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Lagertaufe

 

Angekommen

So fuhren wir zweihundertfünfzig Kilometer fünf volle Tage lang. Auch in unserem Wagen hat es Kranke gegeben – etwa zehn. Boris fühlte ihnen den Puls und gab schöne Worte dazu – das einzigste Heilmittel, das er zur Verfügung hatte. Allerdings war ein gutes Wort in der Umwelt dieser menschlichen Menagerie auch soviel wie ein Medizinmittel.

Endlich am sechsten Tag morgens erschienen in der zurückgeschobenen Wagentür Menschen, die anders als unsere Wachmannschaften aussahen. Einer von ihnen hielt in der Hand eine Liste. Auf seiner Nase tanzte schief ein Klemmer. Angezogen war dieser Mensch mit etwas ziemlich Lumpigem, aber durchaus Zivilem. Bei seinem Anblick verstand ich, daß wir irgendwo angekommen waren, noch unbekannt wo, auf jeden Fall aber nicht zu weit …

»Eh, wer ist hier der Wagenälteste?«

Boris trat vor.

»Wieviel Menschen haben Sie hier nach Ihrer Liste? Zählen Sie nach!«

Ich steckte meinen Kopf durch die Wagentür und fragte in vertraulichem Flüsterton den Mann mit dem Klemmer:

»Sagen Sie bitte, wo sind wir eigentlich gelandet?«

Der Mann mit dem Klemmer schaute sich scheu um und flüsterte zurück: »Swirstroj Zwangsarbeitslager im Gebiete des Flusses Swir.

Trotz des frostigen Januarwindes, der wie ein breiter Strom in die offene Wagentür fuhr, sahen wir plötzlich blühende Rosen um uns …

Swirstroj! Das bedeutet auf jeden Fall nur etwa zweihundert Kilometer bis zur Grenze … zweihundert Kilometer – eine Kleinigkeit. Es ist nicht irgendein Lager in Sibirien, wo die Grenze, selbst wenn du drei Jahre läufst, unerreichbar ist … Hat nun Fortuna nach all dem trügerischen Schein uns endlich ihr lächelndes Antlitz zugewandt? …

 

Die neuen Gebieter

Derselbe frostige Januarmorgen wie am Tage unserer Abfahrt aus Petersburg. Die gleiche Reihe von Schützenketten und Maschinengewehren auf Dreigestellen. Ringsumher eine mit Tannenunterholz bewachsene Ebene und verlassene, schneeverwehte Gleisanschlüsse.

Wir werden ausgeladen, in Reihen gestellt und gezählt. Dann werden wir wieder umgeordnet und nachgezählt. Der neue Wachkommandant rast wie besessen von Kolonne zu Kolonne: zwei Häftlinge sind verschwunden. Bei der herrschenden Ordnung könnte es übrigens sein, daß sie überhaupt nicht da waren.

Auch die Wachmannschaften rasen. Wildes Geschimpfe. Die vollkommen kopfscheu gemachten Bäuerlein tummeln von Reihe zu Reihe, die ohnehin schlecht ausgerichteten Reihen ganz durcheinanderbringend. Wieder werden wir umgestellt, wieder nachgezählt …

So stehen wir fünf Stunden und sind bis auf die Knochen durchgefroren. Die halbnackten Urkis sind trotz ihrer fürwahr indianischen Zähigkeit kaum noch am Leben. Die Wachmannschaften, die fast so wie wir durchgefroren sind, werden von Stunde zu Stunde wütender. Hier und da brechen die Menschen im Schnee zusammen. Unsere zehn Kranken sind bereits zusammengebrochen. Wir legen sie auf die Rucksäcke, Bündel und sonstigen Lumpen; es ist aber klar, daß sie bald erfrieren werden. Unsere Maßnahmen stören natürlich die Ordnung in den Kolonnen und verwirren das Zählen. Zwischen uns, das heißt der Intelligenz und der Wache, entsteht eine heftige Diskussion. Menschen, die Brillen tragen, unflätig zu beschimpfen und mit den Gewehrkolben in Ordnung zu bringen, kann sich die Wache doch nicht entschließen. Man droht uns mit dem Rücktransport nach Petersburg. Das ist natürlich Quatsch, nichts kann die Wache mit uns machen. Boris erklärt, daß die Leute noch unterwegs erkrankten und daß sie nicht stehen können. Die Wachmannschaften richten die Zusammengebrochenen auf, doch fallen sie wieder um. Es treten ein paar Menschen in Lageruniform heran – wie sich später herausstellte, war es die Abnahmekommission des Lagers. Ein völlig durchgefrorenes altes Männlein mit stacheligem Schnurrbart entpuppt sich als Chef der Sanitätsabteilung des Lagers. Auch der Wachkommandant tritt hinzu und fällt über Boris her:

»Was geht Sie das an? Sofort in die Reihe!«

Boris erwidert, daß er Arzt sei, und als solcher könne er nicht zulassen, daß die Menschen lediglich infolge Unfähigkeit der Wache erfrieren sollen. Der Hinweis auf die Unfähigkeit und auf die mögliche Beschwerde nach Petersburg bremst in etwa den selbstherrlichen Anlauf des Tschekisten. Als Resultat dieser langwierigen Diskussion erscheinen schließlich ein paar Lagerschlitten, auf diese werden die Zusammengebrochenen verladen, und der Zug von wackligen und altersschwachen Schlitten und ganz ausgemergelten Schindermähren verschwindet mit begräbnisartiger Langsamkeit im Unterholz. Später habe ich erfahren, daß nicht alle Erkrankten das Lager lebendig erreicht haben.

Ein Kommando ertönt. Die Wache nimmt ihre Maschinengewehre und klettert in die Waggons. Der Zug rückt, mit den Puffern aufeinanderschlagend, gen Westen an. Wir bleiben auf dem offenen Feld. Weder Wache noch Maschinengewehre sind da. Abseits des Weges an einem Scheiterhaufen wärmt sich ein halbes Dutzend Menschen, mit Gewehren bewaffnet. Es ist, wie sich herausstellt, die Lager-WOCHR Bewaffnete Ochranawache im Innern des Lagers. … Sie bewacht uns aber nicht. Es gibt auch nichts zu bewachen, die Menschen sehnen sich nicht nach der Flucht – wohin auch fliehen über diese schneeverwehten endlosen Felder – sondern nach einem warmen Raum und warmem Essen …

Vor den Kolonnen erscheint irgendein behender Bursche mit vor Kälte weißgewordenen Ohren und wattierter Joppe. Der Bursche wendet sich an uns mit einer Rede über die bevorstehende ehrliche Arbeit, mit der wir uns das Recht auf die Rückkehr in die Familie von Werktätigen verdienen werden, über den sozialistischen Aufbau, über die klassenlose Gesellschaft und über sonstige Dinge, eine Rede, die bei zwanzig Grad Frost und vor der erfrorenen Menge ebensowenig wie irgendwo anders am Platze ist. Das sind Pflichtlitaneien und sowjetistische Pflichtgebete, auf die niemand ernsthaft hört, von denen sich aber niemand drücken kann. Dieses »Pflichtgebet« zwingt die Leute, noch eine halbe Stunde im Frost zu zittern … Immerhin habe ich dabei erfahren, daß wir uns nunmehr im Gebiet des Swirlagers des Weißmeer-Ostsee-Kombinats befinden.

Bis zum eigentlichen Lager sind es noch etwa sechs Kilometer. Fürchterlich langsam, wie zu einem Friedhof, schleppen wir uns dahin. Am Ende der Kolonne schlendern ein halbes Dutzend WOCHR und ein Dutzend Schlitten hinterdrein und lesen die Fallenden auf: etwas kümmert sich das Lager um seine Menschenware doch. Endlich erblicken wir von einem Hügel aus eine im Walde ausgeholzte Lichtung. Aus dem Schnee ragen Baumstümpfe hervor. Etwa vierzig lange Bretterbaracken – manche mit Dächern, manche ohne. Die Lichtung ist von einem stellenweise bereits eingesunkenen Drahtverhau umgeben: Da ist es, das Zwangsarbeitslager oder nach der offiziellen Bezeichnung »Besserungs- und Arbeitslager«, ein Ort, von dem in ganz Rußland soviel tragisches Geflüster von Haus zu Haus geht …

Ich bin überzeugt, daß keiner von den zusammen mit uns nach dem BBK-Zuchthaus wandernden Menschen solch eine optimistisch muntere Stimmung hatte wie wir drei. Wohl waren wir durchgefroren, hundemüde, unsere Beine trugen uns nicht gerade gut, aber …

Wir hatten die Erschießung erwartet und – kamen ins Lager. Auch an Ural oder Sibirien hatten wir gedacht, und nun kamen wir in diese etwa zweihundert Kilometer von der Grenze entfernte Gegend. Wir waren überzeugt, daß es uns nicht gelänge, zusammenzubleiben, und nun gingen wir einstweilen hübsch in einer Reihe.

Alles, was uns noch erwartet, wird leichter sein als das, was zurückgeblieben ist. Hier werden wir uns schon irgendwie durchschlängeln. Sowieso wird dieses Durchschlängeln nicht lange dauern: Januar, Februar … im Juli werden wir bereits irgendwo im Walde, auf dem Wege zur Grenze sein … Wie sich all dies einrichtet, ist noch ungewiß; aber wir werden es einrichten. Wir sind trainierte Menschen von großer Körperkraft und Ausdauer, Menschen, die von der Plötzlichkeit eines GPU-Urteils und von den Perspektiven eines langen Eingesperrtseins nicht beeindruckt sind, auch nicht von dem Kummer über die in der Freiheit gebliebenen Familien. Im allgemeinen stellen wir uns unsere Lagerzukunft vor als ein hartes und gefährliches Abenteuer, doch nicht eines gewissen Interesses bar. Nur Boris ist etwas düsterer gestimmt, er hat auf den Solowetzki-Inseln Dinge gesehen, die man besser nicht sieht … aber eben dieser Boris überstand die Solowetzki-Inseln, dabei hat er allerdings mehr als die Hälfte seiner Sehkraft verloren.

Diese muntere Stimmung und die Kampflust haben in bedeutendem Maße sowohl unsere Lagereindrücke als auch unser Lagerschicksal bestimmt. Das bedeutet natürlich in keiner Weise, daß diese Eindrücke und dieses Schicksal für das Lager im allgemeinen als das Übliche anzusehen waren. In der erdrückenden Mehrheit von Fällen, wahrscheinlich neunundneunzig von Hundert, bedeutet das Lager für einen Menschen die Katastrophe. Das Lager zermürbt den Menschen seelisch und körperlich – zermürbt ihn durch unerträgliche Arbeit, Hunger, Grausamkeit, durch eine, wenn man sagen darf, psychologische Ausbeutung, wo der Mensch die allerletzten Kräfte anstrengt, um die Frist seines Lagerdaseins zu verkürzen – doch in der Hauptsache aber wird er nicht direkt, sondern indirekt durch die Sorge um seine Familie gebrochen. Denn die Familie eines ins Lager Geratenen geht aller Rechte verlustig und in erster Linie des Rechtes auf Lebensmittelkarten. In vielen Fällen bedeutet es den Hungertod. Daher auch diese unglaubwürdig erscheinenden Lebensmittelsendungen aus dem Lager in die Freiheit, auf die ich noch zu sprechen komme.

 

In der Baracke

Man stelle sich einen grob zusammengezimmerten, sargähnlichen Kasten vor, etwa fünfzig Meter lang und acht Meter breit, an einer der Längsseiten eine Tür, an beiden Breitseiten – je ein Fenster. Sonst gibt es keine Fenster. Die Glasscheiben sind zerschlagen und die Fensterluken mit allerhand Gerümpel zugestopft …

