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Liquidation

 

Erwachen

Ich gelangte in mein Zelt und kroch auf die Pritsche. So schön wäre es, bald einzuschlafen. Doch war es ungemütlich, daran zu denken, daß nach höchstens anderthalb Stunden schon der Stubendienst kommt, an den Beinen zieht und ruft:

»Genosse Solonewitsch, auf – zur RVA!«

Aber der Schlaf kam nicht. Die Bruchstücke der Unterhaltung mit Tschekalin schwirrten in meinem Kopf, auch wirkte die verhaltene Warnung Tschekalins darüber, daß Jakimenko von unseren Kombinationen etwas ahnte, aufregend. Dazwischen tauchte das totenähnliche Gesicht Georgs und die unterdrückte Wut Boris' auf. Dann erschien aus dem Chaos dieser Vorstellungen Georg – nicht so, wie er jetzt war, sondern wie früher – klein, rundlich und niedlich. Mit seinem weichen Pfötchen zieht er mich an der Nase, und in dem anderen Pfötchen glänzt etwas:

»Vati, Vati, setz die Brille auf, sonst wird dir kalt« …

Ja–a … Und was ist aus ihm geworden? Und was wird weiter?

Langsam verschwommen die Gedanken …

Als ich erwachte, fiel ein greller Sonnenstrahl durch das Halbdunkel des Zeltes, von der Tür bis zu dem Öfchen. Am Öfchen, in sich gekauert und mit den Lumpen zugedeckt, schlief die Nachtwache. Sonst war niemand im Zelt. Ich fühlte, daß ich endlich ausgeschlafen war und offensichtlich lange geschlafen hatte. Ich schaute auf die Uhr, sie stand. Mit dem Gefühl einer angenehmen Frische im ganzen Körper dehnte ich mich und wollte noch ein bißchen dösen: so selten gelang es. Aber plötzlich kam der unruhige Gedanke: irgend etwas hat sich ereignet! … Warum hat man mich nicht geweckt? Warum ist niemand im Zelt? Was ist mit Georg?

Ich sprang von der Pritsche auf und ging in die RVA. Ein blendender Frosttag. Der von dem Sturm angewehte Neuschnee glitzerte und gleißte … Es war windstill. In der Luft stand eine fröhlich-fröstelnde Munterkeit.

Die Tür zur RVA war sperrangelweit auf: merkwürdig! Noch merkwürdiger war das, was ich im Innern sah: leere Zimmer, weder Tische noch Schreibmaschinen noch »Personalakten« … Brettersplitter, Papierfetzen, in den Fenstern keine Scheiben. Die zugige Luft blies in alle Winkel der RVA und fegte die Papierfetzen von Ecke zu Ecke. Ich hob einen auf. Das war eine »Abzugsquittung« für einen mir gänzlich unbekannten Sidoroff oder Petroff, auf der durch Unterschrift und Stempel beglaubigt war, daß während der sieben Jahre seiner Haft dieser Sidoroff oder Petroff einen Abzug von etwa sechshundert Tagen verdient hatte. So … Verloren hat man das Papierchen und mit ihm fast zwei Jahre Leben eines Menschen … Ich steckte das Papierchen in die Tasche. Wo ist bloß Georg?

Ich lief ins Zelt zurück und weckte die Nachtwache:

»Er ist doch mit Ihrem Bruder spazierengegangen.«

»Und die RVA?«

»Die RVA ist umgezogen. Alle sind fortgefahren.«

»Und Jakimenko?«

»Ich sage doch, alle. Nahmen ihre Papiere mit und weg …«

Eine vernünftigere Information war von der Wache offensichtlich nicht zu erhalten. Zunächst genügte aber auch das. Es bedeutete, daß Tschekalin sein Wort gehalten hat, keine Transporte mehr abnahm, worauf Jakimenko seine »Papiere« und seinen Aktiv zusammennahm, die Anker lichtete und nach Medgora segelte. Interessant, wo ist Starodubzeff hin? Doch ist es Wurscht, ich spucke jetzt auf Starodubzeff. Ich trat hinaus und fühlte mich wie ein Kalif für eine Stunde, vielleicht für ein paar Stunden.

Ich ging bis an das Flußufer. Rechts, einen Kilometer weit, an einem Abgrund leuchtete ruhig in klaren Umrissen das Zwiebeltürmchen der Dorfkirche. Ich ging darauf zu. Ich fand einen Dorffriedhof, der hoch oben über die Weiten und die »Ewige Ruhe« wachte. Etwas Levantinisch-Ruhiges lag in den blassen durchsichtigen Farben dieses Polarwinters, in den niedrigen Kiefern mit den aufgestülpten Schneemützen, in dem seiner Glocken beraubten alten Kirchlein, in der Einöde von Verlassenheit und Einsamkeit. Durch die zerschlagenen Fenster des Kirchleins flogen geschäftig Spatzen ein und aus. Unten im Abgrund rauschten die nicht zufrierenden Stromschnellen des Flusses. In drohender Bläue lagen rings um das Dorf düstere karelische Taigawälder – eben jene, durch welche …

Am Abgrund setzte ich mich in den Schnee, zündete eine Zigarette an und dachte nach. Obwohl es mit der RVA, Jakimenko, dem BAM, der Unruhe und Aussichtslosigkeit vorbei war, waren meine Gedanken durchaus nicht fröhlich.

Zum hundertsten Male legte ich mir die Frage vor – wie konnte es nur kommen, daß wir drei, dazu noch, wenn alles klappte, auf verschiedenen Wolfspfaden durch diese Wälder uns werden durchschleichen müssen, der Verfolgung der Tschekisten mit ihren Spürhunden ausgesetzt, Treiberketten durchbrechen, auf jeden Busch achtgeben – ob keine Geheimposten unter ihm versteckt liegen, die Ketten des Grenzschutzes passieren, jede Sekunde das Leben riskieren, und all das nur, um das eigene Vaterland zu verlassen. Oder, dieselbe Frage von einem etwas anderen Standpunkt aus betrachtet – das zu verwirklichen, was schon so oft von allerhand sozialistischen Parteien proklamiert und bereits gründlich vergessen wurde – das Recht auf die persönliche Bewegungsfreiheit … Wie fügte sich das alles zusammen, und wie wurde es zusammengefügt? Waren wir drei für unser Land unbrauchbar, talentlos und nutzlos geworden? Oder sind wir vielleicht ein »antisoziales Element«, unduldsam in der »wohlorganisierten Menschengesellschaft«?

Mir kam eine Erinnerung. Es war in einer Nacht bei der RVA, als wir allein waren und Boris kam, um uns zu helfen, die Aufstellungen für die Transportzüge abzutippen und aus der Kartothek die »toten Seelen« herauszusuchen. Georg rieb sich seine abgemagerten Finger und träumte laut darüber, wie schön es wäre, aus dem Lager auszukratzen – irgendwohin auf die Hawai-Inseln – wo es keine Kriege, keine GPU, keine Gefängnisse, keine Transportzüge, kein Klassen- und Überklassengemetzel gäbe. Boris hob die Augen von der Kartothek und sagte streng:

»Zu früh willst du dich ausruhen, Schorschi. Man wird noch kämpfen müssen. Ordentlich kämpfen …«

Ja, natürlich hatte Boris recht, man wird sich schlagen müssen … Haben uns seinerzeit nicht zu Ende geschlagen, und da haben wir es jetzt – Erschießungen, Transportzüge, Mädchen mit dem Eistopf. Doch habe ich keine besondere Lust, mich zu schlagen … In dieser Welt, in der Newton und Dostojewski lebten, leben noch Sven Hedin und Marconi. Die Helden des Weltkrieges sind noch nicht ganz verwest und die Millionen Opfer des sozialistischen Gemetzels, da tragen schon zahllose » sancta simplicitas« die Holzbündel zusammen, schärfen die Bajonette und stellen die Maschinengewehre auf gegen die Fremden, der Partei nach, der Staatsangehörigkeit, der Gesichtsform nach … Und jeder von diesen Einfaltspinseln ist wahrscheinlich aufrichtig der Ansicht, daß er in dem aufgeschlitzten Bauch seines Nächsten die Antwort auf all seine primitiven Fragen und Nöte findet! …

So war es, und so wird es anscheinend noch recht lange bleiben. In der Sowjetunion aber hat all das die Formen angenommen, die schon ganz unerträglich, nicht auszuhalten sind. Das Evangelium des Hasses! Alltäglich und allstündlich durch Zeitungen, Radio und Reden wird dieses Evangelium des Hasses gepredigt, das seine Adepten schon aus ganz unmöglichem Lumpenpack anwirbt … Nein, hier weiterzuleben, ist nicht mehr möglich … Vor einem Jahr war unsere Flucht die gleiche Notwendigkeit, wie sie es auch heute ist. Das Leben war einfach unmöglich geworden. Oder, wie eine meiner Bekannten sagte:

»Onkel Hans, man erstickt ja hier …«

Plötzlich stürzte sich jemand von hinten auf mich, und ein paar Arme umklammerten mich fest. Wie ein Blitz flammte das Bewußtsein einer Gefahr auf und ebenso ein blitzhafter Instinkt, ein bedingter Reflex – austrainiert durch den langjährigen Sport – warf mich hinunter in den Abgrund. Ich leistete keinen Widerstand: ich brauchte nur dem Überfallenden zu helfen, das heißt, das zu machen, was er gar nicht erwartete. Wir kullerten hinunter und landeten in einem Schneehaufen. Sofort wurde das Gesicht, besonders die Brille, mit Schnee verklebt. Ebenso instinktiv ertastete ich das Bein des Überfallenden und bog es unter mein Knie: dadurch wird ein Griff möglich, mit dem man blitzschnell das Bein zersplittern kann …

Lautes Gelächter Boris' ertönte von oben, und an meinem Ohr hörte ich das schwere Schnaufen Georgs … Eins, zwei, und Georg lag auf beiden Schultern.

Eine helle Wut stieg in mir auf. Eine freundschaftliche Balgerei war in unserer, wie Georg einst sagte, »kreuzfidelen« Familie zur Tradition geworden, zu einem fröhlichen, lebensfrohen, vielleicht etwas affenartigen Brauch. Vom jüngsten Kindesalter an gab es für Schorschi kein größeres Vergnügen, als sich mit dem eigenen Vater zu balgen und nach einer halbstündigen Rauferei, auf dem väterlichen Bauch sitzend, zu piepsen: »Willst du dich ergeben?« Das war aber in der Freiheit. Doch hier im Lager! – In dem Zustand dieser wilden Nervenanspannung? Was wäre nun geschehen, wenn ich das Gelächter Boris' einige Sekunden später gehört hätte?

Georg strahlte aber so über das ganze Gesicht, über und über mit Schnee verklebt, so froh war er nach all diesen RVA-Nächten, BAM-Aufstellungen, Transportzügen und dergleichen, sich im Schnee herumwälzen zu können, daß es bei mir nur zu einem Seufzer reichte. Nach soviel Monaten – der erste Lichtschimmer der Jugend und der Lebensfreude – warum soll ich das verderben?

Wir putzten die Brillen, schlugen den Schnee aus Kragen und aus Ärmeln und kletterten hinauf. Am Rande der Böschung reichte Boris Georg seine Tatze und sagte mit leichtem Tadel:

»Immerhin, Schorschi, so macht man das nicht. Schade, daß ich dir nicht zuvorkommen konnte.«

»Was ist Besonderes dabei? Wa wird doch keinen Herzschlag bekommen haben?«

»Mit Vaters Herz geschieht nichts, aber mit deinem Arm oder mit den Rippen könnte etwas Bruchartiges passieren – konnte denn Vater wissen, wer ihn überfallen hat? Wir sind hier doch im Lager und nicht in Saltykowka …«

Georg schämte sich etwas, doch schien die Sonne zu schön, um sich über diesen Vorfall noch weiter zu unterhalten …

Wir setzten uns in den Schnee, und ich erzählte von meinem nächtlichen Besuch bei Tschekalin, der allerdings jetzt nicht mehr ein aktuelles Interesse hatte. Boris und Georg teilten mir aber folgendes mit:

Zunächst, daß ich mehr als vierundzwanzig Stunden ununterbrochen geschlafen hatte. Gestern morgen kam Tschekalin mit seinem Arzt auf den Verladeplatz, prüfte etwa dreißig Mann, verfaßte ein Protokoll darüber, daß das BBK ihm Menschen unterschiebe, die er schon zweimal wegen des Gesundheitszustandes nicht abnahm, setzte sich in den nächsten Zug und fuhr ab, Jakimenko sozusagen mit aufgesperrtem Maul dalassend. Jakimenko kramte seine Medgoraspezialisten, RVA-Aktiv, Personalakten, Schreibmaschinen und das übrige zusammen und geruhte, nach Medgora abzureisen. Über uns ließ man nicht einmal ein Wort fallen: sei es deshalb, weil wir offiziell noch nicht zu dem Personalbestand der RVA gehörten, sei es, daß Jakimenko vorgezogen hatte, unsere erlauchten Dienste nicht mehr in Anspruch zu nehmen. Die Reste der Podporoger Abteilung sollten angeblich dem benachbarten Swirlager übergeben werden. (Die Grenzen zwischen den Lagern an den Peripherien des Landes wurden mit gleicher Genauigkeit wie seinerzeit die Grenzen der Regierungsbezirke gezogen; diese Lagergrenzen sind selbstverständlich auf keinen offiziellen Karten verzeichnet.) Es entstand das Problem: soll man sich so »orientieren«, daß man hierbleibt im Bereich des Swirlagers, oder soll man versuchen, sich wieder nach Norden zum BBK durchzuschlängeln, wohin ein Teil des zurückgebliebenen Verwaltungspersonals der Podporoger Abteilung in Kürze überführt werden sollte … Na, das wird man noch sehen: du sollst den Tag nicht vor dem Abend loben. Einstweilen strahlt die Sonne. In der Seele ist es leicht und optimistisch, in der Tasche liegt der Tschekalinsche Kaviar – kurzum carpe diem – genieße den Tag … Was wir auch taten.

 

Liquidkom

Mehrere Tage geisterten wir mit Georg wie die unbußfertigen Seelen umher. Die Kommandantur gab uns einstweilen die Talons für Mittagessen und Brot aus, das Brennholz für das nunmehr leere Zelt klauten wir auf dem Elektrizitätswerkchen. Georg nützte die freie Zeit aus und legte Schlingen für die Krähen, um unser Lagermenü zu verschönern. Boris war mit seinen Ambulanzen, Lazaretts und der »Schwachkraft« beschäftigt.

