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Klammbach-Durchbruch

Dem schönen, gewitterreichen Sommer mit seiner reichen Getreideernte folgte ein milder Herbst, und diesem ein harter Winter mit ungewöhnlich schweren Schneestürmen und Frösten. Er schien kein Ende nehmen zu wollen. Noch zur Frühlings-Tagundnachtgleiche lagen die Lehnen unter gefrorenen Schneemassen.

Als endlich der langersehnte Föhn über die Grableiten fegte und, vom Talgrund abprallend, über die Südwand emporstürmte, da stürzten die Schneewasser als Wildbäche von den Höhen; sie rollten und schoben das vom Frost abgesprengte, beim Tauen des Eises zu Tal gegangene Gestein vor sich her in den See. Dort wurden die abgelagerten Schottermassen von der Wucht der Wasser weitergedrängt und stauten sich vor der Schlucht, wo angeschwemmtes Schilf und Holz einen Damm bildeten.

Der Klammbachsee stieg zusehends. Vor den Augen der Sonnleitnerleute glänzte wieder eine einzige Wasserfläche, bedeckte den Talgrund von den Klammwänden an über den Sonnstein bis zu den alten Wohnhöhlen. Eintönig rauschte die Ache zwischen den Wänden der Klamm. Gewiß würden die Fluten wieder sinken, wenn erst die Schmelzwasser von oben versiegten. Besorgniserregend aber war die seltsame, unnatürliche Fröhlichkeit Evas, die mit den Augen von ihrem Sonnenplatz aus dem Strömen der Flut folgte. Sie wartete auf etwas Wunderbares, Erlösendes. Nach zwei schlaflosen Nächten war sie so schwach, daß sie nicht aufstehen konnte. Hans wagte nicht, sie allein zu lassen. Peter aber machte täglich auf seiner Plätte weite Fahrten kreuz und quer über den Talsee, der schon die Mauer des Saugartens bespülte. Er wußte, daß die Kranke bei Hans gut aufgehoben war, daß dessen Gesellschaft ihr wohltat. Was hätte es auch genützt, wenn er dageblieben wäre, wenn er mit ihr gesprochen hätte, wie ihm ums Herz war, sooft er sie leiden sah – wenn er ihr gesagt hätte, wie er mit Gott und den Hausgeistern haderte, die es geschehen ließen, daß ihm sein Liebstes dahinsiechte? Er hätte ihr das Herz schwer machen müssen mit der Frage, die ihn in nüchternen Stunden peinigte, mit der Frage, was aus ihm und Hans werden sollte nach Evas Tode, die allein das Leben lebenswert machte. Solange sie noch im Haus und Garten herumgegangen war, hatte er auf ihre Genesung gehofft. Jetzt hoffte er nicht mehr, er wartete nur auf das Schreckliche, dem er nicht entrinnen konnte – auf ein Leben ohne Eva.

Das Einholen von angeschwemmtem Holz und ertrunkenem Wild war für Peter nur ein Vorwand, dem Jammer im Haus zu entgehen. Nicht der Felle wegen wagte er sich auf die schwer dahinströmenden Wasser; denn an Fellen war mehr vorhanden, als die drei Menschen brauchten; je anstrengender die Arbeit außerhalb des Hauses war, um so eher vergaß er seinen Kummer. Und nach einem tüchtigen Schluck aus dem Met-Topf wurde er sogar fröhlich.

Es kamen Tage, an denen Eva kaum ihr Bett verließ. Sie litt keine Schmerzen, sie war nur furchtbar müde. Die Sorgen um die Häuslichkeit beschäftigten sie nicht mehr. Ob die Hunde, Schweine, Katzen, Ziegen jungten, ob die Enten ihr Futter bekamen, sie fragte nicht mehr danach. Der warme Föhn brachte ihr Atemnot. Dann verfiel sie in einen von Träumen erfüllten Halbschlummer, in dem sie flüsternd mit sich selbst, mit Gott oder mit der Ahnl redete, die sie wohl in ihrer Nähe wähnte. Morgens lag sie lange in schwerem Schlaf. Ihr Atem hob kaum merklich das leichte Rehfell der Bettdecke. Hans, der sie beobachtete, mußte oft lange hinschauen, ehe er dessen gewiß war, daß seine Mutter noch atmete.