Innen, an den Längsseiten der Baracke ziehen sich zwei fortlaufende Bretterstellagen hin – in zwei Etagen übereinandergereiht. An beiden Enden steht je ein Eisenöfchen, wohl die einzigste harmlose Erfindung der Epoche des Kriegskommunismus. Tagsüber wird diese Erfindung gar nicht geheizt, da man annimmt, daß die sämtlichen Einwohner der Baracke auf der Arbeitsstelle sein müssen. Nachts trocknen und sengen über dieser Erfindung die aufgehängten unzähligen, undefinierbaren, verlausten Lumpen – alles, womit man den sonstige menschliche Kleidung entbehrenden Körper umwickeln kann. Das Öfchen brennt die ganze Nacht. Im Umkreis von drei Meter herrscht eine unerträgliche Hitze. Auf die Entfernung von zehn Meter gefriert bereits das Wasser. Die Baracken sind aus rohen, feuchten Kiefernbrettern in aller Eile zusammengehauen. Sie sind ausgetrocknet, in den Wänden haben sich große Ritzen gebildet, durch eine – von meiner Liegestatt aus erreichbar – konnte ich ganz bequem meine Faust hindurchstecken. Die Ritzen werden mit allerhand Lumpen abgedichtet, jedoch reichen sie bei weitem nicht aus, abgesehen davon, daß die WOCHR diese Lumpen während der regelmäßigen Durchsuchungen stets herausstochert, und dann geht der Wind wieder durch die Baracke spazieren. Die Baracke ist von zwei Petroleumfunzeln beleuchtet, die wenigstens die Umgebung des Öfchens erhellen müßten. Weil aber keine Lampenzylinder da sind, so flackern sie wie einsame Irrlichter. Abends, wenn sich die Baracke mit der von der Arbeit zurückgekehrten, durchnäßten Menge zu füllen beginnt (die Baracke ist auf dreihundert Menschen berechnet), spielen diese Funzeln lediglich die Rolle von Signallichtern, die dem durchgefrorenen Lagerinsassen durch die Schwaden von frostigem Dampf und Machorkaqualm den Weg zum Öfchen weisen. An sonstigem Mobiliar gibt es in der Baracke noch zwei lange Tische von je etwa zehn Meter Länge und vier ebenso lange Bänke. Das ist alles. Nach allerhand Getümmel und einer ganzen Reihe von Abenteuern nisten wir uns endlich auf der Stellage ein, verteilen unsere Rucksäcke, jedoch ohne sie auszupacken; denn in der ganzen Baracke schnüffeln die Urkis herum. Dann sehen wir uns den Menschenknäuel an, der mit Geschrei, Geschimpfe und Schlägereien sich allmählich in allerhand dunkle Winkel der Baracke verkriecht. Wohlgemerkt, ich habe in der Freiheit auch schlechtere Baracken gesehen, doch diese hier hat einen besonders ekelhaften Eindruck hinterlassen. Die Baracken auf dem Torfstich in der Nähe von Moskau waren bedeutend schlechter schon deshalb, weil sie zur Aufnahme auch von ganzen Familien dienten … oder die Erdhütten der Arbeiter im Don-Kohlengebiet. Aber dort geht man hin, geht man her, sieht sich alles an und kommt dann wieder an die frische Luft, atmet mit voller Brust und sagt hinterher: »Sieh an, das also ist das Vaterland der Werktätigen?!« Dies hier aber wird man nicht nur ansehen, sondern miterleben müssen. Es ist zweierlei, ob dein Nächster Zahnschmerzen hat oder ob du selbst vor Zahnschmerzen vergehst …

Irgendwie kommen mir die Kommissionen und Debatten über Projektierung von neuen Städten in Erinnerung. Man projektierte einen neuen sozialistischen Magnitogorsk: nicht viel bemerkenswerter als das BBK … eine Baracke für Männer, eine Baracke für Frauen, Verschläge für die »Erfüllung der Funktionen zur Wiedererzeugung der sozialistischen Arbeitskraft« … Die Kinder sollten fortgenommen werden und ihre Eltern nicht kennen … na, und so weiter. Ich saß mit dieser Kommission und nannte diese »Funktionen« beiläufig einen sozialistischen Schweinestall. Der Autor des Projektes, der nicht unbekannte Sabsowitsch, nahm es mir sehr übel, ich bereitete mich auf bedeutende Unannehmlichkeiten vor, als Frau Krupskaja Illegitime Frau Lenins. die sozialistischen »Erzeuger« in Schutz nahm, und das Projekt als Ausfall in die »linke Opposition« erklärt wurde. Die Kommunisten können nicht zulassen, daß auf dieser Welt irgend etwas noch weiter links steht als sie. Deshalb haben sie die Abweichungen von der »Generallinie« je nach der Richtung rechte oder linke Opposition genannt und diese Bezeichnung amtlich in Umlauf gesetzt …

Ich weiß nicht, ob man im Lager nach links oder nach rechts abgewichen war. Aber in diesem Dreck und Gestank, in dieser Enge und Kälte unter Hunger und Läusen noch ein halbes Jahr leben müssen? Allmächtiger Gott!

Meine nicht besonders optimistischen Grübeleien wurden plötzlich von einem durchdringenden Schrei unterbrochen:

»Brüderchen … man hat mich bestohlen … Brüderchen, zu Hilfe!« Dem Ton der Stimme nach hat man das Letzte gestohlen. Aber wie soll man helfen? Dunkelheit, eine Masse von Menschen und dazwischen wie die Wiesel huschende Urkis … Der Schrei taucht unter im allgemeinen Tumult und in den Sorgen um seine eigene Haut und Habe … Durch die Löcher im Dach tropft auf uns friedlich der auftauende Schnee herab …

Plötzlich lacht Georg.

»Was hast du denn?«

»Ich dachte an Freddi. Wenn er hier wäre …«

Freddi war unser Moskauer Bekannter – ein äußerst diplomatischer Ausländer. Das zum Frühstück schlecht geröstete Brot verdarb ihm die Laune für den ganzen Tag …

»Wenn der hier wäre? Aufgehängt hätte er sich.«

»Zweifellos hätte er das getan«, sagt Georg überzeugt.

Nun, wir werden uns nicht aufhängen. Ich erinnere mich an die Übernachtungen auf dem Waggondach, an den Laptagebirgspaß und an die »rote Teestube« in Turkestan … nitschewo – ich lebe doch noch …

 

Dampfbad und Buschlat Wattierte, durchgesteppte Kombination aus derbem Stoff.

Gegen ein Uhr nachts wurden wir laut geweckt:

»Aufstehen, zum Baden fertigmachen …«

In der Baracke standen etwa dreißig WOCHR-Männer: da kann man sich nicht drücken. Todesähnliche Schlaftrunkenheit übermannte uns. Kaum, daß wir uns einigermaßen erwärmt hatten, dicht aneinandergeschmiegt und mit allem möglichen zugedeckt, begannen wir soeben einzudösen. Und da! Als ob sie nicht eine andere Zeit zum Baden finden konnten!

Wir stampfen etwa drei Kilometer weit zu irgendeinem Eisenbahnhaltepunkt, in dessen Nähe das Bad eingerichtet ist. Mit dem Bad ist es im Lager streng. Die Lagerverwaltung fürchtet Epidemien, und die »sanitäre Bearbeitung« der Lagerinsassen wird mit erbarmungsloser Unnachgiebigkeit durchgeführt. Grundsätzlich sind diese Badeanstalten nicht schlecht eingerichtet: man tritt ein, zieht sich aus, gibt die Kleidung in Verwahrung, und im Austausch für die eigene erhält man saubere Wäsche. Nach dem Bade betritt man einen anderen Raum und erhält seine Kleidung zurück und saubere Wäsche. Die Kleider sind inzwischen durch die Desinfektionskammer gegangen. Einigermaßen sorgen die Badeanstalten für die körperliche Sauberkeit. Auf jeden Fall gibt man Seife, während zum Beispiel auf dem Werk in Kolomna sogar Köche monatelang ohne Seife auskommen mußten: es gab eben keine … Doch machen das Gedränge und die Lumpen den Kampf gegen die Laus zu einer hoffnungslosen Sache. Sie gedeiht und vermehrt sich, alle Planziffern überrennend.

Wir stehen eine Stunde Schlange, selbstverständlich draußen. Danach entledigen uns im Vorraum des Bades zwei mit stumpfen Haarschneidemaschinen ausgerüstete Jünglinge jedweder Behaarung, darunter auch solcher, mit welcher die üblichen »weltlichen« Friseure nichts zu tun haben. Darauf, nach der problematischen Waschung – das heiße Wasser reichte nicht aus – werden wir in irgendein neben dem Baderaum eingerichtetes Zelt hineingepfercht, wo es ebenso kalt ist wie draußen … Die Wäsche bekommen wir erst nach einer halben Stunde und die Kleider aus der Desinfektion nach einer ganzen Stunde. Wir frieren so, wie wir nicht mal im Viehwagen gefroren haben … Mein Stellagenachbar bezahlte es mit einer Lungenentzündung. Wir drei haben uns diese Stunde intensiv mit dem Boxtraining beschäftigt, mit der Art, die man »Kampf mit dem Schatten« nennt, und entkamen wohlbehalten.

Nach dem Bad vor Kälte zitternd und mit den Zähnen klappernd, begeben wir uns in die Lagerzeugkammer, wo Lageruniformen ausgegeben werden. Das BBK ist ein privilegiertes Lager. Seine hiesige Abteilung ist als » Sturmbau« erklärt; sie baut ein Wasser-Elektrizitätswerk am Swir. Folglich kann man auf irgendeine Uniformierung tatsächlich hoffen.

Wiederum Schlangestehen vor irgendeinem gewaltigen Schuppen, der von innen elektrisch beleuchtet ist. An der Tür ein WOCHR-Mann mit Gewehr. Wir gehen an den Kopf der Schlange, treten an den WOCHR-Mann heran, und ich sage mit einem autoritären Ton: »Genosse, lassen Sie diese beiden durch …«, und gehe selbst fort.

Der WOCHR-Mann läßt Boris und Georg widerspruchslos durch.

Nach fünf Minuten trete ich wieder an die Tür heran:

»Rufen Sie mir Sinelnikoff heraus …«

Der WOCHR-Mann begreift: ein Vorgesetzter.

»Ich kann nicht, Genosse. Es ist mir befohlen, hier stehenzubleiben, gehen Sie selbst hinein …«

Ich tue es sofort. Dadrinnen ist es immerhin wärmer als draußen …

Eine dichte Menge füllt den Schuppen. Irgendwo in der Tiefe ein Ladentisch. Über ihn hinweg wirbeln die Kleidungsstücke, begleitet von einem ungeheuren Geschrei. Laut Vorschrift muß jeder neue Lagerinsasse eine komplette Arbeitsuniform bekommen. Aber die Uniformen reichen nicht aus, besonders mangelt es an neuen Stücken. In Ausnahmefällen wird die erste Garnitur herausgegeben, das heißt ganz neue Sachen, öfters die zweite Garnitur – altes Zeug, aber nicht zerrissen –, meistens aber die dritte Garnitur – alt und zerrissen. Ungefähr die Hälfte der neuen Lagerinsassen bekommt überhaupt nichts – sie arbeiten dann in ihrem eigenen Zeug. Hinter dem Ladentisch flitzen etwa fünf Zeughauswärter hin und her, etwas abseits an einem Sondertischchen sitzt jemand, der den Leiter markiert. Er hat zu bestimmen, wem, was und welche Garnitur zu geben ist. Die Empfänger feilschen mit ihm und mit den Wärtern, demonstrieren ihre eigene Zerlumptheit, flehen, ihnen etwas möglichst Ganzes und Wärmeres zu geben. Der Blick des Leiters ist durchdringend und erbarmungslos, und seine Urteile sind offensichtlich endgültig, ohne Berufungsmöglichkeit.

»Dir sehe ich's an der Visage an, daß du ein Schieber bist«, sagt er irgendeinem Urka. »Zieh ab!«

»Genosse Chef! … Bei Gott …«

»Du sollst abziehen, habe ich gesagt. Der nächste!«

»Der Nächste« schiebt den Urka mit der Schulter fort. Der Urka antwortet unflätig, ist aber von dem Ladentisch schon fortgedrängt, und es bleibt ihm nichts weiter übrig, als in einer angemessenen Distanz die geballten Fäuste zu schütteln und der Eltern des Leiters nicht gerade höflich zu gedenken. Vor dem Leiter steht ein riesiger, vollkommen zerlumpter Bauer.

»Na, dir sieht man an, daß deine Mutter dich ohne Hemd geboren hat. Hast du seitdem überhaupt mal ein Hemd getragen? Ganz nackt ist der Kerl … Wann werdet ihr Hundesöhne überhaupt lernen, daß, wenn ihr zur GPU geht, alles Notwendige von zu Hause mitzunehmen ist.«

»Bürger Chef«, erwidert der Bauer, »auch zu Hause laufen wir fast nackt. Selbst die Kinder, es ist eine Schande zu sagen, haben nichts, ihre Blöße zuzudecken.«

»Brauchst nicht zu heulen, bald holt man auch deine Kinder hierher.«

Der Bauer bekommt eine zweite und dritte Garnitur des Buschlats, Hose, Filzstiefel, Mütze und Fausthandschuhe. Zu Hause ist er bestimmt nicht so angezogen gewesen. Am Tisch erscheint noch ein Urka.

»Ah, meine Hochachtung«, begrüßt ihn der Leiter ironisch.

»Schönen guten Abend auch Ihnen«, antwortet der Urka mit einer wenig überzeugenden Ungezwungenheit.

»Hat man dich vom Spaziergang zurückgeholt?«

»Kennen Sie mich denn wieder?« fragt der Urka mit einschmeichelnder Verwunderung. »Ein verdammt gutes Gedächtnis haben Sie!«

»Ja, mein Gedächtnis ist so gut, daß du gar nichts kriegst. Pack dich fort.«

»Genosse Chef«, schreit der Urka ängstlich auf, »schauen Sie doch her, ich bin ja ganz nackt … schauen Sie doch!«

Mit einer theatralischen Geste – wenn es solche theatralischen Gesten überhaupt gibt – hebt der Urka die Schöße seines uralten zerlumpten ehemaligen Soldatenmantels, und der Leiter erblickt darunter einen nackten und schmutzigen Bauch.

»Genosse Chef«, klagt der Urka weiter, »ohne Kleidung krepiere ich doch in Teufels Namen.«

»Meinetwegen krepiere!«

Der Urka mit seinem nackten Bauch wird von dem Ladentisch weggeschubst. Eine Arbeitergruppe tritt heran. Sie haben alle stark abgetragene städtische Mäntel an, die sich an die hiesige Gegend niemals anpassen werden. Sie bekommen: der eine Filzstiefel, der andere eine wattierte Joppe, der dritte einen zerrissenen Buschlat.