Nach einigen Tagen wurde bekannt, daß Podporog tatsächlich in den Bereich des Swirlagers überführt wird und daß an Stelle des Podporoger »Stabes« eine Liquidationskommission mit dem früheren Abteilungsleiter, Genossen Wiedemann, an der Spitze, einem massigen und düsteren Manne mit großem Bauch und vielen Fettfalten im Nacken trotz seiner dreißig bis fünfunddreißig Jahre, organisiert wurde.

Ich sah ihn an und dachte, daß er keine schwache Stunde wie Tschekalin haben würde. Bei ihm muß man auf der Hut sein!

Als Geschäftsführerin der Liquidationskommission war eine liebe Frau, Nadeschda Konstantinowna, bestellt, die Frau eines inhaftierten Diplomlandwirtes – eines ehemaligen Kommunisten und Stellvertreters des Volkskommissars der Landwirtschaft einer mir nicht in der Erinnerung gebliebenen föderativen Sowjetrepublik. Sie selbst war eine freie Angestellte.

Georg und ich nisteten uns in dieser Liquidkom auf den bescheidenen Posten von Tippmamsells ein. Von den planwirtschaftlichen und literarisch-juristischen Perspektiven habe ich mich schlauerweise gedrückt: mein Bedarf war gedeckt. Bei der Liquidkom hatten wir eine ruhige Arbeit. Es wurde genau zehn Stunden täglich gearbeitet, und es gab sogar Ausgehtage. Niemand brauchte sich zu übereilen.

So sitze ich hinter der Schreibmaschine und tippe friedlich nach dem Diktat der Mitglieder der Liquidkom des BBK und der Abnahmekommission des Swirlagers die endlosen Inventaraufstellungen:

»Baracke 47, aus Brettern, zwei Öfen … Raumgehalt 50 × 7,50 × 3,2 Meter. Fußböden aus aufgelegten, gehobelten Dielen … gezimmerte Türen – 1, Fenster mit Rahmen und Scheiben – 2 …«

Schon längst gab es in der Welt keine Baracke 47 mehr: sie war längst durchs Ofenrohr gegangen mit ihrem ganzen Raumgehalt, Türen, Fenstern und so weiter – in den Tagen, als das BBK dem BAM die »toten Seelen« unterschob … Jetzt schiebt das BBK dem Swirlager die nicht existierenden Baracken unter. Die Vertreter des Swirlagers unterzeichnen diese aus den Fingern gesogenen Inventaraufstellungen, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich schweige. Was geht mich das an …

Nachdem die Vertreter des Swirlagers auf diese Manier die Hälfte der Podporoger Abteilung übernommen hatten, wurden sie auf einmal lebendig. Es kam eine Brigade vom Swirlager und entwickelte einen ungewöhnlichen Scharfsinn: sie fuhr nach Pogra und entdeckte, daß die Baracken, die die Swirlagerkommission übernommen hatte, spurlos vom Erdboden verschwunden waren. Danach gab es ungefähr folgendes Zwiegespräch:

BBK: Wir wissen von nichts. Ihr habt das Abnahmeprotokoll unterzeichnet, jetzt sollt ihr auch die Suppe auslöffeln.

Swirlager: Wir haben doch nur nach dem Inventarverzeichnis unterschrieben und nicht nach der Bestandsaufnahme. Diejenigen, die abgenommen haben, setzen wir fest, und die Protokolle betrachten wir als nichtig.

BBK: Unseretwegen betrachten Sie's. Die unterzeichneten Protokolle haben wir, und fertig ist die Kiste.

Swirlager: Wir werden schon Klarheit in die Sache bringen.

BBK: Rein gar nichts wissen wir. Die Baracken waren in unseren Inventarverzeichnissen enthalten, und nach diesen mußten wir sie auch übergeben. Und Sie können sie jemand anderem übergeben. So wird es auch weitergehen.

Swirlager: Wem werden wir sie übergeben?

BBK: Das ist schon Ihre Sache – macht's, wie ihr wollt.

Na, und so weiter. Die streitenden Parteien fuhren nach Moskau zu der GULAG, um sich dort gegenseitig anzuklagen (die Reisespesenmöglichkeit war auch nicht zu verachten) … Georg und ich kosteten in dieser Zeit die volle Muße, die ersten Frühlingsvorboten und die ankommenden Liebesgaben in großen Zügen aus. Nach der Liquidation der Postpaketstelle des Lagers begann wieder die Zustellung der Pakete direkt durch die Staatspost. Diese hatte eine genügende »Qualifikation« noch nicht erreicht und klaute ängstlich und bescheiden; etwas blieb auch für uns übrig …

Dann kam von Moskau der Befehl: Abnehmen nach tatsächlichen Beständen! Man begann nach den tatsächlichen Beständen abzunehmen – und nun konnte man überhaupt hinter nichts mehr kommen. Zehntausende von Äxten, Sägen, Brecheisen, Schaufeln, Schlitten und anderes mehr lagen unter den Schneehaufen begraben, irgendwo auf den Waldschneisen, auf den Ausschachtungen, wo sie von den von Panik vor dem BAM Befallenen liegengelassen wurden. Existieren diese Sägen und das übrige in »tatsächlichen Beständen« oder nicht? Das BBK sagt: Sicher existieren sie, da schauen Sie, sie stehen im Inventarverzeichnis. Das Swirlager sagt: Wir kennen Ihre Inventarverzeichnisse. BBK: Das sind doch aber Sägen, die können doch nicht verbrannt sein? Swirlager: Bei solchen Spitzbuben, wie ihr seid, könnten auch die Sägen verbrannt sein …

Fünf Lokomobilen waren da: zwei gesprengte und eine ganze; die restlichen beiden konnte man nicht finden. Es waren doch keine Stecknadeln, und trotzdem, man suchte hin, man suchte her, und fand nichts. Das Swirlager sagte: Da haben wir's, Ihre Verzeichnisse! Das BBK kratzte sich nachdenklich hinter den Ohren: Wird nichts anderes sein, die BAM-Kommission hat sich damit versorgt. Große Gauner sind in dieser Kommission. Swirlager: Ihr braucht gar nicht so bescheiden zu sein, solche Gauner wie beim BBK …

Den Bagger, der seinerzeit die Swirböschung hinuntergestürzt wurde, hat man »als Eisenschrotthaufen im Gewicht von etwa dreihundert Tonnen« abgenommen. Auch unser Elektrizitätswerkchen mit Lokomobile hat man abgenommen und gleich nach der Abnahme ganz Podporog in volle Finsternis versinken lassen: Braucht gar nicht so hochnäsig zu sein – jetzt sind wir die Herren. Petroleum gab es nicht, Kerzen um so weniger. Abends konnten wir also nicht arbeiten. Wegen der »Liquidation« unseres Zeltes zogen wir in eine leerstehende karelische Hütte um, und nun begann ein geruhsames Leben. Das Brennholz klauten wir jetzt nicht mehr im Elektrizitätswerkchen – denn dieses war schon fort –, sondern bei der Liquidkom selbst. Jemand vom BBK fuhr nach Moskau, um sich über das Swirlager zu beschweren. Jemand von dem Swirlager fuhr nach Moskau, um sich über das BBK zu beschweren. Telegramm aus Moskau: »Elektrizitätswerk wieder in Betrieb nehmen«. Doch war das Swirlager schlau genug und verschleppte, unbekannt wohin, den Generator. Wieder Telegramme, wieder Reisespesen. Aus Moskau der Befehl: »Elektrizitätswerk unter persönlicher Verantwortung von dem und dem sofort in Gang zu setzen; falls unmöglich – auf Petroleumbeleuchtung übergehen.« Telegramm nach Moskau: »Erbitten Befehl für außerplanmäßige, bevorzugt beschleunigte Petroleumanlieferung« … Jetzt begann diese lächerliche Sache in echt bolschewistischen Schwung zu kommen.

 

Das Schicksal des »lebendigen Inventars«

Mit der Übergabe des lebendigen Inventars von Podporog war es noch schwieriger und schlechter: Das Swirlager ging nicht ohne Grund von der Voraussetzung aus: wenn solche Gauner, wie die bei der BBK, nicht raffiniert genug waren, um das lebendige Inventar dem BAM anzudrehen, dann bedeutete es, daß dieses Inventar tatsächlich nicht zu gebrauchen war. Wozu brauchte dann das Swirlager sich dieses Inventar aufhalsen und damit eigene »wirtschaftliche Berechnungen« bedrohen zu lassen? Mit diebischer Behendigkeit und mit der stark ausgeprägten Neigung, dem Swirlager nur die »Schwachkraft« zu belassen, disponierte das BBK alle Menschen um, welche aus »sozialen Gründen« nicht nach dem BAM geschickt waren, das heißt die verhältnismäßig gesunden. Das Swirlager entrüstete sich, sandte Telegramme und Sonderbeauftragte nach Moskau, einstweilen aber stellte es auf dem bereits abgenommenen Teil von Podporog seine Posten auf; worauf das BBK als Vergeltung ihre Posten auf dem übrigen Gelände aufziehen ließ. Diese zwischeninstanzliche Zankerei kam besonders dadurch zum Ausdruck, daß die Posten des Swirlagers die Lagerinsassen des BBK auffingen und verhafteten, und umgekehrt: die BBK-Posten taten dasselbe mit den Insassen des Swirlagers. Da aber die ganze WOCHR von diesem hinreißenden amtlichen Sport mit in Anspruch genommen wurde, blieben die Gruben, worin man im Winter die vom Zweigfutter und aus anderen sozialistischen Gründen krepierten Pferde einscharrte, ohne Bewachung – und das hat viele Lagerinsassen vom Hungertod gerettet.

Das BBK war der Ansicht, daß es die Podporoger Abteilung »nach den Verzeichnissen« bereits übergeben hatte. Das Swirlager war der Ansicht, daß es »nach dem tatsächlichen Bestand« noch nichts übernommen hatte. Deshalb trachteten sowohl das BBK als auch das Swirlager danach, sich von der Verpflegung der Lagerinsassen nach Möglichkeit zu drücken. Beide gaben aber mit Geschimpfe und Skandal Vorschüsse, mit denen sie mal sich gegenseitig, mal die GULAG belasteten. Es kam vor, daß auf einer Sitzung so um zehn oder elf Uhr abends, nachdem die Argumente auf beiden Seiten erschöpft waren, sich herausstellte, daß für die zwanzigtausend Lagerinsassen für morgen nichts an Verpflegung da war. Dann flogen die Radiogramme nach Medgora und nach Lodenfeld (Hauptstadt des Swirlagers), Blitztelegramme nach Moskau, und einen Tag später wurde das Brot aus den Vorratsmagazinen in Petrosawodsk angeliefert. Doch blieben dabei die Lagerinsassen mindestens ein bis zwei Tage ohne jegliche Nahrung, außer den Pferdekadavern, von denen dann die Lagerinsassen mit den Äxten die Stücke heraushieben und sie am offenen Holzfeuer brieten. Um diesen jämmerlichen Wirrwarr zu klären, kam aus Moskau eine Vertreterin der GULAG und aus Medgora, zur Stützung des nicht allzu schlauen Kopfes von Wiedemann – in höchsteigener Person Jakimenko.

Boris, der all diese Tage mit zusammengebissenen Zähnen und geballten Fausten herumlief, ging »aus alter Bekanntschaft« zu Jakimenko, um zu melden, daß es doch nicht angängig wäre, die Menschen ganz ohne Verpflegung zu lassen. Jakimenko war sehr liebenswürdig, sagte, daß es kleine Mängel des Liquidationsmechanismus seien und daß die Order auf die Verladung von Lebensmitteln seitens der GULAG bereits gegeben wäre. Die Order war tatsächlich gegeben, doch konnte man auf sie nichts bekommen. Die Chefs der Unterlager plünderten mit Hilfe der eigenen WOCHR die Dorfkooperative und die Magazine irgendeines »Nordwest-Waldtrustes«.

 

Sitzungsprotokolle

Das Lager hungerte furchtbar, und die »Liquidkom«, von bolschewistischer Zähigkeit besessen, tagte und tagte. Die Protokolle dieser Sitzungen führte Nadeschda Konstantinowna. Sie war eine gute Stenotypistin und eine gewissenhafte und tüchtige Frau. Eben deshalb waren die Reden des Genossen Wiedemann nach der Übertragung der Stenogramme in die menschliche Sprache zum Davonlaufen. Nadeschda Konstantinowna trug sie, ihre Erregung unterdrückend, in das Zimmer Wiedemanns zur Unterschrift; aus dem Kabinett des Chefs hörte man dann stets einen sonoren Baß:

»Was haben Sie bloß hier dahergeschmiert? Unmöglich kann ich so was diktiert haben! Weiß der Teufel, was das sein soll? Und Sie wollen Stenotypistin sein! Verbessern Sie unverzüglich genau so, wie ich es sagte!«

Nadeschda Konstantinowna kehrte zurück, korrigierte, und ich mußte es abschreiben – nachher wurde es mir aber doch überdrüssig. Außerdem war es interessant, sich mal die Sitzung anzusehen. Ich machte Nadeschda Konstantinowna einen Vorschlag:

»Wissen Sie was? Lassen Sie mich die Protokolle führen, und dafür tippen Sie für mich auf der Maschine.«

»Sie können aber nicht stenographieren.«

»Spielt keine Rolle. Garantiere für vollen Erfolg. Gefällt es nicht – Geld zurück.«

Fürs erstemal täuschte Nadeschda Konstantinowna Krankheit vor, ich schob mich bescheiden durch die Kabinettür Wiedemanns und sagte:

»Genossin Nadeschda Konstantinowna ist erkrankt, sie bat mich, sie zu vertreten … Wenn Sie gestatten.«

»Können Sie gut stenographieren?«

»Ja … Ich habe ein eigenes System.«

»Nun, dann sehen Sie zu …«

Am anderen Morgen war das »Stenogramm« fertig übertragen. Das unartikulierte Gegröhle des Genossen Wiedemann hatte in dem angefertigten Schreiben literarische Formen und einigermaßen auch logischen Sinn angenommen. Außerdem, dort, wo meiner Meinung nach in der Rede des Genossen Wiedemann die »Interessen der Industrialisierung des Landes« figurieren mußten – erschien: »Interessen der Industrialisierung des Landes«. Dort, wo ich meinte, daß es heißen sollte »unser großer Stalin«, stand »unser großer Stalin« … Habe ich in meinem Leben doch genug von ähnlich dämlichem Quatsch losgelassen …

