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Weißmeer-Ostsee-Kombinat (BBK)

 

Einsame Grübeleien

In der Zelle ist es feucht und dunkel. Jeden Morgen wische ich mit dem Lappen Wassergerinnsel von den Wänden und die Pfützen vom Fußboden auf. Gegen Mittag sind die Pfützen wieder da …

Etwa um sieben Uhr schiebt man mir durch ein Klappfensterchen in der Tür ein Pfund kaum genießbares Schwarzbrot – meine Tagesration – und einen Becher Kochwasser herein. Mittags erscheint dort eine Untertasse mit Gerstenbrei, abends ein Teller Flüssigkeit, welche »Schtschi«, Kohlsuppe, darstellen soll, und wiederum eine Untertasse mit Gerstenbrei.

In der Zelle kann man von Ecke zu Ecke spazierengehen – vier Schritt hin und ebensoviel zurück. Zum Spaziergang werde ich nicht herausgelassen, Bücher und Zeitungen gibt man mir nicht, jede Berührung mit der Außenwelt ist abgeschnitten.

Wir wurden unter geheimnisvollen Umständen verhaftet – und niemand weiß und kann wissen, wo wir uns eigentlich befinden: mein Bruder Boris, mein Sohn Georg und ich. Die beiden anderen sind sicher auch irgendwo in einer Einzelzelle.

Wochenlang sehe ich nicht mal den Aufseher. Nur eine Hand schiebt mir durch das Fensterchen das Essen herein, und ein Auge schaut alle zehn bis fünfzehn Minuten durch das Guckloch. Der zum Auge gehörende Mann bewegt sich unhörbar, wie ein Gespenst, und die Totenstille der mit Filz ausgelegten Gefängnisgänge wird nur selten durch Zuschlagen von Türen, Schlüsselgerassel und mitunter durch einen wilden, doch schnell wieder erstickten Schrei gestört. Nur einmal habe ich einen dieser Schreie verstanden:

»Genossen, Brüderchen, zum Abschlachten schleppt man mich!« …

Na ja … Eines schönen Tages, vielmehr in einer nicht sehr schönen Nacht, wird man auch mich zum Abschlachten führen.

Alle objektiven Gründe, wie man so schön im heutigen Rußland sagt, sprechen in meinem Fall für »Abschlachten«. Meine Berechnungen gehen dahin, diesem Los des Viehs zu entgehen. Einst, noch vor den Hungersnöten des sozialistischen Paradieses, besaß ich eine gewaltige Körperkraft. Manches ist noch jetzt davon übriggeblieben. Jeden Tag, trotz der Hungerration treibe ich Gymnastik; ich hoffe, daß meine Kräfte noch ausreichen werden, um manchen dieser Kerle, die des Nachts mit dem Revolver in der Hand zu mir kommen, die Knochen zu brechen. Dann werde ich wenigstens ohne das übliche Abschlachtungszeremoniell niedergeknallt … Das ist immerhin einfacher.

Aber vielleicht werde ich im Schlaf überrumpelt, wie es im Eisenbahnwagen der Fall war? Und dann wird man gezwungen sein, jenen ganzen Leidensweg zu gehen, den so viele tausend Füße gegangen sind, mit auf den Rücken festgebundenen Händen, immer tiefer und tiefer in die geheimnisvollen unterirdischen Verließe der GPU … und mit stockendem Herzen den letzten, schon nicht mehr hörbaren Stoß ins Genick erwarten.

Nun ja … ungemütlich – aber ich bin nicht der erste und nicht der letzte. Noch ungemütlicher ist der Gedanke, daß diesen Weg auch Boris gehen wird. In seinem Lebenslauf sind die Solowetzki-Inseln verzeichnet – mit anderen Worten, er hat bitterwenig Aussicht, am Leben zu bleiben. Er ist aber körperlich ungeheuer kräftig und wird sich kaum ohne weiteres abschlachten lassen …

Wie ist es aber mit Georg? Er ist knapp achtzehn Jahre alt. Vielleicht wird man mit ihm Erbarmen haben, vielleicht auch nicht. Und wenn in meiner Vorstellung seine hohe, schlanke Jünglingsgestalt auftaucht, sein Krauskopf … In Kiew auf der Sadowajastraße 5, im Jahre 1918, nach der Vertreibung der Bolschewiken, habe ich Menschenköpfe gesehen, die mit dem Naganrevolver aus nächster Nähe durchschossen waren:

Die Kugel hatte eine moderne Form, und das Gehirn war nicht herausgeflossen, sondern wie ein fester Klumpen herausgequollen … Wenn ich mir Georg vorstelle, der diesen Leidensweg gehen soll, und seinen Kopf … Nein, daran darf man nicht denken. Davon wird es eng und kalt in der Brust und trübe im Kopf. Dann ist man in Gefahr, etwas Unüberlegtes anzustellen.

Aber meine schweren Gedanken wollen mich nicht lassen … Unendlich ziehen sich die schlaflosen Nächte dahin, aufdringlich schaut das Auge durch das Guckloch. In der Mitte der Decke schimmert trübe eine elektrische Birne. Von den Wänden zieht es feucht. Worüber denkt man in solchen Nächten? Über die Zukunft gibt es nichts zu denken. Irgendwo dort in den geheimnisvollen Tiefen der GPU-Büros liegt vielleicht schon ein Papierfetzen, auf dem mein Urteil steht, ebenso das Schicksal des Bruders und des Sohnes, und dieses Schicksal läßt sich nicht bändigen, weil es ungewiß ist und weil ich nichts daran ändern kann.

Man sagt, daß am Gedächtnis des Sterbenden sein ganzes Leben vorüberziehe. So auch bei mir. Der Gedanke kehrt immer nachhaltiger zur Vergangenheit zurück – zu dem, was ich während der Revolutionsjahre durchfühlt, durchdacht, durchlebt habe – als ob ich eine asketische Beichte vor mir selbst ablegen müßte. Eine um so strengere Beichte, als ich, der »Familienvorstand«, der Organisator, im gewissen Grade der Anstifter zur Flucht war und nicht nur für mein eigenes Leben Verantwortung trage. Und nun habe ich einen technischen Fehler begangen. War es ein Fehler?

Ja, ein technischer Fehler war es schon, sonst wären wir nicht hier. Aber war es nicht etwas Tiefsinnigeres – lag in unserem Entschluß, aus Rußland zu flüchten, nicht ein grundsätzlicher Fehler? Konnte man denn nicht bleiben, so leben, wie Millionen leben, den tragischen Weg in die Ungewißheit mit dem ganzen Lande durchwandern? Gab es tatsächlich keine Lebensmöglichkeit? Keinen Lichtblick?

Ein äußerer Anlaß war eigentlich nicht vorhanden. Äußerlich führte unsere Familie ein ruhiges und sicheres Leben, ruhiger und sicherer als die weitaus größte Mehrheit der Intelligenz. Wohl hat Boris vieles ertragen müssen, darunter auch die Solowetzki-Inseln; aber er verstand es, als Strafverbannter sich besser einzurichten als die anderen.

Ich erinnere mich auch an die Moskauer Winter der Jahre 1928 bis 1930, als Moskau, selbstverständlich das gewöhnliche, nicht offizielle Moskau, im Begriff war, vor Kälte zu erfrieren und vor Hunger auszusterben. Ich wohnte etwa zwanzig Kilometer von Moskau entfernt im Dorf Saltykowka, wo zahlreiche, vielgeprüfte Volksgenossen wohnten, für die in Moskau keine Wohnfläche zu finden war. Ich brauchte nicht zur Stadt in Dienst zu fahren. Denn ich war Sportlehrer und Schriftsteller. Moskau flößte mir Ekel und Widerwillen ein durch seine Überfüllung, Gedränge, Schmutz und Wanzen. Und im Dorfe hatte ich meine eigene Robinsonmansarde, genügend geräumig und wohnlich. Es störte mich nicht das Gezanke der Mitbewohner, die Horcher blieben fern, kein Säuglingsgeschrei drang durch die Wände, in den Korridoren blakten und brummten nicht die stinkenden Petroleumkocher, nicht der ewige Kampf um das erhaschte Stückchen Wohnfläche nahm meine Ruhe, und keine Bespitzelung durch den Hausverwalter war zu fürchten. Vor Hunger und Kälte waren wir dazu genügend gesichert hier in Saltykowka.

Im Sommer sammelten wir Pilze und fingen Fische. Im Herbst und im Winter rodeten wir die Baumstümpfe; Reisig war längst vorher besenrein aufgelesen. Selbstverständlich reichte das alles nicht aus, um so weniger als es von Zeit zu Zeit in Moskau Perioden gab, wo nichts Eßbares außer auf Karten zu bekommen war, selbst für teures Geld nicht, jedenfalls nicht auf legalem Wege. Deshalb war man gezwungen, mitunter äußerst komplizierte, nicht immer gerade legale Kombinationen auszuklügeln. So ernährten wir uns zum Beispiel in einem der hungrigsten Winter von Kartoffeln und Kaviar. Nicht von irgendeinem Pilzkaviar, der zum Preise von etwa drei Rubel je Kilo den »kooperierten Werktätigen« angeboten wurde und den sogar diese Werktätigen nicht essen konnten, sondern von dem richtigen lebenspendenden Malosolkaviar. Brot gab es allerdings nicht …

Die Tatsache der Ernährung einer ganzen Sowjetfamilie von Kaviar im Laufe eines langen, langen Winters könnte natürlich als Illustration »der in der Geschichte beispiellosen Hebung des Wohlstandes der Massen« dienen, in Wirklichkeit sah die Sache viel prosaischer aus. In Moskau auf der Twerskajastraße gab es vor der Revolution das Lebensmittel- und Delikatessenhaus Jelissejeff, wohl das reichhaltigste und das beste der Welt. In diesem Hause hat die brotlose Sowjetregierung den »Insnab« eingerichtet, das heißt die Lebensmittelverteilungsstelle für Ausländer. Von hier aus wurden die auf Grund besonderer Verträge als Spezialisten nach der Sowjetunion verpflichteten Ausländer mit Lebensmitteln versehen. Auch kleine Bonzen der Komintern und der Profintern waren bezugsberechtigt. Die größeren Bonzen hatten im Kreml eine besondere, nur für sie vorgesehene Verteilungsstelle.

In dem vorerwähnten Winter blieb allerdings auch für die Ausländer nicht mehr viel übrig. Jeder von ihnen bekam ein persönliches Bezugsbuch, worin verzeichnet wurde, wieviel Lebensmittel ihm monatlich zustanden. Ihre Menge schwankte im Verhältnis zum produktiven und politischen Wert des betreffenden Ausländers, war aber durchschnittlich nicht zu hoch. Besonders eingeschränkt war die Ausgabe von wichtigen Lebensmitteln: Kartoffeln, Brot, Zucker und dergleichen. Und umgekehrt: Kaviar, Edellachs, Weine und so weiter wurden ohne Einschränkung ausgegeben. Die Preise für alle diese Lebensmittel, wichtige und weniger wichtige, waren um das Zehn- bis Zwanzigfache niedriger als »auf dem freien Markt«.

Den Russen war das Betreten dieses Warenhauses verboten. Ich besaß einen eleganten englischen Mantel und eine »unverbrennbare« Renommierzigarre, die ich für besondere Fälle zur Hand hatte. Ausgerüstet mit dem echt ausländischen Mantel, die dicke Zigarre zwischen den Zähnen, passiere ich wichtigtuerisch den am Eingang stehenden Tschekisten niedrigster Ordnung, der dieses »Freßparadies« vor den hungrigen Sowjetaugen zu beschützen hatte. Bei dem ersten Besuch versuchte der Tschekist, mich nach dem Ausweis zu fragen, ich steckte majestätisch die Hand in die Manteltasche und schritt, ohne etwas herauszuholen, selbstsicher an ihm vorbei. Im Laden ging alles viel glatter. Sicherlich wäre es ganz gut, nun einfach Brot zu kaufen; denn Kartoffeln mit Kaviar waren einem mit der Zeit über. Aber das Brot war streng normiert, und ohne das Bezugsbuch bekam man nicht ein Pfund. Nun schön, gibt es kein Brot, dann fressen wir eben den ehrlichen proletarischen Kaviar. Kaviar kostet hier zweiundzwanzig Rubel das Kilo. Und ich glaube nicht, daß Rockefeller ihn jemals in solchen Mengen verschlang wie das Sowjetdorf Saltykowka, in dem wir wohnten. Aber zum Kaviar braucht man Kartoffeln, und die bekam ich so: Mein Musterschaumantel blieb zu Hause, ich zog meine Sowjetklamotten an, die allerhand gesehen hatten, und strebte nach den Toreinfahrten irgendwo an der Peripherie der Stadt. Friedlich und mit verdächtig ehrlichen Blicken promenierten hier Bäuerinnen aus der nächsten Moskauer Umgebung. Ich schaue mir eine an – sie schaut mich an. Dann gehe ich an ihr nochmals vorbei und frage sie, geheimnisvoll flüsternd:

»Gibt es Kartoffeln?«

»Was für Kartoffeln …?«

Aber die Augen der »Spekulantin« betasten mich schon. Nach der Betastung und nachdem sie sich von meiner Anständigkeit überzeugt hat, stellt sie mir eine ziemlich sinnlose Frage:

»Brauchen Sie denn Kartoffeln? …«

Danach gehen wir in irgendeine Toreinfahrt oder auf einen Hinterhof, wo auf irgendeinem Lumpenhaufen ein Junge oder ein Madel sitzt, und unter diesen Lumpen liegt ein bis dahin wohlverborgenes und mit viel Mühe und Risiko nach Moskau gebrachtes Kartoffelsäckchen. Für die Kartoffeln zahle ich fünf bis sechs Rubel je Kilo …

Brot war nicht zu haben; meine wiederholten Versuche, die Vorzüge des rühmlichen Kartensystems auszunutzen, verpufften schändlich: ich lief hin und her, plagte mich ab, holte an verschiedenen Stellen verschiedene Beglaubigungen, stand in der verschwitzten und verlausten »Schlange« am Karteibüro, bekam endlich Karten und zankte dann mit meiner Frau, die aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus mich auf diese Pirsch geschickt hatte. Unwillkürlich erinnerte ich mich jener Zeitungsartikel, die besagen, mit was für einem Enthusiasmus das Proletariat dieses russische Kartensystem ausgenommen und begrüßt hat. Enthusiasmus wird anscheinend selbst aus den hoffnungslosesten Quellen gespeist … Aber das Kartensystem war tatsächlich witzig organisiert. Wir alle drei stehen im Sowjetdienst. Und alle drei haben Karten. Aber meine Karte ist für die Verteilungsstelle im Norden der Stadt gültig, die Karte meiner Frau in der Stadtmitte und die Karte des Sohnes im südlichen Teil. Das zunächst. Dann bekomme ich auf der Karte außer Brot noch Zucker. Die Kartenabschnitte für die übrigen Lebensmittel hatten eine völlig abstrakte Bedeutung und verpflichteten zu nichts. Und nun versuche mal, mit der Moskauer Straßenbahn alle drei Verteilungsstellen aufzusuchen, stehe an jeder Schlange und erhalte mindestens an einer von den dreien Bescheid, daß das Brot alle geworden ist und erst gegen Abend oder am nächsten Morgen wieder zu haben sei! Man sagt dir, Zucker wäre nicht da und komme erst in diesen Tagen. Dieses Manöver wiederholt sich drei- bis viermal, bis eines schönen Tages gesagt wird:

»Warum sind Sie nicht gestern gekommen? Gestern hatten wir Zucker.«

»Wann gibt es das nächste Mal Zucker?«

»Jetzt ist es egal, diese Karten gelten sowieso nicht mehr. Sie sollten doch gestern kommen.«

Und alles ist in bester Ordnung. Du hast Karten? Ja.

Bezugsrecht auf zwei Pfund Zucker? Jawohl.

Wenn du aber trotzdem keinen Zucker bekommen hast, dann ist das deine Sache, hättest besser aufpassen sollen …

Ich kann mich nicht eines einzigen Falles entsinnen, wo meine Nerven und mein Charakter länger als eine Woche diese Schlamperei ausgehalten hätten. Ich habe nachgewiesen, daß man in der Zeit, die man durch diese ganze idiotische Lauferei vertrödelt, doppelt soviel verdienen kann, wie alle diese schäbigen Sowjetbettelkrumen auf dem freien Markt kosten. Ferner ist meine Ansicht, daß es für einen Menschen, besonders für einen Mann, wahrhaftig nicht so schändlich wäre, jemand an die Gurgel zu packen, als drei Stunden lang wie ein Hammel Schlange zu stehen, um dann schließlich eine höhnische Absage zu bekommen.

Nach all diesen Spaziergängen und Fahrten macht man sich mit wahnsinniger Wut auf den Nachhauseweg. Man hat Luft, irgendeinem Sowjetpolizisten die Schnauze zu verhauen, der ungefähr ebensoviel Schuld daran hat wie ich, daß sich das Untermenschentum in einem Sechstel der Welt verbreitet und festgenistet hat. Oder man hat Lust, einen bewaffneten Aufstand zu organisieren. Weil aber das »In-die-Schnauze-Hauen« ein offensichtlicher Unsinn wäre und für einen bewaffneten Aufstand zum mindesten Waffen nötig wären, an die aber unmöglich zu kommen ist, so blieb lediglich die einzigste Sklavenart übrig – die Schiebung.

Wütend zerriß ich die Karten und ging in irgendeinen »Insnab«.

Ich mache kein Hehl daraus, daß die Kombinationen mit dem Insnab und andere ähnlicher Art – deren es eine ganze Menge gab, Schiebungen sind.