Endlich machen wir drei vor dem Leiter Front. Betrübt faßt er uns und unsere Brillen ins Auge …

»Es wäre besser, wenn Sie etwas warten … es wird schwerfallen, für Ihre ›Figürchen‹ etwas Passendes zu finden.«

In den Augen des Leiters sehe ich einen wohlwollenden Rat und pflichte ihm bei. Georg – er kann sich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten – macht dem Leiter einen anderen Vorschlag:

»Können Sie uns vielleicht irgendwie beschäftigen? Es wäre für Sie nützlich, und wir brauchten hier nicht herumzudösen …«

»Das ist eine Idee …«

Bereits nach einigen Minuten sitzen wir hinter dem Ladentisch und füllen irgendwelche Formulare aus: Buschlat – zweite Garnitur – I, Hose dritte Garnitur – I und so weiter.

Unsere Beteiligung hat die Ausgabe fast um das Doppelte beschleunigt. Nach etwa anderthalb Stunden war man fertig, und der Leiter wandte sich uns zu. Von seiner Spaßhaftigkeit blieb nicht mehr die Spur; vor mir stand ein todmüder Mensch. Auf meinen fragenden Blick erwiderte er:

»Bin die dritte Nacht auf den Beinen … habe dauernd Kleiderausgabe … morgen werden wir fertig, es ist sowieso nichts mehr geblieben … Ach so«, besann er sich, »euch muß man noch einkleiden. Man wird euch gleich etwas raussuchen. Sind Sie gestern angekommen?«

»Ja, gestern.«

»Und auf wie lange?«

»Man sagt auf acht Jahre …«

»Und die Paragraphen, wahrscheinlich bestialisch?«

»Ja, es geht …«

»Nu, nitschewo, verzagen Sie nicht. Oder, wie man auf deutsch sagt: Mut verloren, alles verloren. Werden sich schon einrichten. Wenn man intelligent und kein Tolpatsch ist, wird man hier nicht umkommen … Viel Vergnügen gibt es natürlich nicht …«

»In der Freiheit ist es auch nicht viel besser!«

»Das wohl. Aber dort habe ich meine Familie … Wie es ihr geht, weiß Gott allein … und ich bin hier bereits das fünfte Jahr … Ja–a.«

»Gemeinsamer Tod erträgt sich leichter«, versuche ich zu trösten …

»Es gibt aber viel zuviel Tote … Ihr seid offensichtlich Verwandte.«

Ich erkläre ihm unsere Beziehungen.

»Das nennt man Glück haben. Zu zweit ist es viel leichter, und erst zu dritt! … Haben Sie auch Familie draußen?«

»Nein, niemand.«

»Na, dann ist es eine Kleinigkeit. Das bitterste ist die Sorge um das Schicksal der Familie …«

Man bringt jedem von uns einen Buschlat, eine Hose und alles übrige – kurzum: die volle Ausrüstung der ersten Garnitur. Nur passende Filzstiefel für mich hat man nicht gefunden.

»Kommen Sie morgen durch diese Hintertür, wir sehen noch nach.« Beim Abschied bedanken wir uns.

»Bitte, nichts zu danken«, antwortet er. »Nach einem Monat werden Sie dasselbe tun. Das nennt man ›Klassensolidarität‹ der Intelligenz. Wenn überhaupt etwas, dann haben uns die Bolschewiki bestimmt das beigebracht.«

»Gestatten Sie, darf ich Ihren Namen erfahren?«

Der Leiter nennt ihn. Es war ein ganz bekannter Name in der literarischen Welt Moskaus.

»Auch Ihr Name ist mir bekannt«, sagt er. Wir betrachteten uns gegenseitig mit resignierender Teilnahme …

»Noch etwas: morgen wird man versuchen. Sie zum Holzfällen in den Wald zu treiben. Gehen Sie nicht hin.«

»Wie nicht gehen? Man wird doch gezwungen.«

»Pfeifen Sie drauf und bleiben Sie.«

»Hier und pfeifen?«

»Na, Sie werden's ja an Ort und Stelle besser sehen. Irgendwie muß man sich doch mit Eleganz herauswinden. Einmal beim Holzfällen, kann man lange unten bleiben. Drücken Sie sich aber mit Erfolg, dann werden Sie in zwei, drei Tagen zu einer anständigeren Arbeit herangezogen. Was man so in einer Kaschemme anständige Arbeit nennt.«

»Kommt man da nicht ins Loch?«

»Wer wird das tun? Auch so ein Brillenonkel wie Sie? Sehr unwahrscheinlich. Meiden Sie nur solche halbehrenwerte und halbe Parteimenschen. Wenn Ihre sowjetistische Sehkraft gut entwickelt ist, dann werden Sie schon gleich unterscheiden können … Ich habe diese Sehkraft bereits ausgezeichnet entwickelt. Es ist die Fähigkeit, durch die Sie in der Lage sind, das parteilose Publikum von dem Partei- und Halbparteipublikum zu unterscheiden. Wer weiß, was für äußere Unterscheidungsmerkmale diese sowohl quantitativ als auch rechtlich so ungleichen Kategorien haben. Eine gewisse Rolle spielt hierbei vielleicht der Umstand, daß die Kommunisten und ihre Trabanten die einzige soziale Schicht bilden, die sich in der Sowjetunion wie zu Hause fühlt. Vielleicht wirkt auch jene argwöhnische, ewig wachsame Spannung eines Menschen mit, dessen Sache in diesem »Zuhause« nicht besonders günstig steht und ihn in jedem Winkel einen verborgenen Feind wittern läßt … Das ist schwer zu erklären; aber es läßt sich fühlen.«

Zum Abschied gibt uns der Leiter noch mehrere Adressen: in der und der Baracke wohnt eine Gruppe ukrainischer Professoren, die sich hier bereits gut verschanzt und einige Verbindungen angeknüpft haben. Außerdem gibt es bei dem Abteilungsstab nette Menschen, und zwar X, Y und Z, mit denen er morgen über uns gern sprechen wird. Wir verabschieden uns herzlich von ihm und stampfen durch den hohen Schnee heimwärts, uns in der trostlosen Eintönigkeit der Baracken verirrend.

Nach der herzlichen Unterhaltung erscheint uns unsere Spelunke besonders widerlich …

 

Unsere Umwelt

Aus der Unterhaltung in der Zeugkammer haben wir viel sehr wesentliche Dinge erfahren. – Wir befinden uns in der Podporoger Abteilung des BBK, nicht direkt in Podporog, sondern auf dem Unterlager »Pogra«. Man beabsichtigte, hierher ungefähr siebenundzwanzigtausend Häftlinge zusammenzubringen. In den letzten zwei Wochen kamen sechs Transportzüge an, etwa zehn- bis zwölftausend Menschen, und folglich wütete im ganzen Unterlager ein gewaltiges Durcheinander, weshalb alle Lagerinstitutionen großen Mangel an Gebildeten litten. Nach der Lagerordnung aber kommandierte man diese Gebildeten – völlig unabhängig von deren Qualifikation – unverzüglich auf die »Gemeinschaftsarbeiten« ab, in diesem Falle auf die Holzfällerarbeiten. Man schickte dorthin sowohl Ingenieure wie Ärzte und Professoren. Und nun fällte die Intelligenz all dieser sechs Züge irgendwo im Walde die Bäume.

An und für sich war uns vor diesem Holzfällen nicht bange. Im Gegenteil, bei unseren körperlichen Voraussetzungen wären die Waldarbeiten leichter und bekömmlicher als die Nervenanspannung in irgendeiner Kanzlei des Lagers. Die Hauptsache lag aber nicht in der Schwere oder in der Leichtigkeit der Arbeit. Die Sache war vielmehr die, daß wir, auf die »Gemeinschaftsarbeiten« geraten, uns in unpersönliche Einheiten jener »Masse« verwandeln konnten, mit der die Sowjetmacht und der Sowjetapparat ganz ungenierlich umgehen. Mit der »Masse« vermengt, befindet sich dann der Mensch wie auf dem laufenden Band einer mechanischen und mechanisierten sinn- und erbarmungslosen Grausamkeit, die viel schlimmer als eine beliebige GPU wirkt. Hier in der »Masse« verliert der Mensch jegliche Möglichkeit, sein eigenes Schicksal zu bestimmen. Wenn wir auf die Gemeinschaftsarbeiten geraten wären, dann hätten wir unter einer ständigen Drohung gestanden, irgendwohin auf die zur Flucht ganz ungeeigneten Stellen verschickt zu werden, oder man hätte uns getrennt und in drei verschiedenen Unterlagern untergebracht. »Die Gemeinschaftsarbeiten« bargen noch viele drohende Gefahren in sich. Einmal hineingeraten, konnte man monatelang steckenbleiben. Vor den Gemeinschaftsarbeiten mußte man also Reißaus nehmen selbst dann, wenn das Risiko äußerst groß wäre.

 

Wir akklimatisieren uns

Wir kehrten um halb fünf Uhr morgens »nach Hause« zurück. Kaum hatten wir uns hingelegt und waren einigermaßen warm geworden, als schon die Schreie ertönten:

»Aufstehen!«

Es ist sechs Uhr morgens. Draußen noch tiefe Nacht. Durch die Ritzen der Baracke pfeift der Wind. Die Funzeln flackern kaum. In der Dunkelheit der Baracke beginnen die nicht ausgeschlafenen, durchgefrorenen und hungrigen Menschen sich langsam zu rühren. Der Stubendienst holt das Frühstück – je einen Becher dick gekochten Gerstenbrei pro Mann, selbstverständlich ohne jede Spur von Fett. Der Brei wird in einem fünfzehn Portionen fassenden Napf »serviert«. Löffel werden nicht gestellt. Über jeden Napf beugen sich etwa zehn Menschen, die sich den Mund voll von diesem ungenießbaren »Kitt« stopfen und eifersüchtig darüber wachen, daß keiner mehr erwischt als ihm zukommt. Die Portionen sind nach Augenmaß eingeteilt. Hinter den Zehn stehen die übrigen Teilnehmer dieses Festmahles, die mit noch größerer Eifersucht und noch größerer Gier auf den sich schnell leerenden Napf hinabstarren. Es sind jene, die keine Löffel haben. Sie warten auf das Ablösen. In der Baracke laufen noch vereinzelte Menschen hin und her, die aus irgendeinem Grunde keiner Eßgemeinschaft zugeteilt waren. Sie rufen die Gerechtigkeit an und reden über die Notwendigkeit des Essens. Es hilft aber nichts, wen sollen sie auch sonst noch anrufen. So bleiben sie hungrig. »Im Lager gibt's eine solche Ordnung«, sagt ein Arbeiter, einer von diesen unbußfertigen Seelen, »eine solche Ordnung, daß man verdammt auspassen muß. Hast du Maulaffen feilgehalten, dann bleibst du eben ohne Essen; du behältst davon die Lehre, und die Sowjetmacht spart eine Portion Gerstenbrei.«

An der Spitze unserer »Eßgemeinschaft« steht Boris, weshalb diese musterhaft organisiert ist. Er holte selbst den Gerstenbrei, verstand irgendwie etwas mehr herauszufeilschen als vorgeschrieben war, jedenfalls hat er mehr als die anderen bekommen; aus Holzspänen hat man kleine Schaufeln geschnitten, die die fehlenden Löffel ersetzten … Übrigens kam Boris nicht dazu, seinen Brei zu essen: man mußte »Maßnahmen« ergreifen, um sich vom Holzfällen zu drücken. Der Techniker, den wir im Wagen vor den Urkis in Schutz nahmen, wurde als Unterkolonnenführer einer der Arbeitskolonnen eingesetzt. Der erste Teil unseres strategischen Planes war der, in seine Kolonne zu kommen. Das ging ziemlich einfach. Dann erklärte ihm Boris, daß wir gar nicht die Absicht haben, zum Holzfällen zu gehen, und daß wir drei Tage brauchen, um irgend etwas auszuhecken, im übrigen wird einer von uns dreien stets bei den Sachen bleiben und bei der Gelegenheit auch seine, des Technikers, Habseligkeiten bewachen. Der Techniker war ein erfahrener Mann. Er hat bereits zwei Jahre im Petersburger Zwangsarbeitslager gesessen und von dort aus beim Bau eines GPU-Hauses mitgewirkt. Er trug uns in die Liste seiner Kolonne ein und war bereit, beim Appell unsere Namen nicht mit aufzurufen. Es war also unsere Aufgabe: erstens uns vom Appell und dem Abmarsch zu drücken und zweitens den Stubendienst zu beschwichtigen, zu dessen Obliegenheiten die Nachprüfung aller in der Baracke Zurückgebliebenen und ihre Meldung an die Obrigkeit gehörte. Es bestand noch die Gefahr, dem Kolonnenführer selbst ins Gesicht zu laufen; aber ich habe ihn bereits, allerdings nur flüchtig, gesehen: er machte einen gescheiten Eindruck, und folglich werden wir mit ihm schon irgendwie einig.

Den Appell haben wir auf eine verhältnismäßig einfache Weise geschwänzt: draußen war es noch dunkel. Wir verließen die Baracke, gingen zum Abtritt, von dort weiter und haben uns dann etwa vierzig Minuten auf dem Lagergelände mit äußerst geschäftiger und eiliger Miene herumgetummelt. Als die letzten Kolonnen außer Sicht waren, kehrten wir in die Baracken zurück, schläferten das Gewissen des Stubenältesten ein mit guten Reden, einer »Torgsinzigarette« und mit dem Versprechen, eine Eingabe behufs der Wiederaufnahme des Verfahrens in seiner Sache zu schreiben. Dann haben wir Kochwasser, zwar ohne Zucker, dafür aber mit Brot, getrunken und legten uns schlafen.

