn die Entwicklung zu dem Dichter, der lange Jahre als Heines eigentlicher Gegenpol galt, wenn auch mehr Gesinnung und Haltung als Talenthöhe ihn dazu machten: Emanuel Geibel. Freilich war dieser Dichter keineswegs von Heinischem Einfluß frei, aber die in der ruhigen Sphäre des hansischen Elternhauses emporgekeimte und an homerischen Stätten genährte Fähigkeit maßvoller Aussprache, gehaltener Wiedergabe ließ diese fremderen Untertöne nicht recht emporquellen; die Zeitgenossen empfanden zwischen der Nüchternheit vieler Tunnelpoeten und der Überhitzung der politischen Sänger, »als wäre der Begriff der wahren Poesie, die vom Herzen zum Herzen spricht, eine Weile verloren gewesen und nun wieder aufgefunden worden«. Zu ihm also trat Heyse doch ein 40 wenig wie der Jünger zum Meister, und erst in jenen Bonner Semestern, die so vieles entschieden, vollzog sich auch, nicht die Abwendung von Geibel, aber jener Prozeß, in dem Heyse er selbst wurde, erkannte, wie wenig Tiefe in den ersten Gaben Geibels lag, der ja dann mit bewundernswerter Zucht sein Talent zu der ihm erreichbaren Höhe führte. Wie nach der Herausgabe der »Francesca von Rimini« Tieck Heyses Verleger vor dem jungen, zuchtlosen Talent warnen ließ, so war eigentlich Heyses Geibelperiode schon da zu Ende, als der hochherzige Freund ihm die Berufung nach München verschaffte. Die innige und männliche Freundschaft beider hat diese unausgesprochene Selbstbefreiung herzlich überdauert, bis an Geibels Tod, aber es war der Ausdruck der neuen Lage, daß Geibel, das literarische Haupt der Symposien, das noch das frische Talent Hopfens feinhörig herauserkannte, nicht zugleich an die Spitze des jungen literarischen Münchens, der Krokodile, trat, sondern daß dem so viel jüngeren Paul Heyse diese Stellung zufiel.

So ward Heyse denn der Führer dessen, was man wohl als Münchener Dichterkreis oder gar als Münchener Schule bezeichnet hat. Hervorgegangen war diese Entwicklung, wie ich oben erzählt habe, aus dem Tunnel, aber schon das ist bezeichnend, daß Geibel dem Tunnel nur flüchtig angehört hat, und daß Kugler und sein Schwiegersohn in ihm nicht die feste Stellung hatten, wie Scherenberg und Fontane, wie mancher Berlinische Poet von schmächtigeren Maßen. Das Preußisch-Derbe war nicht das Element der Kuglergruppe, aber die Versenkung in Geschichte und Sage, nicht nur preußische und nordische, lag diesen Dichtern viel mehr, so daß dann in ganz logischer Entwicklung der eigentliche 41 deutsche Klassiker der historischen Lyrik neben Konrad Ferdinand Meyer, Hermann Lingg, aus dem Münchener Kreise, von Geibel eingeführt, von Heyse gerühmt, hervorging. Wie wenig das Münchnertum eine Abwendung vom Leben bedeutete, hat die Analyse der Heysischen Novellistik gezeigt. Und deutlich tritt das Leben in der Lyrik und den besten Geschichten Hopfens, in manchen Stücken von Leutholds Epik, in den lyrischen Meisterstücken Linggs und in vielem anderem, in Scheffels »Ekkehard«, zutage, und das Schlagwort des Epigonentums, das so oft auf diesen Kreis angewendet wurde, hat seine Berechtigung nur, wenn man ungerechterweise die schwächeren Leistungen der Gruppe und ihrer Verwandten, etwa Julius Grosses Epen, Scheffels »Trompeter«, manches von Schack, die Lyrik von Allmers, Bodenstedts Spruchweisheit, in den Vordergrund der Betrachtung zieht, was bei dem großen Reichtum und der Zahl der Persönlichkeiten dieses Kreises nicht wohl angängig ist. »Wir hatten«, sagt Heyse, »den Idealismus, zu dem wir uns freudig bekannten, niemals so verstanden, als ob seine Aufgabe eine Entwirklichung der Natur und des Lebens zugunsten eines konventionellen Schönheitsideals sein könne.« »Wir konnten«, fährt er fort, »einen Gegensatz von Realismus und Idealismus nicht anerkennen, da wir uns eines hinlänglichen Wirklichkeitssinnes bewußt waren und den Wert einer dichterischen Produktion zunächst nach der Fülle und Wahrheit des realen Lebensgehalts maßen, der sich darin offenbarte. Wo wir den vermißten, konnte uns kein Reiz und Adel der äußeren Form für die mangelnde tiefere Wirkung entschädigen.« Wobei nur hinzuzufügen ist, daß es hier statt »wir« im Grunde »ich« heißen muß, weil keiner der Münchener Genossen 42 zugleich den freien Blick und das Maß an Kräften für die eigene Dichtung hatte, wie eben Heyse. Freilich gewann auch er zu dem gleichzeitig neben dem Münchener Kreise und seinen Freunden in den fünfziger Jahren emporwachsenden großen Realismus keine gleichmäßig warme Mitempfindung. Daß er Otto Ludwigs erzählende Kunst bewunderte, ist selbstverständlich – aber zu Friedrich Hebbels Drama mochte er sich nie mit warmer Liebe bekennen, so sehr er auch noch in spätesten Jahren (1907) beklagt hat, daß unser Theater in Ausländerei versunken, gar ins Perverse vergafft sei:

Noch steckt uns der Bescheidenheit Gebresten
Zu tief im Blut. Doch mehren sich die Zeichen,
Daß nun zu Ehren kommen unsre Besten.

Wem haben wir im Tragischen zu weichen?
Wo sind, die unter all den fremden Gästen
An unsre Kleist, Grillparzer, Hebbel reichen?

Der Dramatiker seines Herzens unter den neueren war Franz Grillparzer, wie seines Herzens Musiker nicht Wagner, sondern Beethoven und Mozart waren. Ihm, Grillparzer, hat er, da der greise Dichter in seiner selbstgewählten Einsamkeit fast vergessen schien, dauerndes, immer wiederkehrendes Leben vorausgesagt. Und wenn Heyse sich in den beiden Münchener Dichterbüchern, deren erstes Geibel 1862, deren zweites Heyse selbst 1882 herausgab, manch sonderbaren und schwächlichen Weggesellen gefallen lassen mußte, so hat sein unbeirrter kritischer und vor allem poetischer Blick immer das im Grunde jeder Schule fremde und ganz persönliche künstlerische Schaffen fest im Auge gehabt und seine eigene Art durchgehalten. So vor allem ward er in den Meisterjahren mit Gottfried Keller, den er aufs höchste 43 bewunderte und liebte, zunächst der eigentliche Klassiker der deutschen Novelle. Denn so viel der Erneuerung und des frischen Lebens Lyrik, Drama, Roman der Bewegung danken, die just gleichzeitig mit dem Erscheinen des neuen und abschließenden Münchener Dichterbuches einsetzte – in der Novelle ist es nicht gelungen, irgend einen Pfad zu gehen, der über Keller, Heyse, Meyer hinausführte. Was da neue Wege geht, ist bisher meist Skizze geblieben, und nur Liliencrons impressionistische Kriegsnovellen brachten einen neuen Klang, der aber, der größte Nachhall und die schönste Frucht der Jahre 1866 und 1870, doch im Gefüge der deutschen Novellendichtung eine ganz persönliche Gabe, man kann sagen eine Spezialität darstellt – sonst ist die heutige Novellendichtung im wesentlichen Skizzierung, die Skizze der Ausdruck dessen geworden, was Kellers und Heyses Geschlecht zur Novelle schuf. 44

 


 


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