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Swirlager

 

Geviert 19

Aus der BBK-Liquidkom wurde ich vorübergehend zu dem Stabe der Abteilung Podporog des Swirlagers versetzt. Dieser Stab befand sich nebenan im gleichen Dorfe in einer geräumigen und sauberen Wohnung eines ehemaligen Abteilungschefs des BBK.

Man bestellte mich zum »Wirtschaftsplanator« mit in keiner Weise einleuchtenden Funktionen und Pflichten. Jede sich selbst achtende Sowjetanstalt hat unbedingt eine Planabteilung, niemals weiß diese Abteilung, was sie Vernünftiges zu tun hat, da aber die Sowjetwirtschaft eine Planwirtschaft ist, so sind all diese Abteilungen emsig damit beschäftigt, leeres Stroh zu dreschen.

Diese Tätigkeit stand auch mir bevor, nur mit der Komplikation, daß eine Planabteilung überhaupt noch nicht da war, und daß sie neu geschaffen werden mußte, damit das Lager sozusagen »von dem sozialistischen Aufbau des Landes« nicht zurückblieb, und damit es »wie bei den Menschen« verliefe. Zu planieren gab es aber rein gar nichts; denn das Lager war wie jedwede Sowjetwirtschaft auf solchem Sande gebaut, dessen Tücken man niemals vorausberechnen konnte. Heute werden aus dem Lager – selbstverständlich ohne Wissen aller »Planorganisationen« – fünf- bis zehntausend Bauern entnommen. Morgen schickt man in das gleiche Lager zwei- bis dreitausend Urkis. Heute wird das Brot angeliefert – morgen wird es nicht angeliefert. Heute hat man ein leichtes Frostwetter, und folglich werden halbnackte Swirlagerinsassen im Walde leidlich murksen können, und die Schindmähren werden die Baumstämme irgendwie von der Stelle bringen. Wenn es morgen Frostwetter gibt, dann werden diese halbnackten Menschen kein Holz gefällt haben. Gibt es Tauwetter – dann werden auf den aufgeweichten Wegen die Schindmähren nicht einen einzigen Wagen fortbringen können. Gestern saß ich im Liquidkom wie so ein Tippgirl, heute bin ich Chef der nichtexistierenden Planabteilung, und morgen werde ich vielleicht im Walde Holz fällen. Da soll hier einer »planieren«.

Meine Tätigkeit begann ich mit dem Studium des Swirlagers. Zunächst stellte ich fest, daß das Swirlager sich fast ausschließlich mit der Gewinnung von Brennholz befaßte und nur zum Teil Bauholz für Leningrad und für den Export zuschnitt. Damit dieses Holz nicht so anrüchig wirkte, wurde es zunächst an verschiedene Deckfirmen geliefert, wie zum Beispiel an »Nordwest-Waldtrust«, »Koopwald« und ähnliches – um dann, schon im Namen dieser Firmen, nach Leningrad weitergeliefert zu werden.

Im Swirlager befanden sich etwa siebzigtausend Häftlinge mit fast täglichen Schwankungen von fünf- bis zehntausend. An intellektuellen Kräften hatte es noch weniger als das BBK – im ganzen etwa zweieinhalb Prozent; bedeutend mehr Arbeiter – zweiundzwanzig Prozent (wahrscheinlich durch die Nähe Leningrads); etwas weniger Urkis – etwa zwölf Prozent. Der Rest bestand aus Bauern, hauptsächlich von dem einst prächtigen Bauernschlag Westsibiriens.

Das Swirlager war sogar im Vergleich mit dem BBK ein bettelarmes Lager. Die Verpflegungsnormen wurden bis zur letzten Möglichkeit beschnitten, bis zu den Grenzen eines klinischen Hungerns der gesamten Lagerbevölkerung. Die Vorräte der Unterlagermagazine waren so gering, daß die kleinsten Stockungen in der Proviantanlieferung die Lagerbevölkerung sofort ohne Brot ließen und gewaltige »Produktionsdurchbrüche« nach sich zogen.

Selbst den Gerstenbrei bekamen die Lagerinsassen sehr selten. Die Verpflegung bestand aus kaum genießbarem Brot, bereits gärendem Sauerkraut und angefaultem Fisch. Die Norm der Brotrationen lag um fünfzehn Prozent niedriger als im BBK. Der angefaulte Fisch führte öfters zu Massenmagenerkrankungen (in welchem Plan war dies vorgesehen?). Die Produktion des Lagers fiel fast bis zum Nullpunkt, der Abteilungschef bekam von Lodenfeld eins aufs Dach, wagte es aber nie, auf das Donnerwetter die sicherlich unbestreitbare Tatsache anzuführen, daß daran die angefaulten Fische schuld waren; denn dieser angefaulte Fisch kam von denselben Vorgesetzten, die das Donnerwetter losließen. Wo soll man dann hin, wem kann man was sagen?

 

»Inventarisierung«

Unsere Abteilung mußte täglich gewaltige Aufstellungen über den Stand der Produktion einreichen. In einer dieser Aufstellungen war eine besondere Spalte vorgesehen: »Fehlanzeigen wegen Mangels an Kleidung und Schuhzeug«. Ende Februar, Anfang März setzte Frost ein, und die Ziffern dieser Spalte begannen katastrophal zu wachsen. An Kleidung und Schuhzeug war großer Mangel. Die Ziffern der Erkrankten und Erfrorenen wuchsen an, in einer bedrohlichen Anzahl traten die »Selbsthauer« auf – um nur nicht in den Wald gehen zu müssen, wo sie dem sicheren Untergang geweiht waren.

Offensichtlich ging es auch den anderen Lagern nicht besser; denn wir erhielten von der GULAG den Befehl zur Inventarisierung der gesamten im Lager vorhandenen Bekleidung, darunter auch der eigenen. Weiter wurde im Befehl angeführt, daß die nunmehr inventarisierte Bekleidung so zu verteilen ist, daß nach Möglichkeit die im Walde arbeitenden Brigaden entsprechend angezogen werden.

Doch waren im Swirlager fast alle Insassen einfach halbnackt … Man beschloß, einige Kategorien von Lagerinsassen: »Schwachkraft«, »Durchbringer«, Urkis – fast bis aufs Hemd zu entkleiden. Es wurde beschlossen, sogar dem Dienstpersonal Schuhe und Filzstiefel abzunehmen … Für die Urkis hat man in absehbarer Zeit eine besondere Uniform projektiert: aus grellen und bunten Fetzen zusammengenähte Kittel, um dem sehr verbreiteten Versaufen der Kleidung auf diese Weise Einhalt zu gebieten.

 

Ausplünderung der Halbnackten

Diese Arbeit wurde der Lagerverwaltung aller Dienststufen auferlegt. Wir, die »technische Intelligenz«, waren für diese Sache ohne jeden Plan und Sinn »mobilisiert«. Man schob mir ein Mandat zu, das besagte, daß ich sofort die Inventarisierung der Uniformierung auf dem Geviert 19 zu leiten habe, irgendwelche halbwegs vernünftige Instruktionen bekam ich überhaupt nicht, und meine diesbezüglichen Versuche verliefen ergebnislos. So stampfte ich mit diesem Mandat zwölf Kilometer weit von Podporog nach einem Unterlager.

Ich gehe ohne Wache. Es herrscht starker Frost, ich habe aber einen eigenen Sweater, eine eigene Lederjoppe, einen wattierten, noch vom BBK stammenden Buschlat, den ich seinerzeit ganz offiziell bekam. An den Füßen gute BBK-Filzstiefel, die ich mir allerdings auf illegalen Wegen verschaffte. Es ist angenehm, in dem frostigen Wetter fast frei daherzugehen und zu fühlen, daß wenigstens ein Teil der früheren Kräfte zurückgekehrt ist. – Wir haben inzwischen zwei große Pakete aus der Freiheit verkonsumiert. Zwei weitere Pakete verschwanden auf der Post und eins aus dem Zelt, was sehr verdrießlich war.

Vor dem Eingang zum Unterlager stand ein wackliges Wächterhäuschen, davor ein Holzfeuer und an dem Feuer zwei WOCHR-Männer. Sorgfältig prüfen sie meine Ausweise. Das Unterlager ist mit dichtem Drahtverhau umgeben und ringsherum durch Posten bewacht. Es stehen auch im Innern des Unterlagers Posten. Der Verkehr ist ganz eingestellt und die gesamte Bevölkerung des Unterlagers in ihren Baracken eingeschlossen. Um die kostbare Arbeitszeit nicht zu verlieren, hat man für die Inventarisierung den arbeitsfreien Tag ausgesucht. Fast immer ist es so, daß die Lagerinsassen an den arbeitsfreien Tagen mit irgend etwas überrascht werden: mit einem »Udarniktag«, der Inventarisierung oder etwas ähnlichem.

Im Kabinett der RVA erteilen die Vorgesetzten die letzten Anordnungen, und ich sehe, daß ich hier nichts »zu leiten« haben werde. Dort, wo es sich um die Entkleidungs- und Plünderungsmaßnahmen handelt, wirkt der »Aktiv« blitzschnell und ohne Fehl. Darauf ist er trainiert, und nur dazu ist er auch fähig.

Ich dachte bisher, daß man im Raum »eines Sechstels der Erdkugel« bereits alles, was man nur konnte, ausgeplündert hatte. Es erwies sich aber, daß ich im Irrtum war. – An diesem Tage stand es mir bevor, bei der Ausplünderung von so armen und elenden Menschen anwesend zu sein, bei denen eine Ausplünderung eigentlich unmöglich schien. Es sei denn, man wolle ihnen die Haut für den Export nach dem Ausland abziehen.

 

Verlauste Hölle

In der Baracke ist es heiß und dunstig. Beide »Standardöfchen« sind fast weißglühend. Durch die Baracke rasen wie besessen die »Operationsmannschaften«, WOCHR, Häftlinge und allerhand Vorgesetzte des Standortes durcheinander. Unsinniges Kommandogeschrei, Genickstöße und bedrückendes, unflätiges Lagergeschimpfe. Fürchterlich zerlumpte Menschen, ausgemergelte, erdfahle Gesichter.