 

Eine psychologische Begegnung

Ausgeschlafen, hielten wir einen Kriegsrat ab. Es wurde beschlossen, Georg und ich sollten auskundschaften. Boris sollte als Wache in der Baracke bleiben. So konnte er es vermeiden, in seiner Eigenschaft als Arzt »mobilisiert« zu werden. Diese Arbeit war hauptsächlich wegen der moralischen Umstände um ein Vielfaches schlechter als Holzfällen; weiter war die Möglichkeit von kriminellen Streichen nicht ausgeschlossen. Und im Falle eines Faustkampfes konnte es Boris mindestens mit zehn Urkis aufnehmen, während Georg und ich eine solche Menge kaum bewältigen würden.

So schritt ich mit Georg langsam und solide aussehend die Lagerstraße einher. Gewiß war es keine besondere Freiheit, aber immerhin, man konnte rechts, man konnte auch links gehen. Nach den Korridoren der GPU, Aufsehern, Wachmannschaften und dergleichen war das schon ein Vergnügen … Und ausgerechnet führte uns der Teufel in die Arme des Kolonnenführers.

Ich hole aus der Tasche eine Zigarettenschachtel. Georg beginnt, englisch zu sprechen. Gewichtig und ohne Hast passieren wir den Kolonnenführer, und höflich, jedoch nicht ohne das Gefühl der eigenen Würde zu verlieren, als ob es auf dem Newskiprospekt wäre, lüften wir etwas unsere Sportmützen. Der Kolonnenführer sieht uns erstaunt an, legt jedoch seine Hand an die Mütze. Ich bin überzeugt, daß er uns nicht anhalten wird. Aber nach etwa zehn Schritten höre ich das Knirschen seiner Filzstiefel verstummen. Ich fühle, daß der Kolonnenführer stehengeblieben und sich nicht im klaren ist, warum wir nicht arbeiten, ob es sich lohnt, uns anzuhalten und eine diesbezügliche unbescheidene Frage zu stellen. Habe ich mich etwa geirrt? Da knirschen die Filzstiefel wieder und entfernen sich. Eine große Sache ist die Psychologie, in diesem Falle war es darum folgendermaßen bestellt: Der Kolonnenführer ist natürlich ein Vorgesetzter, jedoch ist er wie jeder sowjetistische Vorgesetzte unentschlossen und wankelmütig. Denn sowohl hier wie in der Freiheit gibt es eigentlich kein Gesetz. Es gibt lediglich die administrative »Geruhsamkeit«. Er kann auf gesetzlicher und noch mehr auf ungesetzlicher Grundlage den Menschen unter ihm allerhand Unannehmlichkeiten bereiten. Andererseits aber können ihm eine gleiche Masse von Unannehmlichkeiten die Menschen über ihm bereiten.

Durch seine Stellung, die der eines Wachhundes gleicht, war der Kolonnenführer verpflichtet, Unannehmlichkeiten zu bereiten. So entwickelt sich, wenn auch nicht immer, bei solchen Menschen auch die Witterung eines Hundes: die Unannehmlichkeiten, selbst die gesetzlichsten, kann man nur denjenigen bereiten, von denen man keine Unannehmlichkeiten als Erwiderung zu erwarten hat.

Jetzt stelle man sich, möglichst konkret bitte, die Psychologie eines solchen wackligen Kolonnenführers vor. – Es schlendern zwei, soeben mit dem Transportzug angekommene »Onkel« durch das Lager. Es ist klar, daß sie eigentlich bei den Arbeiten im Walde sein müssen, klar ist auch, daß sie sich von dieser Arbeit gedrückt haben. Doch sind sie zu gut angezogen, dazu raucht noch einer von ihnen eine Zigarettenmarke, die in der Freiheit nur von der höheren Schicht geraucht wird. Das Äußere macht einen intelligenten Eindruck, man kann sogar denken, den Eindruck eines Spezialisten. Der Gang ist selbstbewußt, und bei der Begegnung mit den Vorgesetzten – keinerlei Verlegenheit … eher eine Art von gönnerhafter Höflichkeit. Kurzum, es sind Menschen, die offensichtlich irgendwelche Gründe haben, sich so unabhängig zu verhalten. Welche eigentlich, weiß der Teufel; aber es sind Gründe.

Weiter. Diese »Onkel« anzuhalten und in den Wald oder sogar in Arrest zu schicken, wäre eine Kleinigkeit. Was hat das aber für einen Sinn, irgendeine Karriere kann man doch nicht darauf bauen. Und das Risiko? Zum Beispiel dieser »Onkel« mit der Zigarette im Mund kann nach einem Monat, vielleicht aber schon morgen, als Ingenieur, Planprojekteur oder Wirtschaftsprüfer auftauchen … und dann wird jede Unannehmlichkeit, auch die gesetzlichste, dem Kolonnenführer hundertfach vergolten …

Ich habe diesen Vorgesetzten schon früher gesehen. Sein Gesicht schien durchaus vernünftig. Ich war überzeugt, er wird vorübergehen … Nebenbei bemerkt hätte ich einen Monat später tatsächlich die Möglichkeit gehabt, diesen Vorgesetzten so anzublasen, daß ihm der Atem vergangen wäre … Und das aus einem ganz gesetzlichen Grund … So hat er klug getan, daß er vorbeiging …

Mit den unvernünftigen Menschen ist es jedoch schlimmer.

 

Die Theorie führt mich an

Am gleichen Tage hätte mich die sowjetistische Psychologie beinahe angeführt. Ich ging allein durch das Lager und hörte auf einmal einen scharfen Zuruf:

»Eh, Sie da, was spazieren Sie da herum?«

Ich wandte mich um und erblickte dasselbe Männlein mit dem stachligen Schnurrbart, den Leiter der Sanitätsabteilung des Lagers, der gestern unseren Transportzug mit der Abnahmekommission in Empfang nahm. Neben ihm standen noch drei weniger gebieterisch aussehende »Onkel«. Man sah, daß das Männlein bis auf die Knochen durchgefroren und daß seine Leber nicht in Ordnung war. Ruhig, gelassen und gar nicht ehrerbietig, sondern eher mit dem Aussehen einer desinteressierten Neugierde gehe ich auf die Gruppe zu. Gehe und denke mir, was soll ich eigentlich weiter tun?

Später habe ich erfahren, daß dieses schreiende und allerliebste Alterchen Doktor Schukwetz war, der von zehn Jahren bereits vier abgebrummt hatte, niemandem im Lager was zuleide tat, doch, wahrscheinlich infolge der schlechten Leber oder mehr wohl noch infolge des schlechten Lebens, mitunter sehr gern schnauzte. Aber das erfuhr ich erst später, im Moment kannte ich es noch nicht. Das Alterchen konnte auch nicht wissen, daß ich mich nicht nur einfach unerlaubterweise im Lager herumtrieb, sondern mit vollkommen konkreten Zielen – der Flucht ins Ausland. Auch konnte er nicht wissen, daß der Erfolg meiner Maßnahmen in bedeutendem Grade davon abhängig war, wieweit ich mich anschnauzen ließe.

Ich entschloß mich, aufs Ganze zu gehen.

»Sind Sie hier im Kurort oder im Zwangsarbeitslager?« fährt mich das Alterchen an. »Sie müssen sich der Lagerdisziplin unterordnen! Was soll das heißen! Im Lager umherschlendern und die Quarantäne durchbrechen?«

Ich schaue mir das Alterchen an – aufmerksam, jedoch nicht ängstlich, sogar etwas lächelnd. In Wirklichkeit war ich aber durchaus nicht so ruhig, wie ich aussah. Einen Angriff ausgerechnet von dieser Seite hatte ich nicht erwartet. Was soll ich nun machen?

Ich hole aus der Tasche meine Musterzigaretten.

»Sehen Sie, Genosse Doktor … wenn Sie meine Spaziergänge im Lager interessieren, dann denke ich, daß der Abteilungsleiter Ihnen hierüber eine erschöpfende Auskunft geben wird. Ich bin nämlich zu ihm bestellt.«

Abteilungsleiter, das klingt stolz. Meine Worte nachprüfen kann und wird das Alterchen nicht. Er muß doch Verdacht schöpfen: wenn man mich bereits am Tage nach meiner Ankunft im Lager zum Abteilungsleiter bestellt, dann bin ich kein gewöhnlicher Lagerinsasse. Es gibt genügend Prominenz, die ins Lager gerät! …

»Niemand darf die Quarantäne durchbrechen. Auch der Abteilungsleiter nicht«, schnauzt der Alte weiter aber bereits sanfter. Die weniger gebieterisch aussehenden »Onkel«, die hinter seinem Rücken stehen, lächeln mir teilnehmend zu.

»Sie müssen doch selbst einsehen, Genosse Doktor: Ich habe entschieden keine Möglichkeit, den Abteilungsleiter darauf hinzuweisen, was er zu tun und zu lassen hat. Und dann wissen Sie doch selbst, daß es im Grunde genommen keine Quarantäne gibt.«

»Eben deshalb gibt es keine, weil allerhand geehrte Herren Ihrer Art im Lager umherschlendern … und die Sanitätsabteilung hat dann die Verantwortung. Gehen Sie sofort in die Baracke zurück!«

»Mir ist aber befohlen, abends im Abteilungsstab zu sein. Wessen Befehl soll ich nun ausführen?«

Das Männlein wird offensichtlich unsicher. Er will sich aber noch nicht ganz geschlagen geben.

»Sehen Sie, Doktor«, setze ich im vertraulich teilnehmenden Tone fort, »es ist doch eine idiotische Lage. Wie kann man hier von einer Quarantäne sprechen? Hunderte von Stubenältesten laufen im ganzen Lager umher, in den Küchen, in den Brot- und Zeugkammern … Desorganisation. Sinnlosigkeit. Damit werden wir zu kämpfen haben. Rauchen Sie? Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?«

»Danke, bin Nichtraucher.«

Die halbgebieterischen »Onkel« nehmen je eine Zigarette.

»Sind Sie Ingenieur?«

»Nein, Planprojekteur.«

»Da haben wir es, diese Planprojekteure und ihre dummen Pläne! Nach dem Plan muß ich zwanzig Ärzte in meiner Sanitätsabteilung haben, habe aber keinen einzigen.

»Dann hat eben die GPU den Plan noch nicht erfüllt. – Einzelne Ärzte laufen in Moskau auf den Straßen noch frei umher.«

»Sind Sie schon lange von Moskau fort?«

Nach zehn Minuten trenne ich mich von dem Alterchen, nachdem wir uns die Hände geschüttelt haben. Ich verspreche ihm, in meinen »Plänen« die Notwendigkeit einer unnachsichtigen Durchführung von Quarantäneregeln vorzusehen. Mache mich bekannt mit den halbgebieterischen »Onkeln«: der eine ist Sanitätsinspektor in Pogra, die beiden anderen Ingenieure. Einer von ihnen bleibt noch stehen und zündet sich an meiner seine erloschene Zigarette an.

»Schneidig haben Sie sich herausgewunden … die Sache ist nur die, daß der Abteilungsleiter gegenwärtig überhaupt nicht in Pogra ist.«

»Theoretisch dürfte man doch annehmen, daß ich mit ihm telefoniert habe … im übrigen, was soll man machen? Man muß manchmal auch etwas riskieren können.«

»Und das Alterchen brauchen Sie nicht zu fürchten. Eine Seele von einem Alterchen. Spielen Sie Skat? Dann kommen Sie gelegentlich in unseren Verschlag, werden ein paar Runden spielen. Dann erzählen Sie uns noch mehr von Moskau.«

 

Was ein ernstes Wort bedeutet

Ein großer zweistöckiger Holzbau. Darin verschiedene Zimmerchen, Winkelchen, Verschläge aus Furnierholz, Brettern und dergleichen. Das Ganze mit Menschen angefüllt, die vom Hunger, von schlaflosen Nächten, von unerträglicher Arbeit, von dem ewigen Hin und Her, von »Sturmaufgaben«, »Samstagnachmittagen« und sonstigen »Kampagnen« total ausgemergelt sind … Kälte, Machorkarauch und der Dunst von zahlreichen Eisenöfchen. Türen mit den Überschriften PEO, OAO, URA, KEA … Es soll einer daraus klug werden, was darunter zu verstehen ist: »Planungsökonomische Abteilung«, »Allgemein-administrative Abteilung«, »Registrations- und Verteilungsabteilung«, »Kultur-Erziehungsabteilung« … Ich gehe an diesen Schildern der Reihe nach vorbei. PEO wäre zu gebrauchen; aber dort sind augenblicklich die Leiter abwesend. OAO taugt nichts. URA – zum Teufel damit! KEA würde gehen, also gehe ich in die KEA.

In dem Chef dieser Abteilung erkenne ich jenen behenden Burschen mit den weißgewordenen Ohren, der während der Ausladung seine schönen Reden hielt. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, daß er doch nicht so jung ist. Ein vernünftiges Gesicht, kluge, etwas spöttische Augen.

Na, mit diesem kann man schon ein ernstes Wort reden, denke ich.

Der Ausdruck »ein ernstes Wort« braucht eine sehr ausführliche Erklärung; denn sonst wird man nichts verstehen. Die Sache ist die, ganz summarisch gesprochen: von hundert Prozent aller seitens der Sowjetintelligenz aufgewendeten Bemühungen treffen neunzig Prozent bestimmt ins Leere. Wie einen Trödler hat die Sowjetunion den Intellektuellen mit allerhand Flitterkram behangen: Enthusiasmus, einen Wust von Verordnungen, unerfüllbaren Aufgaben und unmenschlichen Forderungen.