Nadeschda Konstantinowna brachte die Protokolle meiner Produktion zur Unterschrift, nicht ohne vorher ihre Zweifel zum Ausdruck gebracht zu haben, ob Wiedemann tatsächlich so gesprochen hätte, wie es bei mir geschrieben stand. Ich zerstreute die Zweifel Nadeschdas: Wiedemann hatte etwas ganz anderes gesagt, das weit von dem Inhalt meines Schreibens entfernt war. Sie unterdrückte einen schweren Seufzer und ging. Dann hörte ich den Wiedemannschen Baß:

»Das nenne ich ein Protokoll … Und Sie, Genossin Nadeschda Konstantinowna, dichteten etwas zusammen, daß man Pontius von Pilatus nicht unterscheiden konnte …«

In meinen Protokollen habe ich selbstverständlich auch einige amtliche Interessen wahrgenommen – das heißt Interessen des BBK: wes Brot du ißt, des Lied du singst … Deshalb kam es vor, daß die Vertreter des Swirlagers, bevor sie meine literarischen Protokolldichtungen unterschrieben, oft einige Zweifel hegten, und dann dröhnte der Wiedemannsche Baß:

»Na, das ist nun, der Teufel weiß, was … Haben Sie denn nicht selbst mitgesprochen? … Habt ihr's denn nicht alle gehört? … Das ist doch ein Stenogramm – Wort für Wort … Wenn ihr auf diese Art und Weise unsere Arbeit untergraben wollt, dann …«

Wiedemann war ein draufgängerischer Bursche. Die Vertreter des Swirlagers seufzten wahrscheinlich – ihre Seufzer konnte ich allerdings vom Nachbarzimmer aus nicht hören – unterschrieben aber schließlich doch. Wiedemann begann meine Anwesenheit zu merken. Wenn er unser Zimmer betrat, um Nadeschda Konstantinowna einige Papiere zu übergeben, legte er seine Pfote, die das Gefühl eines Besitzers verriet, ihr auf die Schulter und schaute mich drohend an, was wohl heißen sollte: Laß dich nicht nach fremdem Gut gelüsten. Doch war der drohende Blick Wiedemanns an die falsche Adresse gerichtet.

Nichtsdestoweniger begann ich, zu bedauern, daß der Teufel uns wieder mit den höheren Regionen des Lagers in Verbindung brachte.

 

Sanitätssiedlung

Der Teufel fuhr aber fort, uns noch weiter zu verwickeln. Einmal kam Boris in unsere leere Hütte. Er wohnte mal bei uns, mal in Pogra, wie es eben ging. Den Lagerverhältnissen entsprechend haben wir uns ganz gemütlich eingerichtet. Es gab zwar kein Licht, dafür aber brannte den ganzen Abend ganz hell der Ofen, geheizt mit dem vom Liquidkom geklauten Holz; es war eine fast volle Illusion der häuslichen Gemütlichkeit. Boris legte gleich los:

»Ich habe eine Idee … Jetzt geht in Pogra, weiß der Teufel, was vor … Die Invaliden und die ›Schwachkraft‹ werden gar nicht verpflegt, und ich denke, daß bei den heutigen Umständen eine Besserung der Lage auch nicht zu erwarten ist. Man muß es so einrichten, daß Pogra in eine Sanitätssiedlung umgewandelt wird, wo dann alle Invaliden der nördlich liegenden Lager, ›Schwachkräfte‹ und dergleichen zu sammeln wären, irgendeine nicht zu schwierige Arbeit organisieren und das Ganze unter die ›Schirmherrschaft‹ der GULAG bringen. Wenn das Ganze schmackhaft gemacht wird, ist die GULAG vielleicht bereit, irgendwelche Verpflegungsfonds flüssig zu machen. Sonst werden das BBK und das Swirlager weiterwurschteln und Sitzungen abhalten, bis meine gegenwärtigen und künftigen Patienten restlos aussterben … Wie ist deine Meinung?«

Meine Meinung war negativ:

»Soeben sind wir lebendig aus dem BAM-Abenteuer herausgekommen, Gott sei gelobt! Und nun sich wieder an einer Chalture beteiligen?«

»Das ist keine Chalture«, verbesserte Boris ernst.

»Das stimmt schon … Dann ist es um so schlimmer. Bis zur Flucht bleiben uns nur noch vier Monate … Warum sollen wir uns noch das ans Bein binden?«

»Du sprichst nur deshalb so, weil du noch nie in der ›Schwachkraft‹ und im Lazarett gearbeitet hast. Sonst hättest du dich auch damit befaßt. Du hast dich doch mit den Unterschleifen der BAM-Aufstellungen abgegeben …«

Im Ton Boris' lag eine leichte Andeutung meiner Unkorrektheit. – Ich habe für richtig gehalten, mich in die BAM-Sache hineinzumischen, warum bestreite ich ihm das Recht, sich in die Sanitätsangelegenheiten einzumischen.

»Du mußt doch verstehen, daß es viel ernster ist als deine BAM-Aufstellungen …«

In der Tat war es viel ernster. Es handelte sich darum, daß eine große Menge von Menschen bei dem herrschenden System der Ausbeutung der Lagerarbeitskraft ihre Gesundheit und Arbeitsfähigkeit auf immer verlor. Bis vor einigen Jahren hat man solche Invaliden »aktiert«: eine Kommission aus Ärzten und Vertretern der Lagerverwaltung verfaßte eine Akte, die besagte, daß Iwanoff seine Arbeitsfähigkeit verloren habe, worauf dieser nach einigem bürokratischen Hin und Her aus dem Lager entlassen und gewöhnlich nach irgendeiner Gegend mit Selbstbeköstigung verbannt wurde: Leb oder stirb, wie du willst. Es muß schon zugegeben werden, daß die Ärzte mit Hilfe dieses »Aktierens« vor allem die Intellektuellen aus dem Lager zu befreien suchten. Nach einer ähnlichen »Akte« hat sich auch Boris seinerzeit der Solowetzki-Inseln entledigt, nachdem seine Sehkraft fast bis zur völligen Erblindung herabsank. Diese Tendenz blieb vor der GPU nicht verborgen, und die »Aktierung« wurde eingestellt. Seitdem beließ man die Invaliden in den Lagern. Auf die Arbeit wurden sie nicht geschickt und bekamen je vierhundert Gramm Brot täglich – die Norm eines langsamen Absterbens. Die Glücklicheren kamen auf die Posten von Nachtwächtern, Boten oder Aufwärtern – die weniger Glücklichen starben allmählich aus, sogar bei dem »normalen« Gang der Dinge. Bei jeder Stockung in der Anlieferung der Verpflegung – zum Beispiel wie es augenblicklich in Podporog der Fall war – starben die Invaliden in beschleunigtem Tempo aus; denn bei dem Proviantmangel verpflegte das Lager in erster Linie die mehr oder minder vollwertige Arbeitskraft, und die Invaliden wurden ihrem eigenen Schicksal überlassen … Allein in der Podporoger Abteilung wurden an Vollinvaliden, das heißt Menschen, die sogar nach der Beurteilung der GPU völlig arbeitsunfähig waren, etwa viertausendfünfhundert gezählt; dazu kam noch die »Schwachkraft« mit etwa siebentausend. Ja, das war schon etwas ernster als meine Listen!

»Wie sieht aber die materielle Seite der Angelegenheit aus?« fragte ich. »Glaubst du denn, daß die GULAG dir so ohne weiteres für deine Invaliden mehr Brot liefern wird?«

»Augenblicklich tun sie nichts und bekommen vierhundert Gramm Brot täglich. In allen Lagern des Nordens zusammen werden es ungefähr vierzig- bis fünfzigtausend Invaliden sein; man könnte eine entsprechende Arbeit organisieren, und dann werden sie je sechshundert Gramm bekommen; aber das ist augenblicklich Nebensache. – Hauptsache ist, daß man sofort der GULAG ein Projekt einreicht und unter diesem Vorwand die Verpflegungsfonds flüssig macht. Wenn die Sache den Anflug einer Produktion bekommt – es wäre ganz angebracht, hierbei eine Produktion für Export auszuklügeln –, dann wird die GULAG vielleicht sogar Zusatzrationen genehmigen.«

»Nach meiner Ansicht«, mischte sich Georg ein, »gibt es hier gar nichts zu streiten. Selbstverständlich hat Bob recht. Und du, Wa, bist ein Angsthase. Die Rentabilität wird man schon finden. Zum Beispiel wird hier unter anderem viel Birkenholz gefällt; man kann eine Birkenholz-Verwertungsstelle organisieren – Kästchen, Zigarettenetuis, Brettchen und dergleichen. Außerdem verstehe ich nicht, welche Gefahren für uns von diesem Projekt zu erwarten sind?«

»Kinder, Kinder«, seufzte ich, »ihr sollt doch zugeben, daß ich in der Erkennung von allerhand sowjetistischen Sachen reiche Erfahrung habe. In irgendeine Patsche geraten wir schon … Ich kann heute nicht sagen, in welche, aber wir werden bestimmt hineingeraten. Aus dem einfachen Grunde, weil es gar nicht anders geht. Sobald eine Sache auftaucht, werden sich unbedingt die Karrieremacher, die Bonzen, die Hinterhalte, ›Durchbrüche‹, und der Teufel weiß, was noch, hineinschieben. Und das Ganze wird ja selbstverständlich der nächstbeste Parteilose ausbaden müssen – in gegebenem Falle Boris. Dazu noch hier im Lager.«

»Das ist ja ganz schnuppe«, sagte Georg, »rin in die Patsche, raus aus der Patsche. Nicht das erstemal. Denk mal an, was das für ein Vergnügen ist, in diesem Paradies zu leben!« Georg begann, seine gewohnte Theorie zu entwickeln.

»Onkel Wanja«, sagte Boris mit Nachdruck, »abgesehen von allen möglichen Erwägungen lasten auf uns noch einige moralische Pflichten.«

Ich sah ein, daß meine Stellung, dazu noch von beiden Flanken attackiert, ganz hoffnungslos war. Ich versuchte, die Entscheidung dieser Frage hinauszuschieben:

»Man muß erst die Fühler ausstrecken, um zu erfahren, wer diese Vertreterin der GULAG ist.«

»Onkel Wanja, für so was haben wir gar keine Zeit. Bei mir in Pogra sterben täglich fünfzehn bis fünfzig Menschen vor Hunger.«

So waren wir in die Geschichte mit der Sanitätssiedlung in Pogra hineingeraten. Es erwies sich, daß wir alle drei Propheten waren: ich deshalb, weil wir tatsächlich in die Patsche gerieten, wodurch Boris getrennt von uns fliehen mußte; Boris deshalb, weil, obwohl aus der Sanitätssiedlung rein gar nichts wurde – die Invaliden für den »gegebenen Zeitabschnitt« gerettet waren, und endlich Georg deshalb, weil – mag das Ganze noch so schwer gewesen sein – wir schließlich doch aus der Patsche kamen.

 

Genossin Katz

Das Projekt der Organisation einer Sanitätssiedlung war von allen Seiten aufs genaueste überlegt. Die Produktionsarten für die Siedlung waren auch ausgedacht. Wie hoch sie in Wirklichkeit zu bewerten waren, das war eine andere Sache. Der schriftliche Vortrag hierüber wurde in streng marxistischer Form gehalten: Gott bewahre, damit herauszuplatzen, daß die Menschen umsonst umkommen; daß es eine Menschenliebe gibt oder die einfachste Menschlichkeit, das hätte den Verdacht erregt, daß der Verfasser des Projektes nichts weiter will, als von der Sowjetmacht einige Tonnen Brot mehr herauszuschlagen. Das Brot gibt aber die Sowjetmacht nicht gern, darin gleicht sie einem Geizhalse … Dafür stand aber etwas in dem Projekt von der Notwendigkeit einer planmäßigen Überholung der lebendigen Arbeitskraft, von der Ausnützung der in jedem »Produktionsprozeß unvermeidlichen Abfälle des menschlichen Materials«, von der Rolle der minderwertigen Arbeitskraft in der Sache der Industrialisierung unseres sozialistischen Vaterlandes; des weiteren wurde die Anzahl der möglichen Arbeitstage folgender Produktionen berechnet: Birkenfournitur, Birkenwasser, Spielzeugfabrikation und dergleichen; auch die Rentabilität der Produktion wurde nachgewiesen, und schließlich war sie in einer verführerischen Zahl von Exportgoldrubeln ausgedrückt. – Es wäre unwahrscheinlich, anzunehmen, daß die GULAG durch die Goldrubel nicht verlockt würde … Am Schluß des Vortrages wurde bescheiden darauf hingewiesen, daß es angebracht wäre, dieses Projekt einer beschleunigten Durchsicht zu unterziehen, weil im Lager »der Prozeß einer außergewöhnlich schnellen Zerstäubung der minderwertigen Arbeitskraft beobachtet wird« – höflich und für die Verständigen begreiflich.

In den Nächten schlich sich Boris in die Liquidkom und tippte sein Projekt auf der Maschine ab. Am Tage durfte man es nicht machen. Um Gottes willen, wenn Wiedemann gesehen hätte, daß auf der Schreibmaschine des BBK etwas für »dieses schäbige Swirlager« getippt wurde!

Das Projekt wurde der damals anwesenden Vertreterin der GULAG, Genossin Katz, im Original eingereicht. Einen Durchschlag bekam Wiedemann als Vertreter des BBK, den anderen Durchschlag der Vertreter des Swirlagers und den dritten bekam Jakimenko – einfach »aus alter Bekanntschaft«. Genossin Katz setzte Boris' Projekt auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung der Liquidkom.

Im Kabinett Wiedemanns, wo alle diese Liquidations- und sonstigen Sitzungen abgehalten wurden, versammelte sich allmählich die dazugehörige Teilnehmerschaft.