Eine Rechtfertigung für mich ist der Umstand, daß es alle in Sowjetrußland so halten und tun, vom Staate angefangen. Der Staat gibt mir für meine mehr oder weniger vollwertige Arbeit ein Papierchen, auf dem geschrieben steht, daß dessen Wert ein Rubel sei, und daß dieser Rubel sogar gegen Gold eingetauscht werden könnte. Der tatsächliche Wert dieses Papierchens ist aber kaum höher als eine Kopeke, trotz des alltäglichen, in dem offiziösen Organ »Iswestija« veröffentlichten Kurszettels, wonach dieses Papierchen als ein wertvoller Rubel erscheint. Und wenn der Staat im Verlauf von siebzehn Jahren mich auch nicht völlig ausgeraubt hat, so werde ich doch systematisch tagein, tagaus bestohlen. Den Arbeiter bestiehlt er stärker als mich, und den Bauern stärker als den Arbeiter. Ich ernähre mich durch »Insnab« und hungere nicht, der Arbeiter stiehlt auf dem Werk und hungert doch, der Bauer schleicht nachts auf sein eigenes Feld mit einem Messer oder einer Schere in der Hand, schneidet die Ähren ab und ist trotzdem dem Hungertode geweiht. Der Bauer, wenn er erwischt wird, riskiert sein Leben oder als Minimum: »bei mildernden Umständen«, zehn Jahre Konzentrationslager (Gesetz vom 7. August 1932). Der Arbeiter riskiert drei bis fünf Jahre Zwangsarbeitslager oder als Minimum den Ausschluß aus dem Gewerkschaftsbund. Ich riskiere als Minimum eine unangenehme Rücksprache und als Maximum mehrere unangenehme Rücksprachen. Denn meine Wanderungen zum »Insnab« sind durch keine »weitgehende gemeinschaftspolitische Campagne« vorgesehen.

Der oberflächliche Ausländer könnte mir oder dem Bauern vorwerfen, wenn ihr den Staat betrügt, seid ihr selbst schuld an dem Aufkommen der Hungersnot. Aber sowohl ich wie der Arbeiter und der Bauer sind uns dessen vollkommen bewußt, daß der Staat nicht wir sind, daß dieser vielmehr die Weltrevolution heißt. Wir sind ferner überzeugt, daß jeder gestohlene Rubel, jeder Arbeitstag, jede Getreidegarbe in eben diesen bodenlosen Abgrund der Weltrevolution wandert: nach China für die rote Armee, nach England für einen Streik, nach Deutschland für die Rote Front und in die ganze Welt zur Mästung der Kominternbonzen … wandert in die Werke des Fünfjahresplanes, der auf den Krieg ausgerichtet und zum Zwecke der Weltrevolution aufgebaut ist. Teilweise stützen diese Werke auch jene parteibürokratische Kaschemme Mit diesem Schimpfnamen ist die kommunistische Partei gemeint, die viele »schwere Jungs« zu Mitgliedern hat., unter der wir alle schon so lange stöhnen.

Nein, ich bin nicht der Staat, auch der Bauer und der Arbeiter sind es nicht. Für uns ist der Staat eine rein äußerliche Macht, die uns zwangsweise in einen Dienst gestellt hat, dessen Ziele uns vollkommen fremd sind. Und wir drücken uns um diesen Dienst, wie wir nur können.

Dabei gilt es als Voraussetzung, daß wir möglichst wenig essen und möglichst viel leisten: zur Befriedigung eben dieses weltrevolutionären Hungers. Doch wir können nicht mit hungrigem Magen vernünftig arbeiten: die einen deshalb nicht, weil sie keine Kräfte dazu haben, die anderen, weil ihr Kopf mit den Nahrungssorgen beschäftigt ist. Weiter schafft die parteibürokratische Kaschemme, welche die Weltrevolution zum Ziele hat, Bedingungen, unter denen es ganz und gar unmöglich ist, eine vernünftige Arbeit zu leisten. Der Arbeiter produziert Schundware; denn das ganze System ist so aufgebaut, daß die Schundware fast seine einzige Einnahmequelle ist. Wie der Bauer arbeitet, sieht man an der dauernden, nicht endenwollenden Hungersnot in der Sowjetunion. Doch dies Thema über die Sowjetindustrie und die Sowjetlandwirtschaft geht weit über den Rahmen der Aufzeichnungen hinaus. Was mich persönlich betrifft, so war ich in einer solchen Lage, daß ich ohne »Schiebung« gar nicht auskommen konnte.

Ich arbeitete auf dem Gebiete des Sports … Man zwang mich, das Projekt eines gigantischen Stadions in Moskau auszuarbeiten und anzupreisen. Ich wußte, daß für die Arbeiter und die übrige Jugend nicht mal die einfachsten Sportplätze vorhanden waren, daß die Menschen an den Schneehütten stundenlang Schlange standen, und daß das Stadion nur einen einzigen Zweck hatte – den Ausländern Sand in die Augen zu streuen, das ausländische Volk mit dem Elan der Entwicklung der sowjetistischen Sportkultur zu bluffen, aus Propaganda für die Weltrevolution. Ich war gegen das Stadion, war aber außerstande, zu protestieren oder die Arbeit niederzulegen … Ich schrieb Reiseerinnerungen über Dagestan im Kaukasus; aus diesen Erinnerungen strich die Zensur die leisesten Andeutungen von jener furchtbaren Wahrheit, daß das ganze Flachland in Dagestan an Malaria ausstarb, und daß die Werbeorganisation dahin Menschen (Kubanen, Kosaken und Ukrainer) verschickte, auf die der sichere Tod wartete. Ich schrieb nichts darüber, daß von dem tonnenweise zur Entfachung der Revolution in der ganzen Welt und für die Kaschemmen verbrauchten Gold nichts übrigblieb für ein paar Kilo Chinin für Dagestan … So sahen meine Aufzeichnungen aus, als ob es im Osten nichts Neues gäbe, Ruhe und Wohlgefallen herrschten. Die Menschen fuhren dorthin, kamen mit Malaria zurück und erzählten uns Sachen, die einem die Schamröte ins Gesicht treiben … Ich mußte aber schweigen. Ich fuhr nach Kirgisien und sah dort unerhörte Zerstörungen der einst berühmten kirgisischen Viehzucht, eine sogar für die Sowjetunion unbeschreibliche Vernichtung der Viehbestände auf den Sowjetstaatsgütern; ich traf auf Zwangsarbeitslager am Tschu Fluß in den Steppen Kirgisiens., auf Zigeunerlager von zerlumpten und verhungerten Kulakenfamilien, die man aus der Ukraine nach hier verbannt hatte. Wie durch ein Wunder entkam ich einem kirgisischen Aufstand, fast hätten mich die Kirgisen wie einen Hammel abgeschlachtet, wozu sie auch sehr schwerwiegende Gründe hatten: Ich war ein Russe und kam aus Moskau; das genügte. Woher sollten sie auch wissen, daß ich persönlich unschuldig war und keine Strafe verdiente?

Aber darüber durfte ich kein Wort schreiben. Und nichts schreiben durfte ich wiederum auch nicht. So log ich.

Ich log, wenn ich als Dolmetscher mit den Ausländern sprach. Ich log, wenn ich mit den Vorträgen über den Nutzen der Sportkultur auftrat; denn in meine Vortragsthesen mußten unbedingt die Phrasen eingesetzt werden, daß die Bourgeoisie den Arbeitern sportliche Betätigung verbietet und so weiter. Ich log, wenn ich die Statistik der Sowjetsportler aufstellte, die voll und ganz aus meinen und meiner Mitarbeiter sämtlichen Fingern gesogen war, weil die »Spitzen« hohe Ziffern verlangten, um diese sozusagen nach dem Ausland zu exportieren …

All diese Dinge wogen schwerer: als fünf Kilo Kaviar aus dem »Insnab« … Es gab aber noch Schlimmeres … Als mein Sohn mit Typhus daniederlag und ich Petroleum brauchte, in der Stadt aber keines aufzutreiben war, stahl ich dieses Petroleum aus dem Militärmagazin, in dem ich als Sportlehrer diente. Wegen zwei Liter Petroleum, unter dem Mantel versteckt, riskierte ich mein Leben, es war wie gesagt ein Militärmagazin, und darauf stand Erschießung. Ich riskierte meinen Kopf; aber im gleichen Maße war ich bereit, jeden Schädel einzuschlagen, der mir diesen Weg zum Petroleum versperrt hätte. Mit diesen zwei Litern unter dem Mantel zurückschleichend, prallte ich mit einem Posten zusammen. Er merkte mit Absicht nicht, daß ich Petroleum bei mir hatte, unantastbares Petroleum. Was wäre aber, wenn er nicht vorbeigesehen hätte? …

Vor der Revolution besaß ich weder Fabriken noch Werke, noch Güter, noch Kapitalien. Ich habe nichts verloren, was ich wiederbekommen könnte bei einem Umsturz, etwa ein Haus. Aber verloren habe ich siebzehn Jahre des Lebens, die unwiederbringlich und sinnlos in diesem Zwangsarbeitslager der Sowjets im Namen der Weltrevolution vertan worden sind für Schiebungen, die mir mal der Hunger, mal die Tscheka, mal der rote Gewerkschaftsbund aufzwangen; der letztere ist nicht viel besser als die Tscheka. Dabei muß ich sagen, daß ich mit diesen siebzehn Jahren noch billig davongekommen bin. Millionen Russen haben mit allen Jahren ihres Lebens, ja mit dem Leben selbst bezahlen müssen … Hier und da tauchen Hoffnungen auf, daß auf den russischen Weiten, gedüngt mit Millionen von Leichen, bereichert durch die Jahre einer übermenschlichen Arbeit und übermenschlichen Sparsamkeit endlich die Keime eines neuen menschlichen Lebens aufgehen. Diese Hoffnungen dauerten so lange, bis ich mit voller Klarheit erkannte, daß dies alles für die Weltrevolution und nicht für das Vaterland getan und erduldet wurde.

Siebzehn Jahre lang speicherte sich in mir ein mit Ekel gemischter Widerwillen auf. Dieser wuchs gleichmäßig mit dem Größerwerden und der Verfeinerung des Terrorapparates. Der Terrorapparat arbeitet nicht mehr wie ein Dampfhammer, mit zermalmenden und der ganzen Welt hörbaren Schlägen. Er arbeitet wie eine hydraulische Presse, mit unhörbarer Stetigkeit, und erfaßt nach und nach alle Seiten des Lebens. Wenn man dir unter Bedrohung mit einer Pistole die letzte Hose abverlangt, so kann man das noch erdulden. Aber wenn man dir unter Bedrohung mit eben derselben Pistole außer der Hose noch den Enthusiasmus abverlangt, dann ist das Leben eine Unmöglichkeit – man erstickt vor Ekel.

Eben dieser Ekel hat uns zur Flucht, zur finnischen Grenze getrieben.

 

Technischer Fehler

Lange Zeit wurden unsere Fluchtpläne durch eine Art Verhängnis, Fatum, Pech – man kann es beliebig nennen – gestört. Den ersten Versuch unternahmen wir im Herbst 1932. Alles war ziemlich gut vorbereitet, Geländeaufklärung einbezogen. Vorsorglich fuhr ich nach Karelien, selbstverständlich ausgerüstet mit den entsprechenden Ausweisen, und klärte dort ungefähr alles Erforderliche auf. Doch stellte sich nach meiner Rückkehr heraus, daß wir aus besonderen Familiengründen frühestens Ende September fahren konnten – eine für Karelien durchaus ungünstige Zeit. Deshalb wurde die Frage aufgeworfen, ob es nicht besser wäre, das ganze Unternehmen auf das nächste Jahr zu verlegen.

Ich erkundigte mich bei der Moskauer Wetterwarte und bekam die Auskunft, daß das Wetter in Karelien während der Monate August und September ausnahmsweise ganz trocken gewesen ist – es hat nicht ein einziges Mal geregnet. Folglich konnten uns die karelischen Sümpfe nicht gefährlich sein, und wir machten uns auf den Weg.

Die Moskauer Wetterwarte war aber, wie es auch eigentlich nicht anders zu erwarten war, eine Sowjetwetterwarte. – Denn in Wirklichkeit hat es in Karelien im August und September ununterbrochen geregnet, die Sümpfe waren völlig unpassierbar. Vier Tage und vier Nächte wateten wir durch die Sümpfe, sanken oft ein, und schließlich kehrten wir nach großen, lebensgefährlichen Strapazen zurück. Nun wurde die Flucht auf den Juni 1933 verschoben.

Am 8. Juni 1933 frühmorgens fuhr meine Schwägerin Irene nach Moskau, um die bereits bestellten Fahrkarten abzuholen. Am gleichen Tage sagte mir mein Sohn Georg nach dem Aufstehen, daß er heftige Leibschmerzen habe. Mein Bruder Boris, der Arzt ist, untersuchte ihn und vermutete Blinddarmentzündung. Er fuhr nach Moskau, um die Fahrkarten abzubestellen. Am Mittag kamen noch zwei Ärzte und stellten einwandfrei Blinddarmentzündung fest. Ich wagte nicht, den erkrankten Sohn ins Moskauer Krankenhaus zu überführen, da die Moskauer Zufahrtsstraßen aus lauter Schlaglöchern bestanden. Es blieb nichts übrig, als das Ende des Anfalles abzuwarten, um dann die Operation vornehmen zu lassen. Jedenfalls war die Flucht zum zweiten Male ins Wasser gefallen. Die komplizierte und so gefahrvolle Fluchtvorbereitung, Proviantversorgung, Ausweise, Waffen und dergleichen mehr – alles war umsonst. Psychologisch war es ein harter Schlag, völlig unvorhergesehen und unerwartet: wie ein Dachziegel, der einem plötzlich auf den Kopf fällt; ein Schlag, den uns das Schicksal versetzt hatte.

Die Flucht wurde nunmehr auf Anfang September, den frühesten Termin der Genesung Georgs, verlegt. Es herrschte eine bedrückte Stimmung. Es war schwer, das ungeheuere Risiko nochmals zu wagen, nachdem zwei so gut vorbereitete und doch mißlungene Versuche hinter uns lagen. Besonders schwer deshalb, weil irgendwoher aus dem Unterbewußtsein wie ein drückender Schatten eine trübe Vorahnung aufstieg, eine abergläubische Angst vor einem neuen Schicksalsschlag, von dem man nicht wußte, woher er kommt.

Die Hauptpersonen unserer Fluchtgesellschaft waren mein Sohn, mein Bruder, dessen Frau und ich. Wir waren eine festgefügte Familie, in der ein vollkommen gegenseitiges Vertrauen herrschte. Alle waren wir kräftige und gut durchtrainierte Menschen, und jeder konnte sich auf den anderen verlassen. Der fünfte Teilnehmer war mehr oder weniger zufällig hinzugekommen: ein alter Buchhalter namens Stepanoff (der richtige Name war anders), dessen ganze Familie und Anverwandten im Auslande in einem der neugebildeten Randstaaten ansässig waren. Er war, nachdem er seine Frau verloren hatte, mutterseelenallein in der Sowjetunion zurückgeblieben. Bei der ganzen Organisation der Flucht spielte er eine rein passive Rolle, sozusagen mehr eine Zusatzlast. Von seiner Ehrlichkeit waren wir ebenso überzeugt wie von seiner Feigheit. Aber außer diesen fünf unmittelbaren Fluchtteilnehmern wußte von dem Projekt noch ein Mensch – und gerade von dieser Seite kam der Schlag.

In Petersburg wohnte mein alter, langjähriger Freund Joseph Antonowitsch. Er hatte eine Frau, namens E., die aus einer bekannten und sehr reichen polnischen Familie stammte, außerordentlich energisch, eitel, aber leider nicht klug war, so wie es bei der Mehrzahl der Frauen der Fall ist, die sich selbst für große Diplomaten halten.

Drei Wochen vor unserer Abfahrt erscheint auf meiner Robinsonmansarde in Saltykowka, wie vom Himmel gefallen, Frau E. in Begleitung von Herrn Babenko. Herrn Babenko kannte ich noch aus Petersburg, wo er in der Wohnung von Josef Antonowitsch drei lange Jahre ununterbrochen gesoffen hat.

Ich war über diesen unerwarteten Besuch überrascht und noch mehr erstaunt, als Frau E. mich bat, sie mitzunehmen, und nicht nur sie, sondern auch Herrn Babenko, der ihr Verlobter oder Gatte oder so was Ähnliches war – wer soll bei der Einfachheit der Sowjetsitten sich darin auskennen?

Das war noch kein Schlag, aber bereits eine Gefahr. Bei unserer Nervosität, die durch zweijährige Vorbereitungen und Mißerfolge schon ohnehin gesteigert war, wurde die ganze Lage gefahrvoll. Was für ein Recht hatte Frau E., Herrn Babenko in unser Projekt ohne unsere vorherige Zustimmung einzuweihen? Und daß Babenko eingeweiht war, das war klar, trotz aller Beteuerungen von Frau E.

Wir zweifelten nicht an der subjektiven Loyalität der Frau E. Wer war aber Babenko? Ist er ein Geheimagent, dann werden wir weder fortfahren noch flüchten können. Ist er kein Geheimagent, dann wird er uns als ehemaliger Artillerieoffizier, ein Mensch mit ausgezeichneter Sehkraft und hervorragendem Orientierungsvermögen, im Walde sehr nützlich sein, besonders in Karelien mit seinen Anomalien und der damit verbundenen Unzuverlässigkeit des Kompasses. Seine Jagd- und Walderfahrungen haben wir geprüft; aber bezüglich seiner Artillerievergangenheit war doch eine gewisse Unklarheit vorhanden …

Wir unterhielten uns über Waffen. Dabei sagte Babenko, daß er seinerzeit während des Weltkrieges im Felde sich sehr viel im Schießen aus dem Naganrevolver geübt hätte, und daß er auf eine Distanz von fünfhundert Schritt ziemlich sicher eine mannsgroße Zielscheibe treffe.