Stellen Sie sich vor, daß Sie Arzt in irgendeinem Krankenhaus sind; aber nicht in einem »Musterkrankenhaus« in Moskau mit allem Drum und Dran, sondern in einem gewöhnlichen irgendwo in der Provinz. Man verlangt von Ihnen, daß Sie Ihre Kranken gut ernähren, daß Sie sie gut behandeln, daß Sie gemeinschaftserzieherische Arbeit unter den Krankenwärtern, -wärterinnen und Schwestern leisten, daß Sie die Arbeitsdisziplin heben, daß Sie sozialistischen Wettbewerb und Sturmarbeit organisieren, daß Sie vor Enthusiasmus übersprudeln und den von Ihren Untergebenen ausströmenden Enthusiasmus berechnen, daß Sie vollkommen in dem dialektischen Materialismus und der Parteigeschichte beschlagen sind, daß Sie an der Arbeit des Berufsverbandes und an der Herausgabe der »Wandzeitung« teilnehmen, daß Sie unter den Einwohnern der näheren Umgebung Sanitätspropaganda machen und so weiter und so weiter.

Nichts von dem können Sie eigentlich tun. Sie können die Ernährung nicht bessern, weil die Lebensmittel nicht ausreichen, und das Vorhandene wird im stillen von den Krankenwärterinnen aufgefuttert, da diese nur siebenunddreißig Rubel pro Monat bekommen und infolgedessen ohne zu klauen nicht leben können. Sie können nicht richtig behandeln, weil Sie keine Medikamente haben: statt Jod gibt es Brompräparate, statt Chloroform Chloräthyl (sogar bei schweren Operationen), statt Calomel – Glaubersalz. Es gibt kein Verbandszeug und keine Instrumente. Doch dürfen Sie offiziell nicht erklären, daß Sie all das nicht haben – Sie haben dazu kein Recht; denn man nennt es »Diskreditierung der Macht«. Sie können keinen sozialistischen Wettbewerb organisieren, nicht nur deshalb, weil es Unsinn ist, sondern wenn Sie sich halbwegs ernstlich damit befaßten, würde Ihnen für nichts anderes mehr Zeit bleiben. Aus dem gleichen Grunde können Sie nicht den Enthusiasmus bei den anderen irgendwie berechnen, auch nicht den Beschluß der 1000 und einen Tagung der »MOPR« durcharbeiten. Man verlangt all diesen Unsinn zwar nicht mit vollem Ernst, doch außerordentlich beharrlich. Es ist gar nicht nötig, daß Sie ernsthaft irgendeinen sozialistischen Wettbewerb durchführen; denn jeder Narr versteht ungefähr, daß es für die Katz ist, doch ist es notwendig, daß Sie wenigstens den Anschein geben, daß der Wettbewerb auch hundertprozentig durchgeführt wird. Das versteht ungefähr jeder Narr; aber nicht der sogenannte Sowjetaktiv, der auf all dieses: MOPR, Enthusiasmus »Sturm«arbeit und so weiter abgerichtet ist, dafür aber sonst keine Kenntnisse hat und sich im Leben an nichts anderes klammern kann. Nun stellen Sie sich vor, daß Sie von irgendwoher einen Mitarbeiter aufgehalst bekommen, der den ganzen Unsinn ernst nimmt. Es könnte ihm als unzulänglich erscheinen, daß die Vorschriften über den sozialistischen Wettbewerb im Krankenhaus von Dingsda oder im Krankenhaus von Buxtehude lediglich friedlich an der Wand hängen. Er verlangt im Namen der »Gemeinschaft« oder, was noch schlimmer ist, durch die Parteizelle, daß Sie alle Punkte dieser Vorschrift in die Tat umsetzen. Nach den sowjetistischen »Direktiven« sind Sie angehalten, das zu tun. Aber es steht in dieser Vorschrift zum Beispiel: Beide wetteifernde Teile sind verpflichtet, das Ungeziefer auf die Mindestzahl herabzudrücken, und nun versuchen Sie mal nachzuprüfen, in welchem Krankenhaus es mehr und in welchem es weniger Läuse gibt. Ähnlicher Punkte sind es aber ungefähr sechzig … Oder eines schönen Tages platzt eben dieser »Onkel« bei der Sitzung der kommunistischen Zelle heraus: unser Arzt muß einen Vortrag über den dialektischen Materialismus bei Magenkrankheiten ausarbeiten … Versuchen Sie es mal, ob Sie es fertigbringen … Oder der gleiche Unglücksrabe erspäht, daß irgendeine vor Hunger wie eine Mumie aussehende Krankenwärterin irgendwo in einem stillen Winkel heimlich Brei löffelt, und schon erscheint es in irgendeinem Kreisblatt: »Unterschlagung des Volksbreies im Krankenhaus von Dingsda«. Oder es kommt einfach zu einer »instanzgemäßen Denunziation«, und nun kriegen Sie eine aufs Dach, und Ihre Krankenwärterin wandert ins Zwangsarbeitslager, wobei Sie den Ersatz nicht so ohne weiteres finden werden … Oder dieser Unruhestifter beginnt zu randalieren: »Warum laufen bei euch die Krankenwärterinnen mit schmutzigen Visagen herum: das ist doch ›antisanitärisch‹?« Sie können ihm aber nicht antworten: »Ach, du Hundesohn, du weißt doch selbst nur zu gut, daß es am Ende des zweiten Fünfjahresplanes pro Kopf der Bevölkerung nur ein halbes Stück Kernseife gibt, woher soll ich mehr nehmen?« Na und so weiter. Kurzum, man macht Ihnen das Leben sauer und die Arbeit unmöglich, Ihr Personal wird davonlaufen, Ihre Kranken werden krepieren und Sie selbst in ein Zwangsarbeitslager geraten, und zwar wegen »grober Vernachlässigung« Ihres Amtes.

Deshalb gehörte es grundsätzlich zum guten Ton unter den vernünftigen Sowjetmenschen bei verschiedenen geschäftlichen Gesprächen, daß man die Ernsthaftigkeit irgendeines Enthusiasmus gar nicht berührte und im übrigen sich etwa auf folgende Formulierung einigte: Wenn nur nach Möglichkeit die Leute nicht krepieren, und sonst hol der Teufel den Enthusiasmus, den Aufbau und die Fünfjahrespläne.

Vom kommunistischen Standpunkt aus ist es ein Schädlingsprinzip. Die Menschen, die für die Schädigung sitzen, sitzen meistens gerade deshalb, weil sie dieses Prinzip durchführten.

Es gibt auch schwierigere Fälle. Der gleiche Enthusiasmus, der die sogenannten »sozialistischen Formen der Arbeitsorganisation« annimmt, untergräbt vollkommen die Möglichkeit jedweder Arbeit. Hier ein wenn auch kleines, so doch mit Verlaub zu sagen geschichtliches Beispiel.

Es war im Jahre 1929; die sowjetistischen Sportverbände pfiffen auf dem letzten Loch. Es gibt soviel wie nichts zu essen, und den Leuten ist gar nicht sportlich zumute. Wir, die wir an der Spitze dieses Sportes standen, wenden gewaltige Bemühungen auf, um wenigstens den Prozeß des Zerfalles aufzuhalten und um der Jugend, wenn nicht ein ernsthaftes Training, dann wenigstens die Möglichkeit zu geben, sich in reinerer Luft herumzutummeln, damit, wenn auch ganz gering, der Prozeß einer körperlichen Degeneration aufgehalten wird. Gleichzeitig mit der Steigerung der Hungersnot im Lande vergrößert sich der Prozeß der Radikalisierung nach links. Aus diesem Prozeß hat schon mancher Karriere gemacht …

Das Gebiet der Sportkultur ist kein besonders »stürmisches«, und man ließ uns einstweilen in Ruhe. Plötzlich aber erschien auf der Oberfläche irgendeine Gruppe von Aktivisten: »Erlauben Sie mal? Warum bleibt bei Ihnen die Sportkultur apolitisch? Warum machen Sie keine Propaganda für den Fünfjahresplan, für den Kommunismus, für die Weltrevolution?« Und siehe da, ein Projekt erscheint: Beim Training und sonstiger Betätigung muß der Instruktor eine Pflichtdiskussion über politische Themen von mindestens zehn Minuten abhalten.

All diese »politischen Themen« hängen dem Publikum bis zum Halse heraus – sowieso wird man mit ihnen in der Schule, in der Presse und wo Sie nur wollen vollgespickt. Diese Diskussionen in die an sich ganz freiwilligen Verbände einzuführen, hätte deren völlige Auflösung zur Folge; denn niemand würde mehr kommen. Man hat diese Frage auf die Sitzung des Präsidiums der WCSPS Zentralsportverband der Sowjetunion. angesetzt. Ein »Aktivist« trägt vor. Das Publikum im Präsidium ist kein dummes Publikum. Ich sagte vor der Sitzung zu Dogadoff, dein Sekretär des WCSPS:

»Dieses Projekt wird uns noch ohne Messer den Hals durchschneiden.«

»Jawohl, ein durchaus idiotisches Projekt. Aber …«

Der Aktivist trägt vor, und das Publikum schweigt, nur Uglanoff, damals Volkskommissar der Arbeit, zuckt erstaunt die Achseln:

»Wozu denn das? … Der Arbeiter kommt zum Badestrand, um, sagen wir, zu schwimmen oder zu baden oder sich einfach in die Sonne zu legen, auszuruhen, neue Energie zu schöpfen … und da wollen Sie ihm eine politische Diskussion vorsetzen? Meiner Ansicht nach ist es nicht nötig.«

Ja, ein Jahr später hat man Uglanoff diese Worte vorgehalten … und die übrigen, darunter auch Dogadoff, schwiegen sich aus, hm-hm, und das Projekt wurde angenommen. Hunderte von Instruktoren fuhren für die »Sabotage der politischen Arbeit im Sportwesen« nach Sibirien. Die Arbeit der Einzelverbände war somit zerfallen.

Der Aktivist pfeift aber darauf: er macht seine Karriere; er hat innerhalb der Sowjetmaschinerie bereits einen »Führungsring« gepackt, der den Sport zwar vernichtet, ihn aber ganz bestimmt näher zu der Obrigkeit bringen wird. Was geht ihn auch der Sport an? Heute untergräbt er den Sport und ersteigt eine Sprosse der Parteileiter. Morgen wird er irgendein Kolchos ruinieren und ist wieder eine Sprosse höher … aber mir ist es nicht gleichgültig. Ich arbeite für den Sport seit fünfundzwanzig Jahren …

Etwas habe ich doch herausgeknobelt. Zwei Tage lang saß ich über den entsprechenden »Direktiven« und sandte sie an alle mir unterstellten Unterverbände des Berufsverbandes der Sowjetangestellten. Meine Direktiven enthielten alles Erforderliche – Enthusiasmus, »Klassenwachsamkeit« und die Programme zu den »Zehn-Minuten-Diskussionen«. Die letzteren hatten folgenden Inhalt:

Griechische Olympiaden, Sportpflege in den gemeinschaftlichen Formationen bei den Sklavenstaaten; mittelalterliche Turniere und militärische Ausbildung der regierenden Klasse des Feudalismus. Das angelsächsische System des Sportes – das Spiel, Leichtathletik als ein System der Epoche des verfaulenden Kapitalismus … na, und so weiter. Fein gemacht, nicht daran zu tippen! Von dem »drohenden Imperialismus« blieb dabei praktisch nichts; aber über die Leichtathletik konnte man sich lange genug unterhalten … indessen wurden nach einem halben Jahr diese Zehn-Minuten-Diskussionen automatisch liquidiert: es stellte sich kein einziger Zuhörer mehr ein.

Die sowjetistische Mißwirtschaft, von der sich allerhand dunkle und einfach gehirnlose Elemente ernähren und durch sie ihre Karriere machen, schiebt von Zeit zu Zeit diese neuen »Organisationsmethoden« vor … Es ist nicht möglich, dagegen anzukämpfen oder sie zu ignorieren. Die Gruppe des Ingenieurs Paltschinski wurde bekanntlich erschossen; in der offiziellen Anklage lautete ein Punkt, daß Paltschinski gegen die ununterbrochene Benutzung der Eisenbahnwaggons eintrat. Gegen diese Verkehrssünde hat er gekämpft und wurde dafür erschossen. Fünf Jahre später hatte diese »ununterbrochene Ausnützung« zur völligen Lahmlegung des gesamten Waggonparks geführt und wurde als schädlich und verantwortungslos angeprangert. Etwa dreihundert Professoren, die gegen die Verkürzung der Unterrichtszeit und der Programme der Hochschulen protestiert hatten, mußten nach den Solowetzki-Inseln fahren. Drei Jahre später war man gezwungen, die Zeit und die Programme wieder bis auf das ursprüngliche Maß auszudehnen und die Professoren zum Zwecke der Nachbildung zurückzurufen. Man führte die Arbeit »ohne Pause« ein, die ein glatter Idiotismus war und wegen der viel Volk ins Jenseits oder nach den Solowetzki-Inseln befördert wurde.