Mit dem ruhigen Gang eines Menschen, der sich seines Wertes bewußt ist, erschien Jakimenko. Schneidig und sporenklirrend marschierte Genosse Petroff hinein, der Chef der dritten Abteilung. Mit geschäftigem Aussehen ordnen die Vertreter des Swirlagers die Papiere vor sich. Doktor Schukwetz unterhält sich in nervösem Flüsterton mit Boris. Endlich erscheint, weit ausschreitend, die Vertreterin der GULAG – Genossin Katz. Hinter ihr her stolpert wuchtig Genosse Wiedemann. Schräg von der Seite, irgendwie von oben herab schaut Wiedemann auf den graumelierten Haarschopf der Genossin Katz und macht überhaupt ein saures Gesicht.

Genossin Katz erklärt die Sitzung für eröffnet, pflanzt eine gewaltige, einem Koffer ähnliche Aktentasche vor sich auf den Tisch und legt – warum nur? – einen schweren Colt obenauf. Etwas demonstrativ macht sie es – ob sie unterstreichen will, daß sie hier nicht als Frau, nicht als Tschekistin, sondern eben als Tschekist fungiert, oder will sie ihren Vorsitz in dieser ausschließlich männlichen Versammlung mit diesem Colt besonders demonstrieren?

Ich sehe mir die Genossin Katz an, und es läuft mir kalt über den Rücken. Da sitzt etwas Unbestimmtes weiblichen Geschlechts im Alter zwischen fünfundvierzig und sechzig Jahren, häßlich wie alle sieben Todsünden zusammengenommen mit dem Zusatz noch der achten, in der Heiligen Schrift nicht vorgesehenen tschekistischen Todsünde. Sie erinnert mich an ein ausgetrocknetes Skelett eines bösen, gezähnten Vogels, an einen vorsintflutlichen Vogel – in der Art eines Archäopteryx. Ihr kleiner Vogelkopf mit der Raubvogelnase dreht sich unaufhörlich auf dem mager-sehnigen Hals und betastet die Versammelten mit einem stechenden und mißtrauischen Blick. Im Mund hat sie ein Machorkarehbeinchen, mit dem sie unglaublich qualmt (warum keine Zigarette, soll das auch eine Demonstration sein?), mit der rechten Hand spielt sie mit dem auf der Aktentasche liegenden Colt. Der neben ihr sitzende Wiedemann schaut ab und zu schief auf diesen sich drehenden Revolver mit dem Ausdruck größter Mißbilligung. Ich beginne davon zu träumen, wie schön es wäre, wenn dieser Colt sich in den Genossen Wiedemann oder noch besser in die Genossin Katz selbst entladen hätte. Doch werden meine rosigen Träume durch die knarrend-verrostete Stimme der Vorsitzenden unterbrochen.

»Also, auf der Tagesordnung steht der Vortrag des Doktor, wie heißt er doch? … Egal … Halten Sie aber keine Vorlesung – hier ist keine Universität. Kurz und bündig.«

Einen häßlichen Ton hat die Genossin Katz. Jakimenko hebt die Augenbrauen, er freut sich über irgend etwas. Ich denke darüber nach, daß es besser gewesen wäre, Boris hätte, bevor er sein Projekt losließ, festzustellen versucht, was für eine Person die Genossin Katz ist; nach dieser Feststellung hätte er sich sicher weiterer Schritte enthalten. Denn eine vom Herrgott so verunstaltete, hysterische Person kann etwas anrichten, was nicht vorauszusehen war und was nachher sehr üble Folgen haben könnte. Selbstverständlich gehört sie der »alten Garde« des Bolschewismus an. Selbstverständlich fühlt sie die tiefste Verachtung nicht nur gegen uns, die Häftlinge, sondern auch gegen den tschekistischen Teil der Versammlung, jene Parvenüs der Revolution, welche auf ihre, der Genossin Katz, Revolutionsverdienste ohne besondere Ehrfurcht sehen, die aber die Frechheit haben, ihren eigenen Weg zu gehen und sich mit Eau de Cologne zu besprengen. – Und das in dem Moment, wo die Weltrevolution noch nicht vollendet ist! – Und überhaupt trachten sie danach, bei erstbester Gelegenheit der alten Bolschewistin ein Bein zu stellen … Eben deshalb – das Rehbeinchen, der Colt und die Manieren einer Tierbändigerin. Wie viele von diesen hysterischen Flintenweibern gingen durch die Geschichte der russischen Revolution. Große Taten haben sie nicht vollbracht; aber die Erbitterung ihrer verkümmerten Sexualität gab der Revolution einige besonders häßliche Züge … So einer Genossin Katz unter die Finger zu kommen – davor sei Gott.

Boris trägt vor. Ich sitze, höre und fühle: gut. Keine »intellektuelle Flennerei«. Eine durchaus marxistische Zielsetzung. Soundso viel Prozent des unbrauchbaren Menschenmaterials. Unproduktive Zusatzlasten auf die ohnehin stark belasteten Etats der Lager. Geheimfonds der brachliegenden Arbeitskraft … Beispiele aus Moskauer Erfahrungen: Verwendung der Taubstummen in der Kesselproduktion, der Beinlosen – an den laufenden Bändern der Feinmechanik. Die sowjetistische Arbeitstherapie: Behandlung der Krankheiten mit »Arbeitsprozessen«. Interessen der Industrialisierung des Landes. Die geschichtlichen sechs Bedingungen des Genossen Stalin … Flüchtig und ganz nebenbei die Rede davon, daß in der gegebenen Übergangsperiode des Lebens unseres Unterlagers einige Stockungen in der Verpflegung die Gefahr nicht ausschließen, daß die Ausnützung der vorerwähnten Geheimfonds eventuell in Frage gestellt wird.

»Ich nehme an«, schließt Boris, »daß, wenn das vorliegende Projekt ausschließlich von dem Standpunkte der Interessen der Industrialisierung unseres Landes, nur von dem Standpunkte des Wachstums seiner Produktionskräfte und der Ausnützung der hierfür vorhandenen Material- und Menschenreserven, mögen sie auch unbedeutend und minderwertig sein, betrachtet wird, – die gegenwärtige Versammlung selbstverständlich eine echt bolschewistische Auffassung zur Beurteilung des vorliegenden Projektes finden wird.«

Gut gemacht. Ein wenig lang und zu »literarisch« … Am Ende des letzten Satzes hat Wiedemann wahrscheinlich schon vergessen, was am Anfang stand – doch wird hier nicht Wiedemann zu entscheiden haben.

Auf den Lippen der Genossin Katz erscheint ein verächtliches Lächeln:

»Ist das alles?«

»Alles.«

»Nu – nu!«

Nervös erhebt sich Doktor Schukwetz halb:

»Gestatten Sie?«

»Möchten Sie's gern? Dann legen Sie los.«

Doktor Schukwetz ist etwas verdutzt:

»Ob ich möchte oder nicht möchte, darum handelt es sich nicht. Insofern aber hier die Frage beurteilt wird, die medizinische Abteilung …«

»Machen Sie kurzen Prozeß, näher zur Sache!«

Das stachlige Schnurrbärtchen Doktor Schukwetz' sträubt sich drohend:

»Schön, näher zur Sache. Es handelt sich darum, daß neunzig Prozent unserer Invaliden ihre Gesundheit und ihre Arbeitsfähigkeit bei den Arbeiten für das Lager verloren haben. Das Lager ist deshalb moralisch verpflichtet …«

»Genug, setzen Sie sich. Das können Sie beim Mondschein Ihren verliebten Pensionstöchtern erzählen.«

Doch ergibt sich Doktor Schukwetz noch nicht:

»Mein verehrter Kolle…«

»Es gibt hier keine Kollegen, noch weniger verehrte. Ich sage Ihnen, setzen Sie sich.«

Schukwetz setzt sich verdattert. Genossin Katz richtet ihren stechenden Blick auf Boris.

»So–o … eine nette Sache! Sagen Sie mal, bitte, was geht Sie das alles an? Ihre Sache ist es, die zu behandeln, die Ihnen befohlen werden, und sich nicht mit den verschiedenen Fonds zu befassen.«

Jakimenko kneift verächtlich die Augen zusammen. Boris zuckt die Achseln:

»Jeden Sowjetbürger geht alles an, was die Industrialisierung des Landes berührt. Erstens das. Zweitens: wenn Sie finden, daß es nicht meine Sache ist, dann war es nicht nötig, meinen Vortrag auf die Tagesordnung zu setzen.«

»Ich beauftragte Doktor Solonewitsch …«, hub Wiedemann an.

Die Katz wendet sich scharf an Wiedemann:

»Niemand fragt Sie, wen Sie beauftragten und wozu Sie keinen Auftrag hatten.«

Wiedemann verstummte, doch überzog sich sein Gesicht mit starker Röte. Boris schweigt und dreht in den Händen ein dickes Eichenbrettchen vom Briefbeschwerer. Laut knackend zerbricht das Brettchen unter seinen Fingern. Mechanisch, doch nicht ohne eine verhaltene Demonstration zerdrückt Boris die Reste des Brettchens in seiner Faust in Splitter. Unwillkürlich schauen alle auf Boris' Hand und auf das zersplitterte Brettchen. Genossin Katz hört sogar auf, mit dem Revolver zu spielen. Wiedemann nimmt den Augenblick wahr und schiebt den Revolver unter die Aktentasche. Mit der Gebärde einer gereizten Tigerin reißt Genossin Katz den Colt zurück und legt ihn wieder obenauf. Der Chef der dritten Abteilung, Genosse Petroff, schaut auf den Colt ebenso mißbilligend wie alle anderen.

»Genossin Katz, ist Ihre Waffe gesichert?«

»Ich verstand, mit Waffen umzugehen, als Sie noch nicht mit der Nase auf den Tisch langten.«

»Seit der Zeit, Genossin Katz, haben Sie offensichtlich vergessen, damit umzugehen«, erklärt etwas humoristisch Jakimenko. »Seit der Zeit ist Genosse Petroff beinahe bis an die Decke gewachsen.«

»Ich bitte Sie, Genosse Jakimenko, auf den offiziellen Sitzungen Ihre Witzeleien zu unterlassen. Und Sie, Doktor«, wandte sich die Katz an Boris, »frage ich, was geht Sie das an, durchaus nicht deshalb, ob Sie Doktor oder kein Doktor sind, sondern deshalb, weil Sie ein Konterrevolutionär sind … An Ihre Sympathie dem sozialistischen Aufbau gegenüber glaube ich nicht im geringsten. Wenn Sie denken, daß Sie jemand mit Ihren Fonds und Reserven bluffen können, dann irren Sie sich etwas. Ich alte Parteimitarbeiterin habe schon genug von solchen Typen, wie Sie sind, gesehen. In ihrem Projekt gibt es bestimmt irgendeinen antiparteiischen Ausfall, vielleicht sogar eine direkte Konterrevolution.«

Ich bekomme Bedenken. Sind wir schon reingefallen? Sozusagen beim ersten Schritt? Jakimenko war immerhin bedeutend klüger.

»Na, wegen antiparteiischer Richtung, da machen Sie doch den Wirt«, sagte Boris. »Diese Frage interessiert mich gar nicht.«

»Was heißt das, interessiert Sie gar nicht?«

»Außerordentlich einfach – interessiert mich in keiner Weise.«

Die Katz hat offensichtlich nicht sofort begriffen, wie sie auf diese Demonstration reagieren muß.

»Oho–o … Ich sehe, daß die GPU Sie nicht umsonst hierher geschickt hat.«

»Was Sie der GULAG gehorsamst melden können«, sagt Boris mit früherem Gleichmut.

»Ich weiß auch ohne Sie, was ich zu melden habe. Eine nette Sache«, wendet sie sich an Jakimenko, »das ist doch alles ganz fadenscheinig – dieser Ihr Doktor, er will doch einfach für alle diese Banditen, Tagediebe und Kulaken etwas mehr Brot herausschinden … So sieht er aus! Bei uns liegt das Brot nicht auf der Straße!«

Jetzt stand die Frage in etwas anderem Licht vor mir. Denn es wird doch so kommen, daß Boris' Projekt ausgenützt wird, irgendeine Produktion kommt zustande, doch wird es keine Zusatzrationen geben. Wozu das ganze Palaver anfangen?

»Und solche Bürschchen wie Sie«, wendet sie sich an Boris, »werde ich eben mit diesem Colt …«

Boris erhebt sich und sammelt schweigend seine Papiere.

»Was soll das?«

»Ich gehe zurück nach Pogra.«

»Wer hat Ihnen das erlaubt? Sie vergessen, daß Sie im Lager sind!?«

»Ob im Lager, ob nicht, wenn aber ein Mensch zu einer Sitzung gerufen wird und sein Vortrag auf der Tagesordnung steht, dann, um ihn zu hören und nicht um ihn zu beleidigen.«

»Ich befehle Ihnen zu bleiben!« kreischt Genossin Katz auf und packt den Colt.

»Befehlen kann mir nur Genosse Wiedemann, mein direkter Vorgesetzter. Sie können mir gar nichts befehlen.«

»Hören Sie, Doktor Solonewitsch«, beginnt Jakimenko in beschwichtigendem Ton. Sofort stürzt sich die Katz auf ihn:

»Wer hat Sie bevollmächtigt, sich in meine Befehle einzumischen? Wer hat hier den Vorsitz: Sie oder ich?«

»Bleiben Sie einstweilen hier, Doktor Solonewitsch«, sagt Jakimenko in einem trockenen, schneidenden und herrischen Ton; doch betrifft dieser Ton nicht Boris. – »Ich bin der Ansicht, Genossin Katz, daß man die Sitzung nicht so führen darf, wie Sie es tun.«

»Ich weiß selbst, was ich darf und was ich nicht darf. Mein Verhältnis zu unseren Führern reicht in die Zeit zurück, Genosse Jakimenko, wo Sie von dem Parteibuch nicht einmal träumen durften.«

Der Chef der dritten Abteilung schiebt polternd seinen Stuhl zurück und erhebt sich:

»Mit wem Sie, Genossin Katz, ein Verhältnis hatten, geht uns nichts an. Das ist Ihre Privatangelegenheit. Und wenn Menschen hierher kommen, um eine Sache zu besprechen, dann ist es nicht nötig, ihnen das Maul zu stopfen!«

»Wollen Sie mich alte Bolschewistin noch belehren? Ist hier eine Bar oder eine militärisch aufgezogene Anstalt?«

Schwerfällig, mit seiner ganzen wuchtigen Sitzgelegenheit dreht sich Wiedemann zur Genossin Katz. Die schweren Mahlsteine in seinem Gehirn haben ihn endlich auf den Gedanken gebracht, daß er ein bei weitem größeres »Militär« als die Genossin Katz ist, daß er hier den Wirt macht, daß man ihn, den Wirt, hier wie einen dummen Jungen behandelt, und daß schließlich die alte Bolschewistin es fertiggebracht hat, gegen sich selbst eine geschlossene Front aller Anwesenden zu bilden.