An einem Ende der Baracke steht ein Tisch für die »Kommission«. Die »Kommission« – das bin eigentlich ich und sonst niemand; denn das übrige »Vorgesetztentum« ist nur zur Aufrechterhaltung der »Ordnung« da. An das andere Ende der Baracke werden die Lagerinsassen zusammengetrieben – mit und ohne Sachen. Das Zusammentreiben geht vor sich mit unnötiger Grobheit, mit Schlägen und mit dem Auseinanderschmeißen der kläglichen Habseligkeiten der Lagerinsassen … Das ist nicht mehr Jakimenko mit seiner Direktorenaktentasche, mit seinen manikürten Händen und mit seinem: »Seien Sie so liebenswürdig« … Oder ist es vielleicht einfach ein anderes Gesicht Jakimenkos?

Chaos und Kaschemme. Anordnungen werden gleichzeitig von acht Mann erteilt – jeder tut es nach seiner Art. Deshalb weiß niemand, was von ihm verlangt wird und worum es sich eigentlich handelt. Endlich sind dreihundert Häftlinge an einem Ende der Baracke zusammengetrieben, und die »Inventarisierung« beginnt.

Vor mir liegen die Verzeichnisse der Häftlinge mit den Vermerken über die Anzahl der geleisteten Arbeitstage und ein Haufen »Armaturbücher«. Das sind kleine Heftchen aus gelbem, porösem Holzpapier, worin gewöhnlich mit Bleistift die gesamte dem Häftling ausgegebene Montur eingetragen wird.

Die Heftchen sind abgenutzt, das Papier ist vielfach aufgetrennt, die Eintragungen teilweise verwischt. Größtenteils sind diese Eintragungen überhaupt unleserlich, obwohl es sich hierbei um solche »Materialwerte« handelt, deren Verlust der Häftling zum zehnfachen Preis wieder ersetzen muß. Selbstverständlich kann er solchen Preis niemals entrichten, dafür aber werden ihm die schäbigen drei Rubel entzogen, die er monatlich manchmal als »Anerkennungsprämie« bekommt und welche ihm von Zeit zu Zeit die Möglichkeit verschaffen, sich an der rationierten Machorka oder dem Zucker zu laben.

Zwischen den Eintragungen der Montur im Heftchen und dem tatsächlichen Vorhandensein bei dem Häftling gibt es nicht einmal eine annähernde Übereinstimmung. Da steht vor mir ein fast gar kein Russisch verstehender Bergbewohner aus Dagestan (Kaukasus), halbtot von Skorbut. Der ihm laut Heftchen gelieferte Baschlat ist nicht vorhanden. – Es soll einer daraus klug werden, ob es seine Unterschrift in Form eines schiefen Kreuzchens in der Spalte »Unterschrift des Häftlings« ist. Hat er tatsächlich den Buschlat bekommen, oder ist er von dem betreffenden Zeughauswärter in Gemeinschaft mit dem entsprechenden Vorgesetzten versoffen oder mit Hilfe irgendeines durchtriebenen Urkas nach dem Markt in Olonetzk verschoben und dann dem nichtsahnenden Dagestaner in das Heftchen eingetragen worden?

Wieviel Hektoliter des Sowjetfusels wurden in die bodenlosen Vorgesetztenkehlen hinuntergestürzt und alles auf Kosten der niemals ausgegebenen Lageruniformen, Stiefel, Hosen, die man als ausgegeben verbuchte, und zwar an die bereits Verstorbenen, an die Entflohenen, an die Versetzten, an all diese Analphabet- und Halbanalphabetbauern oder an die der russischen Sprache nicht kundigen »Nationalminderheiten«. Und nun wird dafür in Tschita oder auf Wischera oder am Swir ein Hadschi-Halef seine letzten Groschen hergeben müssen. Er soll versuchen, zu beweisen, daß die in das Heftchen eingetragenen Stiefel niemals an seinen von Skorbut geschwollenen und offenen Füßen waren! Und das noch hier, auf dem Geviert 19. So zahlt Hadschi-Halef seine drei Rubelscheine endlos weiter … Allerdings wird man von dem vor mir stehenden Hadschi-Halef nicht viele Drei-Rubel-Scheine mehr bekommen.

Der Prozeß der Inventarisierung geht folgendermaßen vor sich: Aus der Menge der zusammengetriebenen Häftlinge wird laut Verzeichnis der erste aufgerufen. Er geht zu seinem ständigen »Wohnort« an den Stellagen, nimmt seine ganze Habe und tritt an den Tisch »der Kommission«. Auf den Wohnort stürzen sich wie die Spürhunde zwei Mann von der »Operationsabteilung« und suchen blitzschnell alles ab. – Kriechen unter und über die Stellagen, ziehen aus den Löchern das zerknüllte Papier und die Lumpen heraus, mit welchen die zahlreichen Barackenlöcher abgedichtet waren, stochern den Lehm heraus, mit dem zahllose Wanzennester zugeschmiert waren.

Zwei andere stürzen sich auf den Häftling, betasten ihn, kehren ihm seine ganzen Lumpen um, sind sogar bereit, wenn es technisch möglich wäre, ihn selbst umzukehren. All das ist nicht nötig – es steht auch nicht in der Instruktion, doch ist die Gewohnheit die zweite Natur.

In meinem Leben habe ich viel Schmutz, Hunger, Armut und allerhand zerlumptes Volk gesehen. Ich sah die Hungersnot in Südrußland, entkulakisierte und nach Mittelasien verbannte Bauern, Arbeitergemeinschaftswohnungen auf den Torfstichen, doch so etwas Ähnliches habe ich noch nie gesehen.

In der Baracke war deshalb so stark geheizt, weil die Hälfte der Menschen fast nackt waren. Zwischen den »Operationsmannschaften« und den zu »Inventarisierenden« entstanden oft folgende Meinungsverschiedenheiten: sind zwei Hemden für eins anzusehen in dem Falle, wenn die beiden so angezogen waren, daß die ganzen Stellen des oberen Hemdes die Löcher des unteren Hemdes zudeckten und die Löcher des unteren Hemdes mehr oder weniger die Löcher des oberen Hemdes maskierten. Jedes von beiden getrennt genommen, war eigentlich überhaupt kein Hemd, sogar nach den Maßstäben des Sowjetlagers – doch beide zusammen gaben sie dem Menschen die Möglichkeit, wenigstens nicht ganz nackt herumlaufen zu müssen. Oder: der Häftling hat offensichtlich zwei Hosen an, aber bei einer fehlt ein Hosenbein und bei der zweiten ist der hintere Teil nicht vorhanden. Allerdings wimmeln beide Hosen von Läusen.

Die »Operationsmannschaften« wollten alles wegnehmen, einfach aus der Gewohnheit am Plündern nach dem langjährigen Training in Entkulakisierung der fremden Hosen. Wie ich mich auch sträubte, lag am Ende der »Inventarisierung« in einer Barackenecke ein ganzer Haufen total verlauster Lumpen, die nicht mal auf einem Kehrichthaufen eines Burschuilandes denkbar wären.

»Werden sie nicht zum Baden geführt?« fragte ich den Kolonnenführer.

»Sie haben doch nichts anzuziehen. Sie werden auch selbst nicht gehen.«

In der Tat hatte mindestens die Hälfte der Baracke buchstäblich keine Oberkleidung.

Manchmal gab es auch etwas besser Gekleidete. Da stand einer – an einem Fuß einen Filzstiefel, an dem anderen einen Bastschuh. Den Filzstiefel nimmt man ihm ab in der weisen Voraussicht, daß in einer anderen Baracke sich der zweite dazu finden wird. Manche Bergbewohner aus dem Kaukasus haben ihre traditionellen, bis an die Knöchel reichenden Umhänge aus Kamelhaar an und darunter nichts oder fast gar nichts. Die »Operationsmannschaften« stürzen sich auch auf diese Umhänge, doch sind sie in den üblichen »Monturverzeichnissen« nicht enthalten, und es gelingt nicht, die Bergbewohner zu entkulakisieren.

 

Sterben und verderben …

Das Geviert 19 war, wenn auch nicht offiziell, eine Strafversetzung. Zwar nicht so, wie die offiziellen Strafversetzungen, wo jeder WOCHR-Mann, wenn nicht das Recht über Leben und Tod zu jeder Stunde des Häftlings, so auf jeden Fall das Recht auf Mord beim »Fluchtversuch« hatte. Hierher schob man auch allerhand verlorenes Volk ab – Drückeberger, Schieber, Simulanten, Urkis, am meisten aber die Menschen, die aus dem oder jenem Grunde den Vorgesetzten nicht genehm waren. Wie überall, waren die Urkis auch hier weniger verhungert und weniger zerlumpt als die Bauern, Arbeiter und »Nationalminderheiten«. Dem Urka gelingt es immer, sowohl sich selbst zu »versorgen« als auch das von den Vorgesetzten Geklaute zu verschieben. – Obendrein ist er noch das »sozial nahe Element«.

Wie heute denke ich an einen Bauernriesen – einen Sibirier. Was für eine übermenschliche Kraft besaß dieser Bauer einst! Als die »Operationsmannschaften« ihm den abgetragenen und schmutzigen, doch immerhin sorgfältig geflickten Buschlat auszogen, sah ich unter den verlausten Lumpen eines Hemdes ungeheure Gliedmaßen und Sehnen. Die Muskeln waren vom Hungern bereits aufgezehrt. An Stelle von Brustmuskeln blieben nur Einbuchtungen in Form von Mondkratern und darunter sah man die scharf umrissenen Rippen. Mit seiner gewaltigen, schwieligen Tatze deckte er genierlich das durchlöcherte Hemd zu – wie viele Morgen Steppe konnte eine solche Hand aufpflügen! Wieviel Münder konnte er ernähren! … Doch bleibt die Steppe ungepflügt, die Münder ungesättigt – und der Besitzer dieser Riesenhand verfault hier lebendig.

Phantastisch dumm war das alles.

»Wofür kamen Sie hierher?« frage ich den Bauern.

»Für Kulakentum …«

»Ich meine, warum Sie auf dieses Unterlager kamen?«

»Ach so, Ammonit hat mich verstümmelt.«

Der Bauer streckt seine verstümmelte Linke vor. Jetzt verstehe ich alles.

Bei dem Kanalbau machten die Menschen einen drei- bis fünftägigen Sprengkursus durch und wurden dann auf die Arbeitsplätze geworfen. So verlangte es »das bolschewistische Tempo«. Zu Hunderten sprengten sie dann sich selbst, zu Tausenden die anderen, verstümmelten sich, gerieten in die Lazarette und dann in die »Schwachkraft«, mit ihren vierhundert Gramm Brot täglich … Wie konnte nun ein derartiger Riese mit seinem Gewicht von fast zweieinhalb Zentner von nur vierhundert Gramm Brot je Tag leben. So trampelte dieser Swjatogor Der russische Siegfried. von Baustelle zu Baustelle, von Sumpf zu Sumpf an allerhand Waldflüssen, geriet schließlich unter die »Fintenmacher« und landete zuletzt auf dem Geviert 19.