Wenn ich seinerzeit offen gegen die Zehn-Minuten-Vorträge aufgetreten wäre, dann wäre ich fünf Jahre früher in das Zwangsarbeitslager gefahren, als es mir das Schicksal nun beschert hat … Der sozialistische Wettbewerb und die Sturmarbeit, der Aufbau-Enthusiasmus, die sozialistische Vielämterei und Berufskontrolle, »leichte Kavallerie« Spöttische Bezeichnung der Bevölkerung für allerhand »fliegende Aufgaben« des Komsomols und der Parteigliederungen: Kontrolle der Lebensmittelkarten, Ausweise, Getreideablieferung und so weiter. und die »Säuberung« der Ämter und Institutionen, das alles sind wissentlich idiotische Arten der »sozialistischen Organisation«, die Milliarden Rubel und Millionen Menschenleben kosten, die unweigerlich früher oder später mit einem Krach enden, gegen die aber der einzelne nichts ausrichten kann. Die Sowjetunion fußt auf den rechtlichen Bedingungen eines Absolutismus, der als aufgeklärt scheinen will, der aber in Wirklichkeit auf dem Niveau orientalischer Despotie mit ihren Söldlingen, ihrer Sklaverei und ihren Paschas steht. Man könnte mir entgegnen, daß all das viel zu unsinnig sei, um wahr zu scheinen; aber ist es denn nicht unsinnig und doch wahr, daß die einhundertsechzig Millionen Bewohner eines fruchtbaren und geräumigen Landes schon seit siebzehn Jahren Hungers sterben? Ist es denn nicht unsinnig, wenn man für das »Palais« der Sowjets Hunderte von Millionen Rubel verschwendet, um diesen Babelturm der Weltrevolution zu bauen, während in Moskau drei Familien in einem Zimmer hausen müssen? Ist es denn nicht unsinnig, daß man tagein tagaus, im Sommer und im Winter mit gewaltigen Opfern den Bau von »Dneprstroj« angetrieben hat, und jetzt läuft dieses größte Elektrizitätswerk Europas, wenn nicht der Welt, nur mit zwölf Prozent der Nominallast? Ist es nicht unsinnig, den schwarzen Boden des Kubangebietes zu ruinieren, zu gleicher Zeit aber Treibhäuser hinter dem Polarkreis bei Murmansk zu errichten? Ist es nicht unsinnig, durch Futtermangel den größten Teil der Pferde-, Rinder- und Schweinebestände eingehen zu lassen, dann Millionen für die Kaninchenzucht zu vergeuden, um schließlich und endlich sich mit der Zähmung des karelischen Elches oder des Kamtschatkabären zu befassen? Ist es nicht unsinnig, auf den Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals in die Polartundra sechzigtausend Usbeken und Kirgisen zu verschicken, die dort nach einem halben Jahr fast alle ausgestorben waren?

All das ist ein schreiender Unsinn, doch ist dieser Unsinn bis an die Zähne bewaffnet. Hinter seinem Rücken stehen die Maschinengewehre der GPU, und so ist nicht dagegen anzukämpfen.

 

Die russische Schindermähre

Ich möchte hier eine Sache unterstreichen, auf die zurückzukehren ich in den vorliegenden Aufzeichnungen kaum Gelegenheit haben werde. All diese greuelhaften Zustände bedeuten in keiner Weise, daß der unglückselige Sowjetarzt überhaupt nicht behandelt. Er tut es sogar gut – selbstverständlich entsprechend seinen materiellen Möglichkeiten. Soweit ich beurteilen kann, behandelt er sogar besser als der westeuropäische Arzt, auf jeden Fall gewissenhafter. Das aber durchaus nicht deshalb, weil er ein Sowjetarzt ist. Ebenso wie der Flieger Molokoff ein guter Flieger durchaus nicht deshalb ist, weil er ein Sowjetflieger ist.

Auch Iljin, von dem ich gleich erzählen werde, hat bei seiner ganzen Murkserei immerhin irgendwelche Kurse für Schichtmeister, Traktoristen und dergleichen organisiert. Ich selbst, bei all meinen Vorzügen und Nachteilen, habe es doch verstanden, etwa fünfzehn Millionen berufsverbändliche Rubelchen herauszufischen, die eigentlich für allerhand dialektische Betölpelungen der Berufsmassen vorgesehen waren, und erbaute für dieses Geld etwa fünfzig Sportplätze, Sportparks, Strandbäder und anderes mehr. Das alles ist ziemlich schäbig gebaut; aber es ist immerhin besser als dialektischer Materialismus, so daß die große allunionistische Mißwirtschaft nicht bedeuten soll, daß ich, ein Arzt, ein Ingenieur oder sonst jemand nur das Scheinbare schaffen. Ich entsinne mich, wie Gorki in seinen »Memoiren über Lenin« seine eigenen Worte zitiert, wonach die russische Intelligenz die einzige Schindermähre bleibt, die den Wagen der russischen Kultur schleppt und noch lange Zeit schleppen wird. Heute sitzt Gorki mit auf dem Regierungskutschbock, und gemeinsam mit den anderen Kutschern peitscht er diese Schindermähre, was das Zeug hält. Die Schindermähre steckt bis über die Ohren in dem Dreck der Mißwirtschaft, sie zieht aber immerhin … denn es gibt sonst niemand mehr, der ziehen will und kann … Ihr Verhältnis zu den Leuten, die ihr auf diesen ohnehin unbefahrbaren Weg noch diversen Unrat werfen, wird von Tag zu Tag gespannter.

In einem Zwangsarbeitslager sind »Enthusiasmus« und »Umschmiedung« die grundlegendsten Arten der Dreckwirtschaft. Der Enthusiasmus im Lager ist ungefähr der gleiche und von selber Herkunft wie in der Freiheit, und an Umschmiedung ist hier nicht mal zu denken. Es sei denn, daß das Lager einen Gelegenheitsdieb in einen Banditen verwandelt oder den von der Kollektivisation ganz meschugge gewordenen Bauern in einen abgehärteten und verbissenen Konterrevolutionär. Einen solchen, der, nachdem er sich in eine kommunistische Gurgel verbissen hat, dieses Vergnügen nach Möglichkeit recht lange auskosten wird … Aber wehe dem, der irgendwo an einem sozusagen offiziellen Ort sich erlauben wird, den Enthusiasmus oder die Erfolge der Umschmiedung anzuzweifeln. Ungefähr ebenso wird es ihm ergehen, wenn neben ihm ein Mensch arbeitet, der all diese Parolen entweder ernst nimmt oder versucht, aus diesen ein sowjetistisches Kapitälchen herauszuschlagen …

 

Ein ernstes Wort …

Sie kommen geschäftlich zu einem Menschen. Wenn er parteilos und vernünftig ist, dann werden Sie mit ihm gleich einig. Wenn er vernünftig und Parteimensch ist, dann ist es schon schwieriger; aber man kann sich einigen. Wenn er parteilos und unvernünftig ist, dann meiden Sie ihn lieber, sonst führt er Sie an. Wenn er aber unvernünftig und Parteimensch ist, dann – Gott beschütze Sie – landen Sie unverzüglich im Zwangsarbeitslager oder, wenn Sie schon da sind, geraten Sie auf den »faulen Fluß«, eine besonders furchtbare Stelle im BBK-Lager.

Mit ungefähr ähnlichen Gedanken betrete ich den Raum der KEA. Ein halbes Dutzend zerlumpter Individuen pinselt irgendwelche »Parolen«. Das andere halbe Dutzend schreibt, und das dritte läuft unnütz hin und her. Mit einem Wort, »es braust der fröhliche sozialistische Aufbau«. Ich erblicke den Jüngling, der die Begrüßungsansprache bei unserer Ankunft gehalten hat, stelle fest, daß er eigentlich gar nicht so jung ist und durchaus vernünftige Augen hat.

»Sagen Sie mir bitte, ob ich den Abteilungsleiter, Genossen Iljin, sprechen kann?« – »Der bin ich.«

Flüchtig betrachte ich mir diesen Teil »des fröhlichen Aufbaues« und mein Gegenüber. Ich bemühe mich, mit meinem Blick ungefähr den Gedanken auszudrücken:

»Murks in vollem Gange?«

Der Leiter der KEA antwortet mir mit dem Blick, den man etwa so übersetzen könnte:

»Und ob! Sehen Sie, wie wir uns eingefuchst haben …«

Danach stellt sich zwischen uns beiden völlige Harmonie ein.

»Gehen wir in mein Kabinett …«

Ich folge ihm. Das Kabinett ist ein elender Bretterverschlag mit einem roh gezimmerten Tisch und zwei Stühlen, von denen einer nur drei Beine hat.

»Nehmen Sie, bitte, Platz. Wie ich sehe, haben Sie sich von der Arbeit gedrückt?!«

»Ich bin überhaupt nicht dort gewesen.«

»Hm … gestern dort beim Ausladen, war das etwa Ihr Bruder?«

»Sowohl mein Bruder wie mein Sohn waren dabei. Mit Verlaub zu sagen, sie entzückten sich an Ihrer Redekunst.«

»Lassen Sie das. Ich habe mich immerhin bemüht, alles möglichst kurz zu machen.«

»Möglichst kurz? Zwanzig Minuten lang haben Sie die Menschen mit Ihrer Rede bei dem starken Frost gedrillt.«

»Weniger darf man nicht, sonst muß ich selbst büßen. Reglement.«

»Na, wenn es im Reglement steht, dann kann man auch die Ohren opfern. Was ist übrigens mit ihnen?«

»Weiß der Teufel – die siebente Haut schält sich schon ab. Na, ich sehe erstens, daß Sie in meiner Abteilung arbeiten wollen, zweitens, daß Sie hierfür ganz ungeeignete Paragraphen haben, und drittens, daß wir mit Ihnen schon irgendwie einig werden.«

Iljin betrachtet mich triumphierend.

»Ich weiß eigentlich nicht, worauf Ihre zweite Begründung gestützt ist.«

»Lassen wir das. Ich habe ein geübtes Auge. Wofür könnten Sie denn sitzen: Amtsüberschreitung, Schädigung, Diebstahl, Konterrevolution. Wenn Sie der Amtsüberschreitung schuldig wären, dann wären Sie zu der administrativen Abteilung gegangen, Schädigung – in die Produktionsabteilung. Der Diebstahl wirkt immer in der wirtschaftlichen Hinsicht, wohin soll aber ein wahrhaftiger Konterrevolutionär, wenn nicht in die kulturerzieherische Abteilung? Ist doch logisch.«

»Weiter gibt es nichts?«

»Ja, aber die Sache ist die, daß wir nach dem Gesetz keine Konterrevolutionäre hier aufnehmen dürfen. Wie ich vermute, haben Sie auf den breiten Gebieten der Konterrevolution irgendeine ganz besonders tadelnswerte Position eingenommen.«

»Und woraus kann man das schließend

»So … es sieht nicht so aus, als ob Sie für eine Kleinigkeit säßen. Sie entschuldigen mich, aber Ihre Physiognomie ist, vom sowjetistischen Standpunkt aus, äußerst unzuverlässig. Sitzen Sie zum erstenmal?«

»Ungefähr zum ersten.«

»Merkwürdig.«

»Na, dann wollen wir Sherlok Holmes und Dr. Watson spielen. Also was haben Sie in meiner Physiognomie gefunden?«

Iljin starrte mich an und bewegte unschlüssig die Finger.

»Na, wie soll ich Ihnen das sagen? … Verwegenheit. Die Frechheit, sich seine eigene Meinung zu bilden. Sie riechen so nach einer kritisch denkenden Persönlichkeit, und das liebt man bei uns nicht.«

»Ja, das liebt man nicht«, pflichtete ich bei.

»Na, das ist nicht so wichtig. Wenn Sie bei all diesem soviel Jahre in der Freiheit unbehelligt blieben – ich bin hier bereits fünf Jahre –, dann werden Sie sich bestimmt auch im Lager orientieren können. Also, was können Sie mir Konkretes Vorschlägen?«

Ich mache konkrete Vorschläge.

»Wie ich sehe, sind Sie kein Mensch, sondern ein Warenhaus. Betrachten Sie sich als angenommen. Renommieren Sie nicht besonders mit Ihren Paragraphen. Was haben Sie übrigens für Paragraphen?«

Ich melde.

»Oho! Dann schweigen Sie lieber ganz. Bis man zu sich kommt, werden Sie schon eingearbeitet sein, und man läßt Sie in Ruhe. Na, kommen Sie morgen. Ich muß jetzt laufen, vor dem soeben eingetroffenen neuen Transport die Rede halten.«

»Geben Sie mir irgendein Papierchen, damit man nicht in den Wald zieht.«

»Eh, spucken Sie drauf, oder schreiben Sie sich selbst eins.«

»Was heißt das, selbst?«

»Sehr einfach: der und der wird von der KEA zur Arbeitsleistung angefordert. Stempel? Unterschrift? Sie haben keinen Stempel. Ich auch nicht. Und die Unterschrift – ob meine oder Ihre, wer wird dahinterkommen?«

»Hm«, sage ich.

»Sagen Sie, haben Sie denn in der Freiheit immer nach den richtigen Ausweisen gelebt, gereist und gegessen?«

»Und haben Sie solche Menschen gesehen?«

»Dann also. Gewöhnen Sie sich an den schweren Gedanken, daß Sie auch im Lager nach den ›entsprechenden‹ Ausweisen leben, reifen und essen werden. Bei der Gelegenheit schreiben Sie ein Papierchen auch für Ihren Bruder und Ihren Sohn, morgen werden wir es schon auseinanderklamüsern. Na – einstweilen … Wegen der Ausweise können Sie bei unserem Dichter Ehrenburg nachlesen. Dort steht es alles geschrieben.«

»Schon geschehen. Also bis morgen!«

Die Prophezeiung Iljins ging nicht in Erfüllung. Im Lager lebte ich, bewegte mich und aß ausschließlich nach den echten Ausweisen – unglaublich, aber Tatsache. Zur KEA kam ich nicht. Iljin habe ich seitdem nicht wieder gesehen.