»Da soll der Teufel dreinschlagen … Genossin Katz, Sie sind ja wie von der Kette losgelassen!«

Vor Wut bringt die Katz kein Wort hervor.

»Iwan Lukjanowitsch«, wendet sich Jakimenko mit unterstrichener Liebenswürdigkeit mir zu, »seien Sie so gut, in das Protokoll der Sitzung meinen Protest gegen das Benehmen der Genossin Katz mit aufzunehmen.«

»Das können Sie in einer Parteiversammlung sagen und nicht hier«, geht Genossin Katz auf ihn los.

Jakimenko antwortet hoheitsvoll und streng:

»Ich bedauere sehr, daß Sie in dieser offenen, parteilosen Versammlung es für möglich gehalten haben, über Ihre intimen Verhältnisse zu den Parteiführern zu sprechen.«

Das saß! Genossin Katz zieht ihren Vogelkopf ein und überblickt die Versammelten mit ihrem bösen, doch bereits etwas fassungslosen Blick. Gegen sich hat sie eine einheitliche Front. Sowohl die Parvenüs der Revolution, denen der »Parteiaristokratismus« der Genossin Katz ein Dorn im Auge war, als auch die Häftlinge und endlich einfach eine Männerfront gegen ein toll gewordenes Weib. Der Vertreter des Swirlagers sieht die Katz mit einem giftigen Lächeln an:

»Ich schließe mich dem Protest des Genossen Jakimenko an.«

»Ich erkläre die Sitzung für geschlossen«, wirft die Katz scharf hin und erhebt sich.

»Aber erlauben Sie mal«, sagt der zweite Vertreter des Swirlagers. »Wir können doch die Lagerübergabe wegen Ihrer Weibernerven nicht auffliegen lassen.«

»Ach so«, zischt die Genossin Katz, »schon gut, wir werden uns mit Ihnen an einem anderen Ort darüber unterhalten.«

»Meinetwegen«, wirft Jakimenko gleichmütig dazwischen. »Einstweilen schlage ich vor, den Vortrag des Doktor Solonewitsch als eine Grundlage anzunehmen und das Ganze mit den Äußerungen der hiesigen Mitarbeiter der GULAG zu unterbreiten. Ich nehme an, daß diese Äußerungen im großen und ganzen positiv ausfallen werden.«

Wiedemann nickt mit dem Kopf:

»Recht so. Der GULAG unterbreiten! Ein vernünftiges Projekt! Ich stimme dafür.«

»Ich habe die Abstimmung nicht eröffnet, ich befehle Ihnen zu schweigen, Genosse Jakimenko.« – Genossin Katz ist der Hysterie nahe. Mit der linken Hand fuchtelt sie mit dem »Rehbeinchen«, und die rechte spielt mit dem Revolver. Jakimenko streckt die Hand über den Tisch, packt den Revolver und übergibt ihn dem Genossen Petroff.

»Genosse Chef der dritten Abteilung – Sie geben diese Waffe der Genossin Katz wieder, nachdem sie gelernt hat, wie man damit umgeht.«

Genossin Katz steht eine Weile atemlos vor Wut da – und läuft dann mit hastigen Schritten davon.

»Also«, sagt Jakimenko in einem Ton, als ob nichts vorgefallen wäre, »ist das Projekt des Doktor Solonewitsch grundsätzlich angenommen. Gehen wir zum nächsten Punkt über.«

Der Rest der Sitzung läuft wie geschmiert ab. Sogar die gesprengte kleine Eisenbahnbrücke in Pogra wird als unversehrt übergeben: ohne das übliche Gezänk.

 

Jakimenko intrigiert

Die Sitzung war beendet. Die Teilnehmer gingen auseinander. Ich ergänze mein »Stenogramm«. Jakimenko sitzt mir gegenüber und raucht seine Zigarette zu Ende.

»Das ist 'ne Nummer«, sagt er. Ich hebe meinen Blick vom Stenogramm. In den Augen Jakimenkos blitzt der Spott und die Genugtuung über einen Sieg.

»Haben Sie jemals solch eine Hure gesehen?«

»Na, ich glaube nicht, daß es der Genossin Katz gelungen ist, auf diesem Gebiet große Umsätze zu erzielen.«

Jakimenko betrachtet mich, neugierig lächelnd:

»Sagen Sie mal offen, Genosse Solonewitsch – was haben Sie jetzt nun für einen Dreh ausgetüftelt?«

»Was für einen Dreh?«

»Ich meine mit dieser Sanitätssiedlung.«

»Verzeihung, ich verstehe die Frage nicht.«

»Nicht doch, Sie verstehen schon. Sie drehen doch das Ganze nicht aus Menschenliebe?«

»Warum denn nicht?«

Jakimenko hebt skeptisch die Schultern. Diesbezügliche Überlegungen liegen außerhalb seines Amtes.

»Ist das wahr? Übrigens, es ist Ihre Sache. Nur könnte es möglich sein, daß diese Sanitätssiedlung die GULAG selbst übernimmt, und dann wird Genossin Katz nach hier kommen, um Ihren Bruder zu belehren und zu inspizieren.«

Das ging mir auch durch den Kopf.

»Nun ja, dann wird Boris auch die Genossin Katz über den Löffel halbieren.«

»Ja, wahrscheinlich. Übrigens muß ich Ihnen ehrlich sagen, Ihre ganze nette Familie scheint nicht auf den Kopf gefallen zu sein.«

Ganz erstaunt sah ich Jakimenko an. Jakimenko erwiderte den Blick mit einem ironischen Lächeln.

»Wenn ich die GPU wäre, dann hätte ich euch alle drei zum Teufel in die vier Windrichtungen hinausgepfeffert. Sonst hecken Sie was aus …«

»Was heißt das, aushecken?«

»Das heißt, daß Sie etwas aushecken werden … Allerdings ist es einstweilen mein persönlicher Standpunkt.«

»Lassen Sie doch Ihren Standpunkt auch die GPU wissen – sollen uns freilassen.«

»Dem Schwindel werden sie nicht trauen, Genosse Solonewitsch«, sagte, immer noch lächelnd, Jakimenko, steckte seinen Zigarettenstummel in den Aschenbecher und verließ das Zimmer, bevor ich eine passende Erwiderung fand.

*

Unten auf dem Vorbau warteten Boris und Georg auf mich.

»Nun«, sagte ich, nicht ohne gewisse Schadenfreude, »wie es mir scheint, sind wir schon in der Patsche. Wie?«

»Deine Panik ist ganz unbegründet«, sagte Boris.

»Von einer Panik ist nicht die Rede, nur daß eben diese Mademoiselle Katz die Sache in Schwung bringt, doch kein Brot gibt, und du wirst ihr unmittelbarer Untergebener. Sozusagen eine überirdische Wonne.«

»Stimmt nicht. Hinter uns stehen die anderen in geschlossener Front.«

»Und was hat diese ganze Front zu bedeuten, wenn deine Siedlung nach deinem eigenen Vorschlag unmittelbar der GULAG unterstellt wird?«

»Die von unserer Front werden die GULAG auffressen. – Jetzt ist die Lage doch so: entweder sie fressen die GULAG auf oder umgekehrt.«

Jakimenko trat auf den Vorbau hinaus:

»Ah, die drei Musketiere, wie gewöhnlich, beisammen.«

»Jau, wir sind gerade beim Durcharbeiten der Ergebnisse der heutigen Sitzung.«

»Sagte ich Ihnen nicht, daß es eine amüsante Sitzung sein wird?«

»Offensichtlich befindet sich Genossin Katz in dem Zustand einiger …«

»Ja ja, eben das. In diesem Zustand befindet sie sich sicherlich schon seit fünfzig Jahren … Drei Tage schon läuft Wiedemann wie besessen herum.« In der Stimme Jakimenkos höre ich den mir bis jetzt unbekannten intimen Unterton und kann im Moment nicht begreifen, wo er hinaus will.

»Auf jeden Fall«, sagt Boris, »stecke ich mit meinem Projekt in der Klemme wie ein Hühnchen im Werg.«

»Tja … Ihre Befürchtungen entbehren nicht einiger Begründung. Mit solchem Aas zu arbeiten, ist natürlich unmöglich … Was wollte ich noch sagen, Iwan Lukjanowitsch? Sie werden morgen Ihr Stenogramm redigieren. Es ist sehr wesentlich, daß der Satz der Genossin Katz wegen Ihres Verhältnisses nicht ausgelassen wird … Und überhaupt bemühen Sie sich, daß Ihr Protokoll Ihrer literarischen Begabung in vollem Maße entspricht. Selbstverständlich muß darin auch dem ›kulturellen Niveau‹ der Lesermasse, zum Beispiel der GULAG, Rechnung getragen werden. Das Protokoll werden alle außer Genossin Katz unterschreiben.«

Jakimenko merkt in meinem Gesicht eine gewisse Nachdenklichkeit und fügt hinzu:

»Sie brauchen nichts zu befürchten. – Ich habe Sie bis jetzt noch nie angeführt.«

Klang im Ton Jakimenkos nicht eine verborgene Andeutung mit? Wiederum frage ich mich, ob er von den BAM-Listen etwas weiß oder nicht. Aber auch am Familiengezänk der Parteibonzen mich zu beteiligen, hatte ich keine Lust. Um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, stelle ich die Frage:

»Steht sie tatsächlich den Führern nahe?«

»Ob steht oder liegt, weiß ich nicht. Vielleicht vor der Revolution. Da war sie unfreiwillig irgendwo in den Taigawäldern Sibiriens und – wo keine Vögel sind, ist auch die Katz 'ne Nachtigall. Allerdings ist das schon eine aussterbende Rasse … Also, ich hoffe, daß das Protokoll, wie sich's gehört, gemacht wird!«

Das Protokoll wurde, wie sich's gehört. Alle unterschrieben, nur die Katz nicht. Schon am anderen Tage nach dieser Sitzung lichtete Genossin Katz den Anker und segelte nach Moskau. Gleich mit dem nächsten Zug fuhr Jakimenko ihr nach.

 

Innerparteilicher Kuhhandel

Schweigend gingen wir in sehr betrübter Stimmung nach Hause. Es war fast offensichtlich, daß wir bereits in eine unangenehme Geschichte hineingeraten waren. Aus dem Projekt der Sanitätssiedlung wurde nichts als Unsinn, und wir sind, vom übrigen abgesehen, in eine innerparteiliche Intrige mitverwickelt worden. In dem Intrigenspiel solcher Art können die Kommunisten gewinnen oder verlieren – das parteilose Publikum verliert dabei immer. Jede Parteizelle, auf eine ganz nahe Entfernung betrachtet, stellt ein niedliches, zusammenlebendes Gezücht von Ottern dar, von denen jede danach trachtet, ihre nächste in die schmerzhafteste parteiadministrative Stelle zu beißen. Eigentlich kann ich mir nicht ganz klar vorstellen, wozu das gemacht wird; denn der Gewinn, sogar im Falle eines Sieges, ist minimal, armselig und wacklig: nicht mehr als die gleiche Parteiaktentasche, nur etwas dicker. Der »bolschewistische Zusammenhalt« wirkt sich nur in bezug auf die übrige Bevölkerung aus. Innerhalb der Parteizellen sind alle emsig damit beschäftigt, sich gegenseitig zu untergraben, Fallen zu stellen oder das Leben sauer zu machen. In der Sowjetsprache nennt man das »Parteiintrigen«. Im Niveau Stalin-Trotzki wird es mit der ideologischen Meinungsverschiedenheit dekoriert – im Niveau Jakimenko-Katz gibt es keine Dekoration, sondern lediglich das Intrigantentum als solches. Und ausgerechnet sind wir mit hineingeraten ohne jegliche Möglichkeit, die Neutralität zu bewahren. Nolens – volens mußten wir auf Jakimenko setzen. Was aber hat Jakimenko für Chancen, die Genossin Katz aufzufressen?

In Moskau, im »Zentrum« ist die Katz bei sich zu Hause. Dort ist sie bei den Ihrigen, dort hat sie verschiedene Itzige und Moses, Wanjkas und Petjkas – im Grunde genommen die gleichen »Strohhalme« wie die beliebige Bande der Dorfsowjetaktivisten, die kollektiv den Staatswodka, das Kulakenschwein und die Kolchosevorräte versaufen. Für dieses Zentrum sind all diese Jakimenkos, Wiedemanns und die übrigen nur kleine »Haltdieschnauzen«, Emporkömmlinge, die mit allen guten und schlechten Mitteln versuchen, die »alte Garde« von dem Anschein der Macht, von den Chefreisen durch alle Länder Rußlands abzudrängen, und für die jedes Mittel recht ist. Allerdings ist auch für die »alte Garde« jedes Mittel recht. Bei den gegebenen Umständen soll auch mir jedes Mittel recht sein: wie dem auch sei, gehört die literarische Bearbeitung des Satzes der Genossin Katz von dem Verhältnis zu den Führern nicht zu den besonders fairen Kampfmethoden. Wohl muß, der unter Wölfen lebt, mit den Wölfen heulen, doch nur in der Sowjetunion kann man die Sehnsucht nach der echten menschlichen Sprache verstehen, wenn man dauernd nichts als mal hungriges, mal räuberisches Wolfsgeheul hört.