Somit ist im wohlaufgebauten Lebenslauf des Herrn Babenko eine Lücke, und in diese stürzten alle unsere Verdächtigungen hinein …

Aber was sollten wir tun? Wenn Babenko ein Geheimagent ist, dann sind wir bereits unter die Lupe genommen; irgendwo hier in Saltykowka unter den Fenstern oder in den Winkeln stecken die verhaßten GPU-Agenten, jeder unserer Schritte steht bereits unter Kontrolle …

Andererseits, warum soll uns Babenko verraten? Frau E. hat in Polen ein sehr rentables Gut, Babenko ist der Bräutigam von Frau E., und dieses Gut ist in jedem Falle anziehender als dreißig Silberlinge, die Babenko für den Verrat vielleicht bekommt, vielleicht auch nicht …

Das war eine sehr schwere Zeit von unbestimmten Verdächtigungen und bedrückenden Vorahnungen. Noch eine Möglichkeit hatten wir, sie war allerdings mit viel Risiko und großer Mühe verbunden: die GPU an der Nase zu führen, nachts das Haus zu verlassen und durch die Wälder nach der Grenze zu streben; aber nicht mehr nach der finnischen, sondern nach der persischen Grenze, dazu noch ohne Ausweise und fast ohne Geld.

Trotzdem fuhren wir fort. Ich hatte das Gefühl, als ob ich an einer Begräbnisprozession teilnähme, und die Verstorbenen wir selbst wären.

In Petersburg sollte uns Babenko empfangen und sich uns anschließen. Die Reise der Frau E. kam nicht mehr in Frage, da sie inzwischen die Möglichkeit einer legalen Ausreise durch »Inturist« erhalten hatte Später, schon im Auslande, habe ich erfahren, daß zu der Zeit Frau E. bereits verhaftet war.. Babenko empfing uns und besorgte sehr schnell und geschickt die Fahr- und Platzkarten bis zur Station Schujskaja der Murman-Eisenbahn.

Ich glaube nicht, daß damals jemand von uns sich bei klarem Verstand und freiem Willen befand. Irgendwie schlaff, ohne es aber weiter zu verfolgen, nahm ich Notiz davon, daß der Eisenbahnwagen, für welchen Babenko die Platzkarten besorgt hatte, der letzte des Zuges war, daß die Nummern der Platzkarten durcheinander gingen: Nummer 3, 6, 8 und so weiter, und daß der Zugführer ohne einen stichhaltigen Grund unbedingt darauf bestand, daß wir die Plätze genau nach den Nummern der Platzkarten belegten, obwohl wir mit den übrigen Mitreisenden uns entsprechend einigten, um zusammensitzen zu können. Auch die Mitreisenden waren irgendwie merkwürdig …

Abends versammelten wir uns in einem Abteil. Babenko schenkte den Tee ein, und nach dem Tee schlief ich, lange vorher von Schlaflosigkeit geplagt, plötzlich ganz schnell ein, als ob ich in einen Abgrund stürzte … Ich kann mich heute nicht genau entsinnen, wie alles kam … Ich erinnere mich noch daran, daß ich eine heftige Bewegung machte und irgendeinen Menschen an die gegenüberliegende Wand des Abteils schmiß, der mit großem Gepolter aufschlug; jemand hängte sich auf meine Hand, ein anderer umfaßte meine Knie, ein paar Hände packten mich an der Gurgel, und dicht vor meinem Gesicht tauchten drei bis vier Revolverläufe auf.

Ich begriff sofort, daß alles zu Ende war. Als ob ein plötzlicher Blitz in einem Augenblick alles erleuchtet hätte – Babenko mit seiner merkwürdigen Schießtheorie, die merkwürdigen Platzkartennummern und auch jene sechsunddreißig Mitreisende, die unter der Larve von Ingenieuren, Fischereispezialisten, Buchhaltern, Eisenbahnern angeblich nach Murmansk, Kem und Petrosawodsk fuhren.

Kampfgetöse entstand, Alarmschreie der Tschekisten, hysterisches Gewinsel von Stepanoff, jemand stöhnte herzzerreißend … ein »würdig aussehender« Ingenieur fuchtelt vor meinem Gesicht mit einem Coltrevolver, der Colt zittert in seinen Händen, und gedämpft, jedoch auch hysterisch schreit er: »Hände hoch, Hände hoch, sage ich Ihnen!« Ein offensichtlich sinnloser Befehl; denn ich habe auf jedem Arm bereits drei Mann hängen, und auf meinen Handgelenken sind bereits kurze Handschellen eingeschnappt … Irgendein »Buchhalter« von eben hält mein Bein und hat sich sogar in ein Hosenbein verbissen. Der Mann, den ich an die Wand gestoßen, zieht krampfhaft etwas Glänzendes aus der Tasche … Das ganze Abteil starrt plötzlich von Revolverläufen …

Wir fuhren in demselben Wagen nach Petersburg zurück. Man hat ihn einfach von unserem Zuge abgehängt und an einen entgegengesetzt fahrenden Zug wieder angehängt. Höchstwahrscheinlich hatte niemand außerhalb unseres Wagens etwas von dem ganzen Vorfall gemerkt.

Ich sitze am Fenster. Meine Hände sind von den Handschellen, deren Ringe für meine Handgelenke zu eng sind, stark geschwollen. Im Abteil halten drei Tschekisten, die mich keine Sekunde außer acht lassen, die Wache. Sie sind ausgesucht höflich zu mir. Mehrere von ihnen kennen mich persönlich. Auf die Jagd auf solch großes »Wild« wie mich und meinen Bruder hat die GPU offensichtlich die Hälfte der Schwergewichtlerabteilung des Leningrader »Dynamo« abkommandiert.

Wahrhaftig, saubere Arbeit, obwohl nicht ohne zu üppigen Kostenaufwand. Aber was macht sich die GPU aus den Kosten? Nicht nur einen separaten D-Zugwagen, einen ganzen Zug hätten sie für mich mit Beschlag belegt. Im Netz liegen nunmehr unnötig gewordene Waffen. Wir hatten zwei Doppelflinten, ein altes Gewehr, ein kleinkalibriges Gewehr, und Irene besaß einen kleinen Browning, den Georg seinerzeit für sie aus dem Auslande eingeschmuggelt hatte … Im Walde, mit einem Sichtradius von vierzig bis fünfzig Metern wären es in den Händen für ihr Leben kämpfender Menschen ganz ernste Waffen. Hier im Wagen hatten wir nicht mal Zeit, danach zu greifen.

Ein trauriges Ende; aber was war zu machen! …

Die Befehlsgewalt im Wagen hat jener dicke »Ingenieur«, der vor meinem Gesicht mit dem Colt fuchtelte. Er heißt Dobrotin. Er erlaubt mir, unter äußerst verstärkter Bewachung auf die Toilette zu gehen, und unterwegs tausche ich mit Boris und Georg ein gezwungenes Lächeln aus … Außer Irene haben alle Handschellen an. Jammervoll schaut Stepanoff mich an. Seinerzeit nahm er an, daß die Wahrscheinlichkeit des Verrates durch Babenko wie eins zu hundert stünde. Gerade diese eine Wahrscheinlichkeit ging in Erfüllung … Nebenan, auch mit Handschellen versehen, sitzt Babenko mit dem Ausdruck gekränkter Unschuld in den unruhigen Augen … War es denn überhaupt nötig, bei solch luxuriöser Inszenierung außerdem noch diese billige Maskerade zu veranstalten!

Spätabends am selben Tage im Innenhof der Leningrader GPU stochert Dobrotin lange mit dem Schlüssel an meinen Handschellen und bekommt sie nicht auf. Meine Hände sehen wie Boxhandschuhe aus, so stark sind sie geschwollen. Boris, bereits entfesselt, massiert sich die Handgelenke und sagt ironisch: »Wie kommt es, Genosse Dobrotin, daß Sie bei Ihrer doch großen Praxis bis jetzt noch nicht gelernt haben, wie man mit den Handschellen umgeht …«

Bald danach verabschieden wir uns mit schlecht geheuchelter Ruhe. Ich drücke Boris die Hand, und Irene küßt mich auf die Stirn. Georg bemüht sich, mich nicht anzusehen, reicht mir die Hand und sagt:

»Macht nichts, Vater … Auf Wiedersehen … in der vierten Dimension …«

Das ist seine trostvolle Lieblingstheorie über die Seelenwanderung in der vierten Dimension. Seine Stimme zeigt aber keinen festen Glauben an diese Theorie.

»Nitschewo, Schorschi. So Gott will, kommen wir noch in der dritten Dimension zusammen …«

Ganz niedergeschlagen steht Stepanoff da, und es ist kaum anzunehmen, daß er augenblicklich zurechnungsfähig ist. Wie ein fester Ring stehen um uns alle sechsunddreißig an unserer Verhaftung beteiligten Tschekisten, obwohl uns von der Freiheit zyklopische Eisenbetonwände des GPU-Gefängnisses ganz neuer Bauart trennen. Offensichtlich ist es das einzige, was die Sowjetmacht auf lange Sicht und dauerhaft geschaffen hat.

Ich ersteige einige schmale Betontreppen. Dann geht es durch ein ganzes Labyrinth von Korridoren. Zweistündige Leibesvisitation. Einzelzelle. Vier Schritt hin, vier Schritt zurück. Schlaflose Nächte. Dröhnendes Zuschlagen von Eisentüren …

Und das Warten …

 

Verhöre

In den Gefängniskorridoren herrscht eine Hundekälte und mustergültige Sauberkeit. Der Aufseher geht hinter mir her und kommandiert: »Links … runter … rechts …« Die Fußböden sind mit Filz ausgelegt. In den zyklopischen Wänden tiefe Nischen, die in die Kammern führen. Das ist der Einzelzellenkomplex.

Weit vorn um die Ecke des Korridors erscheint die Gestalt eines Häftlings. Der ihn begleitende Aufseher kommandiert etwas, und der Häftling verschwindet in einer Nische. Nur flüchtig sehe ich ein furchtbar abgemagertes Gesicht. Wiederum kommandiert mein Aufseher:

»Vorgehen, geradeaus sehen!«

Ich schiele doch hinüber. Der Häftling steht mit dem Gesicht zur Zellentür gewandt, und der Aufseher deckt ihn mit seinem Körper. Es ist eine unbekannte Gestalt …

Man bringt mich in das Arbeitszimmer des Untersuchungsrichters, und ich sehe zu meinem größten Erstaunen hinter einem riesigen Diplomatenschreibtisch Dobrotin thronen.

Seine Hände zittern jetzt nicht, auf dem runden wohlgenährten Gesicht liegt ein ruhiges und sogar wohlwollendes Lächeln.

Ich begreife vollkommen, daß Dobrotin allen Grund hat, zufrieden zu sein. Er war es, der die ganze Operation, zwar theatralisch, jedoch verschwiegen und mit Erfolg durchgeführt hat. Er war es, der eine bewaffnete Gruppe gefangen hat; in seinen Händen hat er jetzt eine richtige Sache; denn nicht jeden Tag gelingt es der GPU, auch nicht der Leningrader, aus dem ungeheuren Wust von Denunziationen, »Romanen« und sonstigen tragikomischen Inszenierungen wenigstens ein Körnchen, einen kleinen Fall richtiger Konterrevolution, dazu noch einer bewaffneten, ausfindig zu machen.

Das Gesicht von Dobrotin strahlt, als er sich erhebt, mir die Hand reicht und spricht:

»Nehmen Sie doch Platz, Iwan Lukjanowitsch.«

Ich setze mich und betrachte dieses Gesicht, immerhin das Gesicht des Siegers. Dobrotin reicht mir die Zigaretten, und ich stecke eine an. Ich habe seit zwei Wochen nicht geraucht, und von der Zigarette schwindelt mir ein wenig der Kopf.

»Wünschen Sie Tee?«

Selbstverständlich wünsche ich Tee … Nach einigen Minuten wird der Tee gebracht, richtiger Tee, den man selbst in der Freiheit nicht bekommt, mit Zitrone und Zucker.

»Na, Iwan Lukjanowitsch«, beginnt Dobrotin, »Sie verstehen natürlich vollkommen, daß uns alles, aber auch alles bekannt ist. Die einzig richtige Politik für Sie: Karten auf den Tisch!«

Ich verstehe wohl – was sind da noch für Karten auf den Tisch zu legen, wenn alle Karten bereits ohnehin in den Händen von der GPU sind. Wenn Dobrotin kein vollendeter Dummkopf ist, und dies zu vermuten habe ich ganz entschieden keinerlei Gründe, dann hat er außer den Aussagen Babenkos sowie der Frau E. noch die Aussagen von Stepanoff, was am schlimmsten ist. Denn was dieser im ersten Schreck alles dahergeredet haben mochte, kann sich nicht mal der schlaueste Mensch vorstellen …

Der Tee und die Zigaretten haben meine Nerven inzwischen ziemlich beruhigt. Ich bin fast ruhig. Ich kann gelassen Dobrotin beobachten, den Tonfall seiner Stimme enträtseln und mancherlei Pläne zur Selbstverteidigung schmieden, – allerdings äußerst nebelhafte Pläne …

»Ich muß Sie vorher wissen lassen, Iwan Lukjanowitsch, daß eine unmittelbare Gefahr Ihrem Leben nicht droht, besonders nicht, wenn Sie meinen Rat befolgen. Wir sind keine Schlächter. Wir erschießen nicht mal die Verbrecher, die gefährlicher als Sie sind. Sehen Sie da« – hierbei macht Dobrotin eine ausholende Geste zum Fenster hin. Dort hinter dem Fenster im Innenhof der GPU war man mit dem Ausbau von weiteren Gefängniskomplexen beschäftigt. – »Dort arbeiten die Menschen, die sogar zum Erschießen verurteilt waren, und nun büßen sie durch die Arbeit die früheren an der Sowjetmacht begangenen Sünden ab. Wir sehen unsere Aufgabe nicht in der Bestrafung, sondern in der Besserung …«

Ich sitze im weichen Sessel, rauche Zigaretten und denke mir, daß diese diplomatische Einleitung gar nichts Gutes verheißt. Dobrotin umschleicht mich. Und das kann nur eins bedeuten: Auf dem Boden der unbestrittenen und der GPU auch ohne mich bekannten Tatsachen will Dobrotin jetzt noch etwas »aufbauen«, die Sache aufbauschen, noch irgend jemand hineinverwickeln. Wie und wen eigentlich, weiß ich noch nicht.

»Als vernünftiger Mensch verstehen Sie wohl, daß der Verlauf Ihrer Sache vor allem von Ihnen selbst abhängt. Folglich hängt auch das Schicksal Ihrer Angehörigen – Ihres Sohnes und des Bruders – von Ihnen ab … Glauben Sie mir, ich bin nicht nur Untersuchungsrichter, sondern auch Mensch. Das bedeutet natürlich nicht, daß die Untersuchungsrichter keine Menschen sind … Aber Ihr Sohn ist noch so jung …«

Ei, ei – denke ich –, bin ich bei der GPU oder in einer Sonntagspredigt?

»Sagen Sie mal, Genosse Dobrotin, Sie sprachen soeben davon, daß Sie uns nicht für gefährliche Verbrecher halten … Wozu dann, sagen wir, diese verschwenderische Verhaftungsart? Sonderwagen, fast vierzig Bewaffnete …«

»Gut denn, sollen Sie es wissen; vom Standpunkt der Sowjetmacht aus sind Sie ungefährlich, konnten aber vom Standpunkt unseres operativen Apparates Exekutivabteilung der GPU. aus sehr gefährlich werden … Glauben Sie mir, wir sind über Ihre athletischen Errungenschaften sehr genau im Bilde, und doch hat Ihr Bruder einem unserer Mitarbeiter den Arm gebrochen.«

»Ist das ein erschwerender Umstand?«

»Ach was, Kleinigkeit. Aber wenn wir weniger Mitarbeiter gehabt hätten, dann hätte er allen die Knochen zusammengehauen … Man hätte schießen müssen … Ein verwegener Bursche, Ihr Bruder.«

»Kein Wunder. Sie haben ihn fast acht Jahre durch Gefängnisse geschleppt, und das für nichts und wieder nichts …«

»Erstens, nicht umsonst … Und zweitens, unserer Ansicht nach wird Ihr Bruder kaum einer Besserung zugänglich sein. Über sein Schicksal müssen wir ganz ernst nachdenken. Es wird mir sehr schwer sein, für ihn … ein gelinderes Strafmaß durchzusetzen. Besonders, wenn Sie mir nicht entgegenkommen.«

Dobrotin sieht mich beredt an, als ob er mit diesem Blick den Punkt über ein noch nicht ausgesprochenes »I« setzen wollte. Ich verstehe – ins Allgemeinverständliche übersetzt, soll dies bedeuten: entweder unterschreiben Sie alles, was Ihnen befohlen wird, oder …

Ich weiß noch nicht, was mir befohlen wird. Höchstwahrscheinlich werde ich es auch nicht unterschreiben … Und dann?

»Mir scheint, Genosse Dobrotin, daß die ganze Sache völlig klar ist, und daß ich schriftlich nur das zu bestätigen habe, was Sie sowieso wissen.«

»Und woher wissen Sie, was wir eigentlich wissen?«

»Aber ich bitte Sie, Sie haben doch Stepanoff, Frau E., ›Korpus delikti‹, und endlich den Genossen Babenko.«

Bei dem letzteren Namen lächelt Dobrotin schalkhaft.

»Nu, Babenko hat noch seine eigene Geschichte, die auf dem Gebiete der Schädigung der Sowjet-Fischereiindustrie liegt.«

»Ach, jetzt verstehe ich. Soll er etwa diese Schädigung jetzt wiedergutmachen?«

»Hören Sie mal«, sagt mir Dobrotin diplomatisch, »die Untersuchung führe ich und nicht Sie …«

»Ich verstehe. Übrigens ist für mich die Sache ebenso klar wie für Sie.«

»Mir ist nicht alles klar. Zum Beispiel wie Sie zu den Waffen und Ausweisen kamen?«

Ich erkläre, daß ich, Georg und Stepanoff als Mitglieder des Jägervereins die Jagdflinten zu halten berechtigt waren. Das kleinkalibrige Gewehr hat Boris in dem Schießstandlager der »Osoawiachim« geklaut. Den kleinen Browning brachte Georg von seiner Auslandsreise mit. Die Ausweise sind alle richtig, amtlich und auf eine legale und offizielle Weise dort und dort ausgestellt uns ausgehändigt.