 

Hindernisrennen

Die Ereignisse dieses Tages gingen dann stürmisch und unberechenbar vor sich. Nachdem ich Iljin verlassen hatte, traf ich auf der Straße Georg in Begleitung eines Mannes von der Innenwache. Meine ursprüngliche Sorge verflog als übertrieben: man schleppte Georg in die dritte Abteilung, die GPU des Lagers. Er sollte Maschinist werden, nicht an einer Lokomotive, sondern an einer Schreibmaschine. – Mit diesen seinen Talenten kehrte er bei der Planungsabteilung ein, und irgendein zufällig anwesender Kerl aus der dritten Abteilung hatte ihn für sich »angeworben«. Irgendwelche Ausdrücke des Bedauerns wären zwecklos gewesen. Andererseits könnte uns die Anwesenheit Georgs in der dritten Abteilung sehr nützlich sein, um die Verteilung der Geheimpatrouillen um das Lager herum auszukundschaften, das Fangsystem der Flüchtlinge zu erkunden und vielleicht die Karte und sonstige für die Flucht äußerst wesentliche »Voraussetzungen« zu ergattern.

Ich kehrte in die Baracke zurück und löste Boris ab. Boris verschwand, um mit den ukrainischen Professoren Fühlung zu nehmen – so nebenbei, auf alle Fälle; denn ich dachte, daß wir alle bei Iljin unterkommen würden.

In der Baracke war es sehr kalt, dunkel und widerlich. Es schlenderten einige Urkis herum und schielten mit holdem Wohlgefallen nach unseren Rucksäcken. Doch ich saß auf der Stellage in der Pose eines Krafthelden, und neben mir lag ein gewichtiges Holzscheit. Die Urkis leckten sich die Finger ab und tauchten unverrichteter Dinge in der Dunkelheit der Baracke wieder unter. Von dort, aus dieser Dunkelheit erschollen von Zeit zu Zeit Geschrei und Geschimpfe, Hilferufe und alles, was sich in solchen Fällen ereignet. Eine von diesen Banden ging abseits, nachdem sie die Rucksäcke, mich und das Holzscheit betrachtet hatte, dorthin, wo das Licht der Funzel nicht mehr hinreichte, und ich hörte die mit Nachdruck ausgesprochenen Beteuerungen:

»Warte nur, du elender Satanskerl, du Hornochse – einmal werden wir dich schon ohne deinen Knüppel erwischen!«

Boris war von dem Besuch bei den ukrainischen Professoren zurückgekehrt. Eine neue Möglichkeit war vorhanden: die Professoren arbeiteten bereits in der RVA Registrations- und Verteilungsabteilung. in Podporog. Dort war ein großer Mangel an Arbeitskräften, die Arbeit war scheußlich, dafür gab's kein Barackenleben, keinen Drahtverhau, keine Urkis und dergleichen. Man konnte sich entweder in einem Zelt oder in einer Bauernhütte einrichten. Auch elektrische Beleuchtung war da. Im allgemeinen, mit Pogra verglichen, schien Podporog so etwas wie eine Weltstadt zu sein. Die Aussicht war also verlockend …

Auch Georg kam nach einer Stunde wieder. Er zeigte ein nachdenkliches und konfuses Wesen. Auf mein Befragen antwortete er etwas nebelhaft, als ob er andeuten wollte: ich erzähle schon später. Doch durfte man in der stürmischen Abwechslung der Lagerereignisse und Eventualitäten nichts auf die lange Bank schieben. Wir verkrochen uns in die Tiefe der Stellagen, und dort erzählte uns Georg flüsternd und auf Englisch, wie es ihm ergangen.

Man hatte ihn bei der administrativen Abteilung bereits als Maschineschreiber festgenagelt, als einer der Stellvertreter des Chefs der dritten Abteilung, der zufällig anwesend war, erklärte, daß sie selbst einen Maschinisten brauchten. Da aber niemand im Lager mit der dritten Abteilung streiten kann, ebenso wie niemand in der Freiheit mit der GPU zu streiten wagt, so zog sich die administrative Abteilung, ohne das Gefecht aufzunehmen, zurück. Von der dritten Abteilung war Georg entzückt – erstens hing dort an der Wand eine Karte, sogar nicht eine, sondern mehrere; zweitens war es klar, daß man im nötigen Augenblick von dort aus irgendwelche Waffen »besorgen« konnte. Aber es kam noch anders.

Nach der entsprechenden Prüfung im Maschineschreiben führte man Georg einem Kerl vor und sagte:

»Dieser Junge da wird bei dir an der Schreibmaschine arbeiten.«

Der Kerl sah Georg scharf an und erklärte:

»Irgendwie ist mir Ihr Gesicht bekannt. Wo habe ich Sie bloß gesehen?«

Georg starrte ihn an und erkannte in ihm den Tschekisten, der in dem verhängnisvollen D-Zugwagen Nummer 13 seinerzeit die Rolle des Schaffners gespielt hatte.

Über das Gesicht des Tschekisten ging plötzlich eine Erleuchtung:

»Das nennt man Schwein! Wer hat Sie hierher geschickt? Ihr seid mir merkwürdige Gesellen – drei Jahre lang habt ihr euch auf die Flucht vorbereitet und seid nun über ein Weibsbild gestolpert.«

Und er begann, den anderen mit im Zimmer sitzenden Beamten der dritten Abteilung ungefähr die ganze Geschichte unserer Flucht und unserer Verhaftung zu erzählen.

»Und wo sind die übrigen? Kolossal starke Burschen. Sein Onkel hat einem von uns (er nannte irgendeinen Namen) den Arm so gründlich gebrochen, daß er ihn bis heute noch in der Schiene trägt. Hab' wahrhaftig nicht gedacht, daß wir uns noch begegnen würden.«

Der Tschekist war einer von der redseligen Sorte. Sogar so weit, daß er die Rolle Babenkos in dieser ganzen »Operation« ausplauderte. Das paßte uns gar nicht. Denn es bedeutete, daß in einigen Tagen die gesamte Lagerverwaltung wissen würde, weshalb wir hierher geraten sind, und sie wird natürlich irgendwelche Maßnahmen ergreifen, damit wir unseren Versuch nicht wiederholen.

Und der Maßnahmen konnten ganz verschiedene sein … auf jeden Fall hingen jetzt unsere rosigen Fluchtpläne am Seidenfädchen. Man mußte fort aus Pogra, meinetwegen auch nach Podporog, um wenigstens aus dem Blickfeld des Tschekisten fortzukommen, ihm für weitere Plaudereien keine Veranlassung zu geben. Allerdings waren wir auch in Podporog nicht davor sicher, daß der Tschekist unsere Geschichte der Verwaltung nicht zur Kenntnis brachte – er konnte es aber auch unterlassen. Offensichtlich tat er das letztere. Boris ging sofort zu den ukrainischen Professoren – um die Podporoger Sache zu forcieren. Aber als er zurückkam, wurden unsere Pläne ganz unerwartet wieder über den Haufen geworfen.

Die »Holzfäller« waren aus dem Walde zurückgekehrt, und die Baracke füllte sich mit einer durchnäßten und durcheinanderschreienden Menge. Plötzlich schoben sich durch dieses Gewimmel zwei zerzauste und von der Arbeit und dem Chaos etwas verdrehte Intellektuelle.

»Wer ist hier Boris Solonewitsch?«

»Ich«, sagte mein Bruder.

»Was ist oleum ricini?«

Boris überraschte die unerwartete Frage so, daß er sogar ein paar Schritte zurücktrat.

»Das heißt Rizinusöl. Wozu wollen Sie das wissen?«

»Und was ist acidum arsenicum? In welchem Lösungsverhältnis verwendet man acidum carbolicum?«

Ich wußte nicht, was das sollte.

Boris auch nicht. Nachdem die beiden Intellektuellen auf ihre geheimnisvollen Fragen richtige Antworten erhielten, wechselten sie einen Blick.

»Tauglich?« fragte der eine.

»Tauglich«, bestätigte der andere.

»Somit sind Sie zum Arzt der Ambulanz ernannt«, sagte zu Boris der erste Intellektuelle. Nehmen Sie Ihre Sachen und kommen Sie mit, an der Ambulanz steht man bereits Schlange. Wohnen werden Sie in dem Verschlag neben der Ambulanz.

Also waren die geheimnisvollen Fragen nichts anderes als ein ärztliches Examen. Man muß schon offen sagen, daß wir von der Plötzlichkeit dieses Examensangriffes etwas verdutzt waren, doch war irgendeine Diskussion überflüssig. Boris nahm alle unsere Rucksäcke und ging in Begleitung Georgs und der beiden »Intellektuellen« in »seine neue Wohnung«. Sie war ein separates Zimmerchen neben der Ambulanzbaracke, dessen einziger unbestrittener Vorzug darin bestand, daß man dort die Sachen ziemlich sicher vor den Raubüberfällen der Urkis unterbringen konnte.

Wir verbrachten eine schlechte Nacht. Draußen war Tauwetter, und durch die Ritzen im Dach sickerte das Schneewasser auf uns herab. Gegen Morgen waren wir naß bis auf die Haut. Naß und unausgeschlafen gingen wir zu Boris, den Rest unserer Sachen unterm Arm, erwärmten uns etwas in seinem Verschlag und gingen fort, um alle Hebel für unsere Versetzung nach Podporog in Bewegung zu setzen. In den Wald sind wir selbstverständlich nicht gegangen. Gegen Mittag hatten Georg und ich je ein Papierchen, allerdings zunächst nur von grundsätzlicher Bedeutung, wonach wir nach der RVA in Podporog abkommandiert waren.

 

Die Urkis im Lager

Solange wir in unseren Angelegenheiten mit großer Hast hin- und hertummeln mußten, lebte das Lager sein verworrenes Zuchthausleben weiter. Es kam noch ein Transportzug – mit zweitausend Häftlingen, für die aber weder Kleidung noch Raum vorhanden war. Man warf diese Menschen von Baracke zu Baracke und füllte diese sargähnlichen Kästen, die ohnehin bereits vollgepfropft waren, noch mehr. Die Zimmererkolonnen bauten in aller Eile neue Baracken. Auf den vom Tauwetter aufgeweichten »Straßen« fuhr man die durchnäßten Holzstämme herbei. Die Schindermähren des Lagers blieben dabei fast in jedem Schlagloch kraftlos stecken. Von oben sprühte eine erbärmliche Mischung von Schnee und Regen herab. Bis an die Knie im Pappschnee watend, gingen die Kolonnen von »Neulingen«, die gleiche graue Arbeiter- und Bauernmasse, die wir vorwiegend auch in unserem Transportzug hatten. Ihnen wird es aber viel schlimmer ergehen; denn sie werden in dem bleiben müssen, was sie anhaben. Die Vorräte an »Lageruniformen« waren erschöpft, man erwartete aber noch zwei bis drei Transportzüge …

Unter diesen kopfscheu gewordenen, unkundigen Menschen, benommen durch die Aussicht eines jahrelangen Zuchthauslebens, huschten wie die Wiesel, kaum bemerkbar, die Urkis, die sich mitunter zu ganzen Wolfsrudeln zusammenscharten. Sie schnüffelten in den Baracken herum, lauerten allem nach, was nicht sicher war, und organisierten sogar ab und zu Massenraubüberfälle.

Eines Abends fielen sie über drei vom Stubendienst her, die für die ganze Kolonne das Brot holten. Der eine wurde dabei ermordet, der zweite schwer verwundet, und das Brot verschwand. Selbstverständlich hat es keine Ersatzportionen gegeben, und die ganze Kolonne blieb einen vollen Tag hungrig. In unsere Baracke – zum Glück waren wir und unsere Sachen bereits fort – kam eine mit kurzen Messern bewaffnete Urkibande hineingestürzt, etwa fünfzehn Mann stark. Es war am Morgen und wenig Volk in der Baracke, die ratzekahl ausgeplündert wurde.

Die Verwaltung hielt eine merkwürdige Neutralität, und die Lagerinsassen nahmen sich der Urkis selbst an.

Eines Morgens, ich war aus der Baracke herausgetreten, bekam ich etwas sehr Ungemütliches zu sehen. An einer Kiefer angebunden stand, oder richtiger hing ein Mann. Sein Kopf war über und über mit verkrustetem Blut bedeckt. Ein Auge hing an einem blutigen Fädchen heraus. Das einzigste Lebenszeichen, das letzte Aufflackern im Todeskampf, war ein krampfhaftes Zucken des linken Fußes. Abseits, etwa zwanzig Schritt weiter lag auf einem Schneehaufen noch ein Mensch. Mit diesem war bereits alles zu Ende. – In einem Gemisch von Schnee, Blut, Haaren und zertrümmerten Schädelknochen sah man die verspritzte Gehirnmasse. Ein Haufe von Bauern und Arbeitern beschaute sich dieses Bild nicht ohne eine gewisse Genugtuung.

»Na, jetzt wird es mit der Stehlerei wenigstens etwas ruhiger«, sagte jemand von ihnen.