Wenn Jakimenko in Moskau Verbindungen hat (offensichtlich hat er welche; denn sonst würde er nicht dorthin fahren), dann wird er sich mit diesem Protokoll nicht an die GULAG, sogar nicht an die GPU wenden, sondern an irgendeinen äußerlich völlig unmerklichen »Parteidurchschlupf«. In diesem Durchschlupf werden einige Wanjkas und Petjkas sitzen, unter denen Jakimenko einen Freund hat. Jemand von den Wanjkas hat freien Zutritt zu dem Moskauer Parteikomitee, jemand zu der Parteikontrollkommission, jemand hat noch etwas. Und schon nach einigen Tagen tauchen bei den entsprechenden Instanzen die Gerüchte auf: Genossin Katz hat sich dort so und so geführt: diskreditierte die Häupter. Wahrscheinlich wird man sagen, daß Genossin Katz sich mit administrativen Abweichungen befaßte und diese Abweichungen mit Hinweisen auf eine intime Verbindung mit Stalin selbst bekräftigte. Im allgemeinen wird eine Atmosphäre geschaffen, in der eine empfindliche Nase auffangen wird, daß jemand von den Einflußreichen die Absicht hat, Genossin Katz aufzufressen. Die Feinde der Genossin Katz werden sich bemühen, die Luft noch dicker zu machen, die Neutralen werden eine feindliche Stellung einnehmen, die Freunde, wenn auch nicht sehr nahestehende, werden ihre Hände in Unschuld waschen und zur Seite treten: sonst wird man noch selbst mit aufgefressen.

Jakimenko hat selbstverständlich große Aussichten auf einen Sieg. Im übrigen ist er immer ruhig, selbstbeherrscht und sicher viel klüger als die Genossin Katz. Obendrein ist die Genossin Katz eine Vertreterin jener »alten Garde des Leninismus«, die von unten – von den Wellen des Nachwuchsgesindels unterspült und von oben – durch Stalin »organisatorisch liquidiert« wird, der seinerseits sich die Kader von gewissenlosen »hartgesottenen Schurken« dauernd zusammensucht. Genossin Katz ist nur ein jämmerlicher, zerfetzter Schatten der einstigen »Heroik« des Kommunismus. Jakimenko ist Vertreter des Nachwuchsgesindels, das machtgierig und herrschsüchtig ist. Ein mehr oder minder gescheiter Parteidurchschlupf wird doch verstehen, daß es bei den gegebenen Umständen klüger ist, sich auf die Seite Jakimenkos zu stellen.

Ich wußte nicht, habe auch nie erfahren, was für geschäftliche Zusammenstöße zwischen Genossin Katz und Jakimenko vor unserer rühmlichen Sitzung sich abspielten – das ist aber auch nicht wichtig. Die Genossin Katz will Jakimenko mit ihrem ganzen Wesen, mit ihrem ganzen Aussehen sagen: »Ich habe mein ganzes Leben der Weltrevolution geopfert, opfere auch du.« – Jakimenko antwortet: »Dann bist du eben eine Närrin – ich werde andere Leben und nicht das meinige opfern.« Die Katz würde sagen: »Ich bin Mitkämpferin Lenins selbst.« Jakimenko würde antworten: »Dein Lenin ist schon längst krepiert, und auch für dich ist's Zeit.« Na, und so weiter.

In den Kreisen der russischen Emigration spricht man von der möglichen nationalen Wiedergeburt in Rußland, getragen von Starodubzeff, Jakimenko, Jagoda, Kaganowitsch und Stalin. In Rußland selbst ist eine solche Idee in keinem einzigen Kopf vorhanden. Die Frage aber, was die Jakimenkos nach der endgültigen Machtergreifung tun werden, stand vor uns allen in dem Aspekt, den die russische Emigration nicht kennt. – Der Verzicht auf die Weltrevolution bedeutet in keiner Weise den Verzicht auf Kommunismus in Rußland. Wenn aber die Jakimenkos, nachdem sie an die Macht kommen, mit Rücksicht auf das eigene Wohlergehen oder die eigene Sicherheit die kommunistischen Fahnen einzurollen beginnen werden und nach und nach zu dem Aufbau dessen, was man in der Emigration nationales Rußland nennt, übergehen, hat es dann einen Sinn, das Leben zu riskieren? Wozu dann die Flucht unternehmen? Wäre es nicht besser, abzuwarten? Wir haben doch schon achtzehn Jahre gewartet. Warten wir noch fünf. Schwer ist es, doch leichter, als sich durch die sumpfigen Taigawälder nach der Grenze, in die Ungewißheit eines Emigrantendaseins durchzubrechen.

Bei mir wie auch bei sehr vielen Russen in der Heimat haben die Jahre des Krieges und der Revolution, ganz besonders des Bolschewismus eine felsenfeste Überzeugung geschaffen, daß jede geschichtlich-philosophische oder sozialistische Theorie nicht einen Pfennig wert ist. Alle philosophischen Erklärungen der Vergangenheit kann man wohl mit einem gewissen Interesse durchlesen. Es stellt sich irgendwie aber immer heraus, daß keine dieser Theorien imstande ist, irgend etwas für den nächsten Tag zu prophezeien. Mehr oder weniger erfolgreiche Propheten waren in der neuesten Zeit gerade jene Menschen, die eine Theorie nur als Mäntelchen benützten oder überhaupt mit den Theorien nichts zu tun hatten.

Für uns handelte es sich nicht um die Aussichten der Revolution – mögen die auch von verschiedenen philosophischen Standpunkten betrachtet werden –, sondern um die lebendigen Beziehungen von Mensch zu Mensch, die von dem Standpunkte des einfachsten gesunden Menschenverstandes zu betrachten sind.

Wohl ist es ganz klar, daß die »alte Garde« Lenins ihre letzten Tage verlebt. Erstens deshalb, weil sie als eine gewisse Konkurrenz der Stalinschen »Genialität« entgegentrat, und zweitens deshalb, weil in ihr Menschen waren, die es wagten, eine eigene Meinung zu haben, was aber keine Despotie duldet. Genossin Katz ist selbstverständlich fanatisch und hysterisch, vielleicht auch sadistisch, irgendeine Idee hat sie aber doch trotz ihrer ganzen innerlichen und äußerlichen Häßlichkeit. Jakimenko hat gar keine Idee, von Wiedemann und Starodubzeff gar nicht zu sprechen. Die »alte Garde« fühlt, daß die Fahne »der Werktätigen der ganzen Welt« und die Macht, die sie zur Stützung dieser Fahne geschaffen hat, nunmehr in die Hände des Gesindels geraten ist und daß dieses Gesindel um jeden einzelnen der »Garde« herumsteht und mit den Zähnen fletscht.

Was wird so ein Jakimenko tun, nachdem er so einer Genossin Katz die Kehle durchgebissen hat? Kann Stalin ohne Jagoda, Jagoda ohne Jakimenko, Jakimenko ohne Wiedemann, Wiedemann ohne Starodubzeff und so weiter auskommen? Sie alle, von Stalin bis zu Starodubzeff, haben sich in jener spezifischen Atmosphäre des bolschewistischen Regimes akklimatisiert, die sie selbst geschaffen haben und ohne die sie nicht leben können. Sie alle sind Berufsvertreter der sowjetistischen Verwaltung. Wird diese Verwaltung liquidiert, dann werden sie nirgends in der Welt Arbeit haben. Was werden auch all diese Tschekisten, Getreidesammler, Geheimkorrespondenten, Kooperatoren, Vorsitzende der Werksowjets, Sekretäre von Parteizellen, Entkulakerer, politische Leiter, rote Direktoren, Selbstlerner, Aktivisten und die übrigen leisten können. Das sind doch Millionen! Wenn man davon absieht, daß bei dem Umsturz die Mehrheit von ihnen sofort abgeschlachtet werden und daß man sie im Falle einer Evolution nach und nach abschlachtet, so muß man sich immerhin darüber im klaren sein, daß sie die »Spezialisten« des bolschewistischen Verwaltungsapparates, des aufgebauschtesten und blutigsten der Weltgeschichte, sind. Welchen Beruf werden sie bei einem nichtbolschewistischen Regime ergreifen können? Kann denn Stalin – ob auf dem Wege einer Revolution oder Evolution ist gleich – keine Rücksicht auf diese drei bis vier Millionen bis an die Zähne bewaffneten Menschen nehmen? Und welche Schicht in Rußland wird ihm glauben und ihn nicht erinnern an die Friedhöfe – der Kollektivisation, der Entkulakisierung, der Lager und des Weißmeer-Ostsee-Kanals?

Nein, all diese Menschen, mögen sie sich auch noch so beißen, sind den übrigen gegenüber fest zusammengeschlossen bis ans Grab, durch vieles Blut geeint auf Leben und Tod. Sie haben kein Zurück, selbst dann, wenn sie es wollten. »Nationales« oder »Internationales« Rußland bleibt bei dem Stalinschen Apparat immer ein bolschewistisches Rußland.

Gerade deshalb wurden wir bei unserem letzten Versuch, noch in der Freiheit, von einer Flucht selbst durch den Umstand nicht abgehalten, daß man in den staatlichen Magazinen Moskaus begann, Brot und Butter jedem und in beliebigen Mengen zu verkaufen. Im Jahre 1933 konnte man in Moskau alles kaufen, wenn man Geld hatte. Und ich hatte Geld.

*

Wir kamen in unsere Hütte, und weil es sowieso nichts zu essen gab, legten wir uns schlafen. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Ich wälzte mich herum, rauchte meine Machorka und legte mir die Fragen vor, auf die es keine klare Antwort gab. Was nun weiter? Im Hintergrund der Jahrzehnte sterben die »Kader« aus. Der Aktiv verfällt dem Suff, und dann werden geheimnisvolle innere Kräfte des Landes die Oberhand gewinnen? Was sind das aber für Kräfte? Die intellektuellen Kräfte des Volkes sind unermeßlich gewachsen, doch nicht deshalb, weil die Sowjetmacht, sondern das Sowjetleben das Volk lehrte. Und die körperlichen Kräfte?

An meinem Gedächtnis ziehen vorüber: Torfstiche, Zechen, Kolchose, Werke, monatelang ungewaschene Gesichter der Köche der Werkkantinen, jahrelang hungernde Arbeiter der Werke von Sormowo, Kolomna, von Stalingrad, in Mittelasien nomadisierende Horden von entkulakisierten Don- und Kubankosaken, kaukasische Malariagebiete, Transportzüge nach dem BAM und das Mädchen mit dem Eistopf, die künftige Mutter russischer Männer und Frauen – wenn es überhaupt am Leben bleibt … Reichen denn körperliche Kräfte überhaupt aus?

Hier bin ich nun, Sproß einer urkräftigen bäuerlich-geistlichen Familie, wo die Menschen erst im greisen Alter starben, ich, seinerzeit einer der körperlich stärksten Männer Rußlands – und jetzt, mit zweiundvierzig Jahren schon ganz weiß … Nach unserer Flucht gab man mir in den ersten Monaten meines Aufenthaltes im Ausland fünfundfünfzig bis sechzig Jahre – doch später bin ich bald um zehn Jahre jünger geworden. Die aber, die dort geblieben sind, die werden nimmer jünger!

Ich konnte nicht einschlafen. Ich stand auf und ging auf den Vorbau. Eine stille, frostige Nacht. Wie riesige, flaumige Teppiche zogen sich die schneebedeckten Felder zum Fluß hin. Links lagen, wie zerstreute Punkte und Flecken, die Hütten eines großen Dorfes. Kein Laut, kein Licht und kein Gebell. Plötzlich ertönten zwei, drei Schüsse von Pogra her – eine gewohnte Geschichte. Dann vom Süden her, von der Dikowschlucht kamen in der frostigen Luft kurz und trocken, in etwa zehn Sekunden Abstand acht Gewehrschüsse. Vor Ekel und Widerwillen lief es mir kalt über den Rücken.

Vor einem Monat hatte ich die Dummheit begangen, mir die Dikowschlucht anzusehen. Sie begann im Walde, etwa fünf Kilometer von Pogra, bog um dieses halbkreisförmig herum und landete am Swir drei Kilometer unter Podporog. Der obere Teil dieser Schlucht war ein tiefer und schmaler Spalt, vollgestopft mit Leichen Erschossener, etwa zwei Kilometer weiter, wo die Schlucht breiter war, hat man einen Massenfriedhof für das Lager eingerichtet; noch tiefer wurden die Pferdekadaver verscharrt, und von diesen hieben sich die Lagerinsassen mit den Äxten Fleischstücke für ihre sozialistischen Festmahle ab. Diese Schlucht in ihrer ganzen Furchtbarkeit zu beschreiben, erträgt meine Seele nicht. Doch haben die Schüsse in mir das fürchterliche Bild wiedererstehen lassen. Ich fühlte, daß meine Knie zu zittern begannen, und in der Brust stieg eine Kälte auf. Ich ging in die Hütte zurück und versperrte die Tür mit einem dicken Holzriegel. Ein unüberwindliches mystisches Entsetzen bemächtigte sich meiner. Die leeren Stuben der riesigen Hütten füllten sich mit Schatten und Geraschel. Fast glaubte ich zu sehen, wie in der Ecke unter der leeren Pritsche eine Alte hockte und an einem dürren Kinderarm nagte. Kalter Schweiß lief mir die Stirn herab bis über die Brille. In diesen Tropfen begannen die Mondscheinflecken auf dem Boden wie fürchterliche Ungeheuer zu erscheinen.

Ich kam zu mir durch die aufgeregte Stimme Georgs, der neben mir stand und mich fest an den Schultern hielt. Auch Boris kam in die Stube gelaufen. Ich verstand nicht recht, was eigentlich los war. Der Schweiß rieselte am Gesicht herunter, das Herz schlug ganz unbändig, wie besessen. Schwankend erreichte ich die Pritsche und setzte mich. Auf Boris' Frage antwortete ich: »Es ist mir nicht ganz wohl.« Er fühlte meinen Puls. Georg legte mir seine Hand auf die Stirn:

»Was hast du, Wa, du bist ganz naß …«

Boris und Georg zogen mir die Wäsche aus, die tatsächlich ganz naß war; dann lag ich zugedeckt auf der Pritsche; doch wollte sich mein erregtes Gedächtnis nicht beruhigen – wieder zogen die Bilder vorbei: Odessa und Nikolajew während der Hungersnot, Menschenfresser, Torfstiche, Magnitostroj, GPU, das Lager und – die Dikowschlucht.