Er brauchte mindestens fünf Pfund Brot täglich, um wenigstens die Hälfte seiner früheren Muskeln an Stelle der jetzigen Einbuchtungen wiederzuerhalten – doch woher konnte man diese fünf Pfund Brot bekommen? Das war eine Utopie. Selbst der Gedanke, diesen Riesen vom Untergang zu retten, von dem Tode, der schon in seinen zugespitzten Gesichtszügen, in den tief unter den buschigen Augenbrauen liegenden Augen stand, war eine Utopie.

*

Etwas abseits steht eine Gruppe von Dagestanern. Sie sind bei weitem nicht so zerlumpt wie die anderen, und es gelingt mir, ihnen ihre Nationaltrachten größtenteils zu erhalten. Was nützt das aber? Werden sie doch sowieso nach sechs bis zwölf Monaten, wenn nicht vom Hunger, dann vom mörderischen Klima, Tuberkulose oder Skorbut ausgestorben sein. Für diese Menschen, aufgewachsen in den mit Sonne überfluteten, wasserlosen Dagestanbergen, bedeutet die Verbannung nach hier in die Tundra, Sümpfe, Nebel, in die Polarnacht einfach eine Todesstrafe auf Raten. Jetzt schon sind sie nur noch halb am Leben. Sie sind bereits dem Tode geweiht, und ich kann ihnen mit nichts, aber auch gar nichts helfen. Gerade die Unmöglichkeit, mit gar nichts helfen zu können, ist eine der grausamsten Seiten des Sowjetlebens. Sogar dann, wenn man selbst in der Lage ist, die einer fremden Hilfe nicht bedarf.

Gleichzeitig mit dem Wachsen des Haufens der abgenommenen Lumpen wächst auch der Haufe der durchsuchten Häftlinge. Sie wälzen sich auf dem Fußboden kunterbunt durcheinander auf ähnlichen Lumpen und rufen eine ekelerregende Vorstellung von einem Misthaufen mit Würmern hervor. Einige ganz schäbig aussehende Urkis kriechen an meinen Tisch heran und erbetteln flüsternd, damit die WOCHR nichts hört, für ein »Rehbeinchen« Machorka. Ein Urka, nur mit einer zerrissenen Unterhose bekleidet, schabt auf sich die Läuse zusammen und wirft sie methodisch auf das glühende Öfchen. Im allgemeinen halten sich die Urkis verhältnismäßig unabhängig – sie sind großschnäuzig und bleiben es bis an ihr letztes Stündchen. Die Bauern sitzen fassungslos und bedrückt und denken wahrscheinlich an ihre Familien, die überall verstreut auf den Gefilden des großen »werktätigen Vaterlandes« sind, an die nun brachliegenden Felder und auf immer verlassenen Dörfer … Ja, die Bauern werden den »Sieg der werktätigen Klasse« niemals vergessen.

Kurz vor Schluß der Inventarisierung erschien vor meinem Tisch ein altes Männlein, etwa sechzig Jahre alt, doch schon ganz ergraut und gebrechlich. Mit den vor Schwäche zitternden Händen begann er seine Lumpen aufzuknöpfen.

Im Verzeichnis stand:

Awdejeff A. S., Oberlehrer der Mathematik, zweiundvierzig Jahre …

Zweiundvierzig Jahre … Ein Jahr jünger als ich … Und vor mir stand ein Greis, ein vollkommener Greis.

»Sind Sie Awdejeff?«

»Ja, ja, Awdejeff, Awdejeff«, blinzelte er mit den Augen und bemühte sich hastig, seine Lumpen weiter aufzuknöpfen. Mir wurde unaussprechlich eklig zumute. Da sind wir – zwei kultivierte Menschen … Und dieser Greis steht vor mir, knüpft seine letzten Lumpen auf und hat Angst, daß man sie ihm wegnimmt, daß ich sie ihm wegnehme … Verdammt noch mal!

Gegen Ende dieser niederträchtigen Inventarisierung habe ich die »Operationsmannschaften« etwas gebändigt. Sie knurrten noch etwas, doch stürzten sie sich nicht mehr so eifrig auf die Menschen, um diese umzukehren, und bei einem eindrucksvollen Blick unterließen sie es sogar ganz – ja, die Hundedressur hat auch ihre Vorteile. Deshalb war es mir möglich, Awdejeff zu sagen:

»Lassen Sie … Nehmen Sie Ihre Sachen und gehen Sie.«

Zitternd und sich ängstlich umschauend, packte er seine Lumpen und verschwand auf den Stellagen.

Die Inventarisierung war zu Ende … Von diesen fürchterlichen Gesichtern, von den angsteinflößenden Lumpen, von Läusen, Dunst und Gestank begann mir der Kopf zu schwindeln. Ich hätte wahrscheinlich einen sehr schlechten Arzt abgegeben. Ich bringe es nicht fertig, Eitergeschwüre zu behandeln … Nicht mal zu beschreiben. Ich bemühe mich, wie nur irgend möglich, derartiges auch in meinen Aufzeichnungen zu meiden.

Als ich wieder in dem Verschlag der RVA saß und die Endergebnisse der Inventarisierung festgestellt wurden, versuchte der Chef des Unterlagers, mir vorzuwerfen, daß in meiner Baracke eine »rekordkleine« Anzahl von Kleidern herauskam. Er war sehr grob. Ich antwortete ihm, vielleicht nicht ganz so grob, aber doch betont scharf. Ich konnte auf den Chef des Unterlagers pfeifen. Es waren nicht mehr die Tage von Pogra, als ich – ohne jede Erfahrung – ein hilfloser, grüner Neuling war, und jeder Lump sich erdreisten konnte, mir auf die Hühneraugen zu treten oder gar an die Gurgel zu springen. Als technische Intelligenz war ich jetzt ein Mitglied der in Wirklichkeit regierenden Spitze, das heißt ein Teil jener Kraft, welche diesen Chef mit seinen ganzen Sowjetverdiensten im Nu vertilgen konnte, und das mit Haut und Haaren. Ich brauchte nur seine Monturverzeichnisse einer genaueren Nachprüfung zu unterziehen. Das schien er selbst auch schnell zu begreifen. Denn wenn er sich auch nicht gerade entschuldigte, so räusperte er sich doch plötzlich, wurde ganz klein und gab mir sogar eine halbkrepierte Schindermähre bis Podporog, die mich mit Ach und Krach nach Hause schleppte. Zurückzulaufen war sie freilich nicht mehr imstande.

 

Professor Awdejeff

In dem »Abteilungsstab« des Swirlagers sammelte sich nach und nach eine Gruppe von Intellektuellen, die über das Leben in der Sowjetunion, ob draußen in der »Freiheit« oder hier im Lager, ganz und gar im Bilde waren. Das Lager besonders war ein hervorragendes Hilfsmittel, das Schema dieses Lebens zu erkennen; es heilte die verstocktesten Sowjetenthusiasten.

Ich entsinne mich eines solchen Enthusiasten: es ist Garri, der nicht unbekannte Feuilletonist der Zeitung »Iswestija«. Wahrscheinlich durch einen Druckfehler der GPU geriet er auf die Solowetzki-Inseln und blieb dort ein Jahr lang stecken. Dann wurde dieser Druckfehler korrigiert, und, wütend in seinem Moskauer Stübchen aus und ab laufend, erzählte Garri ungeheure Dinge von der großen Menschenvernichtung auf diesen Inseln. Hysterisch wiederholte er in einem fort:

»Nein, warum hat man mir dies alles gezeigt, warum hat man mir die Möglichkeit gegeben, das alles zu sehen? Ich glaubte doch einst …«

Ich Ungläubiger zweifelte damals an Garris Wahrhaftigkeit. Sogar meinem eigenen Bruder wollte ich nicht recht glauben, als er mir von der gleichen großen Vernichtung erzählte, obwohl ich genau wußte, daß er niemals aufschnitt. Ich nahm an, das Erlebte müsse selbst ihn zu einer gewissen künstlerischen Übertreibung, zu einer Verdichtung der Farben gereizt haben. Und noch etwas: es gibt Dinge, gegen die sich der menschliche Körper so wehrt, daß die Seele sie einfach nicht aufnehmen will. Man würde sonst die Lust verlieren, sich diese Gotteswelt zu betrachten, in der solche Dinge möglich sind … Übrigens schreibt Garri wieder in der »Iswestija«. Was bleibt ihm auch übrig?

Die Intellektuellengruppe, die im Stabe des Swirlagers sich betätigte, sah auch all das, sah alle Mittel des ausbeuterisch vernichtenden Systems der Lager und hegte keinerlei Illusionen über das Sowjetparadies und über die Möglichkeiten, aus ihm zu entkommen. Die Gruppe hatte eine sehr einfache »politische Plattform«: in dieser gigantischen Fleischhackmaschine das eigene Leben zu erhalten und das Leben der Nächsten. Erforderlich war es, hierbei gemeinsam, zweckmäßig und vorsichtig zu handeln.

Die Gruppe lebte schlechter als die Verwaltung des Sowjetaktivs; denn wenn sie auch stahl, dann nur im Rahmen des Allernotwendigsten und nicht zum »Versaufen der Seele«. Sie wohnte in den Baracken und nicht in den Verschlägen. Bestenfalls in den zufälligen Gemeinschaftsquartieren. In bezug auf die Produktion hatte sie eine ganz klare Linie: die besten zahlenmäßigen Angaben und die größten Brotmengen zu erreichen. Die »zahlenmäßigen Angaben« hatten nachher der Nordwest-Wald-Trust und die übrigen »Trusts« auszulöffeln. Und das Brot? Mitunter gelang es, etwas zu erhalten, manchmal auch nicht.

Bei der nächsten Zusammenkunft der Gruppe erzählte ich von meiner Begegnung mit Awdejeff.

Der Plan wurde schnell und sachverständig ausgearbeitet.

Boris holte schon am Tage darauf Awdejeff aus dem Geviert 19 in seine »Schwachkraft«, und der »Stab« holte ihn am gleichen Tage aus der »Schwachkraft« zu sich. Für Awdejeff bedeutete es siebenhundert Gramm Brot statt der bisherigen dreihundert! … Im Lagerleben steht ein Pfund Brot in keinem Verhältnis zu seinem Geldwert. Ein Pfund Brot mehr, das ist nicht ein Unterschied von zwei Goldkopeken, sondern der Unterschied zwischen Leben und Absterben.