Dobrotin ist offensichtlich enttäuscht. Er hat irgend etwas Komplizierteres erwartet; etwas, wodurch man einige Komplicen herausfischen, irgendwelche »Fäden« finden und überhaupt Pinkertonromantik fabrizieren konnte. Er weiß, daß selbst die gewöhnlichste Jagdflinte in der Sowjetunion zu bekommen, eine sehr schwierige Sache ist, die bei weitem nicht jedem gelingt. Ich erzähle, wie wir, mein Sohn und ich, an verschiedenen Expeditionen teilnahmen: nach Mittelasien, nach dem Kirgisenland, nach dem Kaukasus und so weiter, und daß wir unter diesem Vorwand auf eine durchaus legale Weise die Waffen bekommen haben. Dobrotin versucht, aus meiner Erzählung irgendwelche Widersprüche, und ich versuche, aus Dobrotin wenigstens ein ungefähres Gerippe jener »Aussagen« herauszuziehen, die mir später vorgehalten werden. Wir erleiden alle beide ein vollständiges Fiasko.

»Ich will Ihnen folgendes vorschlagen«, sagt endlich Dobrotin. »Ich werde anordnen, daß man in Ihre Zelle Papier und Tinte schafft, und Sie schreiben selbst alle Aussagen nieder, ohne irgend etwas zu verbergen. Und nun erinnere ich Sie nochmals daran, daß alles von Ihrer Offenheit abhängt.«

Dobrotin nimmt wieder das Aussehen eines leutseligen Menschen an, und ich entschließe mich, den günstigen Augenblick auszunutzen.

»Können Sie vielleicht gleichzeitig anordnen, daß man mir zusammen mit dem Schreibpapier wenigstens einen Teil von den beschlagnahmten Lebensmitteln bringt?«

Während ich in der Einzelzelle hungerte, dachte ich oft begehrlich an jene Speck-, Zucker- und Zwiebackvorräte, die wir mit uns führten und die jetzt höchstwahrscheinlich irgendwelche Tschekisten fraßen …

»Das wird nicht leicht gehen, Iwan Lukjanowitsch. Die Gefängnisverwaltung ist den Untersuchungsbehörden nicht unterstellt. Außerdem sind Ihre Vorräte wahrscheinlich bereits aufgezehrt … es waren doch schnell verderbliche Lebensmittel.«

»Na, die ›schnell verderblichen‹ hätten wir auch selbst aufessen können …«

»Tja … Ihrem Sohn ließ ich etwas übergeben.« Das lügt er, nichts hat er ihm übergeben, wie ich später erfahren sollte. »Will mich auch für Sie verwenden, wie ich überhaupt bereit bin, Ihnen bezüglich der Hafterleichterung und der Ernährung entgegenzukommen … Hoffe, daß auch Sie …«

»Freilich, es liegt in Ihrem und liegt in meinem Interesse, die Sache nicht in die Länge zu ziehen, wie sie auch ausfallen mag …«

Dobrotin versteht meine Andeutung.

»Ich versichere Ihnen, Iwan Lukjanowitsch, daß nichts besonders Schlimmes geschehen wird … Und nun einstweilen: Auf Wiedersehen.«

Ich erhebe mich von meinem Sessel und sehe, daß neben Dobrotin auf einem aus dem Schreibtisch herausgezogenen Brett ein großkalibriger Colt mit gespanntem Hahn liegt.

Offensichtlich war Dobrotin auf ein weniger anständiges Ende unserer Unterredung gefaßt …

 

Die Geschichte Stepanoffs

Höflichkeit ist eine Eigenschaft, die selbst bei einem Henker angenehm empfunden wird. Es war ein Trost, daß man mir bis jetzt den Revolver nicht dauernd vor die Nase hielt und keine Erschießung inszenierte. Doch ging es nur einstweilen so, und das Verhör brachte ganz entschieden nichts Neues mit sich. Die Unterhaltung war ganz und gar ergebnislos. An die Versprechungen Dobrotins glaube ich natürlich nicht. Wie ich auch nicht an seine Krokodilseufzer wegen der Jugend Georgs glaube. Allerdings wird er wahrscheinlich ins Zwangsarbeitslager kommen. Macht das aber etwas aus? Den Tod des Vaters und des Onkels wird er sicher rächen. – Er gehört nicht zu den stillen Naturen. Also wird er auch erschossen, nur etwas später. Stepanoff kommt wahrscheinlich am billigsten davon. Er allein hatte keine Waffe bei sich und nahm keinen Anteil an den Fluchtvorbereitungen. Er ist ein altes, modriges und völlig apolitisches Hauptbuch. Wer braucht ihn auch, den völlig einsamen, von allem abseitsstehenden Menschen, dessen einzige Schuld darin bestand, daß er unter Lebenseinsatz sich nach Hause in die Heimat durchzuschlängeln versuchte, um dort seinen Lebensabend zu verbringen …

Flüchtig schreibe ich meine Aussagen nieder und warte auf die nächste Vorladung, um zu erfahren, wann die Untersuchung als solche abgeschlossen wird und wann die Versuche, aus mir einen »Roman« herauszupressen, beginnen werden.

Meine Aussagen holt der Aufseher ab und bringt sie zu Dobrotin. Nach etwa drei Tagen werde ich wiederum zum Verhör geführt.

Dobrotin empfängt mich ebenso höflich wie das erstemal, nur drückt sein Gesicht eine Enttäuschung aus.

»Ich muß Ihnen sagen, Iwan Lukjanowitsch, daß Ihre Schreiberei nicht zu gebrauchen ist. Das alles wissen wir auch ohne Sie. Ihr Fluchtversuch interessiert uns recht wenig. Uns interessiert Ihre Spionage.«

Dobrotin wirft dieses Wort wie ein schweres Wurfgeschoß hin, das mich umwerfen oder mir mein fürwahr sehr relatives Gleichgewicht rauben soll, doch bleibe ich gleichgültig. Wortlos und fragend schaue ich Dobrotin an.

Er durchdringt mich mit seinem Blick. Der technische Teil dieses Verfahrens gelingt ihm offensichtlich nicht. Ich rauche seine Zigaretten und warte …

»Die Grundrisse Ihrer ›Arbeit‹ sind uns zur Genüge bekannt, und es wäre Ihrerseits, Iwan Lukjanowitsch, sogar sozusagen unklug, diese Arbeit in Abrede zu stellen. Jedoch sind uns eine ganze Reihe von Einzelfäden nicht klar. Das müssen Sie uns aufklären …«

»Bedaure, Ihnen weder in puncto der Grundrisse noch der Fäden helfen zu können.«

»Also haben Sie vor, Ihre ›Arbeit‹ doch in Abrede zu stellen?«

»Jawohl, ganz entschieden. Hauptsächlich deshalb, weil eine solche Arbeit überhaupt nicht existierte.«

»Aber erlauben Sie mal, Iwan Lukjanowitsch! Wir haben die Meldungen unserer Agenten. Wir haben die Kopien Ihres Schriftwechsels und schließlich die Aussagen Stepanoffs, der in allem geständig ist …«

Später, schon auf dem Wege ins Zwangsarbeitslager, habe ich erfahren, daß Stepanoff bei weitem nicht die gleiche hochanständige Behandlung widerfuhr, wie es mit uns der Fall war. Der gleiche Dobrotin, der augenblicklich von Korrektheit nahezu glänzte, schlug mit der Faust auf den Tisch, schimpfte ganz unflätig, hielt ihm den Colt vor die Nase und drohte, ihn wie einen krepierten Hund niederzuknallen. Ich weiß nicht, warum ausgerechnet gerade wie einen krepierten … Stepanoff hat tatsächlich gewaltig gequatscht. Einen ganzen Haufen von unheimlichem Quatsch hat er dahergezaubert und Leute darin verwickelt, die er kannte und die er nicht kannte. Er wurde so eingeschüchtert, daß das Ungestüm seiner »Aussagen« alle Sperren der einfachsten Logik durchbrach, so daß Dobrotin selbst nicht Herr darüber werden konnte. Das wurde mir gleich nach den ersten Minuten des Verhöres klar. Seine »Agentenmeldungen« kosteten nicht einen Pfifferling; die Bespitzelung meiner Person, wie es sich herausstellte, hat nichts Gescheites gebracht; denn es gab nichts zu bespitzeln; meine Briefe wurden stets einer geheimen Durchsicht unterworfen; aber auch das half Dobrotin nicht weiter, er konnte nur Tatsachen finden, die seine eigene oder richtiger gesagt Stepanoffs Theorie zerstörten. Es blieb allein diese »Theorie« oder genauer gesagt das Gerippe des »Romans«, den ich gestalten und beseelen sollte, indem ich den ganzen Unsinn mit meiner Unterschrift bekräftigte. Dann hätte Dobrotin eine richtige Sache in den Händen, die ihm zu dem weiteren Aufbau seiner Karriere verholfen hätte, gleichgültig ob noch mehrere, völlig unschuldige Menschen mit darin verwickelt würden.

Wenn der ganze Unsinn wenigstens einigermaßen in Einklang mit der menschlichen Denkweise stünde, dann wäre es nicht leicht, glimpflich davonzukommen. Immerhin hatte ich einige ausländische Bekannte. Die Verbindung mit dem Auslande konnte mir auch nachgewiesen werden. Das alles war schon an und für sich von dem sowjetistischen Standpunkt aus ziemlich anstößig; denn die Sowjetmacht trennt nicht nur das gesamte Ausland, sondern jeden einzelnen Ausländer mit einer »chinesischen Mauer« von dem Anblick der Sowjetarmut, und den Sowjeteinwohner trennt sie von den »Verführungen« der »Burschuiländer«.

Ich weiß bis heute nicht, wie man eigentlich das Gerippe dieses Romans konstruiert hat. Mir scheint, daß der seelische Aufruhr Stepanoffs in einen »sozialistischen Wettbewerb« mit dem Strebertum Dobrotins trat, und aus beiden, ohnehin nicht besonders schlauen Verbindungen kam ein ganz und gar widernatürlicher Bastard zur Welt. Hebammendienste leisten mußten Georgs Fußballkameraden, die englische Familie, die bei mir in Saltykowka ab und zu ihr Wochenende verbrachte, mehrere bekannte Journalisten, meine ausgedehnten Reisen in Rußland und alles nur Erdenkliche. Weder eine logische noch eine chronologische Bindung konnte man an der ganzen Sache erkennen. Zu einem Indiz stand stets ein anderes in Widerspruch, und es hätte nichts gekostet, die völlige logische Unsinnigkeit dieses ganzen »Romans« nachzuweisen.

Aber was hätte es geholfen, wenn ich auch den Beweis hierfür erbracht hätte? So, wie der Roman war, hätte er selbst nicht von dem anspruchslosen GPU-Magen verdaut werden können. Würde ich Dobrotin auf die schreienden Unsinnigkeiten hinweisen, so würde er diese beseitigen und dem GPU-Kollegium eine Anklageschrift zustellen, die einiger, zwar ziemlich zweifelhafter Wahrheit nicht entbehrte. Diese Wahrscheinlichkeit hätte für die Schaffung einer neuen »Sache« und für die Verhaftung neuer »Spione« genügt.

Ganz einfach sage ich Dobrotin, daß ich nach seinen eigenen Worten ein vernünftiger Mensch sei, und daß ich eben deshalb weder an seine Versprechungen noch an seine Drohungen glaube, daß diese ganze Pinkertonromantik mit Spionen ein selten dämlicher Unsinn sei, und daß ich keinerlei dieses Thema betreffende Aussagen jemals unterschreiben werde. Ich sage ihm noch, daß man Stepanoff einschüchtern und ihn durch einen primitiven Köder einfangen konnte, daß aber ich auf solche Köder nicht anbeiße.

Dobrotin stutzt plötzlich, sein Gesicht verzieht sich für einen Augenblick vor Wut, und hinter der glänzenden Tünche eines wohlgenährten und gutmütig-korrekten, sogar etwas europäisierten »Untersuchungsrichters« blitzen die fletschenden Zähne eines Tschekisten auf.

»Ach so einer sind Sie …«

»Jawohl, so einer …«

Einige Sekunden starren wir uns gegenseitig an.

»Na, dann werden wir Sie zu einem Geständnis schon bringen …«

»Höchst unwahrscheinlich …«

Dem Gesicht Dobrotins sehe ich an, daß er sich im Zweifel befindet. Er ist von seinem europäischen Stil abgekommen, wagt aber nicht zu dem üblichen tschekistischen überzugehen – entweder auf Befehl oder aus Angst. In den drei Wochen der hungrigen Untersuchungshaft bin ich nicht allzusehr körperlich geschwächt und habe nichts zu verlieren. Deshalb wurde das Verhör unerwartet plump beendet.

»Sehen Sie«, spricht Dobrotin gereizt, »und ich habe mich für die Freigabe eures Zwiebacks verwendet.«

»Haben Sie sich etwa gedacht, meine Aussagen mit dem Zwieback zu erkaufen?«

»Nichts habe ich gedacht, nehmen Sie Ihren Zwieback mit, und nun können Sie in Ihre Zelle gehen.«

 

Synedrion

Schon am anderen Tage werde ich wiederum zum Verhör aufgerufen. Diesmal ist Dobrotin nicht allein. Mit ihm sitzen noch drei Untersuchungsrichter am Tisch; offensichtlich etwas höher im Rang. Einer sogar in Tschekistenuniform und mit zwei Rhomben auf den Litzen. Es wird also ernst.

Dobrotin hält sich passiv und im Hintergrund. Das Verhör führen die drei Neuen. Etwa fünf Stunden lang muß ich endlose Fragen über meine sämtlichen Bekannten beantworten, wiederum taucht das mißgestaltete, unsinnige Gerippe des Stepanoffschen Detektivromans auf, diesmal aber in einer neuen Ausgabe. Man beschuldigt mich nicht mehr der Spionage, aber die Bürger X, Y, Z und andere sollen sich damit befaßt haben, was ich unbedingt wissen müßte. Die Spionage Stepanoffs erwähnen sie kaum, alles stützt sich auf mehrere von meinen ausländischen und nichtausländischen Bekannten. Es wird verlangt, daß ich diese überführenden Aussagen unterschreibe, und dann ist wiederum die Rede von der Jugend meines Sohnes, von meinem eigenen und des Bruders Schicksal. Andeutungen folgen, daß meine Aussagen sehr wichtig vom »internationalen Standpunkt« sind, daß in Anbetracht des diplomatischen Charakters der ganzen Sache mein Name nirgends genannt wird. Danach machte man äußerst durchsichtige Andeutungen über die Erschießung von uns dreien im Falle meiner Weigerung …

Die Stunden vergehen, und ich fühle, daß das Verhör zu einem laufenden Band wird. Die Untersuchungsrichter lösen sich gegenseitig ab, kommen und gehen. Ich kann schon ihre Gesichter schlecht unterscheiden. Ich sitze im Sessel am Schreibtisch im grellen Licht. Unmittelbar hinter dem Tisch sitzt Dobrotin, die übrigen sind im Schatten, an der Wand dieses gewaltigen Kabinetts, auf irgendeinem Diwan. Etwas vorlügen kann ich einfach deshalb nicht, weil ich nichts zu verbergen und deshalb auch nichts zu erfinden habe. Jedoch trübt dieses vielstündige Verhör und diese gewaltige Nervenanspannung bereits zeitweise das Bewußtsein, eine Apathie, eine Gleichgültigkeit bemächtigt sich meiner. Ich fühle, daß ich das laufende Band zum Stehen bringen muß.

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte der Mann mit zwei Rhomben.

»Wir beschuldigen Sie nicht der aktiven Spionage; aber was hat es für einen Sinn, wenn Sie sich selbst belasten und die anderen zu entschuldigen suchen. Die anderen gehen nicht so zart mit Ihnen um …«

Was bedeutet das Zeitwort »nicht zart umgehen« und dazu noch in der Gegenwart? Sollte es bedeuten, daß diese Menschen oder ein Teil von ihnen bereits verhaftet sind? Und daß sie tatsächlich mich nicht zu entschuldigen suchen? Oder ist das einfach ein neuer Trick?

Auf jeden Fall muß man das laufende Band zum Stillstand bringen.

Mit aller mir zugänglichen Ruhe und mit der ganzen mir eigenen Standhaftigkeit sage ich ungefähr folgendes:

»Ich bin Journalist und folglich in den Sowjetsachen ein reichlich erfahrener Mensch. Ich bin kein Kind und kein Feigling. Ich hege keinerlei Illusionen bezüglich meines eigenen und meiner Angehörigen Schicksals. Auch glaube ich keine Minute und nicht für einen Sechser an die Versprechungen und die Ermahnungen der GPU – diesen ganzen Roman halte ich für einen kompletten Unsinn und bin überzeugt, daß meine Untersuchungsrichter gleicher Meinung sind: jeder in etwa vernünftige Mensch kann auch nichts anderes denken. In Anbetracht all dessen werde ich weder die Aussagen unterschreiben noch überhaupt fernerhin irgendwelche machen.«

»Was heißt das: Ich werde nicht?«, springt einer der Untersuchungsrichter auf und verstummt plötzlich … Der Mann mit zwei Rhomben tritt langsam an den Tisch heran, zündet sich eine Zigarette an und sagt:

»Dann nicht, Iwan Lukjanowitsch; dadurch haben Sie aber Ihr eigenes Urteil besiegelt! … Und nicht nur das Ihrige. Wir wollten Ihnen helfen, sich selbst zu retten. Sie schlugen diese Möglichkeit aus. Nun, das ist Ihre Sache. Sie können gehen …«

Ich erhebe mich und gehe auf die Tür zu, an der ein Wachtposten steht.