 

Nadeschda Konstantinowna

Nach der Abreise Jakimenkos und der Katz nach Moskau hat sich die stürmische Tätigkeit der »Liquidkom« etwas beruhigt. Nachdem die Leute von dem Swirlager sich ausgetummelt und genug gemeckert hatten, fuhren sie zurück und ließen in Podporog nur einen Vertreter. Zwischen diesem und Wiedemann wurde nur über das »administrativ-technische Personal« gestritten. Wenn ein skorbutkranker Bauer für nichts zu gebrauchen war und weder das BBK noch das Swirlager ihn verpflegen wollte, dann konnte ein Intellektueller, sogar ein Skorbutkranker, immer noch ausgebeutet werden. Deshalb versuchte das Swirlager möglichst viel Intellektuelle zu übernehmen, während das BBK danach trachtete, keine einzige Seele abzugeben. In diesem Handel zwischen zwei »Sklavenbesitzern« hatten wir immerhin einige Möglichkeit zu lavieren. Alle Verzeichnisse der Lagerinsassen, die dem Swirlager zu übergeben waren oder im BBK bleiben sollten, wurden in der Liquidkom unter der technischen Leitung von Nadeschda Konstantinowna zusammengestellt, während Georg und ich diese nach der Fertigstellung mit der Schreibmaschine abschrieben. Eine Möglichkeit zu lavieren war also vorhanden. Hauptsächlich handelte es sich darum, in welcher Richtung dieses Lavieren am günstigsten erschien. Das BBK war im allgemeinen ein »aristokratisches« Lager – dort wurden die Insassen besser verpflegt und besser behandelt. Wie die Verpflegung und Behandlung waren – das habe ich bereits geschildert. Entsprechende Rückschlüsse auf das Swirlager kann der Leser selbst ziehen. Andererseits aber erstreckte sich das BBK auf ein gigantisches Territorium. Inwieweit war es wahrscheinlich, daß es uns dreien gelingen wird zusammenzubleiben, daß wir nicht irgendwohin versetzt werden, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen und ein Entkommen überhaupt nicht möglich ist? – In einem sumpfigen Gelände, auf dem die Menschen sich sogar im Sommer nur auf den breiten Schneeschuhen bewegen können – sonst sinkt man ein; dann werden wir bis zu der Grenze zweihundert bis zweihundertfünfzig Kilometer durch eine fast undurchdringliche Gegend fliehen müssen.

Wir haben uns für das Swirlager entschlossen.

Es fiel uns nicht sehr schwer, Nadeschda Konstantinowna zu einer dienstlichen Unkorrektheit zu überreden. Nach einigem Seufzen und Schelten standen unsere Namen in den Listen des Swirlagers.

Das war ein Fehler, ein ganz grober Fehler; denn wir begannen unser Lavieren, ohne vorher verläßliche Informationen gesammelt zu haben. So stellte es sich nach und nach heraus, daß im Swirlager die Verpflegung schlecht war, das war noch halb so schlimm, aber der Paragraph 58, Absatz 6, stand dort unter einer ganz besonders scharfen Kontrolle, das Verhältnis zu den »Konterrevolutionären« war bestialisch, jedes Unterlager war mit Stacheldraht umgeben, sogar die Verwaltungsangestellten durften nur in dienstlichen Angelegenheiten auf Grund von jeweils besonderen Passierscheinen und jedesmal nach einer Leibesvisitation von Unterlager zu Unterlager gehen. Auch erfuhren wir, daß das Swirlager die Absicht hatte, sämtliche im BBK erworbenen Intellektuellen an die entlegensten Unterlager zu versetzen, wo es an administrativen Kräften besonders mangelte. Auf der in der Liquidkom an der Wand hängenden Karte haben wir diese Unterlager herausgesucht, wonach uns sehr ungemütlich zumute wurde. – Das Swirlager war ein großes Territorium, und es gab dort Unterlager, die von der Grenze vierhundert Kilometer entfernt waren – vierhundert Kilometer durch eine bevölkerte und folglich gut bewachte Gegend zu gehen … das war schon ganz schlimm. Doch standen unsere Namen bereits in den Listen des Swirlagers.

Nadeschda Konstantinowna erzählte viel von der Unbeständigkeit der Männer, bewies überzeugend, daß nichts mehr zu machen wäre. Ich antwortete, daß es für eine Frau nichts Unmögliches gibt – ce que la femme veut – Dieu le veut; dann wurden sehr verwickelte lagerbürokratische Tricks vorgenommen, und eines Tages betrat Nadeschda Konstantinowna unsere Stube mit dem Aussehen Kleopatras, die soeben und sehr schlau Antonius überlistet hatte … Unsere Namen wurden offiziell in den Listen des Swirlagers gestrichen und in die des BBK übertragen. Nadeschda Konstantinowna strahlte. Georg küßte ihr die Hand; ich sagte, daß ich mein Leben lang für sie beten werde, Protokolle führen und auf der Maschine tippen.

Im allgemeinen, nach der Menagerie der RVA, erschien uns das Sekretariat der Liquidkom als ein Paradies auf Erden oder mindestens als ein Paradies im Lager. Das hing in bedeutendem Maße von Nadeschda Konstantinowna ab, von ihrer lieben fraulichen Geschäftigkeit und Sorglichkeit und von ihrem scherzhaften Gezänk mit Schorschi, den sie, in der Sowjetsprache ausgedrückt, »auf Buxier nahm« – sie zwang ihn, sich zu kämmen und sogar die Nägel in Ordnung zu halten. Selbst aus Dobrotin machte sich Georg nicht viel, Nadeschda Konstantinowna aber gehorchte er willig und widerspruchlos.

Nadeschda Konstantinowna war zwar eine sehr nervöse und nicht immer beherrschte Frau, doch half sie allen, denen sie helfen konnte. Es ereignete sich oft, daß irgendein Ingenieur kam und sie anflehte, nicht den wilden Tieren des Swirlagers vorgeworfen zu werden. Selbstverständlich hing von Nadeschda Konstantinowna de jure nichts ab, doch konnte man auf dem Gebiete der »unteren Papierproduktion« allerhand erreichen und manches de jure glücklich umgehen. Allerdings gab es solcher Ingenieure, Wirtschaftler, Ärzte und ähnliches viel zuviel. Nadeschda Konstantinowna hörte sich die Bitte an und begann aufzubegehren:

»Wie oft habe ich gesagt, daß ich nichts, aber auch gar nichts machen kann. Was wollt ihr alle von mir? Gehen Sie zu Wiedemann. Nichts, gar nichts kann ich machen! Lassen Sie mich bitte in Ruhe!«

Nachdem sie den Ausdruck einer flehenden Beharrlichkeit auf dem Gesicht des besagten Ingenieurs wahrnahm, hielt sich Nadeschda Konstantinowna mit ihren Fingern die Ohren zu und sprudelte hervor:

»Nichts kann ich. Lassen Sie mich in Ruhe. Gehen Sie bitte, sonst werde ich böse.«

Unschlüssig trat der Ingenieur von einem Bein auf das andere und ging dann. Nadeschda Konstantinowna machte noch die Augen zu und redete in einem fort:

»Ich kann nicht, ich kann nicht, bitte gehen Sie.«

Danach saß sie verstimmt an ihrem Tisch, wühlte in den Papieren und beklagte sich bei mir:

»Da sehen Sie, wie sie mich mit ihren Bitten überlaufen … Natürlich haben sie keine Lust nach dem Swirlager zu gehen! Sie denken aber nicht daran, daß ich noch zwei Kinder habe … Und daß ich selbst für diese Kombination in das Swirlager geraten kann – aber nicht mehr als freie Angestellte, sondern als Lagerinsassin … Ihr Männer seid alle Egoisten!«

Ich gab bescheiden zu, daß wir Männer, natürlich, etwas altruistischer sein könnten. Um so mehr, da mir die weitere Entwicklung der Ereignisse mehr oder weniger bereits sicher war. Nach kurzer Zeit sagte Nadeschda Konstantinowna gereizt:

»Was sitzen Sie da und gucken dumm? Geben Sie mir lieber einen Rat! Immer muß ich alles allein machen … Was denken Sie darüber, wenn wir diesen Ingenieur in die Listen als Schachtmeister aufnehmen?«

Gewöhnlich war in diesem Augenblick die Technik der Umwandlung eines Ingenieurs in einen Schachtmeister, eines Arztes in einen Feldscher oder irgendeine noch bedeutend schwierigere lagerbürokratische Kombination von uns beiden bereits überlegt. Nadeschda Konstantinowna seufzte und stöhnte – doch blieb der Ingenieur bei dem BBK. Manche wurden nach Medgora abkommandiert mit der strikten Anweisung, dort zu bleiben, sogar wenn ihnen der Strafisolator drohte. Viele verschwanden überhaupt von den Listen. Auf jeden Fall hat das Swirlager sehr wenig Intellektuelle bekommen. Bei all diesen Machinationen riskierte ich »armer Edelmann«, einfacher Schreiber und dazu noch Häftling nicht viel. Nadeschda Konstantinowna aber ging manchmal ein sehr großes Risiko ein.

Sie war eine noch junge Frau, zweiunddreißig bis dreiunddreißig Jahre alt, nett, reizend und mit großen Vorräten an Sex-Appeal. Wir wollen nicht nach ihr mit Steinen werfen: wie sehr viele Frauen in dieser Welt, der Welt, die für die Frauen heutzutage nicht besonders gemütlich eingerichtet ist – betrachtete sie ihr Sex-Appeal als ein Kapital, das man in das rentabelste Unternehmen dieser Art anlegen sollte. Was für ein Unternehmen aber könnte in der Sowjetunion rentabler sein als die Ehe mit einem hochstehenden Kommunisten?

An den langen Abenden, als Nadeschda Konstantinowna und ich in der Liquidkom Nachtdienst hatten, erzählte sie mir beim Licht einer Petroleumfunzel, bruchstückweise zwischen der Arbeit, von ihrem verworrenen und grausamen Leben. Sie stammte aus einer sehr kultivierten Familie, kannte gut ausländische Sprachen, dabei nicht so, wie es von den Gouvernanten oder vom Selbstunterricht kommt. Dann stand sie als einsames Mädchen von einer »nicht gerade passenden Herkunft« im Lebenskampf – im Kampf für ein Sowjetleben – da. Danach die Ehe mit dem hochgestellten Kommunisten – einem Werksdirektor. Der Werksdirektor geriet in einen trotzkistischen Schädlingsprozeß und wurde ins Jenseits befördert. Nadeschda Konstantinowna stand wieder allein, vielmehr nicht ganz allein, sondern mit einem kleinen Jungen von ungefähr anderthalb Jahren. Selbstverständlich haben die Kollegen des Werksdirektors es vorgezogen, sie nicht mehr zu kennen: selig ist der Mann, der sich mit den »Klassenfeinden« und auch mit ihren Witwen nicht abgibt. Dann kam wieder die Schreibmaschine. Wieder Hunger, diesmal aber schon zu zweit, wieder monatelang sich steigernde Bangigkeit vor jeder »Säuberung«: wegen der Herkunft, wegen des erschossenen Mannes, bei der völlig richtigen Voraussetzung, daß die Witwe eines erschossenen Mannes nicht allzusehr im kommunistischen Enthusiasmus auflodern kann – kurzum es ging sehr schlecht.

Nadeschda Konstantinowna beschloß, daß sie das nächste Mal einen solchen faux pas nicht mehr machen wird. Das nächste Mal wurde das Sex-Appeal in ein maximal-solides Unternehmen angelegt: sie heiratete einen Bolschewik, einst war er Jünger Lenins selbst, ein ehemaliger Konspirator, politischer Sträfling, Forstwissenschaftler und Mitglied des Kollegiums des Volkskommissariats der Landwirtschaft. Er hieß Andrej Iwanowitsch Sapewski. Es kam eine Zeitspanne der Ruhe, der Erholung, das zweite Kind kam – und dann fuhr Andrej Iwanowitsch auf zehn Jahre ins Zwangsarbeitslager. Diesmal war es die »Abweichung« nach rechts.

Nachdem Andrej Iwanowitsch ins Lager geraten war und als alter Kommunist eine Spezialausbildung hatte, die besser war als die übrigen »Parteispezialitäten« (das sind GPU, Kooperation, Militärdienst, Berufsverband), gelang es ihm nach einem dreijährigen aufopfernden Dienst, das heißt nach einer schon ganz ungeheuren Arbeit, sich das Recht auf den »gemeinsamen Lebensaufenthalt mit der Familie« zu verdienen. Ein solches Recht bekamen nur sehr wenige besonders bevorzugte Lagerinsassen. Dieses Recht bestand darin, daß der betreffende Lagerinsasse seine Familie zu sich kommen lassen und mit ihr in einer Privathütte und nicht in der Baracke wohnen durfte. Die übrigen Bedingungen seines Lagerlebens: Rationen, die Arbeit und das schlimmste, Versetzungen blieben die gleichen.

So mußte Nadeschda Konstantinowna ihr Nest zum dritten Male bauen, diesmal im Lager, schon ganz unmittelbar unter dem »Schutz« der GPU. Allerdings hat sie sich ziemlich schnell eingerichtet. Unter den erbärmlichen Visagen des Sowjetaktivs war sie als Mitarbeiterin, dazu noch als freie Angestellte selbstverständlich ein wahres Kleinod. Abgesehen von ihrer Bildung, Kultiviertheit und ihren Bürokenntnissen, konnte sie bei ihrer Doppelabhängigkeit – für sich und für den Gatten – nicht umhin, mit dem vollen Einsatz ihrer ganzen Kräfte zu arbeiten.

Ihr Mann, Andrej Iwanowitsch, war ein untersetzter, magerer Mensch, etwa fünfzig Jahre alt, mit ruhigen, klugen Augen, in denen, wie es schien, sich für den ganzen Rest seines Lebens eine harte, beißende und unvergeßliche Bitterkeit festgesetzt hatte. Als ein alter Konspirator und Zuchthäusler aus der Vorkriegszeit, dann ein verdienstvoller Revolutionär und dann wieder Zuchthäusler hatte er Grund genug für diese Bitterkeit. Doch es gab noch etwas, was auf mein Gemüt besonders drückend wirkte: das war die behaarte Tatze des Genossen Wiedemann, die sich mit dem Ausdruck eines Besitzenden manchmal auf die zusammenzuckende Schulter Nadeschda Konstantinownas legte.

Auf Andrej Iwanowitsch setzte ich übrigens eine besondere Hoffnung. Wir wollten die Reste unserer Lagertage nicht in dem Büro verbringen. – Andrej Iwanowitsch leitete in Podporog die Forstabteilung, und ich bat ihn, uns beide – Georg und mich – irgendwohin auf die Waldarbeiten als Vermesser oder Gruppenführer zu schicken. Andrej Iwanowitsch gab uns einige Fachbücher, und wir träumten bereits von der Zeit, wo wir im Walde herumschlendern würden, statt an der Schreibmaschine zu sitzen.