Abends saß Awdejeff, nachdem er die Bade- und Entlausungsanstalt hinter sich hatte, am Ofen in unserer Hütte und erzählte seine unglaublich furchtbare Leidensgeschichte, eine der vielen …

Er war Professor und Oberlehrer der Mathematik in Minsk. Der Bruder wurde verhaftet und wegen »Spionage« erschossen – in Grenzgebieten macht man das ganz kurz und einfach. Seine Tochter und er wurden in das Zwangsarbeitslager nach Kem verbannt, die Frau – in das Wischera-Zwangsarbeitslager. Sie starb in Wischera, unbekannt woran. Die Tochter starb in Kem an der berühmten Kemdysenterie.

Nur mit Mühe reihte Awdejeff Wort an Wort, als ob er die Sprache vergessen hätte.

»Sie war eine gute Pianistin, müssen Sie wissen … Man könnte sagen, sogar eine Komponistin … in Kem hat sie als Waschfrau gearbeitet. Sie kennen doch die Wäscherei des Lagers. Paragraph 58, Absatz 6, da kann man nirgendwo hin. Eine kleine Wäscherei. Sie war dort mit noch dreizehn Frauen. Alles, na, wie heißt das – Dirnen. Solche, wissen Sie, die sich eigentlich im Lager hauptsächlich damit befaßten … Wie es meinem guten, reinen Kind dort erging – sie war erst achtzehn Jahre – können Sie sich selbst vorstellen … Ja …«

Das flackernde Licht vom Ofen beleuchtete das Gesicht des Greises, das über und über mit Frostflecken bedeckt war. Ein Ohr war schon ganz abgefressen. Die ausgetrockneten Lippen bewegten sich nur langsam und mühselig.

»Es kann auch sein, daß der Herrgott mein Kind zu sich nahm, damit es nicht selber Hand an sich legte … Übrigens sagte ich Dirnen, und doch fand sich eine gute Seele … Ich arbeitete als Rechnungsführer auf einem Unterlager, etwa zwanzig Kilometer von Kem. Das war auch nicht leichter als die Wäscherei oder ein Zuchthaus für Schwerverbrecher in der Zarenzeit. Nur daß ich nicht an den Karren, sondern an den Tisch gefesselt war. Auf ihm schlief ich, auf ihm aß ich, an ihm saß ich fünfzehn bis zwanzig Stunden täglich. Glauben Sie mir, wochenlang verließ ich den Tisch nur, wenn ich auf den Abort mußte. Ja, so war die Arbeit … Und der Chef war eine Bestie. Eine Bestie und kein Mensch. Also, wie ich schon sagte, fand sich eine gute Seele – eben eine dieser Dirnen. Einmal werde ich ans Telefon gerufen. ›Sind Sie Awdejeff?‹ fragt sie. ›Ja, selbst am Apparat‹ – und gleich eine Vorahnung, Schwäche in den Beinen, konnte nicht mehr stehen. ›Ich bin's, Awdejeff‹, sage ich. ›Ist das Ihre Tochter, die bei uns in der Kernwäscherei arbeitet‹, fragte sie. ›Ja‹, sage ich, ›das ist meine Tochter.‹ ›Nun ja‹, sagt sie, ›Ihre Tochter liegt im Sterben, Ruhr hat sie. Wenn Sie gegen Abend noch rüberkommen können, dann ist es möglich, sie noch lebend anzutreffen, vielleicht aber auch nicht‹ … Meine Beine hielten mich nicht mehr. Ich tastete nach dem Schemel, fiel zu Boden und riß den Hörer mit.

Man hat mich mit Wasser bespritzt, und so kam ich wieder zu mir. Ich bitte den Chef: ›Geben Sie mir um Gottes willen für eine Nacht Urlaub – meine Tochter liegt im Sterben.‹ Ih wo! Eine Bestie von Mensch … ›Hier‹, sagt er, ›sterben Tausende, hier ist kein Kurort, keine Pension für adlige Töchter. Wir‹, sagt er, ›können doch wegen jeder H…‹, ja, bei Gott, so hat er gesagt, ›können doch nicht unsere dringenden Abrechnungen in Frage stellen.‹

Ich trat auf die Straße, bereits dem Wahnsinn nahe. Meine Beine – als ob sie keine Knochen hätten. Nein, denke ich, jetzt komme, was will. Nacht. Der Schnee taut. Stockdunkel. Ich ging nach Kem. Ging und ging, verlief mich etwas und kam erst gegen Morgen an.

Doch Olga war nicht mehr! Morgens wurde ich gleich hier am Sterbehäuschen des Lazaretts wegen Fluchtversuches verhaftet und – auf die Waldarbeiten verschickt … Nicht einmal zur Leiche des eigenen Kindes wurde ich vorgelassen.«

Der Alte beugte sich vornüber, und seine Schultern erzitterten von dumpfem Schluchzen. Ich reichte ihm ein Glas Sauerkrautlake. Er trank es, ohne zu unterscheiden, was er eigentlich trank. Seine Zähne schlugen an den Rand des Glases, und die Lake floß vorbei, auf Brust und Knie.

Boris legte ihm seine freundliche und beruhigende Tatze auf die Schulter:

»Beruhigen Sie sich doch, mein Lieber, beruhigen Sie sich. Wir sind alle in solcher Lage. Ganz Rußland ist in solcher Lage. Nicht umsonst sagt man, daß in der Kameradschaft einem auch das Sterben leicht wird.«

»Nein, nicht alle, Boris Lukjanowitsch, nein, nicht alle …« Die Stimme Awdejeffs zitterte, doch fühlte man darin einen festen Unterton, den Unterton der Überzeugung und noch etwas, vielleicht Feindseliges. – »Nein, nicht alle. Ihr drei, ihr werdet nicht umkommen. Es ist eine andere Sache für einen Mann, im Lager zu sein, und eine andere – für eine Frau. Ich sehe doch, ihr habt kräftige Fäuste. In Rußland, Boris Lukjanowitsch, sind wir ins fünfzehnte Jahrhundert zurückgeworfen. Hier im Lager sogar in die prähistorischen Zeiten. Man kann durchkommen, wenn man ein starkes Tier ist. Ein kräftiges Tier.«

»Ich denke nicht, daß ich zum Beispiel ein Tier bin«, warf ich ein.

»Weiß nicht, Iwan Lukjanowitsch, weiß nicht. Sie haben kräftige Fäuste. Ich habe wohl gemerkt, daß sogar die Männer von der Operativabteilung vor Ihnen Angst hatten. Ich bin ein Intellektueller. Kopfarbeiter. Ich habe die Fäuste nicht entwickelt. Ich dachte, daß ich im zwanzigsten Jahrhundert lebe, und ahnte nicht, daß es möglich wäre, zu der Tertiärepoche zurückzukehren, Und doch ist es gekommen, und ich muß untergehen, weil ich nicht hineinpasse in diese Epoche. Umsonst haben Sie, Iwan Lukjanowitsch, ganz umsonst haben Sie mich aus dem Geviert 19 herausgezogen.«

Ich war maßlos erstaunt und wollte fragen, weshalb denn eigentlich umsonst, doch unterbrach mich Awdejeff hastig:

»Denken Sie um Gottes willen nicht, daß ich irgendwie … Ich bin Ihnen selbstverständlich sehr, sehr dankbar. Ich verstehe, daß Sie ganz erhabene Absichten hatten.«

Das Wort »erhabene« klang eigenartig. Bald wie ein »erhabener Stil«, bald wie die bitterste Ironie.

»Ganz gewöhnliche Absichten, Professor Awdejeff.«

»Ja, ja, ich verstehe«, sprudelte Awdejeff wieder hervor, »natürlich, das einfache Gefühl der Menschlichkeit. Eine gewisse Solidarität der kultivierten Menschen.« Wieder erklang in der Stimme Awdejeffs der Unterton bitterer Ironie – weit entfernt und doch bitter. – »Doch müssen Sie verstehen, daß es nur eine Grausamkeit war. Eine unnötige Grausamkeit.«

Offen gestanden, saß ich ganz verdutzt da. Awdejeff sah mich wie ein Mensch an, der über meine »Fäuste« irgendeinen widernatürlichen Sieg davongetragen hatte.

»Bitte, fühlen Sie sich nicht beleidigt. Halten Sie mich nicht für einen undankbaren Lumpen oder für einen verrückten Alten. Obwohl ich selbstverständlich ein verrückter Alter bin … Obwohl ich eigentlich gar kein Alter bin«, verwickelte sich Awdejeff, »denn Sie wissen ja selbst, ich bin jünger als Sie … Verstehen Sie doch, bitte: was bin ich jetzt? Wozu tauge ich? Ich bin doch eine Ruine. Da schauen Sie her, der Frost nahm mir die Finger.«

Er hielt mir seine Hand hin – sie war tatsächlich fast ohne Finger. Früher habe ich darauf irgendwie nicht geachtet. Von Awdejeff ging ein leichter Leichengeruch aus – ich dachte aber, daß es von seinen abgefrorenen Wangen, Nase und Ohren kam. Jetzt erwies sich, daß seine Hand bereits in Verwesung übergegangen war.

»Da, sehen Sie meine Finger. Aber ich bin auch sonst durch und durch verfault. Mein Herz ist wie diese Hand. Jetzt weiter. Ich verlor den Bruder, die Frau, die Tochter, die einzige Tochter. Niemand habe ich mehr auf dieser Welt. Spionage? Was für ein teuflischer Spuk! Mein Bruder war ein Mikrobiologe und kroch nie aus seinem Laboratorium heraus. In Polen hatten wir Anverwandte. Sie wissen doch, diese neuen Grenzen durch zerrissene Kreise und Dörfer. Nun, Schriftwechsel, man sandte meinem Bruder ein Mikroskop, und schon saß er drin. Spionage? Meine Olga und ich sollten Befestigungsanlagen gezeichnet haben, was? Sie verstehen, Iwan Lukjanowitsch, daß ich jetzt nichts zu verbergen habe. Jetzt wäre ich glücklich, wenn diese Spionage in der Tat da wäre. Dann hätte ich wenigstens eine Rechtfertigung, nicht nur für die Meinigen, sondern auch für mich selbst. Wir hätten dann unser Leben nicht umsonst preisgegeben. Und im Sterben hätte ich gewußt, daß ich wenigstens etwas gegen diese Macht des Satans getan habe.«

Er sagte nicht des »Teufels«, sondern gerade des Satans in einem unterstrichenen und kirchlich-feierlichen Ton.