»Wenn Sie sich's vielleicht anders überlegt haben«, spricht der Mann mit den zwei Rhomben hinter mir her, »dann teilen Sie es Ihrem Untersuchungsrichter mit … Wenn es nicht zu spät sein wird …«

»Ich habe nichts anders zu überlegen …«

Als ich in die Zelle zurückkam, fühlte ich mich fast entkräftet. Als ob man aus mir etwas ganz Wertvolles herausgenommen und meinen Kopf mit einer unendlichen Finsternis und Verzweiflung gefüllt hätte. Ist es mir gelungen, jemand zu retten? Habe ich den Bruder und den Sohn der Willkür jenes Mannes mit den zwei Rhomben nicht etwa preisgegeben? Weiß ich denn, was für Verhaftungen in Moskau durchgeführt, welche Verhörmethoden dort angewandt und welche Romane gesponnen wurden und werden? Ich weiß ganz genau, auch meine Logik, mein Verstand und meine Erfahrung wissen es, daß ich die Sache richtig angefaßt habe. Aber von irgendwoher, aus dem Unterbewußtsein erhebt sich etwas Dunkles, etwas fast Panikartiges – und dahinter der Krauskopf des Sohnes, auseinandergeborsten von einem Revolverschuß aus nächster Nähe …

Ich kroch bis über den Kopf unter die Decke, um nichts zu sehen, und damit man mich nicht durch das Guckloch in den Minuten meines Zusammenbruches beobachten konnte. Aber schon wurde der Riegel zurückgezogen, in die Zelle stürzten zwei Aufseher und zogen die Decke herunter. Was sie wollten, wußte ich im Moment nicht; aber mir fiel ein, daß es eine langsame, jedoch ziemlich sichere Art des Selbstmordes gibt: den Hals mit einem Bindfaden oder mit einem Bettlakenstreifen fest zuzubinden und sich hinzulegen. Die Schlagadern werden dadurch zusammengepreßt, man schläft ein und wacht nicht wieder auf. Aber ich war wieder bei vollem Bewußtsein.

»Das Licht stört mich.«

»Ganz egal, den Kopf dürfen Sie hier nicht zudecken …«

Dann waren die Aufseher fort; aber der Gucklochschieber raschelte die ganze Nacht …

 

Das Urteil

Die Tage eines stillen, eintönigen Wartens brachen an. Irgendwo in dem gigantischen und erbarmungslosen Räderwerk der GPU-Maschine befindet sich ein Aktenstück mit dem Vermerk: »Sache Nummer 2248«. Das Aktenstück läuft über diverse Rollen und Zahnräder … dann erfaßt es irgendein besonderes Zahnrad, und dann wird man eines Tages zu mir kommen und sagen: »Die Sachen packen!« …

Ich werde die Sachlage erkennen; denn sie kommen nicht zu zweit, auch nicht zu dritt. Sie kommen nachts. Sie werden in den Händen Revolver haben, und diese Revolver werden mehr zittern, als es bei Dobrotin mit seinem Colt im Wagen Nummer 13 der Fall war.

Und wieder lange, lange schlaflose Nächte. Düster blinzelt ein elektrisches Lämpchen von der Decke herab. Totenstille im Einzelzellenkomplex, nur selten durch einen nächtlichen letzten Todesschrei unterbrochen. Völlige Trennung von der übrigen Welt. Man hat das Gefühl eines lebendig begrabenen Menschen …

So vergehen drei Monate.

Eines Frühmorgens, etwa gegen sechs Uhr, betritt die Zelle ein Aufseher. In der Hand hält er ein Papier.

»Familienname?«

»Solonewitsch, Iwan Lukjanowitsch …«

»Auszug aus dem Beschluß des außerordentlichen Gerichtstribunals der PPO GPU LWO vom 28. November 1933.«

Für den Moment steht mein Herz still; aber im Gehirn ist schon alles klar: keine Erschießung. – Der Aufseher kam allein und ohne Waffen.

»… In der Sache Nummer 2248 des Bürgers Solonewitsch Iwan Lukjanowitsch, angeklagt der Verbrechen gegen Paragraph 58, Absatz 6; Paragraph 58, Absatz 10; Paragraph 58, Absatz 11 und Paragraph 59, Absatz 10.

Urteil: Der vorgenannte Bürger wird der in obigen Paragraphen genannten Verbrechen für schuldig erkannt und zum Aufenthalt in einem Besserungs- und Arbeitslager auf die Dauer von acht Jahren verurteilt. – Unterschreiben Sie!«

Der Aufseher legt das Papier mit dem Text nach unten. Ich will aber das Urteil selbst durchlesen und die Nummer, Paragraphen und Daten der Sache notieren. Der Aufseher will es nicht zulassen. Daraufhin weigere ich mich, zu unterschreiben. Endlich gibt er nach.

Später, schon im Zwangsarbeitslager, habe ich erfahren, daß es die übliche Form der Urteilsverkündung war (was die Bauern anbetrifft, so wird diesen das Urteil sehr oft gar nicht verkündet). Und dann sitzt man im Lager, ohne zu wissen oder sich entsinnen zu können, welche Nummer, Urteilsdatum und Paragraphen seine Sache hatte, so daß es einem später nicht möglich ist, irgendwelche Eingaben zu machen oder Berufung einzulegen, ganz abgesehen davon, daß hierdurch die Möglichkeit irgendeiner Rechtsbeihilfe bedeutend erschwert wird …

Also – acht Jahre Zwangsarbeitslager. Ein Reisebrief für acht Jahre Zuchthaus, aber immerhin nicht ins Jenseits.

Das Gefühl einer gewaltigen Erleichterung bemächtigt sich meiner. Und im gleichen Augenblick rasen durch den Kopf eine ganze Reihe von Fragen: weshalb ein so mildes Urteil, nicht einmal zehn, sondern nur acht Jahre? Was ist mit Georg, Boris, Irene und Stepanoff? Und als letzte Frage, wie wird uns der nächste Fluchtversuch – der wievielte schon – gelingen? Denn wenn mir schon die Sowjetfreiheit unerträglich war, was ist dann erst vom Sowjetzuchthaus zu erwarten?

Auf die Frage des verhältnismäßig milden Urteils weiß ich bis heute keine bestimmte Antwort. Die wahrscheinlichste Erklärung wird sein, daß wir weder irgendwelche Denunziationen unterschrieben noch keinerlei »Romane« erdichtet haben. Die Figur eines Romanschreibers, wie man ihn während des Verhöres auch beschwichtigen mochte, bleibt immer eine unerwünschte Figur, freilich erst nach der endgültigen »Redigierung« des Romans. Er hat alles von ihm Verlangte niedergeschrieben; nachher könnte er aus dem Zwangsarbeitslager verschiedene Eingaben, Widerrufe, reumütige Zugeständnisse und dergleichen mehr zu schreiben anfangen. Es gibt doch mancherlei Gruppen innerhalb der GPU (sind darunter nicht viele, die einander ein Bein zu stellen versuchen?); es ist schon besser, sich eines solchen Romanschreibers ganz zu entledigen; der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann zu allen Teufeln gehen. Dann bleibt nur das Aktenstück übrig; aber niemand mehr kann dessen Inhalt widerlegen. Möglich, daß man mich am Leben ließ, weil es der GPU nicht gelang, eine große Sache aufzurollen. Es ist aber auch möglich, daß dabei die Anerkennung der Sowjetunion durch Amerika von Einfluß war. Wer kann es wissen?

Also hat auch Boris so was Ähnliches wie acht bis zehn Jahre Konzentrationslager bekommen. Ferner könnte man, von einer gewissen Proportionalität zwischen Schuld und Sühne ausgehend, vermuten, daß Georg lediglich mit einer Verbannung in eine mehr oder weniger entlegene Gegend davonkommen würde. Andererseits steht er aber mit dem Untersuchungsrichter auf einem sehr schlechten Fuß. Er hat sich geweigert, überhaupt irgendwelche Aussagen zu machen, so daß Dobrotin über ihn wiederholt sagte: »Auch Ihr Sohn, der Jüngste, dafür aber auch der geriebenste …« Und Stepanoff könnte sich durch seinen Roman sehr geschädigt haben …

Am gleichen Tage werde ich in das Sammelgefängnis auf der Nischegordskajastraße übergeführt …

 

Im Sammelgefängnis

Die gewaltigen Korridore des Sammelgefängnisses sind mit allerhand Volk überfüllt. Heute ist »Großempfang«. Aus den Provinzialgefängnissen kamen Hunderte von Bauern, aus dem Gefängnis in der Spalierstraße Arbeiter, dann Urki (Berufsverbrecher) und, zu meinem größten Erstaunen, nur vereinzelte Intellektuelle. Von weitem bemerke ich den hohen Schopf Georgs, und schon drängt er sich auf mich zu, er zeigt mit den Fingern: »Drei Jahre«. Er ist fast bis zur Unkenntlichkeit abgemagert. Ich erfahre später, daß er aus Protest gegen die ungenügende Verpflegung in den Hungerstreik getreten ist, eine Ursache, die nicht ganz einer Originalität entbehrt … Auch Boris ist hier, ebenfalls abgemagert, inzwischen vollbärtig geworden und bereits in den Gedanken vertieft, wie wir es einrichten können, um in dieselbe Gemeinschaftszelle zu kommen. Auch er hat wie ich acht Jahre bekommen; aber im Augenblick interessieren uns all diese Jahre gar nicht. Wir leben noch – und Gott sei Dank …

Boris unternimmt eine ganze Reihe von geheimnisvollen Manipulationen, und nach etwa zwei Stunden sind wir drei in einer Zelle, es ist allerdings eine Einzelzelle, aber trocken und licht, und, was die Hauptsache ist, wir sind ohne jegliche fremde Gesellschaft. Hier können wir uns fest umarmen, unsere Erlebnisse austauschen und … neue Fluchtpläne schmieden. In dieser Zelle haben wir uns sehr bald sozusagen heimisch gefühlt. Wir waren alle beisammen und einstweilen außer jeder Gefahr. Wir kamen uns vor wie Genesende nach einer schweren Krankheit, deren Kräfte ständig zunehmen und denen die ganze Welt sauberer und schöner erscheint, als sie in Wirklichkeit ist. Sogar eine uralte Bibliothek war im Gefängnis. Täglich wurden wir zum Spaziergang geführt … Zuerst wurde uns das Gehen schwer: die geschwächten Beine versagten uns den Dienst. Später, nachdem die ersten »Freßpakete« von außen neue Kräfte in unsere geschwächten Muskeln eingeflößt hatten, schlug Boris eines Tages vor:

»Von nun ab müssen wir uns im Laufen trainieren. Für den späteren Dauerlauf auf X-Kilometer: Sowjetunion – Ausland …«

Zum Spaziergang wurden auf den Gefängnishof die Insassen von etwa zehn Zellen zu gleicher Zeit herausgelassen. Man ging im Kreis, etwa vierzig Meter im Durchmesser, wobei jede Zelle von der anderen zehn Schritt Distanz halten mußte. Um diese Distanz nicht zu übertreten, waren wir gezwungen, fast »ohne Tritt« zu laufen; aber immerhin, wir liefen … Der »Spaziergangsaufseher« – eine eigens bestellte Amtsperson der Gefängnisverwaltung, welche den Spaziergang zu überwachen hatte – betrachtete unser Training zwar skeptisch, doch ohne sich einzumischen … Die Arbeiter lächelten über uns. Die Bauern schauten verdutzt drein … Aus den Fenstern der Gefängniskanzlei blickten ganz erstaunte Gesichter … und wir übten täglich weiter …

Der »Spaziergangsaufseher« betrachtete uns bald nicht mehr skeptisch, sondern sogar etwas teilnahmsvoll.

»Seid Ihr Sportsleute?« fragte er mich einmal.

»Russischer Meister«, zeigte ich auf Boris.

»Sieh mal an«, sagte der Aufseher …

Am anderen Tage, als der Spaziergang zu Ende war und die lange Reihe von Häftlingen hinter der Gefängnistür fast verschwunden war, winkte er uns zu und flüsterte:

»Los, auf den leeren Hof …«

So kamen wir zu der Möglichkeit, unser Training nicht unerheblich zu verbessern … und trafen im Lager in einer so guten Form ein, daß wir später viele scharfe Kanten und tragische Dinge des Lagerlebens mit Erfolg umgehen konnten.

Dieses Sammelgefängnis sollte man von Rechts wegen »Arbeiter- und Bauerngefängnis« nennen. Solange ich in Einzelhaft im Untersuchungsgefängnis saß, hatte ich keine Ahnung, aus welchen Schichten sich die Insassen der Sowjetgefängnisse zusammensetzten. Im Sammelgefängnis hatte ich bessere Möglichkeiten dazu. Zum Spaziergang wurden zu gleicher Zeit fünfzig bis hundert Insassen herausgelassen. Der Bestand dieser Gruppe wechselte ständig – einige wurden irgendwohin verschickt, neue kamen hinzu –; aber während eines ganzen Monats unseres hiesigen Aufenthaltes blieben wir in der Gruppe als einzige Vertreter der Intelligenz – ein Umstand, den ich eigentlich nicht erwartet hatte.

Größtenteils waren es Bauern – fürchterlich verhungerte Gestalten und von einer ganz eigentümlichen Schüchternheit … Mitunter hörte ich in den dunklen Ecken der Treppengeländer ein gedämpftes Flüstern:

»Brüderchen, hör mal, hast du vielleicht ein Stückchen Brot … und wenn es nur ein Stückchen Rinde ist? …«

Es gab auch viele Arbeiter darunter, die waren besser gekleidet und sahen nicht ganz so verhungert aus. Schließlich begegnete man noch düsteren Gestalten, voll restloser Verzweiflung und Aussichtslosigkeit, als »prominente Ausländer« im gleichen Kreise mitschreitend …

Es waren ausschließlich finnländische Arbeiter, die auf verschiedene Art und Weise, meistens aber auf illegalen Wegen in das Land des »aufbauenden Sozialismus« und in »die Heimat aller Werktätigen« übersiedelten … Rauh hat sie diese neue Heimat empfangen. Erstens wußte sie selbst nicht, wohin mit den eigenen Werktätigen, zweitens hatte sie keine Lust, den fremden Werktätigen ihre eigene Armut, Hungersnot und Massenerschießungen zu zeigen … Andererseits war es nicht ratsam, die fremden Werktätigen wieder zurückzulassen, zumal sie aus unmittelbarer Nähe und nicht aus dem Fenster eines Schlafwagens das Sowjetleben gesehen haben.

Und nun pendeln sie hier in diesem verwunschenen Kreise, auf dem Hofe des Sammelgefängnisses, der Landessprache unkundig, ohne Freunde, ohne Bekannte, losgerissen von der Freiheit ihres nicht proletarischen Vaterlandes und hineingeraten in das proletarische Gefängnis. Diese proletarischen Einwanderer – legale, halblegale und ganz illegale – bieten einen jammervollen Anblick … Sie wurden hierher gelockt durch jene haltlose kommunistische Agitation über die Schönheiten des sozialistischen Paradieses, die so charakteristisch war für die ersten Jahre des Fünfjahresplanes und für die ersten Hoffnungen, die man auf ihn setzte. Man vermutete eine stürmische Entwicklung der Industrie und somit eine große Nachfrage nach den gelernten Arbeitskräften, man erhoffte »eine nie dagewesene Hebung des Wohlstandes der breitesten Massen der Werktätigen« – allerlei hat man vermutet und gehofft. Der Fünfjahresplan kam und ging. Und es stellte sich heraus, daß man für seine eigenen Arbeiter nicht immer Platz hatte, daß das Land – als Zugabe zu den übrigen schönen »Errungenschaften« – von einer Massenarbeitslosigkeit bedroht wurde, und daß die Massen von dem »Wohlstand« noch weiter entfernt waren als vor dem Fünfjahresplan. Die Regierung begann selbst, solche ausländischen Arbeiter aus der Sowjetunion hinauszuekeln, die seinerzeit auf Grund von Sonderverträgen kamen und nunmehr weder anständig bezahlt noch menschlich ernährt werden konnten. Die Agitation aber ließ nicht nach. Tausende von Pechvögel-Idealisten gab es oder, wenn man will, von idealistischen Karauschen, die Hals über Kopf, meistens auf illegalen Wegen, nach der Sowjetunion strebten und dann in die Hechtzähne der GPU gerieten …

Man kann die politische Überzeugung solcher Menschen achten oder mißachten; aber bedauern muß man sie immer. Sie gehörten nicht zu jenen Kominternbonzen, welche nach Rußland mit meistens legalen, mitunter aber sehr illegalen Visen der Sowjetregierung kamen, um sich in der Krim und im Kaukasus auszuruhen oder auf Kosten des russischen Volkes von Insnab, »Anleihen« und einfach von Almosen zu leben … Sie, diese Idealisten, flogen von den sie schlecht behandelnden eigenen Kapitalisten zu ihren sozialistischen Brüdern … und die Brüder hatten nichts Eiligeres zu tun, als sie zu fesseln und in die Verließe der GPU zu werfen … Ich begegnete solchen Menschen in den verschiedensten Gebieten der Sowjetunion, darunter auch an der finnischen Grenze in Karelien, woher sie auf Lastautos, stark von der GPU bewacht, in das Gefängnis von Petrosawodsk geschleppt wurden … Damals weilte ich hier im Dorfe Kojkory, um das Gelände für unsere Flucht aus dem sozialistischen Paradies zu erkunden, während sie nach diesem Paradies strebten … Sie waren verhungert, noch mehr aber deprimiert und fassungslos … Sie haben noch sehr wenig gesehen, aber das, was sie sahen, war für die düsteren Vorahnungen ausreichend … Niemand von ihnen war der russischen Sprache mächtig, und niemand von der Wachmannschaft kannte irgendeine ausländische Sprache. Deshalb gelang es mir, auf einige Minuten in der Eigenschaft eines Dolmetschers unter sie zu kommen. Einer von ihnen sprach Deutsch. Ich dolmetschte unter den durchdringenden Blicken von einem halben Dutzend Tschekisten, die kein Auge von meinem Mund ließen. Der Finne verstand Deutsch recht schlecht, so daß ich gezwungen war, sehr deutlich und langsam zu sprechen. Unter den Wachhabenden war ein Jude. Er hätte irgend etwas von unserem Deutsch verstehen können, und ein überflüssiges Wort hätte mich ins Zwangsarbeitslager gebracht …

Wir standen am Lastwagen … Hinter den Bauernhütten lugten ab und zu die erschrockenen karelischen Bauern hervor, die den Lastwagen und die Finnen wie die Pest mieden: zwei, drei gewechselte Worte, und dann weiß der Allmächtige, was einem in die Schuhe geschoben wird. Die Finnen wußten, daß die einheimische Bevölkerung finnisch versteht, und der Finne, mit dem ich sprach, fragte mich, weshalb niemand von den Dorfbewohnern hinzukommt. Ich übersetzte die Frage dem Leiter der Wachmannschaft und bekam zur Antwort:

»Das geht diese nichts an.«

Als der Finne fragte, ob man hier nicht Brot und Speck bekommen könnte, brach die Wachmannschaft in ein schallendes Gelächter aus. Dann fragte er, wo man sie hinfahre. Der Leiter der Wache antwortete: »Wird schon selbst sehen«, und ermahnte mich, nichts Überflüssiges mitzuübersetzen … Der Finne wurde ganz fassungslos und wußte nichts mehr zu fragen. Die Verhafteten wurden auf Lastautos gebracht, und der Finne fragte mich zum letztenmal:

»Haben die bürgerlichen Zeitungen denn tatsächlich die Wahrheit geschrieben?«

Ich antwortete ihm mit den Worten des Leiters der Wache: »Sie werden es selbst sehen.« So verstand er, daß ihm noch allerhand bevorsteht.