*

Eines Tages ging ich in der Mittagspause in unsere Hütte. Plötzlich höre ich eine Stimme hinter mir rufen. Ich sehe mich um. Nadeschda Konstantinowna versucht vergeblich, mich einzuholen, schreit etwas und winkt mit der Hand. Ich bleibe stehen.

»Mein Gott, sind Sie denn ganz taub geworden? Ich rufe schon die ganze Zeit, und Sie hören gar nichts. Wollen wir nicht zusammen gehen, wir haben doch den gleichen Weg?«

Wir gingen zusammen weiter und berieten die laufenden Lagerangelegenheiten. Plötzlich wurde Nadeschda Konstantinowna unruhig:

»Sehen Sie bitte dahin, ist das nicht mein Ljubik?«

Das konnte schon stimmen; aber erstens habe ich ihren Ljubik in meinem Leben noch nie gesehen und zweitens, das, was Ljubik sein konnte, erschien auf die Entfernung von etwa hundert Schritt auf dem verschneiten Hintergrund als ein kleines schwarzes Figürchen. Soweit reichte meine Brille aber nicht. Das Figürchen stand am Wegrand und schlug heftig auf einen Schneehaufen. Wir kamen näher und stellten fest, daß es tatsächlich Ljubik war, der von der Schule kam.

»Ach Gott, sein Gesicht ist voll Blut! Ljubik! Ljubik!« Das Figürchen drehte sich um, und nachdem es seine liebe, einzige Mutti gesehen hatte, brüllte es laut auf – wie ich annahm, nur so auf alle Fälle. Daraufhin hörte er auf, mit dem Ranzen auf den Schneehaufen zu schlagen, stapfte auf uns zu und verschmierte auf seinem Gesichtchen Blut und Tränen noch mehr. Bei näherer Betrachtung erwies sich Ljubik als ein Junge von etwa acht Jahren, angetan mit etwas stark Abgetragenem, doch sauber und gut geflickt; sein Gesicht trug alle Spuren einer eben vergangenen Rauferei. Nadeschda Konstantinowna kniete sich vor ihm hin und begann, von seinem Mäulchen Tränen, Blut und Schmutz fortzuwischen. Ljubik nahm die günstige Gelegenheit wahr und heulte sich aus. Selbstverständlich war da irgendein tragischer Bösewicht, der Mitjka oder Wanjka hieß; selbstverständlich hat dieser geborene Verbrecher für nichts und wieder nichts Ljubik verhauen und selbstverständlich wurde das mütterliche Herz Nadeschda Konstantinownas voll von Erbitterung, Beleidigung und Empörung. Dagegen verspürte ich für das verbläute Gesicht Ljubiks gar kein Mitleid – ebenso wie seinerzeit das verbläute Gesicht Georgs in mir kein Mitleid hervorrief, besonders dann nicht, wenn das nach allen Regeln des ungeschriebenen Gesetzes der Großen-Jungens-Sippe geschah. Da ich aber mit Sicherheit annahm, daß die Fragen dieser Regeln lediglich zu meiner männlichen Kompetenz gehörten, fragte ich ihn sachverständig:

»Hör mal, Ljubik, du hast ihm doch aber auch eins gegeben?«

»Und ob ich ihm eins … Dann er mir … Dann ich ihm. Hu–u–u …«

Eine noch mehr sachverständige Frage folgte:

»Hast du ihn mit der rechten oder mit der linken Hand verhauen?«

Das Thema wurde auf das Gebiet reiner Fachwissenschaft übertragen, und es blieb kein Platz für die Gefühle. – Ljubik schob das mütterliche Taschentuch, das sein beleidigtes Gesicht säuberte, zur Seite, und in seinen Augen blitzte durch noch nicht ganz versiegte Tränen die Neugierde auf.

»Wie macht man das mit der Linken?«

Ich zeigte es. Geschäftig machte sich Ljubik aus der mütterlichen Umarmung frei: es handelte sich doch um eine fachmännische Angelegenheit, weshalb für Tränen und Sentimentalitäten nichts übrigblieb.

»Onkel, willst du mir das noch mal zeigen?«

»Unbedingt.«

So kam es zwischen mir und Ljubik zu dem »Pakt der technischen Hilfe«. Ljubik ergriff meine Hand, und wir schritten weiter. Nadeschda Konstantinowna beklagte sich bitter über die Aussichtslosigkeit Ljubiks; denn sie selbst verließ die Liquidkom manchmal tagelang nicht, und Ljubik tummelte sich, weiß Gott wo, und aß, Gott weiß was. Sie wurde oft von Ljubik unterbrochen, der mich mit Fragen der Raufereitechnik bestürmte. Nach sehr kurzer Zeit hatte sich Ljubik überlegt, daß eine so außergewöhnlich günstige Gelegenheit hundertprozentig ausgenutzt werden muß – begann plötzlich stark zu hinken und wurde schließlich infolge dieser diplomatischen Aktion nicht ohne sichtbare Genugtuung auf meine Schulter genommen. Wir schritten einen Abhang hinauf. Mir wurde heiß, und ich nahm die Mütze ab. Die Fingerchen von Ljubik begannen, meinen Schädel sorgfältig zu untersuchen.

»Onkel, warum hast du so wenig Haare?«

»Die sind ausgegangen, Ljubik.«

»Wohin sind sie ausgegangen?«

»So, einfach ausgegangen.«

»Wie einfach? Ganz aus dem Lager?«

Das Lager bedeutete für Ljubik die ganze Welt. Die verfallenen Hütten, die hungernden Jungens Kareliens, verlauste und verhungerte Lagerinsassen, Baracken, WOCHR, Schießerei, das war die ganze Ljubik bekannte Welt. Vielleicht hörte er abends, in seinem Bettchen liegend, Märchen, die ihm Mutter erzählte. – Die Märchen von einer Welt ohne Häftlinge, ohne Drahtverhau, ohne die zerlumpten Menschenhaufen, die man unter einer Eskorte der WOCHR irgendwo zur Verladung nach dem BAM abführte. Ob Nadeschda Konstantinowna Zeit hatte, ihm Märchen zu erzählen?

Wir betraten die große Stube einer karelischen Hütte. Die Stube war an sich genau so abgeschmackt und leer wie die unsrige. Aber ein paar Ansichtskarten, ein paar gestrickte Läppchen, selbst ausgeschnittene Papierdeckchen und Serviettchen, und wer weiß noch was, gaben der Stube jenes wohnliche Aussehen, welches den männlichen Händen sichtlich nie gelingt. Nadeschda Konstantinowna überließ Ljubik meiner Fürsorge und lief zur Bauersfrau. Von der Bäuerin kehrte sie zurück mit noch einem Sprößling im Alter von ungefähr drei Jahren. Die barmherzige alte Bauersfrau paßte auf ihn während der dienstlichen Tätigkeit Nadeschda Konstantinownas auf.

»Gehen Sie nicht fort, Iwan Lukjanowitsch, ich möchte Sie zu einem Teller Suppe einladen.«

Nadeschda Konstantinowna als eine freie Angestellte des Lagers stand im Dienste der GPU und bekam Tschekaration – nicht der ersten und nicht der zweiten Kategorie – doch immerhin Tschekaration. Das verschaffte ihr die Möglichkeit, ihre Familie zu ernähren, ohne Hunger leiden zu müssen. Sie machte sich an einem großen russischen Backofen zu schaffen. Ich hackte Brennholz klein, ein Topf wurde ans Feuer gerückt. Geschäftig herumhantierend, vergaß Nadeschda Konstantinowna nicht, lebhaft zu plaudern, und ich stellte nicht ohne einen gewissen Neid fest: jenen Vorrat an Lebensenergie, Zähigkeit und Munterkeit, der so viele russische Frauen durch die Mühsale der blutigen Sowjetrevolution hindurchbringt … Ihre Vergangenheit war alles andere als glücklich zu nennen. Die Gegenwart war eigentlich nicht mehr als ein Zuchthausleben. Und die Zukunft? Gleichwohl ist es hier gemütlich an diesem Familienherd, mag er unsicher und wacklig sein! Sogar mir, einem fremden Menschen, wurde es irgendwie wärmer ums Herz. Und doch muß Nadeschda Konstantinowna verstehen, daß dieser Familienherd ein Haus auf dem Sande ist. Jeden Augenblick kann von Wiedemann oder vom BAM ein Sturmwind kommen, sich auf dieses Haus stürzen, und keine Spur bleibt von diesem Nestchen.

Andrej Iwanowitsch kam – wie immer in erbittertem Gleichmut. Er nahm seinen Sprößling auf den Arm und begann mit ihm ein Zwiegespräch in einem für jeden fremden Menschen wenig verständlichen Dialekt, der in jeder Familie besonders ist. Dann unterhielten wir uns über die kommenden Waldarbeiten. Ich gab ehrlich zu, daß wir davon nichts verstehen. Andrej Iwanowitsch sagte, daß es keine Rolle spiele, und daß er uns entsprechend instruieren werde – wenn er überhaupt hierbleibe.

»Ach bitte, Andrej, sag' das nicht«, unterbrach ihn Nadeschda Konstantinowna, »selbstverständlich bleiben wir hier … Wenn nicht besonders, so haben wir uns hier doch immerhin eingerichtet. Man muß schon bleiben.«

Andrej Iwanowitsch zuckte die Achseln:

»Nadjuscha, wir sind doch im Sowjetland und im Sowjetlager, kann man da noch von eingerichtet im Ernst sprechen?«

Ich konnte nicht umhin und stichelte Andrej Iwanowitsch: er, der soviel zur Schaffung des Sowjetlandes und des Sowjetlagers beigetragen hat, hätte am allerwenigsten Veranlassung, sich über dieses Land und über das Lager zu beklagen. Wenn schon jemand, dann ist er es, den es gar nicht stören darf, das kommunistische Zwangsarbeitslager zu kosten.

»Fast haben Sie recht«, sagte Andrej Iwanowitsch im üblichen bitter-gleichmütigen Ton. »Fast. Denn hier im Lager müßte man uns eigentlich noch jeden freien Tag erbarmungslos auspeitschen. Züchtigen und jedesmal hinzufügen: mache keine Revolution, du Hundesohn, mache keine Revolution, du Hundesohn! …«

Das Finale dieser Familiengemütlichkeit trat eher ein, als ich erwartete. Eines Abends spät kam in die Stube unseres Sekretariats, wo zu der Zeit nur Georg und ich saßen, Nadeschda Konstantinowna. In den Händen hielt sie ein Papierchen. Sie starrte den Fernsprecher an, dann den Fahrplan und reichte mir einen Wisch. Darin stand:

»Der Insasse Sapewski, Andrej Iwanowitsch, ist unter Bewachung nach der Powenezabteilung des BBK zu versetzen.«

Was konnte ich sagen?

Nadeschda Konstantinowna sah mich unverwandt an und hatte im Gesicht jenes krampfhafte Mienenspiel einer Frau, die ihre letzten Kräfte aufbietet, um einen Hysterieanfall zu überwinden. Doch reichten die Kräfte nicht aus. – Nadeschda Konstantinowna fiel schwer auf den Stuhl, legte ihren Kopf auf die Knie und weinte mit dumpfem, schwerem Schluchzen auf – so, daß man es im Nachbarzimmer nicht hören konnte. Was konnte ich ihr sagen? Ich erinnerte mich an die besitzerische Tatze Wiedemanns … Wozu braucht er, Wiedemann, diesen Forstkundigen aus der »alten Garde«? Ein Zettelchen an jemand in Medgora, und Genosse Sapewski fliegt, weiß der Teufel wohin, ohne seine, Wiedemanns, offensichtliche Beihilfe – und er, Wiedemann, bleibt als alleiniger Gebieter. Nadeschda Konstantinowna wird er im Rahmen der GPU-Disziplin nicht fortlassen, und Andrej Iwanowitsch wird irgendwo am Faulen Fluß im Rahmen der Lagerdisziplin verfaulen müssen. Genosse Wiedemann wird einem von seinen »Strohhalmen« andeuten, daß man diesen Forstkundigen auf keinen Fall zurückbeordern darf, und der »Strohhalm«, in Erwartung einer künftigen Gegenleistung Wiedemanns, wird schon dafür sorgen, daß Andrej Iwanowitsch möglichst bald verfault.

Für einen Augenblick versuchte ich, mir die Psychologie und die Erlebnisse von Andrej Iwanowitsch vorzustellen. Georg und ich sind auch im Lager. Doch ist es bei uns viel einfacher: Wir sind einfach von den Affen gefangen. Und Andrej Iwanowitsch? Hat er denn, als er in den Gefängnissen der Zarenzeit saß und das Spinngewebe der künftigen Revolution flocht, jemals geträumt, was für ein Leben er für die Menschheit und für sich herbeizauberte? Ist er denn deswegen in die Lehre zu Lenin gegangen?

Georg lief zu Nadeschda Konstantinowna und begann sie zu trösten – täppisch, ungeschickt und unerfahren – doch wirkte dieser Trost geheimnisvollerweise auf Nadeschda Konstantinowna. Sie ergriff Georgs Hand, als ob sie in ihr, dieser Hand eines Zwangsarbeitsjünglings, eine Stütze suchte, und schluchzte weiter, aber nicht mehr so hoffnungslos, und doch – welche Hoffnung blieb ihr?

Ich saß schweigend da. Ich konnte nichts sagen und auch mit nichts trösten; denn es gab weder für sie noch für Andrej Iwanowitsch einen Trost. Hier, in dieser unfreundlichen Stube, war der letzte Einsatz, die letzte Karte der revolutionären Illusionen von Andrej Iwanowitsch und der Familienillusionen von Nadeschda Konstantinowna verspielt …

Im Juni desselben Jahres, als ich die verlassensten Waldpunkte der Powenezabteilung bereiste, begegnete ich Andrej Iwanowitsch. Er versuchte, mich nicht zu erkennen. Doch trat ich an ihn heran und erkundigte mich nach dem Wohlergehen Nadeschda Konstantinownas. Andrej Iwanowitsch sah mich mit Augen an, in denen nichts mehr als eine ungeheure Leere und Bitterkeit stand, dann dachte er nach, als ob er überlegte, ob es sich lohnte, etwas zu sagen, und preßte schließlich hervor:

»Sie ist nicht mehr unter den Lebenden.«

Mehr fragte ich nicht.


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