Erst gegen Mittag, wenn die Sonne auf die blühenden Primeln und Maßliebchen schien, die Hans in Näpfen auf das Fensterbrett gestellt hatte, und Finken, Gimpel und Zeisige im Gezweig der Hausfichte ihre Frühlingslieder schmetterten, kam in die überzarte Gestalt ein Leben, das den Sohn immer wieder mit Hoffnung erfüllte. Die Stimme, mit der sie ihren »Buben« – so nannte sie ihn noch immer – um etwas bat, war klar und hatte sogar einen scherzhaften Klang: »Komm Hansl, jetzt mußt mich bemuttern, hast mich wieder in den hellen Mittag hineinschlafen lassen, jetzt rühr dich aber: waschen, essen!«

Und schon war Hans mit der Waschschüssel bei ihr, tauchte ein Stück Leinen in das kühle Wasser, wusch der Mutter, die sich im Bett aufgesetzt hatte, Gesicht, Hals und Hände und trocknete sie mit einem vorgewärmten Tuch ab. Er kämmte ihr das lange blonde Haar und legte ihr das Stirnband an. Unter das Stirnband aber schob er kleine Sträuße, Goldprimeln und Veilchen. Dann ging er in den Stall, frischgemolkene Milch zu holen, die seit langem Evas einzige Nahrung bildete.

Sie trank die Milch nicht aus; den Rest überließ sie ihrer Lieblingskatze, einer Enkelin der unvergeßlichen Schnurri, die an Zutraulichkeit von keinem anderen Haustier des Sonnleitnerhofes übertroffen wurde.

Behutsam trug Hans die Mutter von ihrem Lager auf das seine, dessen wohldurchlüftete und wohldurchsonnte Felldecken und Matten einen Hauch der Morgenfrische ausströmten.

Er brachte ihr die Katze, die sich umständlich in die Armbeuge ihrer Herrin kuschelte und vor sich hin schnurrte.

Und während die dünn gewordenen Finger der Kranken das weiche Fell der Katze streichelten, folgten ihre Augen dem Sohn, der das Bettzeug der Mutter hinaustrug auf den Birkenzaun des Laubenganges. Dann kam eine Plauderstunde, die alle Sorgen vergessen machte. Hans holte eine dunkle Schieferplatte, nahm ein Stück Speckstein und zeichnete der Mutter die Geschichte ihres Lebens. So ging der Tag dahin. Hans brachte die Mutter in ihr frischgemachtes Bett zurück, sang ihr ein wenig vor und plauderte sie dann wie ein Kind in den Schlaf.

Als der Vater am Abend heimkam und leise fragte, wie es der Kranken gehe, konnte Hans mit gutem Gewissen sagen: »Gut, Vater, gut geht's ihr.«

Eines Tages mußte Hans die Schweine in die Bärenhöhlen schaffen, weil die steigende Flut das Gartenland zu überschwemmen drohte. Ihn verdroß, daß der Vater schon in aller Frühe gegangen war und er die Mutter allein lassen mußte. Freundlich schien die Sonne auf die weite Wasserfläche, aus der die Kronen des Laubwaldes ragten.

Die Tiere waren versorgt. Hans war wieder bei der Mutter. In der Stube, deren Fenster mit Matten verhängt waren, herrschte traumhaftes Zwielicht. Gleichmäßig fielen die Tropfen der Wasseruhr. Die Kranke schlief.

Nachmittags erwachte sie zu ungewohnter Stunde an einem machtvollen Dröhnen, das aus der Klamm zu kommen schien. Als wären plötzlich alle ihre Lebenskräfte zurückgekehrt, setzte sie sich mit einem Ruck auf und rief nach Hans. Kaum hatte er sich auf dem Bettrand niedergelassen, umfaßte sie seinen Kopf mit beiden Händen und küßte ihn.

Hans, den das Dröhnen so beunruhigte, daß er am liebsten hinausgeeilt wäre, um nachzusehen, was vorging, mußte eindringlich fragen: »Mutter, was ist? Mutter, was ist, was hast du?« ehe sie zu sprechen begann.

Mit zitternden Händen strich sie ihm die Haare aus der Stirn und sagte langsam, jedes Wort wägend: »Hans, hör zu! Gott der Starke hilft – ich hab ihn gebeten. – Hörst du den Klammbach brausen? – So hat er gelärmt, damals, als das große Wasser durch die Klamm gelaufen ist – das große Wasser, vor dem wir in die Bäume auf dem Fuchsenbühel gestiegen sind. – Damals hat's die Klamm verlegt und dann nur halb freigegeben. – Aber jetzt, jetzt wird der Weg ganz frei werden, der Weg durch die Klamm. – Hörst du? Der Weg in die große Welt wird frei! Er wird frei, ich weiß es!«

Sie schob seinen Kopf auf Armeslänge zurück und sah ihm gespannt in die Augen. Er aber brachte kein Wort hervor.

Da begann sie wieder: »Oh, sag nur, was ich schon lang weiß – du magst nimmer dableiben im Heimlichen Grund du kannst nicht – und es wär auch schad um dich!«

Da schüttelte Hans abwehrend den Kopf, jetzt schämte er sich seiner geheimen Sehnsucht, die sie erraten hatte.