In dem Zwangsarbeitslager BBK habe ich keinen einzigen von diesen freundlich gesinnten Einwanderern gesehen. Später erfuhr ich, daß sie alle weit weg von der Grenze – nach dem Ural, nach Westsibirien, nach Turkestan verschickt wurden, weit weg von der verführerischen Grenze, die sie zur Flucht, richtiger gesagt zur Rückkehr in ihr nichtsozialistisches Vaterland verleiten konnte.

 

Die guten und die schlechten Freunde

Das Angenehmste im Sammelgefängnis war, daß wir endlich mit der Freiheit in Verbindung treten konnten. Den Leuten, die seit vier Monaten nicht wußten, wo wir waren, konnten wir endlich eine Nachricht geben, endlich Briefe, »Freßpakete« und Besuche empfangen. Jedoch so einfach stand es um diese Verbindung nicht: wir waren keine ansässigen Petersburger, weshalb ich dort nur zwei alte Freunde kannte. Der eine von ihnen, Josef Antonowitsch, der Mann der Frau E., saß offensichtlich irgendwo nebenan zusammen mit uns, dafür war aber der andere in der Freiheit, außerhalb jeglicher Verdächtigung seitens der GPU und des Risikos, sich durch ein Freßpaket oder einen persönlichen Besuch verdächtig zu machen: eine solche Menge von Menschen sitzt bereits in Gefängnissen, daß, wenn man alle Anverwandten und Freunde jedes Inhaftierten verhaften wollte, ganz Rußland bald entvölkert wäre … Ich will keinen Namen nennen – sagen wir »Professor K.«. Lange, lange vor dem Krieg war er in unserer Familie als Vollwaise aufgenommen, wuchs heran, absolvierte Gymnasium und Universität. Heute war er ein friedlicher Professor in Petersburg und führte ein stilles, zurückgezogenes Gelehrtenleben. Mehrere Male war er während seiner Moskauer Dienstreisen bei mir in Saltykowka, so daß ich mit ihm fast eine ständige Verbindung hatte.

Dann hatte ich in Petersburg noch eine Kusine, diese habe ich in meinem Leben noch nie gesehen, Boris begegnete ihr einmal, es ist schon lange her, ganz flüchtig; wir wußten nur, daß sie, wie jedes in Sowjetrußland angestellte Mädchen, wie eine Bettlerin lebte, wie eine Zuchthäuslerin arbeiten mußte und obendrein, wie fast alle diese Menschen, tuberkulös war. Ich sagte, man müsse dieses Mädchen in Ruhe lassen und sie nicht behelligen mit den langwierigen Gängen für die Übergabe von Freßpaketen; dagegen könnten wir, wenn schon von jemandem, so von Professor K. etwas erwarten. Georg baute auf den Professor nicht viel, da er die Menschen, die alles widerspruchslos hinnahmen, im allgemeinen nicht liebte … Wir sandten schließlich beiden eine Karte. Wie sehnlich erwarteten wir den ersten Besuch! Wie gespannt waren wir auf diese erste Verbindung mit der Außenwelt seit vier Monaten. Mit der Außenwelt, wo unsere Nächsten entweder uns betrauerten oder von dem etwas Unwahrscheinlichen, daß wir noch am Leben seien, träumten; genau so, wie wir von der ersten Nachricht dorthin und von dem ersten Stückchen Brot von dort träumten. Nur wer im Leninschen Paradies lange und viel gehungert hat, weiß, was für eine große Bedeutung ein Stückchen Brot haben kann. Solange ich auf der Gefängnisration saß, konnte ich mir mit genügender Klarheit und Überzeugungskraft nicht vorstellen, daß zum Beispiel vor mir ein Stück Brot liegt, daß ich keinen Hunger habe, und daß ich es nicht essen werde. Das Brot beherrschte die Kommandohöhen meiner Psyche – erniedrigende Kommandohöhen!

Schon am ersten Besuchstage trat der Aufseher in unsere Zelle:

»Wer ist hier Solonewitsch?«

»Alle drei …«

Der Aufseher glotzte uns erstaunt an.

»Nanu, habt ihr euch aber vermehrt! Und wer ist Boris? Ins Besuchszimmer!« …

Boris kehrte mit einem Sack voll allerhand kostbarer Lebensmittel zurück: darin waren etwa drei Pfund Brotreste, fünf Pfund Pellkartoffeln, zwei Rüben, zwei Zwiebeln und mehrere Heringsstückchen. Das war alles, was Katja in der kurzen Zeit zusammenklauben konnte. Geld hatte sie, wie wir auch erwartet, keinen Pfennig. Unsere entsprechenden Hinweise, zu Gelde zu kommen, hatte sie noch nicht ausgenützt.

Aber wir hatten Kartoffeln, was für ein Festmahl! Und wie froh waren wir bei dem Gedanken, daß unsere Trennung von der Welt nunmehr ein Ende habe und wir gar nicht mehr so sehr zu bedauern seien. Im Vergleich mit dem Grabe ist das Sammelgefängnis eine Freude.

Professor K. aber kam nicht …

Am nächsten Besuchstage erschien Katja wieder … Der liebe Gott mag wissen, auf welche Art und unter welchen Vorwänden sie den Dienst schwänzen konnte, wieder Brot, Kartoffeln und Rüben zusammenfand, und was ihr die Kraft gab, halb krank, wie sie war, stundenlang vor dem Gefängnis Schlange zu stehen. Professor K. kam auch diesmal nicht, im Gegenteil, auf den telefonischen Anruf Katjas antwortete er, daß er natürlich sehr bedauere, aber leider nichts machen könne, weil er heute in seine Sommerwohnung fahre.

Das mit der Sommerwohnung konnte schon ganz und gar nicht stimmen – wir schrieben den Monat Dezember …

Nachts auf der Gefängnispritsche liegend und all der vergangenen furchtbaren Jahre mich entsinnend, dachte ich darüber nach, daß der schwere Hammer des Hungers und des Terrors die einen abhärtete, die anderen zerquetschte und die dritten anschlug, und dabei ziemlich heftig. Ich sollte es eigentlich schon früher gemerkt haben, daß Professor K. zu den »Angeschlagenen« gehörte.

Georg merkte meine große Enttäuschung und suchte mich zu trösten, allerdings so, wie es nur ein Jüngling von achtzehn Jahren und ein Meter achtzig Größe tun konnte.

»Hör mal, Wa Witzige Abkürzung des Vornamens des Verfassers., war es dir denn früher nicht klar, daß Professor K. weder kommen noch etwas tun wird? … Der ist doch ein Feigling … allein bei Katjas Anschellen fiel ihm das Herz in die Hosen … und nun erst der Gefängnisbesuch. Was glaubst du denn? Der zittert über jeden eigenen Rubel und bei jedem eigenen Schritt … Ich kann es verstehen, ja, Vater«, versuchte Georg seine Härte zu mildern, »vorher war er ein anderer; aber jetzt zu unseren Zeiten …«

Ja, ein anderer … viele wurden anders. Auch eine Tochter hatte er – ein schwaches, hysterisches Mädchen von zwölf Jahren. Natürlich ein Kind der Revolutionszeit: kein Fett, kein Weihnachtsbaum, keine Vitamine, keine Märchen. Brot nach Karten und Poligramota Sowjetabkürzung für den politisch-weltanschaulichen Unterricht auf allen Schulen.. Eben diese Poligramota muß Professor K., innerlich angeekelt bis zum Umfallen, auf verschiedenen Volkshochschulen dozieren – wer braucht denn heute slavische Literatur? … Dazu eine magere und wacklige Gemütlichkeit zu Hause und ewiges Zittern vor den Gefahren von rechts, von links, von oben und unten: Opposition, Abweichung, Hunger und GPU … oppositionelles Geflüster hinter der verschlossenen Tür … Ewiges Zittern!

Ja, das kann man verstehen – wie konnte ich es auch nicht kapiert haben … man kann vergeben … doch schwer die Hand reichen. Ist er denn der einzige von der Revolution geistig Gemordete? Wenn es keine Statistik der körperlich Gemordeten gibt, wer soll dann erst die Menge der geistig Gemordeten, An- und Niedergeschlagenen feststellen?

Es sind viele, sehr viele … aber wie viele es auch sein mögen, wie ungeheuerlich der Druck auch ist, gibt es doch Menschen, die man nicht unterkriegen konnte …

 

Ein Wiedersehen

Die Tür in unserer Kammer wurde plötzlich aufgerissen und herein stürzte etwas mit allen möglichen Säcken und Säckchen Beladenes, lange nicht mehr Gesehenes und sehr Bekanntes … zuerst traute ich meinen Augen nicht.

Die unrasierte Person warf ihre Last auf den Fußboden und schnauzte den Wachhabenden an:

»In drei Deubels Namen, wo wollen Sie mich hineinpferchen? Hier kann man doch weder liegen noch sitzen …« Die Tür war aber schon wieder verschlossen.

»Ihr Teufelsbrut!« sagte die Person zur Tür gewandt.

Meine Zweifel waren zerstreut. Unwahrscheinlich, aber tatsächlich – es war Josef Antonowitsch.

Und ich sagte zur Erhöhung der Überraschung in einem gleichgültigen Ton:

»Nitschewo, Josef Antonowitsch, irgendwie finden wir schon Platz.«

Josef Antonowitsch war im Begriff, mit dem Absatz an die Tür zu hämmern, bei meinen Worten senkte sich aber sein erhobener Fuß friedlich zu Boden.

»Iwan Lukjanowitsch – hol mich der Teufel. Bist du es wirklich? Und Boris? Und das, wie ich wohl vermuten darf – Georg?« (Josef Antonowitsch hat Georg fünfzehn Jahre lang nicht gesehen, kein Wunder, daß er ihn nicht erkannte.)

»Na, dann wollen wir uns erst mal küssen.«

Und nach altem russischem Brauch stechen wir uns gegenseitig mit den unrasierten Borsten …

»Wie bist du denn hier hineingeraten?« frage ich.

»Frage nicht so dumm!« schnauzt Josef Antonowitsch auch mich an. »Wie geraten? Gewöhnlich, wie alle anderen … auf jeden Fall bin ich deinetwegen hierher geraten, hol dich der Teufel … aber das kannst du mir alles nachher erzählen. Hauptsache ist, ihr seid alle am Leben. Das übrige – Gras drüber. Hier habe ich einen Sack voll Fressalien. Auch Zigaretten …«

»Weißt du, Josef Antonowitsch, wir werden einstweilen essen und dir das Erzählen überlassen. Dann komme ich nach.«

Wir setzen uns zum Essen. Josef Antonowitsch zündet sich eine Zigarette an und erzählt, in der Zelle umherlaufend:

»Weißt du, seit acht Monaten war ich in Murmansk. In Petersburg habe ich mich mit meinen Vorgesetzten restlos verkracht: diese Hundesöhne haben die Krankenhauswäsche beiseitegebracht, ich sollte die Geschichte ausbaden und in der Buchführung verschleiern. Nun, ich schmiß ihnen das Ganze vor die Füße und ging fort. Zog nach Murmansk. Die neue Stellung war miserabel; aber die verantwortlichen Mitarbeiter bekamen eine Polarration, so daß man im allgemeinen leben konnte … dazu noch die Seebarsche – ausgezeichneter Fisch! … Ich dachte sogar an die Schlittschuhe (seinerzeit war Josef Antonowitsch erstklassiger Eiskunstläufer), kurzum, es ließ sich leben, trotz der höllischen Arbeit, und plötzlich – bums. Ich sitze abends zu Hause, esse zu Abend, trinke Wodka. Man erscheint: ›Gestatten Sie‹, sagt man, ›bei Ihnen eine Haussuchung vorzunehmen?‹ … Ach, ihr Hundesöhne, denke ich, wollen mir noch Höflichkeit vorspielen. Soll wohl heißen, daß ihr auch Europäer seid. ›Gestatten Sie‹ … Na, ich spucke drauf – was kann man bei mir außer den leeren Flaschen noch finden? ›Gestatten Sie mir‹, sage ich, ›meinen Wodka weiterzutrinken, solange Sie dort unter den Betten herumkriechen‹ … Man hatte alles durchgestöbert, inzwischen habe ich meinen Wodka ausgetrunken, man schleppte mich zur GPU, und von dort fuhr man mich unter Sonderwache – zwei Idioten hat man dazu abkommandiert – nach Petersburg. Geld hatte ich genug, die ganze Fahrt haben wir durchgesoffen … Diese Idioten habe ich so vollgepumpt, daß, als wir auf dem Nikolausbahnhof ankamen und ausstiegen, eine derartige Duftwolke um uns war, daß die Vorübergehenden stutzig wurden. Unmöglich konnte man mit solcher Wolke zur GPU gehen. Wir machten einen kleinen Umweg, gingen am Markt vorbei, zerkauten eine Knoblauchknolle; bei der Gelegenheit habe ich meine Schwester angerufen und verständigt …«

»Warum sind Sie bei dieser Gelegenheit nicht geflohen?« fragte Georg naiv.

»Und warum zum Teufel soll ich fliehen? Wohin fliehen? Und was habe ich getan, um fliehen zu müssen? Das einzigste – Wodka gesoffen … Soweit ist man aber bei uns doch noch nicht, daß sie einen dafür festsetzen. Im Gegenteil: die Staatskassen füllen sich, und man denkt weniger an die Politik. Kurzum, ich wurde nach dem Untersuchungsgefängnis geschleppt und in die Einzelzelle gesteckt. Sitze und verstehe rein gar nichts … dann ruft man mich zum Verhör, am Schreibtisch sitzt irgendein dickes Schwein …«

»Dobrotin?«

»Weiß der Teufel, meinetwegen auch Dobrotin … es beginnt wie üblich: wir wissen über Sie alles. ›Sehr angenehm‹, sage ich, ›daß Sie es wissen; aber wenn Sie es wissen, warum dann in drei Teufels Namen haben Sie mich festgesetzt?‹ ›Sie‹, sagt er, ›werden beschuldigt, an der Organisation einer konterrevolutionären Verschwörung teilgenommen zu haben. Bei Ihnen verkehrten die und die, haben das und das besprochen; wir wissen alles – wer da war und was gesprochen wurde‹ … Nun verstehe ich gar nichts mehr … Wodka trinkt man überall, und die Gespräche sind die gleichen auch überall. Wenn man für solche Gespräche jeden einsperren wollte, dann wäre in Petersburg keine lebendige Seele mehr. Endlich kommt die Erklärung: ›Außerdem werden Sie der Beihilfe am Fluchtversuch Ihres Freundes Solonewitsch beschuldigt.‹

Jetzt habe ich verstanden, daß man euch am Schlafittchen gepackt hat. Aber woher diese Informationen über mein eigenes Haus? Der dicke Lump verlangte, daß ich die Aussagen über dich und über meine anderen Bekannten unterschreiben sollte. Ich sage ihm, ich werde den Teufel tun, nichts unterschreibe ich, nichts von Konterrevolution habe ich bei mir zu Hause betrieben, und schließlich war ich nicht verpflichtet, dich am Kragen zu halten. Darauf beginnt der Untersuchungsrichter unflätig zu brüllen, droht mir mit der Erschießung und hält mir seinen Revolver vor die Nase. Ach, du Hundesohn, denke ich mir. Achtzehn Jahre lebe ich in der Sowjetunion, und er glaubt, mich mit der Erschießung bange zu machen. Nun weißt du, ich habe mit ihm ganz höflich gesprochen. Ich sage ihm, er solle seiner Frau den Revolver vor die Nase halten und nicht mir; denn ich könne ihm statt des Revolvers meine Faust auf die Nase setzen … gut, daß er seinen Revolver wegsteckte, sonst hätte ich ihm die Schnauze vollgehauen.

Damit war unsere Unterredung beendet. Nach zwei lumpigen Monaten werde ich wieder vorgeladen und, bitte sehr: drei Jahre Verbannung nach Sibirien. Na, Sibirien, dann Sibirien, hol sie der Teufel. Auch in Sibirien gibt es Wodka. Aber sage mir um Gottes willen, Iwan Lukjanowitsch, du bist doch kein Dummkopf: wie kam es, daß du diesen Idioten in das Garn gingst?«

»Warum denn gerade Idioten?«

Josef Antonowitsch hatte eine äußerst skeptische Meinung über die Talente der GPU.

»Mit solchen Geldern und Möglichkeiten braucht die GPU doch kein Gehirn, es klappt alles nur deshalb, weil ein Viertel von Petersburgs Einwohnerschaft ihnen Spitzeldienste leistet … und wenn ihr euch diese ganze Geschichte hinter die Ohren schreibt – dann braucht ihr keine GPU zu fürchten. Man sperrt ein, um durch hohe Häftlingsziffern bange zu machen. Ein gescheiter Mensch wird sie ohne weiteres an der Nase herumführen können … also, wie hat sich alles zugetragen?«

Ich erzähle, und im Laufe meiner Erzählung nimmt das Gesicht von Josef Antonowitsch alle Merkmale einer sich steigernden maßlosen Wut an.