»Ich, müssen Sie wissen, war nie religiös. So, wie die meisten russischen Intellektuellen. Konnte ich denn an solchen Unsinn wie den Satan glauben? … Und heute – glaube ich daran. Ich glaube, weil ich ihn sah, weil ich ihn sehe … Ich sehe ihn in jedem Lager … Und er existiert, Iwan Lukjanowitsch, er ist! – Das ist kein Popengespinst. Das ist eine Realität … Eine wissenschaftliche Realität.«

Mir wurde nicht ganz geheuer, trotz meiner »Fäuste«. Georg erblaßte sogar etwas. In diesem halbverfaulten Mathematiker, der in jedem Lager den Satan sah und von der Realität seines Daseins predigte, war etwas Apokalyptisches, etwas, wovon es einem kalt über den Rücken lief … Ich stellte mir alle Lager des Geviertes 19 vor, verstreut auf die zweitausend Kilometer der fast undurchdringlichen Taiga Kareliens, bedrückt von den Polarnächten, all die tausenden Baracken, wo auf den Haufen von verfaulten Lumpen halbverfaulte, mit Läusen über und über bedeckte Menschen kriechen, und es schien mir, als ob nicht der Schneesturm an den Fenstern der Hütte rüttelte, sondern der leibhaftige Satan herumginge und höhnisch, triumphierend lachte – eben derselbe, den Awdejeff in jedem Lager sah. Unerklärlich – aber der Satan nahm die Gestalt Jakimenkos an.

»Sehen Sie also«, fuhr Awdejeff fort. »Vor mir sind noch acht Jahre lang diese, diese Lager. Sagen Sie aufrichtig, Boris Lukjanowitsch – Sie sind Arzt, seien Sie gewissenhaft wie ein Arzt –, ob ich die geringsten Aussichten habe, die allerkleinste Wahrscheinlichkeit, diese acht Jahre zu überstehen.«

Awdejeff hielt inne und schaute meinen Bruder fest an. In seinem Blick fing ich wieder die Fünkchen eines Sieges auf.

Die Frage überraschte meinen Bruder … »Nun ja. Sie werden sich beruhigen, werden zu einer mehr oder minder normalen Lebensweise kommen«, begann Boris, doch lag in seiner Stimme keine besondere Überzeugungskraft …

»Aha, ich werde mich also beruhigen! Nachdem ich alles, was mir auf dieser Welt teuer und nahe war, verloren habe! Ich werde mich beruhigen! Brauche nur in den ›Stab‹ zu kommen, mich an den Tisch zu setzen, und ich werde mich beruhigen! … So ist es! Und wie sagten Sie doch – ach ja … ›normale Lebensweise‹?«

»Nein, nein, ich verstehe, unterbrechen Sie bitte nicht«, überstürzte sich Awdejeff, »ich verstehe, solange ich mich unter der hohen Obhut Ihrer Fäuste befinde, werde ich vielleicht die Möglichkeit haben, weniger als sechzehn Stunden pro Tag zu arbeiten. Doch werde ich keine acht Stunden mit diesen, hier mit diesen …«

Er streckte wieder seine verstümmelte Hand vor:

»Werde doch nie mehr arbeiten können … Und dann kann ich mit Ihrer Obhut nicht auf die Dauer von acht Jahren rechnen … Auf die hohe Obhut Ihrer Fäuste.« Awdejeff sprach bereits mit einem hysterischen Sarkasmus.

»Nein, bitte, unterbrechen Sie mich nicht, Iwan Lukjanowitsch.«

Ich hatte gar nicht vor, ihn zu unterbrechen, und saß da ganz benommen ob der hysterischen Grabeslogik dieses Menschen. – »Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar, Iwan Lukjanowitsch – für Ihre edlen Gefühle … Sie entsinnen sich doch, wie ich vor Ihnen stand und meine Unterhose aufknöpfte, und wie Sie Ihrem edlen Charakter nach geruht haben, diese Unterhose – die letzte Unterhose – mir nicht auszuziehen … Nein, nein, unterbrechen Sie mich bitte nicht, teurer Iwan Lukjanowitsch, unterbrechen Sie mich nicht. Ich verstehe, daß Sie durch die mir gegebene Erlaubnis, die Unterhose nicht auszuziehen, Ihre … kann sein mehr als eine Unterhose riskiert haben. Vielleicht riskierten Sie dabei mehr Ihre Fäuste als die Unterhose. Wie nennt man das doch … Außerachtlassung der Machtbefugnisse … oder ähnlich … Der Macht, dem Menschen die letzte Unterhose auszuziehen …«

Vor Aufregung keuchte Awdejeff schwer und rang mit offenem Mund krampfhaft nach Atem.

»Lassen Sie das, Professor«, hub ich an.

»Nein, nein, teurer Iwan Lukjanowitsch, ich lasse nichts … Sie ließen mich doch auch nicht dort auf dem Schutthaufen des Geviertes 19 … Ließen mich nicht?«

Er sah mich etwas merkwürdig an, etwas Rachsüchtiges lag in seinem Blick, er schnappte wieder nach Luft und sagte schwer und dumpf:

»Dort habe ich mich fast beruhigt … Dort wurde ich beinahe ganz stumpfsinnig. Stumpfsinnig wie ein Klotz.«

Er richtete sich auf, trat auf mich zu, und, mir mit seinem Leichengeruch ins Gesicht atmend, sagte er abgehackt, doch fest:

»Nur ganz abgestumpft kann man hier leben … Nur ganz abgestumpft … Nur ohne den Satanstanz über den Lagern zu sehen … Und wie die Menschen sich unter seinem Tanz winden! … Dort war ich schon im Sterben. Sie verstehen selbst – im Sterben! Sie sagen: ›normale Lebensweise‹. Gibt sich denn der Satan zufrieden, sagen wir, mit einem Eimer meines Blutes? Nein, er wird das ganze Blut verlangen. Der Satan des sozialistischen Aufbaues verlangt Ihr ganzes Blut, ganz bis zu dem letzten Tropfen. Und er saugt es auch ganz. Sie denken Ihre Fäuste? Allerdings – ich weiß – Sie werden fliehen. Ja, ja, natürlich, fliehen Sie. Aber wohin werden Sie vor ihm fliehen? ›Wie fliehe ich vor deinem Angesicht und vor deinem Geiste, wie fliehe ich‹ …«

Eine hypnotisierende Bangigkeit bemächtigte sich meiner – mystisch und prosaisch zugleich. Da geht dieser Mathematiker mit seinem Satan in jedes Lager und wird von unserer Flucht irgendwo, nicht hier in diesem Zimmer, predigen.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Iwan Lukjanowitsch«, sagte Awdejeff, als ob er meine Gedanken erraten hätte, »so verrückt bin ich noch nicht … Nicht ganz verrückt. Das ist Ihre Sache, gelingt es Ihnen, zu entkommen – Gott gebe es. Gott gebe es. Aber wohin?« fuhr er nachdenklich fort. »Aha natürlich ins Ausland, über die Grenze. Nun ja, Fäuste habt ihr wohl. Kann sein, daß ihr durchkommt. Kann sein.«

Nun wurde mir angst und bange vor diesen verrückten Prophezeiungen.

»Sie werden vielleicht durchkommen und überlassen es mir, hier wieder alle Stufen der Abstumpfung und des Absterbens nochmals hinabzusteigen. Sie zogen mich hinauf, objektiv betrachtet, nur damit ich wieder zu sterben beginne, wieder all diese Agonie durchmache. Sie verstehen doch, daß ich nur zwei Wege habe – in das Eisloch des Swirs, oder – wieder auf das Geviert 19 – früher oder später – auf das Geviert 19. Es wartet auf mich, es wird nicht aufhören, auf mich zu warten – und es hat recht! Einen anderen Weg habe ich nicht, sogar für den Weg ins Eisloch braucht man Kräfte … Und das bedeutet: wieder alle Stufen hinab! Aber, Iwan Lukjanowitsch, bis ich die ursprüngliche Abstumpfung wieder erreiche, wird mein Gefühl sich doch noch regen. Es ist nicht leicht, seiner eigenen Agonie bewußt zu sein. Und nun, leben Sie wohl, Iwan Lukjanowitsch, ich muß gehen … Und Dank Ihnen, Dank, Dank.«

Ich saß wie betäubt da. Awdejeff streckte mir seine verstümmelte Hand zum Abschied hin, zog sie aber hastig sofort zurück und ging auf die Tür zu.

»Warten Sie mal, Professor«, kam Boris zu sich.

»Nein, nein, bitte keine Begleitung. Ich finde selbst den Weg. Hier ist es bis zur Baracke ganz nahe. Ich habe sogar Kem erreicht. Das war auch nachts. Allerdings hatte ich den Satan zum Führer.«

Awdejeff verschwand in der Diele. Mein Bruder ging hinterher. Dumpf hörte ich ihre Stimmen von dort. Der Schneesturm schlug die Tür zu, und die Fensterscheiben klirrten. Es schien mir, daß unter den Fenstern eben dieser Awdejeffsche Satan vorbeiging und mit seinen eisernen Fingern das letzte Abfahrtssignal gab.

Georg und ich saßen und schwiegen. Nach einigen Minuten kam Boris zurück. Er stand unschlüssig mitten im Zimmer, die Hände in den Taschen vergraben, trat dann ans Fenster und starrte auf die ganz verwehten Scheiben, durch die bei diesem Schneesturm nichts zu sehen war, in die Nacht, die soeben Awdejeff verschlungen hatte.

»Hör mal, Wa«, fragte er, »hast du Geld?«

»Ja, weshalb …«

»Gut wäre jetzt – Wodka. So zwei Liter pro Nase. Für den Wodka wäre es mir nicht leid, meine letzte Unterhose dranzugeben.«

 

Unter den Fittichen des Awdejeffschen Satans

Boris nahm Geld und verschwand in die Nacht, zu einer Bauersfrau, deren Mann er an einer Schußwunde behandelte, die er unter ziemlich geheimnisvollen Umständen abgekriegt hatte. Selbstverständlich war es eine illegale Behandlung. Einen Dorfarzt gab es nicht, und der Lagerarzt riskierte für die »Verbindung mit der Ortsbevölkerung« drei Zusatzjahre zu seiner Haft. Allerdings spielte dieser Zusatz bei den gegebenen Umständen für Boris keine Rolle.