»Ich weiß wohl, du gehst nicht, solange ich lebe – nur solange ich lebe, bist du gefangen im Heimlichen Grund; dann aber bist du frei – ich hab keine Angst, wie's dir gehen wird, Hans – verlaß nur den Vater nicht!«

Ihre Stimme klang weich, und wieder zog sie seinen Kopf zu sich herunter. Und während sie ihm zusprach, er solle nicht weinen, begann sie selbst zu schluchzen. Und wieder fing sie an: »Wenn ihr mich begraben habt – dann suchst du den Weg durch die Klamm – hinaus in die große Welt, wo andere Menschen wohnen.« Die Lebhaftigkeit, mit der sie sprach, stand nicht im Einklang mit ihrem langen Siechtum. Flackerte ihre Lebensflamme zum letztenmal auf vor dem Erlöschen?

Den Mund an das Ohr des Lauschenden gepreßt, fuhr sie eindringlicher fort: »Aber sucht euch einen sonnigen Tag aus – einen sonnigen Tag nach vielen sonnigen Tagen, daß euch kein Steinschlag trifft in der Klamm.«

Da fuhr Hans zurück: »Mutter, ich bitte dich, hör auf! – Red nicht so, du darfst nicht sterben, du darfst nicht!«

»Sei still, Hans, sei still. Das Sterben ist nicht so, wie du meinst. Ich hab die Ahnl lebend gesehen, ich hab sie einschlafen sehen, und dann war sie tot; kalt ist sie geworden, und wir haben sie begraben. Ihr Atem hat ihren Leib verlassen und hat sich mit dem Atem des Allmächtigen vereinigt, und der Allmächtige ist überall. Darum ist sie auch immer bei uns gewesen, hat uns bewacht und beraten. Ich habe sie oft im Traum gesehen, habe mit ihr reden können. Und sie ist mir beigestanden in meinen schwersten Zeiten. Auch heut nacht war sie bei mir. Ihr Geist war immer da, bei mir, in mir. So wird auch mein Geist bei dir sein, Hans, – er wird dich hinausgeleiten aus dem Heimlichen Grund in die große Welt und wird dir den Weg weisen.«

Da bedeckte Hans sein Gesicht mit den Händen und weinte still vor sich hin.

Das ferne Dröhnen in der Klamm dauerte an, die Luft bebte, und Hans war es, als erzitterten die Balken des Stubenbodens unter seinen Füßen. Die Mutter atmete leise.

Nach einer Weile erst hob sie wieder an, als wollte sie ein Bedenken, das Hans noch haben mochte, zerstreuen. »Vor den Menschen da draußen müßt ihr keine Angst haben. – Die der Ahnl ans Leben gewollt haben, die sind alt oder tot. Und die anderen wissen nichts von ihr, nichts vom Vater und nichts von dir. – Ob sie gut oder bös sind? Ach Gott, sie sind, wie sie sind – gut und bös. Und ehe du eine Frau nimmst – Hansl, hörst du mich? – ehe du eine Frau nimmst, schau gut, ob sie von den Guten eine ist. Sie soll fröhlich sein und euch beide froh machen. – Daß die Menschen dich gut aufnehmen, dafür weiß ich dir einen Rat. Paß auf: Wo du jemand schwer arbeiten siehst, dort hilf – dort hilf ...«

Eva lehnte sich erschöpft und wie erlöst zurück und schloß die Augen.

Hans aber war entschlossen, die Nacht über bei der Mutter zu wachen. Er setzte sich in den Lehnstuhl am Kopfende ihres Bettes. Ihre beiden Ratschläge, vielleicht die letzten Worte einer Sterbenden, wollte er in seiner Bilderschrift niederschreiben, damit keines ihm jemals entfiele. Plötzlich erinnerte er sich des Vaters. Wo der nur so lange blieb? Ob ihm etwas geschehen war? Wie sehr er ihn liebte, empfand er jetzt, wo er ihn vielleicht verlor. Und er begann zu beten. Das Gesicht der Mutter vor den Augen, flehte er, daß sie erwachen möge, damit er den Vater suchen, ihn retten könne, den Vater, den Vater ...!

Und als ob sein starker Wille der Mutter neue Kraft gegeben hätte, röteten sich ihre Wangen, ihre Lider zuckten, sie öffnete die Augen weit: »Wo ist der Vater?« – Hans beugte sich über sie.

Noch ehe er antworten konnte, hatte sie ihn an den Schultern gepackt und schrie ihn an: »Wo ist er? Sag's, sag's!«

»Noch draußen«, kleinlaut brachte er es hervor.

Da schüttelte sie ihn mit einer Kraft, die er ihr nicht zugetraut hätte; ihre Finger gruben sich in das Fleisch seiner Oberarme, und befehlend stieß sie hervor: »Hol ihn, sonst nimmt ihn die Klamm!«


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