»Babenko! … Dieser Hundesohn, der an meinem Tisch drei Jahre herumgesoffen hat und zu dem ich nicht für eine einzige Kopeke Vertrauen hatte! Ach, was für eine Närrin ist Frau E.! … Wie oft habe ich ihr gesagt, daß sie eine Närrin ist: sie glaubt es nicht, bildete sich ein, ein Metternich im Frauenrock zu sein … hat auch drei Jahre Sibirien bekommen. Denkst du, daß sie danach gescheiter wird? Nichts zu löten auf der Holzkiste! … Ich hab dir's doch gesagt, Iwan Lukjanowitsch, gib dich nicht bei solchen Sachen mit den Weibern ab … na, hol der Teufel dies alles. Die Hauptsache, ihr lebt, und im übrigen den Mut nicht sinken lassen. Denn ihr werdet doch flüchten?«

»Selbstverständlich werden wir.«

»Und wieder ins Ausland?«

»Versteht sich. Wohin denn sonst?«

»Warum soll ich aber dorthin, wo der Pfeffer wächst? … Wohl kaum für die ›konterrevolutionären‹ Gespräche hinter der Wodkaflasche!«

»Ich glaube, für die ›Unterhaltung‹ mit dem Untersuchungsrichter.«

»Möglich … Muß ich mir aber gefallen lassen, daß mir jeder Lump seinen Revolver vor die Nase hält?«

»Sagen Sie mal, Josef Antonowitsch«, fragt Georg, »hätten Sie ihm tatsächlich eine geklebt?«

Josef Antonowitsch fällt grimmig über Georg her:

»Und was meinen Sie, blieb mir anderes übrig?«

Trotz seines unbändigen Suffes war Josef Antonowitsch sehnig geblieben wie ein altes Arbeitspferd und konnte es wohl noch mit einem aufnehmen. Davon bin ich überzeugt. Und trinken tut man im heutigen Rußland fürwahr unbändig, besonders in Petersburg, wo man außer Wodka fast nichts kaufen kann … So geht es allerdings in der ganzen Welt: je größer die Armut und Verzweiflung, desto mehr ergibt man sich dem Trunk.

»Na, hol's der Teufel«, faßt Josef Antonowitsch unsere Unterredung nochmal zusammen, »nach Sibirien, dann gehen wir halt nach Sibirien. Schlechter wird's nicht sein. Ich glaube, es ist überall gleich schäbig …«

»Auf jeden Fall«, sagte Boris, »werden Sie wenigstens mit Ihrem Suff aufhören.«

»Das müssen Sie schon entschuldigen, was soll hier schon ein anständiger Mensch tun? Stehlen? Sich als Speichellecker bei Stalin anstellen lassen? Durch die Kriecherei vor diesem Lumpenpack emporzusteigen versuchen? Nein, lieber werde ich ehrlich saufen. Fünf Jahre reicht es noch, und dann den Deckel drüber.

Begreifen Sie doch, Boris Lukjanowitsch, es ist kein Leben. Wäre ich dreißig, dann ginge es noch, ich bin aber fünfzig. Soll ich jetzt Familie anschaffen? Fleisch für die Stalinschen Experimente in die Welt setzen? Nein, lieber zu Hause sich hinter die Wodkaflasche setzen, dann hat man wenigstens nicht nötig, sich diese Räuberbande anzusehen, braucht nicht an das Früher zu denken … mit Ihnen flüchten? Was soll ich dort machen? … Nein, Boris Lukjanowitsch, der einzige Ausweg ist einfach – weitersaufen.«

Von allen Abarten der inneren Emigration ist die Zuflucht zum Trunk wohl die populärste. Es gibt in der Sowjetunion zahlreiche geistige Emigranten, die sich innerlich von dem Sowjetpack scharf trennen. Brot gibt es nicht, dafür aber überall Wodka. So konnte man zum Beispiel bei uns in Saltykowka Brot für die etwa zehntausend Einwohner nur in einem Laden kaufen, Wodka dagegen war in sechzehn Läden zu haben, darunter auch in den Trinkhallen, in denen unter dem »verdammten zaristischen Regime« lediglich mit Selterwasser gehandelt werden durfte. Wodka ist billig – eine Flasche kostet ebensoviel wie zwei Kilo Brot; außerdem braucht man dabei nicht stundenlang Schlange zu stehen. So kommt es, daß alle trinken. Die Jugend trinkt, die Mädchen trinken, nur der Bauer trinkt nicht, weil er gar kein Geld mehr hat.

Selbstverständlich macht man in der Sowjetunion keine Statistik des Alkoholismus. Nach meinen Beobachtungen wird am meisten in Petersburg getrunken, besonders stark unter der Durchschnittsintelligenz und der Arbeiterjugend. Man sucht Zuflucht im Trunk vor der aufgezwungenen Gemeinschaftsarbeit, vor dem Sowjetregierungs-Enthusiasmus, vor der Zuchthausarbeit, vor der Aussichtslosigkeit, vor allem möglichen Druck, vor der großen Sehnsucht nach einem menschenwürdigen Leben und vor den Realitäten des Sowjetdaseins.

Nicht alle, bei weitem nicht alle sind dahingekommen; aber nach irgendeiner geheimnisvollen und schon traditionell gewordenen Eigenart der Russen ist ein sehr wertvoller Teil von Menschen in diese Saufemigration geraten.

Nach einigen Tagen kam man, um Josef Antonowitsch zur Verladestelle zu bringen.

»Ich bleibe hier«, erklärte er, »ich bekomme heute Besuch.«

»Was für Besuch!« brüllte ihn der Aufseher an. »Los, auf die Verladestelle. Pack deine Sachen! …«

»Packen Sie selbst. Der Besuch bringt meine Sachen. Ich kann doch nicht in solchen Schuhen im Winter nach Sibirien fahren.«

»Ich weiß von nichts. Ich sage Ihnen, packen Sie Ihre Sachen, sonst werden Sie zwangsweise hinausgeführt.«

»Gehen Sie zur Teufelsmutter«, sagte Josef Antonowitsch eindringlich.

Der Aufseher verschwand und kam kurze Zeit darauf mit jemand anderem, von etwas höherem Rang.

»Wie kommen Sie dazu, die Gefängnisregeln zu übertreten?« begann der Rangälteste zu schreien.

»Brüllen Sie nicht«, sagte Josef Antonowitsch und hielt mit der Geste eines erfahrenen Eiskunstläufers dem Rangältesten seinen Fuß mit dem total zerrissenen Halbschuh vor die Nase. »Nu? Haben Sie gesehen? Wie kann ich, zum Teufel, ohne Sohlen nach Sibirien fahren? …«

»Ich spucke auf Ihre Sohlen, ich befehle Ihnen unverzüglich, Ihre Sachen zu packen und mitzugehen …«

Die unrasierten Borsten auf der Oberlippe Josef Antonowitschs sträubten sich drohend.

»Gehen Sie zur Teufelsmutter«, sagte er, sich auf die Stellage setzend. »Und holen Sie jemand, der klüger ist.«

Der Rangälteste stand etwas unschlüssig da und sagte schließlich im Fortgehen:

»Na, wir werden uns gleich Ihrer annehmen …«

»Weißt du, Josef Antonowitsch«, sagte ich, »daß dir wegen dem Geschimpfe nichts passiert …«

»Ach was, hol sie der Teufel. Dieses Lumpenpack schleppt mich mir nichts dir nichts irgendwohin zur Teufelsmutter, schleift mich von Gefängnis zu Gefängnis, und da soll ich noch vor ihnen Kratzfüße machen? … Sollen es bloß versuchen; nicht allen, aber einem verhaue ich bestimmt die Fresse.«

Nach einer halben Stunde erschien ein neuer Aufseher.

»Bürger Josef Antonowitsch, ins Besuchszimmer …«

Josef Antonowitsch fuhr nach Sibirien in voller Ausrüstung.

 

Gefängniszüge

Jede Woche werden aus den Petersburger Gefängnissen zwei Züge nach den Zwangsarbeitslagern abgefertigt. Weil aber die Gefängnisse über jedes erdenkliche Maß gefüllt sind – muß man auf den Abtransport sehr lange warten. Wir warteten mehr als einen Monat.

Endlich waren wir soweit. Auf den halbdunklen Gefängniskorridoren stellten sich lange Reihen von künftigen Lagerinsassen auf, eine langwierige und unendliche, eigentlich vollkommen unnötige Leibesvisitation wird vorgenommen. Man muß sich bis auf die Haut ausziehen. Lange frieren wir, auf den Steinfliesen der Korridore stehend. Dann werden wir im Gefängnishof auf die Lastautos verteilt. Auf den Seitenklappen der Wagen rings um uns herum hocken die wachhabenden Rotarmisten, die Armeerevolver in den Händen. Eine Warnung: bei dem geringsten Fluchtversuch gibt's eine Kugel in den Rücken. Das Gefängnistor geht auf, davor wartet eine große Menge, fast lauter Frauen, so an die fünfhundert.

Vor den Lastwagen teilt sich die Menge, und aus ihr ertönen explosivartig Hunderte von Schreien, Begrüßungen, Abschiedsrufen, Namen … Das alles verwandelt sich in einen unartikulierten Schrei des menschlichen Leides, worin die einzelnen Worte und Stimmen untertauchen. Das sind lauter russische Frauen, ausgemergelt und entkräftet, hierhergekommen, um sich von ihren Männern, Brüdern und Söhnen zu verabschieden …

Wahrhaftig: »Rußlands Los, ein schweres Frauenlos Nach einem alten russischen Lied.«.

Wieviel Frauenleid, schlaflose Nächte, für die Welt unsichtbare Entbehrungen stehen im Rücken all dieser Männer, die in das Getriebe der GPU-Maschine geraten waren. Und diese Frauen! Ich weiß – wochenlang stellten sie sich vor den Gefängnistoren auf, um zu erfahren, wann ihre Angehörigen abtransportiert werden. Auch heute stehen sie hier im Januarfrost von frühmorgens an – auf die Verladestelle gehen etwa vierzig Lastautos, die Einwaggonierung beginnt bei Morgenröte und wird erst spätabends beendet. Die Frauen werden aber hier den ganzen Tag ausharren, um nur einen flüchtigen Blick auf ein ihnen teures Gesicht werfen zu können … Ob sie es aber erblicken? Denn wir sitzen oder vielmehr kauern am Boden der Lastautos, sind außerdem durch die dicht um uns auf den Wagenklappen sitzenden Rotarmisten verdeckt …

Wieviel zehn- und hunderttausend Mütter, Schwestern und Ehefrauen stehen so vor den Gefängnistoren in endlosen Schlangen mit den »Übergaben« in den Händen, die sie durch grausamstes Selbstdarben eingespart haben! Nachher werden sie ihr letztes Stück Brot irgendwohin nach dem Ural, in die Wälder Kareliens und in die Polartundra schicken. Wie viele Frauenleben sind so nebenbei durch die tschekistische Maschine erfaßt, vernichtet …

Der Lastwagen fährt noch langsam. Die vor ihm auseinandergetretene Menge drängt sich wieder fast bis an die Räder vor. Schneller wird das Tempo des Lastwagens. Die Frauen laufen nebenher, verschiedene Namen ausrufend … Ein Mädchen, zerzaust und verweint, läuft lange neben dem Lastwagen, wie trunken hin und her schwankend, in der Gefahr, jede Sekunde unter die Räder zu kommen.

»Mischa, Mischa, lieber, guter Mischa? …«

Die Wachhabenden brüllen, ihre Revolver schwenkend:

»Sitzenbleiben! Nicht erheben! Setzen, sonst wird geschossen!«

Wie viele Lastwagen fuhren an diesem Mädchen vorbei, und wie viele werden noch vorbeifahren … Ungeschickt versucht sie sich an der Seitenwand des Wagens festzuklammern, einer der Wachhabenden schlägt das Bein darüber und stößt das Mädchen weg. Sie fällt und verschwindet in der Menge, die über sie hinwegrennt.

Wie gut ist es, daß niemand zu uns kommen brauchte, um uns das Abschiedsgeleit zu geben … wie gut auch, daß dieser Mischa nicht bei uns ist. Wie weh würde ihm zumute sein, machtlos zusehen zu müssen, wie das von ihm geliebte Mädchen durch den Stoß eines tschekistischen Stiefels auf das Pflaster geworfen würde …

Die Lastautos brummen lauter. Die Menschen stieben auseinander. Der ganze Straßenverkehr bleibt vor dieser Trauerprozession von Lastautos still. Wir rasen durch die Straßen der »roten Hauptstadt« als memento mori, als eine sichtbare Ermahnung für jedermann, der jetzt noch ruhig auf dem Bürgersteig geht: heute ich, und morgen du.

Wir fahren auf den Hinterhof des Nikolausbahnhofes. Dieser Hinterhof ist von den Tschekisten offensichtlich für ihre Verladeoperation eigens eingerichtet. Ein großer Platz ist mit Stacheldrahtverhau umgeben. An den Ecken stehen Holztürme mit Maschinengewehren, an der Rampe wartet bereits ein endloser Güterzug: unser »Sonderzug«, in welchem wir weiß Gott wohin und weiß Gott wie lange werden fahren müssen. Diese Verladeoperationen sollten doch eigentlich schon wie etwas Geübtes und Gewohntes glatt vonstatten gehen. Aber an Stelle der Ordnung herrscht hier Geschrei, Geschimpfe, Getümmel und Wirrwarr. Lange werden wir von Wagen zu Wagen geschoben. Alles ist schon vollgepfropft, sogar nach den Normen der tschekistischen Verladeordnung; die Wachthabenden brüllen, die Urkis schimpfen, die Bauern stöhnen … So von Wagen zu Wagen torkelnd, finden wir endlich einen ganz leeren und stürzen hinein wie eine tolle und wütende Horde.

Offiziell ist jeder Wagen auf vierzig Mann berechnet, man pfercht aber sechzig, auch siebzig hinein. Wie sich später herausstellte, wurden in unserem Wagen achtundfünfzig Menschen untergebracht. Wir wissen nicht, wohin man uns fährt und wie lange wir fahren werden. Wenn hinter den Ural – dann dauert es einen, vielleicht auch zwei Monate. Es ist daher verständlich, daß bei solchen Aussichten die Plätze auf den Stellagen, die natürlich nicht für alle ausreichen, sofort zum Gegenstand eines heftigen Kampfes wurden … Die Tür des Wagens wird dröhnend zugeknallt, und wir bleiben im Halbdunkel. Die beiden Luken in der Zugrichtung sind dicht mit Brettern zugenagelt. Die beiden linken haben starke Eisengitter … Es scheint, daß dieses Halbdunkel vom Fußboden bis zur Decke mit Menschen, Säcken, Bündeln, Lumpen, wildem Geschimpfe und wüster Keilerei vollgepfropft ist. Die Menschen nehmen die Stellagen im Sturm, weniger glückliche Prätendenten mit den Beinen wegstoßend. In der Luft wimmeln Körper, man hört unflätige Schimpfworte, Geklirr von Blechkannen, das Aufschlagen von fallenden Sachen.

Alle stürzen auf die oberen Stellagen, wo es wärmer, lichter und sauberer ist. Irgendwie gelingt es uns, durch diesen lebendigen Wasserfall von Leibern auf die mittleren Stellagen zu kommen. Dort ist es schlechter als oben, aber doch bedeutend besser als unten, auf dem Fußboden des Wagens … Dieser unglaubliche Tumult legt sich erst nach einer Stunde. Durch die zahlreichen Löcher in den Wänden und in der Decke dringt das Licht in den Wagen, und man sieht, wie der Januarwind auf den Fußboden schmale Schneestreifen hineinweht. Allein bei dem Gedanken daran, wie es aus diesen Löchern während der Fahrt ziehen wird, fröstelt es einem … Mitten im Wagen steht ein gußeisernes Öfchen mit allen Spuren des Bürgerkriegs, des Kriegskommunismus, der Hamsterei und weiß Gott noch was.

Wir stehen auf dem Nikolausbahnhof fast einen vollen Tag. Man gibt uns weder Brennholz noch Wasser noch Essen. Vor Hunger, Kälte und Müdigkeit wird es im Wagen allmählich still …

Nacht … die Puffer schlagen aufeinander! Wir fahren … Wir liegen auf der Stellage dicht aneinandergeschmiegt, sich umzudrehen ist nicht möglich, weil die Menschen auf diesen Stellagen so dicht wie die Brettchen eines Parketts beieinanderliegen. Schlafen kann man auch nicht. Ich fühle, wie die Kälte allmählich irgendwo in das Innere meines Organismus eindringt, wie die Beine erstarren und das Gehirn zu Gallert wird. Georg bekommt einen Schüttelfrost, versucht ihn zu bannen und zittert bald wieder …

»Na, Schorschi, erfrierst du schon?«

»Nein, Wa, nitschewo …«

So vergeht die Nacht.

Erst gegen Mittag bekommen wir auf irgendeiner Station Brennholz – nicht viel und feucht. Der Wagen füllt sich mit beißendem Rauch. Es ist nicht viel wärmer, jedoch gemütlicher geworden. Ich beginne, meine Mitreisenden genauer zu betrachten …

Die Mehrheit sind Bauern. Sie haben das Erstbeste an – so wie sie die Verhaftung überraschte. Mit dem Bauern braucht man sich nicht besonders zu genieren, man verhaftet ihn bei den Feldarbeiten, dann wird er in irgendein Kreisgefängnis überführt – in das furchtbare Kreisgefängnis, im Vergleich zu dem das Untersuchungsgefängnis auf der Spalierstraße, wo ich saß, ein Palast ist … Dort in jenen Kreisgefängnissen befinden sich in den Einzelzellen zehn bis fünfzehn Menschen, daß man weder sitzen noch stehen kann, und die Menschen sich im Schlafen und Stehen ablösen. Dort erhält man für den ganzen Tag nur zweihundert Gramm Brot, und die Bauern, die keine Möglichkeit haben, »Übergaben« zu bekommen (das Heimatdorf ist weit, außerdem gibt es dort auch nichts mehr), sehen wie Gespenster aus, wenn sie überhaupt noch lebendig herauskommen.