Boris ging und war verschwunden. Ich saß mit Georg schweigend da. Stumpf starrten wir in die flackernde Flamme des Ofens. Reden mochten wir nicht. Hinter dem Fenster tobten die Gespenster des Schneesturmes, mitten unter ihnen schleppte sich zu seiner Baracke ein Mensch mit abgefaulten Fingern, mit der Logik eines Verrückten und mit der hellseherischen Kraft eines Besessenen. Schleppte er sich zu den Baracken oder zu einem Eisloch? Für ihn wäre es tatsächlich besser, sich zum Eisloch durchzuschleppen. Ihm hätte es Ruhe gebracht und, wozu die Sünde verbergen!, mir ebenfalls. Seine verrückte Prophezeiung wegen unserer Flucht, irgendwo an einem anderen Ort gesprochen, könnte für uns katastrophale Folgen haben. Immer schien es mir, daß der Schuldige sich selbst verrät, und daß jeder halbwegs gescheite Tschekist allein von unseren Gesichtern unsere verbrecherischen Fluchtneigungen ablesen konnte. So dachte ich bis zum Schluß: den tschekistischen Scharfsinn habe ich Gott sei Dank etwas überschätzt. Doch verließ mich die Angst vor der Enthüllung und vor dem Untergang nie. Die Prophezeiung Awdejeffs unterstrich sie noch mehr. Wenn Awdejeff hinter solche Sache kommen konnte, warum sollte dann Jakimenko nicht auch dahinterkommen? Vielleicht erklärt sich dadurch die Korrektheit und das übrige Benehmen Jakimenkos? Uns die Möglichkeit zur Vorbereitung und zum Verlassen des Lagers zu geben, um dann höhnisch sagen zu können: nun, das Spiel ist aus, und bitte an die Wand! Das Empfinden einer fast mystischen Hilflosigkeit einem unsichtbaren, doch sehr wachsamen Auge gegenüber, das, spöttisch zugekniffen, sich nicht einen Augenblick von uns abwendet, war so real, daß ich mich umdrehte und in alle dunklen Ecken unserer Hütte schaute. Doch war die Hütte leer. Ja, die Nerven lassen nach.

Boris kehrte zurück und brachte zwei Flaschen Wodka mit. Georg stand auf und hüllte sich fröstelnd in seinen Lagermantel fester ein, füllte den Kessel mit Wasser und setzte ihn auf den Ofen. Wir breiteten auf dem Fußboden neben dem Ofen einen Zeitungsbogen, Boris holte aus der Tasche mehrere eingesalzene Kleinbarsche, die er zur Untersuchung auf Bazillen bekommen hatte. Aus dem Paket zogen wir ein Stück Speck, das als eiserne Ration für die Flucht bereits zurückgelegt war, und das man eigentlich nicht anrühren sollte.

Georg setzte sich wieder an den Ofen, sogar ohne den Speck zu beachten – der Wodka interessierte ihn überhaupt nicht. Seine Augen hinter der dunklen Einfassung der Brille schienen irgendwohin ganz tief in den Schädel eingesunken zu sein.

»Bob«, fragte er, ohne den Blick vom Ofen abzuwenden, »könntest du ihn nicht auf lange im Lazarett unterbringen?«

»Heute haben wir siebzehn Mann mit ganz abgefrorenen Füßen nicht aufnehmen können«, sagte Boris nach einer Weile. – »Und noch fünf ›Selbsthauer‹. Diese dürfen nach dem neuesten Befehl nicht mehr aufgenommen, sogar nicht verbunden werden.«

»Warum nicht verbinden?«

»Damit es sich die anderen nicht angewöhnen.«

Wir schwiegen eine Weile. Boris füllte zwei Becher und bot aus Höflichkeit auch Georg an. Doch verzog Georg widerwillig das Gesicht.

»Was hast du denn mit diesen ›Selbsthauern‹ getan?« fragte er trocken.

»Ich habe sie in die Totenhalle gelegt, wo du dich seinerzeit vor dem BAM versteckt hieltest.«

»Hast du sie auch verbunden?« setzte Georg sein Verhör fort.

»Was denkst du sonst?«

»Kann man denn«, fragte Georg etwas gereizt, »diesem Awdejeff gar nicht helfen?«

»Nein«, erklärte Boris kategorisch. Georg zuckte die Achseln. »Man darf es nicht aus einem sehr einfachen Grunde. Jeder von uns hat die Möglichkeit mehrere Menschen zu retten. Nicht viele natürlich. Diese beschränkte Möglichkeit müssen wir jedoch für die Menschen ausnützen, die noch geringste Aussichten haben, sich wieder auf die Beine zu stellen. Awdejeff hat keinerlei Aussichten.«

»Dann haben wir mit Wa eine Dummheit begangen, als wir ihn von dem Geviert 19 befreiten?«

»Das habe nicht ich, sondern Wa getan. Diesen Awdejeff habe ich früher nie gesehen.«

»Und wenn du ihn gesehen hättest?«

»Nichts hätte ich getan. Wa ergab sich einfach seiner Weichherzigkeit.«

»Intellektuelle Flennerei?« fragte ich ironisch.

»So ist es«, schnitt Boris ab. Georg und ich wechselten einen Blick. Boris riß düster an einem eingetrockneten, stachligen Fischchen.

»Also waren unsere BAM-Listen deiner Ansicht nach auch ›intellektuelle Flennerei‹?« fragte Georg etwas herausfordernd.

»Ganz richtig.«

»Na, weißt du, Bob, manchmal redest du daher, daß es ekelhaft anzuhören ist.«

»Dann höre nicht hin.«

Georg zuckte wieder die Achseln und starrte in den Ofen.

»Man konnte statt dieses Wodka vier Kilo Brot für Awdejeff kaufen.«

»Konnte man. Werden ihn aber diese vier Kilo retten?«

»Und wird uns dieser Wodka retten?«

»Einstweilen brauchen wir nicht die Rettung, sondern die Nerven. Meine Nerven werden wenigstens eine Nacht sich vom Lager ausruhen können. Du hast an den Listen gearbeitet, und ich arbeite mit den Selbsthauern.«

Georg antwortete nicht. Er nahm ein Fischchen und versuchte es zu zerreißen. Doch hatten seine Finger, ebenso eingetrocknet wie dieses Fischchen, keine Kraft mehr. Schweigend nahm ihm Boris das Fischchen aus der Hand und zerriß es in kleinste Stückchen. Georg antwortete mit einem ironischen »Danke«, drehte sich zum Ofen und starrte wieder ins Feuer.

»Und doch will ich wissen«, hub er nach einer Weile trocken und scharf wieder an. »Warum sind die BAM-Listen – eine intellektuelle Flennerei?«

Nach einigem Schweigen antwortete Boris:

»Hör mal zu, Schorschi, wir wollen diese Frage so stellen: Angenommen, du hast die Möglichkeit, Menschen vom BAM zu retten. Ihr habt fast todkranke Menschen gerettet und folglich die anderen nach dem BAM geschickt, die noch einige Zeit leben konnten, wenn sie nicht mit in diese Hölle mußten. Oder sagen wir so: Du hast die Wahl, nach dem BAM entweder Awdejeff oder einen gesunden Bauern zu schicken. Im Transportzug würde Awdejeff nach einer Woche sterben, hier stirbt er nach einem halben Jahr – länger dauert es auf keinen Fall. Der Bauer wäre nach Abbüßung seiner Strafe hier wieder frei geworden, na, und so weiter. Nach der Fahrt im Transportzug aber wird er ein Invalide sein und, wie ich glaube, den Rest seiner Haft nicht überleben. Also, was ist besser und menschlicher: den Todeskampf Awdejeffs abzukürzen oder den des Bauern einzuleiten?«

Die Frage wurde von einem Standpunkt gestellt, vor dem das Bewußtsein sich sträubte. Doch war in ihm eine Wahrheit, wenn auch eine grausame. Wieder schwiegen wir. Unverwandt starrte Georg in die Flamme.

»Es handelt sich nicht um den Ersatz einiger Menschen durch andere« sagte er endlich. »Sämtliche Gesunde wären sowieso geschickt worden, aber mit ihnen auch die Kranken.«

»Nicht ganz so, aber nehmen wir es an. – Von eben diesen Kranken sterben bei mir jetzt so an die dreißig Mann täglich.«

»Wenn man deinen Standpunkt sich zu eigen macht«, mischte ich mich ein, »dann lohnt es sich gar nicht, deine Sanitätssiedlung anzufangen: denn es wäre nur ein Todeskampf auf Raten.«

»Die Sanitätssiedlung ist eine andere Sache, aus der kann eine ständige Einrichtung werden.«

»Ich widerspreche doch nicht deiner Siedlung.«

»Ich widersprach auch deinen Listen nicht. Wenn man aber auf den Kern der Sache geht, dann sind sowohl die Listen als auch die Siedlung am Ende doch ein Quatsch. Hier kann man überhaupt nicht helfen. Alles nur zur Beruhigung des Gewissens und nichts weiter. Das einzige, was real ist: Man muß auskratzen! Nur Wa zieht's immer wieder hin.«

Ich mochte nicht von der Flucht und von jener für die russischen Menschen tragischen Parole »Je schlimmer – desto besser« sprechen. Theoretisch ist natürlich jede Sabotage gerechtfertigt: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. In der Praxis aber erweist sich diese Sabotage als psychologisch unmöglich. Kommt nichts heraus dabei. Theoretisch hat Boris recht: Awdejeff muß man gehen lassen. Und praktisch?