Das war die Lynchjustiz der Bauern, grausam und wütend, die Antwort auf den Terror der Urkis und auf die Neutralität der Verwaltung. Indessen auch der Lynchjustiz gegenüber bewahrte sie Neutralität. Mir schien es, daß diese Neutralität voller Ahnungen war, als ob aus den unmenschlich entstellten Leibern der Urkis die GPU-Brüder das eigene Schicksal voraussahen. Dieses Aufflackern – ich will nicht sagen des Volkszornes; denn als Ausdruck des Zornes wäre es sinnlos – sondern der Volkswut, die grausam und unorganisiert ist, das sich irrlichterartig als Vorbote auch überall im Lande zeigt … Allerhand Aktivisten der Kolchose, der Dorfmiliz und der Dorftschekisten haben bereits mit ihren Knochen und eingeschlagenen Köpfen diese große »sozialistische« Bauernausplünderung bezahlt. Denn dort, in den Tiefen Rußlands, nimmt die Unruhe kein Ende. Keine Minute hört dort das tierische Gemetzel um Leben und Brot auf. Blutig ist das Leben, blutig auch das Brot … Und wenn die Brüder von der dritten Abteilung sich den zerfetzten Urka ansehen, dann scheint mir, blicken sie in eine Zukunft, die auf sie wartet. Auch nur daran zu denken, wäre etwas Furchtbares.

Einmal in diesen Tagen des Gegenangriffes auf die Urkis bin ich meinem früheren »Mitreisenden«, dem Urkianführer Michajloff, begegnet. Er sah durchaus nicht wie ein Sieger aus. Sein Gesicht trug die Spuren einer frischen und wohlüberlegten Verprügelung. Er trat auf mich zu und versuchte mit seinen zerschlagenen Lippen und seinem aufgedunsenen, durchgebläuten Gesicht freundlich zu lächeln.

»Und ich wollte gerade zu Ihnen, Genosse Solonewitsch, wollen Sie mir etwas Machorka spendieren?«

»Ihnen gern, für die Belehrung.«

»Für welche Belehrung?«

»Für all das, was Sie mir über das Lager seinerzeit im Viehwagen erzählt haben.«

»Konnten Sie es brauchen?«

»Und ob!«

»Ja, wir kennen hier jeden Kniff.«

»Allerdings haben Sie hier mehr Kniffe angetroffen, als Sie vermutet haben.«

»Ach was, nichtige Sachen. Man hat mich verprügelt und fünf von den Unsrigen ins Jenseits befördert, und was weiter? Man wird sich schon austoben – schließlich werden wir obenauf sein: Organisation!«

Der alte Urkiführer lächelt mit dem früheren Selbstbewußtsein.

»Und die uns geschlagen haben, die werden hier nicht lebendig herauskommen … nein, das entschuldigen Sie man. Denn sie sind eine Hammelherde und wir – eine Organisation.«

Ich schaue den Urka nicht ohne eine gewisse Achtung an; er hatte etwas Stalinsches an sich.

 

Podporog

Ein stiller, frostiger Abend. Der Himmel voller Sterne. Georg und ich gehen nach Podporog auf dem Fußpfad, der über den zugefrorenen Fluß getreten ist. In der Ferne, etwa drei Kilometer weit, funkeln die elektrischen Lichter dieses Dorfes. Die Ufer des Flusses sind von dichtem Nadelwald umstanden und mit Schneewehen überhangen. Hier und da grollen verhalten die nicht gefrierenden Stromschnellen. Wir betreten Podporog.

Man sieht, daß es einst ein reiches Dorf war. Geräumige zweistöckige, aus meterlangen Stämmen gezimmerte Hütten mit geschnitzten Dachfirsten und mit schon lange abgeblätterter Farbe an den Fensterläden. Kernig und wohlhabend war der Bauer vom Swir. Heute laufen seine Kinder auf dem Lagergelände herum und erbetteln bei den »Zuchthäuslern« Brotreste, Heringsköpfe und ungenießbare oder verschmähte Reste der Lagersuppe, die zwar Tschi genannt wurde, jedoch mit der üblichen wohlschmeckenden, fleischhaltigen, alten russischen Weißkohlsuppe nicht das geringste gemeinsam hatte …

Wir beide hatten einen Zustellungsbefehl der RVA bekommen, einstweilen nur den Zustellungsbefehl und nicht die Einstellung. Die RVA, die Registrations- und Verteilungsabteilung des Lagers, hat folgende Obliegenheiten: alle Häftlinge zu registrieren, sie auf die Arbeitsstellen zu verteilen, von Unterlager zu Unterlager, von Abteilung zu Abteilung umzudirigieren, Haftfristen zu überwachen. Fristbewilligungen und Fristverlängerungen zu erteilen, Beschwerden und dergleichen mehr entgegenzunehmen.

Äußerlich war es eine genau so widerliche Einrichtung wie alle Sowjeteinrichtungen, wohlgemerkt nicht die hauptstädtischen, sondern die draußen irgendwo in der Provinz gelegenen. Ein halbes Dutzend armseliger, durch Bretterverschläge eingeteilter Räume, genau so vollgepfropft mit Menschen wie unser Viehwagen. Tische aus rohen, manchmal sogar ungehobelten Brettern, ebensolche Schemel und, als Ersatz für fehlende, einfache Klötze aus Birkenholz. Der Raum zwischen diesem Mobiliar war vollgestopft mit Aktenstücken, Karteibündeln und Papierhaufen.

Die uns begleitende Wache übergibt uns einem »Schriftführer«. Dieser unterschreibt flüchtig den Begleitschein.

»Setzen Sie sich, warten Sie einen Moment.«

Eine überflüssige Aufforderung; denn es gibt nichts zum Sitzen. Also setzen wir uns auf unsere inzwischen abgenommenen Rucksäcke. In allen Räumen schwebt wie Londoner Nebel ein dichter Machorkaqualm. Es hallt von kräftigem Vorgesetztengeschimpfe, Karzerandrohungen und dergleichen. Nicht einmal bei der GPU, geschweige denn in Pogra hätten die Vorgesetzten so zu schimpfen gewagt. In den schäbigen Stuben ist ein unruhiges Gelaufe von Menschen – der eine sucht nach einem Klotz, um zu einer Sitzgelegenheit zu kommen, der andere fleht den Schriftführer um einen Federhalter an: er hat dringende Arbeit; erfüllt er sie nicht rechtzeitig, wird er eingelocht. Aber auch der Schriftführer hat keinen Federhalter, außerdem hat er eine wichtigere Beschäftigung: er stochert aus einem Tintenstift den Kern heraus und macht Tinte davon, weil die Vorräte der RVA längst erschöpft sind. Grünliche, erdfahle, ausgemergelte Gesichter von Menschen, die Tage und Nächte in diesem Machorkaqualm und sinnlosen Durcheinander, diesem Geschimpfe und Gedränge sitzen müssen. Scheußlich …

Es zwingt sich mir der Gedanke auf, daß es bei den Holzfällerarbeiten bedeutend besser und gemütlicher wäre … später hat es sich auch bestätigt. Aber bei den Holzfällerarbeiten ist man »auf dem laufenden Band«. Kaum bist du drauf, zieht es dich, weiß der Teufel wohin. Dagegen wird man sich hier irgendwie durchschlängeln können …

Aus den verqualmten Tiefen der Kanzlei erscheint ein altes Männlein. Später hat sich herausgestellt, daß es einer von den KVA-Gewaltigen war, Genosse Nasedkin. Er trägt auf seiner blaurot angelaufenen Nase eine mit Aktenzwirn zusammengebundene Brille in eiserner Fassung. Seine Gesichtshaut ist schlaff und welk. In den tränenden Äuglein die gutmütige List einer alten Kanzleiratte, die allerhand gesehen hat.

»Tag. Sind Sie das – Jurist aus Pogra? Und das – Ihr Sohn? Wissen Sie, wir haben zwei Schreibmaschinen, nur versteht keiner, darauf zu schreiben … Ungeheuer viel Arbeit … Und die Mitarbeiter … Na, Sie werden selbst sehen. Also ich sage Ihnen, ein derart ungebildetes Volk, daß man damit nichts anfangen kann. Na, gehen wir zu mir. Nehmen Sie aber die Sachen mit … sonst sind sie futsch auf Nimmerwiedersehen. Hier ist ein Volk – kaum hast du dich abgewandt, bist du bestohlen. Was aber den juristischen Teil anbetrifft, so ist er furchtbar vernachlässigt. Sie werden ordentlich und feste darüber sitzen müssen …«

Wir folgen dem redseligen Alten und betreten das »Allerheiligste« der RVA. Aus dem Machorkanebel sehen uns furchterregende, dämliche Fratzen entgegen – engstirnig, zerrüttet, vertölpelt und vertiert. Diese ganze Gesellschaft schreibt wie rasend, stempelt, heftet ein, registriert und schimpft …

Der kleine Alte beginnt auf den Regalen, in den Schubläden und in den einfach auf dem Fußboden aufgehäuften Aktenstücken zu wühlen. Ruft noch zwei Kanzleiratten zu Hilfe, und endlich holt man aus einem halbzerschlagenen Kasten unsere »Personalakten« – zwei Aktenstücke mit unseren Papieren, Fragebogen, Urteilen und so weiter. Das Männlein rückt seine Brille von der Nasenspitze an die richtige Stelle.

»Solonewitsch, Iwan … so … Bildung … so, Urteil – hm, Paragraphen …«

Bei dem Wort Paragraphen hört das stolpernde Gemurmel des Alten auf, er zieht die Brille wieder auf die Nasenspitze hinunter und richtet auf mich einen Blick, in dem ich lese:

»Lieber Herr, wer hat Sie bloß dazu verleitet? Was soll ich denn mit Ihnen machen?«

Ich erwidere auch nur mit einem Blick:

»Das überlasse ich Ihrer Schlauheit.«

Ich verstehe: sowohl das Männlein als auch die RVA sind in einer prekären Lage. – Wegen Konterrevolution Verurteilte darf man nicht nehmen, und ohne Konterrevolution – wie an die Gebildeten kommen? Der Alte wird sich hin- und herwenden und es schließlich doch schaffen.

Die Brille wandert wieder hinauf, und das Männlein beginnt, die Akten Georgs durchzulesen, diesmal aber für sich. Nachdem er gelesen hat, macht er sie zu, legt sie beiseite und sagt:

»Na also, alles in Ordnung. Gleich zeige ich Ihnen Ihre Plätze und Ihre Arbeit.«

Und zu mir gebeugt – im Flüsterton:

»Nur über Ihre Paragraphen verbreiten Sie sich nicht. Nachher werden wir das schon irgendwie einrenken …«

 

Ich hüte das Gesetz

So wurde ich »Oberjustitiar« und »Ökonomist« der RVA. Zu meinem Amtsbereich gehörten etwa zehn Zentner von überall herumliegenden, teils liederlich gehefteten »Sachen« und zwei »Unterjustitiare«, von denen der eine, bevor ich am Horizont erschien, »Justitiar« genannt wurde. Er konnte sowohl nach der alten wie nach der neuen Orthographie kaum lesen und schreiben, und auf meine Frage nach der genossenen Bildung antwortete er düster und wenig sagend:

»Selbstlerner«. Ungefähr so wurden genannt und nannten sich in der Sowjetunion Emporkömmlinge, die zwar sehr wenig selbst gelernt, dafür aber den Bolschewisten irgendwelche »Dienste« als Parteimenschen geleistet hatten.

Er ist ein ehemaliger Komsomolez. Sitzt für die Teilnahme an einer »kollektiven« Vergewaltigung. Darüber, daß es auch in der Sowjetunion ein Strafgesetzbuch gibt, hat er von mir das erstemal gehört. In den Schubladen, Kästen und Regalen dieses »Autodidakten« haben sich sage und schreibe etwa viertausend Beschwerden der Häftlinge angesammelt.

Und jede betrifft ein lebendiges Schicksal …

Mein »Amtsantritt« ging folgendermaßen vor sich.

Der alte Nasedkin stocherte mit dem Finger in verschiedene Richtungen des Raumes, auf eben diese zehn Zentner Aktenstücke hinweisend, die teils auf den Regalen untergebracht, teils in Kisten verpackt, teils auf dem Boden verstreut lagen, und sagte:

»Also das sind Ihre Sachen. Na, Sie werden sich schon selbst zurechtfinden, was und wohin.«

Und verschwand.

Ich schöpfte gleich den Verdacht, daß er selbst nicht die blasseste Ahnung davon hatte, »was und wohin«, und daß es das beste wäre, wenn ich niemanden fragte. Meine »Unterjustitiare« waren nacheinander verduftet, erst nach fünf Tagen versuchte ich, einen von ihnen in den Schoß der »ökonomisch-juristischen Abteilung« zurückzubringen, mußte aber von meinen Maßnahmen schließlich Abstand nehmen, weil mein »Unter« sich als offensichtlichen Halbanalphabeten und unverkennbar tolpatschigen Burschen zeigte. Dazu fand er es schön, einmal ein Bonze zu sein und wollte in solchen stillen Winkeln der RVA arbeiten, wo er selbst über die Schicksale, wenigstens des Küchenpersonals entscheiden konnte, um eine doppelte Portion Gerstenbrei zu ergattern. Nun stand ich einsam den zehn Zentnern meiner »Sachen« gegenüber und von Angesicht zu Angesicht den dreißig Fratzen des sogenannten sowjetistischen Aktivs.

Und der sowjetistische Aktiv ist ein gefährlicheres Ding als die GPU.


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