»Ich denke«, sagte ich, »daß ich, solange ich in diesem Stab stecke, Awdejeff so unterbringen kann, daß er nichts zu tun braucht.«

»Onkel Wa«, sagte Boris streng, »in der Richtung Medgora sind bereits alle Hebel in Bewegung gesetzt. Wenn nicht heute, dann morgen werden wir dorthin versetzt, und da werden wir hier nichts mehr ausrichten können. Dein Publikum aus dem Stabe des Swirlagers wird nach einem Monat ebenfalls ausgewechselt – und Awdejeff wird nach einer Atempause wieder auf das Geviert 19 zum endgültigen Verfaulen hinausgeworfen. Du bist mitleidig, weil du erst zwei Monate im Lager bist, und weil du bis jetzt eigentlich recht wenig gesehen hast. Was hast du auch gesehen? Warst du beim Flößen, beim Holzfällen, auf den Strafunterlagern, auf den wirklichen Strafunterlagern? Nirgends bist du außer bei deiner RVA gewesen … Als ich euch in Saltykowka von den Solowetzki-Inseln erzählte, da sagte mir Schorschi fast ins Gesicht, daß ich entweder übertreibe oder einfach lüge. Ihr werdet noch sehen, was uns dort im Norden des BBK bevorsteht! … Der einzige Selbsttrost ist der, daß wir eigentlich überhaupt nichts machen können. Wir haben kein Recht, unsere Nerven für Awdejeff zu zerrütten. Was können wir machen? Wir können nur das eine machen – unsere Kräfte bewahren und sammeln, fliehen und dort im Ausland all den Idioten unter die Nase reiben, die die Sowjeterrungenschaften hochpreisen, daß, wenn diese ersehnte und große Revolution auch in ihr Vaterland kommt, sie genau so, wie jetzt Awdejeff, lebendig verfaulen werden. Daß ihre Töchter nach Kem in die Lagerwäscherei verbannt und dort zu Lagerdirnen werden, und daß die Leichen ihrer Söhne einen Transportweg entlang aus den Viehwagen geworfen werden.«

Boris ging offensichtlich durch. Er preßte in seiner Faust ein Fischchen und zermalmte es zwischen den Fingern.

»Diese Idioten glauben, daß man ihnen heute für ihre ›liberale‹ Linksrichtung, für ihre Lobpreisungen, für das Lecken der Stalinschen Fersen nachher eine persönliche Lebenspension geben wird! Sie hoffen, die Ersten ihres Landes zu werden! Der Erste von diesem Lumpenpack wird derjenige, der den übrigen das Genick bricht, wie es Stalin mit Trotzki, Kamenew, Sinowjew und den übrigen tat. Teufelsbrut! … Nach unseren Kerenskis, Rakowskis und so weiter müßten sie doch wenigstens etwas gelernt haben … Man muß ihnen sagen, wenn die Weltrevolution kommt, oder zunächst nur die bolschewistische Revolution in ihrem eigenen Lande, dann wird Monsieur Herriot in den finsteren Verließen der GPU sitzen, seine Tochter – in der Lagerwäscherei, der Sohn – im Jenseits, und das ganze werden Stalin und Starodubzeff deichseln.

Das ist es, was wir tun müssen … Und fliehen müssen wir. So schnell wie möglich. Nicht hinziehen und uns mit den Awdejeffs abgeben. Hol's der Teufel!«

Boris schüttete die Reste des Fischchens auf die Zeitung und wischte mit dem Taschentuch seine von den Fischgräten blutende Hand. Georg schielte auf diese Hand und wandte sich wieder zum Feuer. Ich dachte daran, daß es tatsächlich besser wäre, die Sache nicht auf die lange Bank zu schieben. Aber wie? Schneeschuhe, Spuren, schneeverwehte Wälder, nicht zufrierende Gebirgsbäche. Hol's der Teufel – wenigstens einen Abend nicht an all das denken. Als ob Georg meine Stimmung aufgefangen hätte, fragte er, träumerisch in den Ofen sehend, nicht ganz logisch:

»Ist es denn möglich, daß endlich die Zeit kommt, wo wir mindestens nicht all das werden sehen müssen … Kaum zu glauben ist das.«

Die Unterhaltung sprang auf die Zukunft über, die gleichzeitig so greifbar und doch unwahrscheinlich schien, die Zukunft jenseits der Grenze. Der Awdejeffsche Satan war nicht mehr hinter den Fenstern, und die Gefahren der Flucht bedrückten nicht mehr das Gemüt.

Am anderen Tage war einer meiner Mitarbeiter so pfiffig, daß er für Awdejeff einen passenden Dienst fand. Er wurde als Wärter der nicht existierenden, doch geplanten Swirlager-Telefonzentrale angestellt.

Aus seiner Zentrale schleppte das BBK alles, einschließlich Fensterscheiben fort. Wir schickten einen Boten nach Awdejeff, aber er fand ihn nicht.

Abends stolperte Boris in unsere Hütte hinein und sagte finster, daß mit Awdejeff alles »perfekt« sei.

»Habe ich nicht gesagt«, freute sich Georg, »man muß nur nachschubsen, dann wird es schon perfekt.«

Boris räusperte sich umständlich und sah Georg mißbilligend an:

»Soeben habe ich den Totenschein unterzeichnet … Nachdem er uns verlassen hatte, verlief er sich wahrscheinlich … Kann sein … Vormittags hat man ihn in einem Schneehaufen hinter dem Elektrizitätswerk gefunden … Man hätte ihn eigentlich doch begleiten sollen gestern …«

Georg verstummte und sank in sich zusammen. Boris trat ans Fenster und starrte wieder in das schwarze Rechteck der stürmischen Nacht.

 

Die letzten Tage in Podporog

Aus Moskau von der GULAG kam ein Telegramm: »Das Unterlager Pogra wird mit seinen ganzen Insassen und dem Inventar unmittelbar der GULAG unterstellt, Versetzungen aus dem Unterlager künftig verboten.«

Dieses Telegramm teilte mir Georg telefonisch mit; seine Stimme klang ratlos und bedrückt. Zu dieser Zeit waren mit allen Mitteln, wie sich Boris ausdrückte, »alle Hebel Richtung Medgora« in Bewegung gesetzt, was bedeutete, daß wir alle drei jeden Tag von Medgora angefordert werden konnten. Nun stand aber Boris in den Verzeichnissen des lebenden Inventars von Pogra, und Pogra ist jetzt der GULAG unterstellt; von der hohen Obhut der GULAG sich zu befreien, ist nicht so einfach, wie aus dem Swirlager in das BBK versetzt zu werden oder umgekehrt. Weiter bedeutet das, daß Georg und ich unter Bewachung nach dem BBK gebracht werden, während Boris hierbleiben muß. Das war das eine. Zweitens – hinter diesem Telegramm stand wie ein drohender Schatten Genossin Katz, die jeden Tag erscheinen konnte, um ihre neuen Besitzungen zu revidieren und Boris mit ihrer Machorka und ihrem Colt »zu bändigen«.

Boris sagte, man müsse fliehen, ohne einen Tag zu verlieren. Ich war der Ansicht, daß wir versuchen mußten, uns irgendwie herauszuwinden. Es gelang uns aber, weder zu fliehen noch uns herauszuwinden.

Am Abend des Tages, an dem das Telegramm eintraf, kam Boris in unsere Hütte, wir debattierten nochmals über die Frage der morgigen Flucht, wurden nicht einig und legten uns schlafen. Nachts bat mich Boris um einen Becher Wasser. Ich reichte ihm das Wasser und fühlte seinen Puls. Er hatte an hundertzwanzig Schläge: das war ein Rückfall seiner alten Malaria, eine in dem heutigen Rußland außerordentlich verbreitete Krankheit. Das Projekt der morgigen Flucht war damit automatisch liquidiert. Es blieb nur, sich herauszuwinden.

Es war mir sehr unangenehm, mich in dieser Sache an Nadeschda Konstantinowna zu wenden; sie erlebte jetzt eine größere Tragödie als wir. Trotzdem versuchte ich es; aber es wurde nichts daraus. Nadeschda Konstantinowna sah mich mit leeren Augen an und winkte mit der Hand ab: »Ach, jetzt ist mir alles gleichgültig.« Ich hatte nicht mehr den Mut, weiter darauf zu bestehen.

Am 15. März wurde ich abends vom Liquidkom angerufen. Es wurde mir mitgeteilt, daß ich zurück an das BBK abkommandiert werde. Ich ging zur Liquidkom. Es stellte sich heraus, daß wir beide – Georg und ich – mit noch acht Mann von der Intelligenz des lebendigen Inventars vom BBK angefordert wurden: Abmarsch – morgen sechs Uhr. Jetzt war nichts mehr zu machen. Ich glaube, daß Boris' Krankheit unser Glück war. Heute, nach der Erfahrung eines sechzehntägigen Marsches durch die karelische Taiga weiß ich, daß wir diesen Weg im Winter unmöglich zurücklegen konnten. Damals wußte ich es noch nicht. Boris' Krankheit erschien mir wieder wie ein Verhängnis, ein Schicksalsschlag, den wir weder voraussehen noch abwenden konnten. Die Verzeichnisse waren aber bereits fertig, die Begleitmannschaft wartete auf uns, und es blieb nur, sich dem freien Lauf der Ereignisse zu fügen.

Frühmorgens verabschiedeten wir uns von Boris, traurig und schnell.

Kurz und bündig verabredeten wir, daß jeder von uns, wo er auch sein mag, genau am 26. Juli früh die Flucht ergreift. Mehr wurde darüber nicht gesagt. Wir wechselten noch einige unbedeutende Phrasen. Jemand von uns zwang sich zu einem Scherz – doch waren wir dazu nicht aufgelegt. Mit Mühe erhob sich Boris von der Pritsche, geleitete uns bis zur Tür und steckte mir zum Abschied ein Papierchen in die Hand: »Bitte nachher lesen …« Ich schritt davon, ohne mich umzusehen: wozu auch?

Also wiederum »ein letzter Abschied«. Es war nicht der erste. Was hatten wir aber jetzt für Aussichten, daß es uns allen dreien gelingen würde, zu fliehen? In der Bedrückung und dem Schmerz dieser Minuten schien mir, daß es keinerlei, fast gar keine Aussichten gab. Wir gingen durch die noch dunklen Straßen von Podporog, und in meinem Gedächtnis erstanden die vorangegangenen »letzten Abschiede«: bei der Leningrader GPU vor einem halben Jahr, auf dem Nikolausbahnhof in Moskau im November 1926, als Boris für seine Pfadfindersünde auf fünf Jahre nach den Solowetzki-Inseln verschickt wurde.

*

Ich entsinne mich genau: Am frühen Morgen schon, einem regnerischen und hungrigen Morgen, versammelte sich auf dem Nikolausbahnhof eine Menge von Männern und Frauen – Freunde und Verwandte der Häftlinge, die heute aus dem »schwarzen Raben« Gefängniswagen. des GPU-Gefängnisses in den Sträflingszug nach den Solowetzki-Inseln umgeladen wurden. Mit mir zusammen war die Frau meines Bruders, Irene, mit ihrem Erstgeborenen, den Boris noch nicht gesehen hatte: Boris' Familienglück hat nur fünf Monate gedauert.

Niemand von uns wußte, wann die Häftlinge ankamen, wann sie umgeladen wurden. In jenen guten alten Zeiten, als der Terror der GPU noch nicht die Millionen umfaßte, wie es heute der Fall ist – waren die Verladeoperationen noch nicht »industrialisiert«. – Die GPU hatte noch nicht ihre besonderen Verladerampen, die sie heute hat.

Verschiedene Gerüchte kamen und gingen. Die Menge der Freunde und Anverwandten lief auf den Bahnsteigen, Verladerampen und Anschlußgleisen hin und her. Blasse, todmüde Frauen – mit Bündeln oder einem Kind auf dem Arm – mal liefen sie hastig zu der Blockstelle am Kilometer zwei, mal schleppten sie sich fast kraftlos und enttäuscht zurück. Wieder ein neues Gerücht, und, wie von einer Panik ergriffen, stürzte sich die Menge irgendwohin auf das Hintergelände des Bahnhofs. Ich wurde von diesen Wanderungen über die Geleise und Pfützen müde; das in die Decke eingehüllte Kind wurde in meinen nicht gerade schwachen Armen immer schwerer und schwerer; aber die Frauen schienen keine Müdigkeit zu haben: sie führte die Liebe.

So liefen wir den ganzen Tag hin und her. Endlich spätabends, etwa gegen elf Uhr, rannte jemand herbei und rief: »Sie kommen!« Alle stürzten sich zu dem Anschlußgleis, auf dem schon die Sträflingswaggons angerollt waren. Damals waren es richtige Waggons, dritter Klasse, wohl mit vergitterten Fenstern, aber doch richtige Waggons und nicht endlose Viehwagen wie heute. Der erste »Rabe« beschrieb einen schneidigen Kreis, wandte seinen Rücken zu den Waggons, die Wache nahm in einer Doppelkette Aufstellung, die Türen des »Raben« gingen auf, und aus ihm zog eine Prozession von furchtbar aussehenden Menschen. – Menschen, entstellt durch Hunger und Entsetzen, durch Sehnsucht nach den Ihren und die Furcht vor den Solowetzki-Inseln – den Inseln des Todes. Es gingen Menschen in Priesterkleidung und Menschen in Militäruniform, Menschen mit und ohne Brille, bärtige und bartlose. In dem ungleichen Licht der schwankenden Laternen, durch den Vorhang eines Sprühregens gingen an mir unbekannte Gesichter vorbei, gingen höchstwahrscheinlich in den Tod … Und dort:

Gebückt tritt Boris aus dem »Raben« heraus. In den Händen einen Sack mit der »letzten Übergabe« – Kleider und Proviant. Das Gesicht ist weiß wie Papier – fünf Monate Einzelhaft ohne Spaziergang, ohne Besuche und ohne Bücher. Doch sind die Schultern ebenso massig wie früher. Er reckt sich und sucht mit seinen kurzsichtigen Augen Irene und mich in der Menge. Ich rufe laut:

» Cheer up, Bobby!«

Boris antwortet etwas, doch ich verstehe es nicht: nicht ich allein stieß diesen, vielleicht den letzten Zuruf aus. Boris reckt sich noch mehr, auf seinem Gesicht steht Munterkeit, die er auch uns suggerieren will, er hebt die Hand, doch glaube ich nicht, daß er uns sah, es war zu dunkel und zu weit. Nach einigen Sekunden verschwindet seine mächtige Gestalt im Rahmen der Wagentür. Das Herz preßt sich vor Haß und Schmerz zusammen … Aber, o Gott …

Die Prozession nimmt kein Ende. Da ein paar Mädchen in Kopftüchern, in Kattunröckchen – ohne Mäntel, ohne Decken, überhaupt ohne Sachen. Ein Jüngling von siebzehn Jahren – nur mit einer Turnhose und Sträflingspantoffeln angetan; der Kopf und der Oberkörper sind in eine stark durchlöcherte Decke eingewickelt. Noch ein Jüngling, fast ein Knabe, in ausgetretenen Turnschuhen, im ärmellosen Pullover und nichts weiter … Und diese Kinder werden einfach so nach den Solowetzki-Inseln, hinter den Polarkreis gebracht! Was haben sie – diese Sechzehnjährigen – verbrochen, daß man sie dem langsamen und qualvollen Tode ausliefert? Was haben sie für Aussichten, jemals der Hölle dieser Inseln zu entrinnen?

Der eigene Schmerz wird von etwas noch größerem überflutet. Was heißt Boris? Mit seiner körperlichen Kraft und Lebenserfahrung, mit meiner und der übrigen finanziellen Unterstützung – und ich habe etwas zur Unterstützung, und solange ich ein Stück Brot habe, wird Boris es auch haben – wird er sicherlich durch diese Hölle hindurchkommen, jedenfalls hat er Aussicht, durch- und wieder herauszukommen. Was für Aussichten aber haben diese Kinder? Wo sind sie her? Was ist mit ihren Eltern? Warum sind sie hier, halbnackt, ohne Kleider, ohne Proviant? Wo ist der Vater dieses fünfzehn- bis sechzehnjährigen Mädchens, das mit den geschwächten Beinen versucht, von Kopfstein zu Kopfstein des Vorplatzes zu gehen, um ihre zerrissenen Segeltuchhalbschühchen nicht zu durchnässen? Nicht mal ein Läppchen hat sie in Händen, und ihr Gesicht ist bleich und blutleer. Wer ist ihr Vater? Ein Konterrevolutionär, bereits »als Klasse liquidiert«, oder ein Priester, der jetzt in dem eisigen Wasser des Weißen Meeres die Holzstämme flößt, oder ein Sozialdemokrat, dem man Spionage aufband und der nunmehr seinen revolutionären Glauben in der Kammer irgendeines fürchterlichen Isolators wird »liquidieren« müssen?

Endlich ist die Prozession zu Ende. Die »Raben« sind fort. An den Wagen stehen Posten. Es waren nicht soviel Wagen, wie ich dachte – nur fünf Stück. Ich wußte damals noch nicht, daß man im Jahre 1933 nicht mehr Waggon-, sondern zugweise verbannen wird.

Die Menge beginnt auseinanderzugehen. Irene und ich bleiben noch: Irene will Boris ihren Sprößling zeigen, und ich möchte ihm einige Sachen und Geld übergeben. Diplomatische Verhandlungen mit dem Kommandanten der Wache übernimmt Irene mit ihrem Erstgeborenen auf dem Arm. Ich bleibe im Hintergrund. Eine junge Mutter, mit zwei langen Zöpfen und mit dem Kleinen, wird selbstverständlich stärker wirken als meine ganze sowjetistische Erfahrung.

Der Wachtkommandant geht, mit seinem Säbel polternd, die Stufen des Wagens hinab: »Eigentlich nicht zulässig, wenn's aber so ist …« Er nimmt das eingewickelte Kind in seine Arme: »Sieh mal an, ein liebes Kerlchen. Ich habe auch einen ähnlichen Kleinen, nur etwas älter … brauchst nicht gleich zu brüllen, ich fresse dich nicht auf, gleich werden wir dich deinem Papachen zeigen.«

Der Wachtkommandant verschwindet mit dem Kinde auf dem Arm im Wagen. Es gelingt uns, Boris alles zu übergeben, was nötig ist.

Und all das ist bereits Vergangenheit … Heute – wieder Schmerz, Sehnsucht und Unruhe … Aber wie oft kam dieses »letzte Mal«, das sich doch nicht als letztes erwies … Vielleicht werden wir Glück haben.

*

Von Podporog gehen wir unter schwacher Bewachung zum Bahnhof. Der Wachkommandant war einer von den fidelen und lockeren Vögeln, Anfang zwanzig – auch Lagerinsasse, der wegen eines Mordes, verbunden mit Amtsüberschreitung, hierherkam. Dem Bürschchen macht es riesig Spaß, in strahlender Sonne durch den unter feinen Stiefeln schon schmelzenden Schnee zu waten. Er plaudert, singt, beginnt verworrene Geschichten aus seiner Miliz- und Wachtmannpraxis zu erzählen, dann stimmt er wieder mit seiner hohen Fistelstimme ein Lied an und versucht sogar, meine Schwermut zu zerstreuen. Zu dumm, aber es gelingt ihm.

Auf dem Bahnhof angelangt, räumt er für uns acht einen halben Wagen aus und vertreibt die übrigen Reisenden.

»Unsere Insassen brauchen auch Platz. Diese Lumpen schnarchen jede Nacht in ihren Betten, dann wollen wir wenigstens jetzt wie Burschuis fahren.«

So fuhren wir. Ich holte Boris' Brief hervor, lese ihn durch und trete auf die Plattform hinaus, damit niemand mein Gesicht sieht. Der kühle Wind beruhigt mich etwas. Nach zehn Minuten tritt leise der Wachtkommandant hinzu:

»Warum quälen Sie sich nur? Unsereiner muß so leben: Tag vorüber, halbe Flasche zerdrückt, ein Weib abgeknutscht – und Gott befohlen bis zum nächsten Tag … Hier ist die Hauptsache – an nichts zu denken. Denke nicht und basta.«

Der Wachtkommandant hatte eine tiefere Philosophie, als ich es erwartete.

Es wird Abend.

Ich liege auf der Bank des letzten Abteils. Hinter der durchlöcherten Holzwand, im Abteil vor mir, herrscht eine andere, freie Welt. Ein Bauernbursche erzählt ein altes Märchen von der verwunschenen Prinzessin. Die Zuhörer räuspern sich ab und zu mitfühlend.

»… Und nun kommt, mein Bruderherz, Prinz Iwan zu der verwunschenen Prinzessin. Ganz verweint sitzt sie da. Sie ist in einen Schwan verzaubert. Die Federn sind aus Silber, und die Tränen fallen als kleine Diamanten zur Erde. Sagt Iwan zu ihr, das heißt der Prinz: Ich kann nicht, sagt er, ohne dich atmen, kann nicht aus den Augen gucken … Da sagt ihm die verzauberte Prinzessin: Verwunschen bin ich, sagt sie, eine böse Stiefmutter hat mich verzaubert, ich kann nicht, Prinz Iwan, dich heiraten. Und du, armer Scheißkerl, sagt sie, Prinz Iwan, solange du noch nichts abgekriegt hast, hau ab!«

»Sieh mal an!«

Gerührt räuspern sich die Zuhörer.

Dieses Bruchstück der sowjetistischen Volkskunde verscheucht meine trüben Gedanken.

Wir nähern uns Medgora. Die Podporoger Epoche ist zu Ende. Welch eine kurze Epoche – nur achtundsechzig Tage. Was für Abenteuer harren aber unser in Medgora?

Ende des ersten Teiles


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