Meine »mitreisenden« Bauern sehen auch wie Gespenster aus. Zu dem tierischen Kampf um die Plätze auf den Stellagen reichten ihre Kräfte nicht mehr aus und sie krochen unter die unteren Stellagen oder saßen an den Türen … grün im Gesicht. Abgerissen, mit dem Blick der zu Tode gehetzten Kreatur schauen sie dann und wann auf die stärkeren und gewandteren Städter …

… In den Städten geht es hoch her … von dem Lärm und den Erschießungen in den Hauptstädten hallt es wider in der ganzen Welt. Von der Hetzjagd auf die Intelligenz schreibt fast die gesamte Weltpresse … aber welche Kleinigkeit ist das, wie geringfügig diese Intelligenzhetze … Nicht die ehemaligen Gutsbesitzer, Fabrikanten und Professoren tragen diese fürchterlichen »Revolutionskosten« – sie trägt der Bauer. Er, dieser Bauer, krepiert zu Millionen und Zehnmillionen vor Hunger, Typhus, Zwangsarbeitslagern, Kollektivisation, er krepiert an dem Gesetz über das »heilige sozialistische Eigentum«, an allen größeren und kleineren Bauprojekten der Sowjetunion, an all diesen Stalinschen Cheopspyramiden, die auf seinen, den Knochen des Bauern, gebaut werden … Ja, die Intelligenz hat es schwer, fürwahr hatte auch ich im Gefängnis und im Lager nichts zu lachen gehabt, und noch bedeutend schlechter erging es der Mehrheit der Intelligenz … Darf man aber unsere Leiden und unsere Entbehrungen mit den Leiden und den Entbehrungen des russischen Bauerntums vergleichen, nicht nur des russischen, sondern auch des georgischen, des tartarischen, des kirgisischen und wie sie alle heißen mögen? Möge es mir noch so ekelhaft sein, mag ich noch so hungern und frieren, Gefahren überstanden haben und noch überstehen müssen – man hat im Gefängnis auf mich Rücksicht genommen, und man wird es auch im Lager tun. Ich habe tausenderlei Möglichkeiten, mich aus der Schlinge zu ziehen – Möglichkeiten, die dem Bauern vollkommen unzugänglich sind. Auf den Bauern wird gar keine Rücksicht genommen, und sich herauszuwinden, hat er gar keinerlei Möglichkeiten. Ob gut, ob schlecht, ich werde immerhin abgeurteilt. Den Bauern erschießt und verbannt man entweder ohne jegliches Gericht oder nach einem Gericht, von dem man ungern und nur mit Schmerzen spricht. Ich habe solche »Gerichte« gesehen: drei, kaum des Lesens und Schreibens kundige und besoffene Komsomolzy (Mitglieder des Verbandes der kommunistischen Jugend) verurteilen eine Familie innerhalb von zwei, drei Stunden, ruinieren sie, und schließlich wird sie radikal »liquidiert« … Ich sitze im Grunde genommen nicht umsonst, ich bin ein Feind der Sowjetmacht, immer war ich es, und die GPU macht sich keine Illusionen darüber. Aber man brauchte mich doch, im gewissen Sinne war ich sogar »unersetzlich«, und man hat mich ernährt und mit mir gesprochen. Mit der Intelligenz spricht man schon, auch gefüttert wird sie, und wenn man die Intelligenz auf ein Lager setzt, dann sitzt sie nur in Ausnahmefällen, bei »Massenkampagnen«, umsonst …

Ich weiß, daß dieser Standpunkt gar nicht der feststehenden Meinung über die Schicksale der Intelligenz in der Sowjetunion entspricht. Über diese Schicksale werde ich gelegentlich mal noch ausführlicher sprechen. Aber all das, was ich in der Sowjetunion gesehen habe – und ich habe allerhand gesehen – hat in mir eine feste Überzeugung geschaffen: nur in seltenen Fällen setzt man die Intelligenz umsonst fest, freilich vom sowjetistischen Standpunkt aus. Man braucht sie immerhin. Sie wird immerhin abgeurteilt. Der Bauern gibt es aber viele, mit ihnen kann man Dämme bauen, und sie befinden sich in einer Lage, die um das Vielfache schlechter ist, als die schlechtesten und die düstersten Zeiten der Leibeigenschaft es waren. Er ist absolut rechtlos wie ein beliebiger Sklave irgendeines afrikanischen Fürstchens, er ist genau so bettelarm wie dieser Sklave; denn er hat nichts, was der beliebige Dorfpompadour ihm nicht jede Sekunde nehmen könnte; er hat gar keine Aussichten und gar keine Möglichkeit, aus diesem Sklaventum und aus dieser Armut herauszukriechen …

Die Lage der Intelligenz? … Ein Quark ist die Lage der Intelligenz im Vergleich mit diesem Ozean von buchstäblich unermeßlichem Leiden dieser Millionen von in der Tat auf das Allerschlimmste geprüften Bauern … Angesichts dieses Ozeans ist es irgendwie unschicklich und es lähmt einem die Zunge, von seinen Entbehrungen zu sprechen: das alles sind Nadelstiche. Den Bauern aber schlägt man mit dem dicksten Knüppel auf den Schädel …

Und da sitzt er, der »Besteller und Bewahrer« der großen russischen Erde, am Türspalt des Waggons. Der Januarschneesturm hat durch diesen Spalt bereits einen kleinen Schneehaufen auf seine mit den Bastpantinen bekleideten Füße geweht. Fröstelnd hat er seine Hände in die Ärmel gesteckt, in die Ärmel eines zerlumpten Militärmantels noch aus den Zeiten des Weltkrieges. Sein bläuliches, totenblasses Gesicht ist auf das flackernde Feuerchen des Öfchens gerichtet. Kauernd, in sich zusammengeschrumpft, sitzt er da, als ob er immer kleiner, unauffälliger werden will, ganz verschwinden, damit ihn niemand merkt, bestiehlt oder mordet …

Nun fährt er zu irgendeinem nächsten »großen« Stalinschen Bau. Eigentlich kann er nichts bauen; denn er hat keine Kräfte … In den Jahren 1930/31 stellte man solche Bauern zum Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals direkt auf die Baustellen, und sie verkamen dort zu Zehntausenden, so daß auf der »Baufront« statt des Nachschubes sich lauter Lücken bildeten. Die Sanitätsabteilung des BBK kam endlich auf den Einfall, man müsse die mit den Transportzügen ankommenden Bauern, bevor sie an die übliche Arbeit geschickt würden, erst auf eine mehr oder minder »verstärkte« Ration setzen. Aber das Massensterben hörte kaum auf, weil die ausgemergelten Mägen eine normale Nahrung zu verdauen nicht imstande waren. Zur Zeit läßt man sie zuerst zwei Wochen »Quarantäne« durchmachen, gewöhnt sie nach und nach an die Arbeit und an jene Hungerkost im Lager, die dem Bauern in der Freiheit nicht zugänglich war und welche im Vergleich mit der Ration des Kreisgefängnisses wie ein lukullisches Festmahl erscheint. Das Lager ist immerhin eine Wirtschaftsorganisation, und für sein Arbeitsvieh muß man Interesse haben … Worin besteht aber das Interesse eines des Lesens und Schreibens selten kundigen und noch seltener nüchternen Dorfkomsomolez, dem das ganze Bauerntum zur Ausräuberung ausgeliefert wurde, und der selbst vollkommen meschugge wurde von allen Schwankungen der »Generallinie«, von dem wilden Entzücken der administrativen Kaschemme zahlreicher Provinzialbehörden?

 

Der große Stamm der »Urkis«

In unserem Wagen war die Intelligenz nur durch fünf Personen vertreten: wir drei, unser unglückseliger Romanschreiber Stepanoff, der bereits im Lastwagen mit uns fuhr, und noch ein Techniker aus Petersburg. Wir haben uns alle auf der mittleren Stellage eingerichtet. Über uns hat sich eine Arbeitergruppe aus Petersburg »eingerichtet«, die ich nicht sehen kann. Die andere Hälfte des Wagens ist von etwa zwanzig Arbeitern eingenommen; sie sehen gesättigter aus und sind besser gekleidet als die Bauern, oder genauer gesagt, weniger verhungert und weniger zerlumpt. Sie schlafen alle.

Wie ein Vogelschwarm sitzen dicht um das Öfchen zusammengedrängt die Gemeinverbrecher – die »Urkis«. Sie sind nicht nur zerlumpt, sondern einfach halbnackt, doch hilft ihnen die unglaubliche wölfische Zähigkeit der ehemaligen Besprisorniki. Alle sind sie das Ergebnis einer grausamen Naturauslese. Diejenigen, die die Reisen auf den Waggonachsen, die Übernachtungen in den Steinkohlenhaufen, Ernährung aus den Abfallgruben (sowjetistischer Abfallgruben) nicht ausgehalten haben, sind schon längst umgekommen. Zurückgeblieben sind nur die Stärksten, die wölfisch Zähesten, die auch wölfisch die Welt hassen, jene Welt, die sie noch im Kindesalter auf die großen Straßen der Hungersnot, auf den wölfischen Kampf ums Dasein hinausgestoßen hat …

Die Wärme des Öfchens erreicht endlich auch mich und ich beginne einzudösen. Da erwache ich von einem wilden Geschrei und sehe:

An die Wagenwand gelehnt, ganz erblaßt, steht unser Techniker und zieht irgendeinen Sack krampfhaft an sich. In den anderen Sackzipfel hat sich einer der Urki verkrallt – ein unansehnlicher, ekelhafter Bursche, mit den Augen eines in die Falle geratenen Iltisses. Auch Boris hält den Zipfel fest. Die Lage ist klar: der Urka wollte den Sack klauen, der Techniker ihn entreißen, der Urka läßt, in der Hoffnung auf die Hilfe der »Seinigen« nicht los. Boris legt sich vermittelnd ins Zeug. Er spricht etwas, aber im allgemeinen Tumult kann man kein Wort verstehen. Es wimmelt von Fäusten, Holzscheiten, vereinzelt blitzen sogar Messer auf. Ein Sprung, und schon stehen Georg und ich neben Boris. Zu dritt stellen wir eine »Kampfkraft« dar, mit der die Urkis, sogar ihr ganzer Schwarm zusammengenommen, rechnen muß. Trotzdem hält das eklige Bürschchen krampfhaft, mit einem verzweifelten Blick in den Augen, den Sack immer noch fest, bis von irgendwoher eine ruhige und machtvolle Stimme ertönt:

»Laß den Sack los!«

Das Bürschchen gehorcht und tritt zur Seite, sich mit der Hand die Nase wischend, jedoch mit dem Aussehen der erfüllten Pflicht …

Die ruhige Stimme ertönt wieder:

»Nitschewo, das nächste Mal nehmen wir so, daß niemand was hören wird.«

Ich sehe mich um. Die Worte kommen von einer hohen Gestalt mit bläulich blassem Gesicht, einem Urka, der anscheinend in seinem Leben viel und kräftig geschlagen wurde; offensichtlich der Anstifter und Führer des ganzen Verbrecherschwarmes. Er spricht weiter, diesmal sich direkt an Boris wendend:

»Und warum stecken Sie ihre Nase hinein? Das ist doch nicht Ihr Sack, also geht Sie die Sache nichts an, sonst wird man sie nachts vielleicht mit dem Messer kitzeln … bei uns, Brüderchen, findet man die Messer bei keiner Leibesvisitation.«

In der Tat habe ich während der Rauferei irgendein Messer aufblitzen sehen. Auf welche Art die Urkis ihre Messer zu fabrizieren und durch alle Gefängnisse und alle Leibesvisitationen durchzuschmuggeln verstehen, weiß Allah, aber man fabriziert sie und schmuggelt sie durch. Und dann soll man, wie zum Beispiel eben, nach dem Schuldigen suchen, wenn einem hinterrücks ein Messer zwischen die Rippen gejagt wird …

Die Arbeiter sehen von oben herab und bewahren strengste Neutralität: nach ihren städtischen Erfahrungen wissen sie ganz genau, was es bedeutet, sich den Urkis in die Quere zu stellen. Die Bauern murren gedämpft in ihren Ecken … Es bleiben somit wir vier (Stepanoff zählt nicht) gegen fünfzehn Urkis, die zu allem bereit sind und nichts zu verlieren haben. In diesem Zuchthauswaggon sind wir wie auf einer unbewohnten Insel. Das Gesetz ist irgendwo außerhalb der Wagentür geblieben; dieses Gesetz verkörpert irgendein Wachkommandant, der nur daran Interesse hat, daß wir nicht entkommen oder nicht in Mengen krepieren, die eine mir unbekannte Norm übersteigt. Wen geht es an, wenn hier einer dem anderen den Hals abschneidet?

Boris wendet sich an den Rädelsführer.

»Wir sind hier drei: mein Bruder, sein Sohn und ich. Wenn jemand von uns einen Messerstich bekommt, dann werden Sie zur Verantwortung gezogen.«

Der Urkianführer macht das freche Gesicht eines Menschen, dem man einen schreienden Unsinn vorgeschwätzt hat, und bricht dann in schallendes Gelächter aus.

»Oho … Verantwortung … meinetwegen vor dem Stalin selbst … daß ich nicht lache … Verantwortung … wir schlitzen dir, Brüderchen, den Bauch auch ohne Verantwortung auf …«

Der Urkischwarm fällt in das Gelächter seines Anführers ein, und ich verstehe wohl, daß die Rede von der Verantwortung, von der gesetzlichen Verantwortung auf dieser Zuchthäuslerinsel ein leeres Gerede ist. Die Urkis verstehen es noch besser als ich. Der Anführer wiehert weiter und hält Boris seine schmutzige, aus blauen Fingern zusammengeballte Faust vor die Nase. Im Nu gerät seine Hand in den Schraubstock von Boris Fingern. Das Wiehern geht in ein Geheul über. Der Anführer versucht, die Hand zu befreien, doch ist das eine ganz hoffnungslose Sache. Einige der Urkis versuchen, ihrem Anführer zu Hilfe zu eilen, aber Georg und ich decken Boris den Rücken und alle bleiben auf ihren Plätzen.

»Laß los«, leise und mit ergebener Stimme sagt es der Anführer.

Boris läßt seine Hand los. Der Anführer windet sich vor Schmerzen, hält die fast zerdrückte Hand mit der anderen und betrachtet Boris mit Augen voll Schmerz, Wut … und Hochachtung.

Ja, ja, wir sind nicht im 20. Jahrhundert. Faustrecht. Na, dann nicht! Auf unserem halben Dutzend ganz gewichtiger Fäuste kann man auch irgendein Recht aufbauen.

»Sehen Sie, Genosse … wie war doch Ihr Name?«

Möglichst ruhig beginne ich …

»Zum Teufel mit dem Namen«, antwortet der Anführer.

»Michajloff«, kommt irgendwo von der Seite …

»Also sehen Sie, Genosse Michajloff«, spreche ich in einem außerordentlich akademischen Ton, »wenn mein Bruder von der Verantwortung sprach, dann selbstverständlich nicht in dem Sinne, daß sich jemand irgendwohin beschwerdeführend wenden wird … nichts dergleichen, aber wenn einer von uns dreien abgestochen wird, dann werden die Zurückbleibenden Ihnen einfach sämtliche Knochen brechen. Und das ganz ernst, und gerade Ihnen, so daß es sowohl für Sie als auch für uns besser wäre, sich mit solchen Sachen nicht zu befassen.«

Der Urkiführer schweigt. Nach dem mit Boris »ausgetauschten« Händedruck weiß er wohl, daß es mit dem Knochenbrechen unser voller Ernst ist. Im äußersten Falle hätten wir es zweifellos getan. Wenn wir nicht den Familienzusammenhalt unseres Schwarmes, nicht unsere starken Fäuste besäßen, dann hätte uns der Urkischwarm, zusammengehalten durch die übliche Solidarität, bis auf die Haut ausgezogen. So macht man es überall – in den Gemeinschaftszellen, auf den Verladestellen, teils auch in den Zwangsarbeitslagern, kurzum, dort, wo ein vorübergehender und zusammenhangloser Menschenhaufen, der in die GPU-Krallen geraten ist, dem durch »Klassen-Solidarität« zusammengeschmiedeten Urkischwarm gegenübersteht. Die Urkis haben eine Organisation, die drückt und plündert.

Allerdings besteht eine solche Organisation auch in der Freiheit, nur drückt und plündert sie – das ganze Land.

 

Diskussion

Eine halbe Stunde später sitze ich am Öfchen. Der Anführer setzt sich hinzu.

»Ein Bär ist Ihr Bruder, beinahe hätte er mir den Arm gebrochen. Ich kann ihn jetzt noch kaum bewegen. Lassen Sie mir bitte den Stummel, Genosse Solonewitsch, schrecklich gern möchte ich rauchen.« Ich nehme den mir gereichten Ölzweig an und lange nach meinem Tabakbeutel. Der Urka dreht sich ein »Rehbeinchen« und zieht leidenschaftlich den Rauch ein …

»Man muß schon verstehen, Genosse Solonewitsch, ein Hundeleben führen wir.«

»Dann lassen Sie es doch sein!«

»Wie sein lassen? Wir sind alle Besprisorni-Vagabunden. Von der Mutterbrust – direkt unter die Besprisorniki gegangen. Ich, geradeheraus gesagt, bin von Kindheit an ein Dieb und werde auch als solcher sterben müssen. Aber das Kerlchen, diesen Techniker, den werden wir sowieso bearbeiten. Wenn nicht hier, dann im Lager … Ein Lump ist er, hat er doch mindestens einen halben Zentner Brot bei sich. Wir baten in Güte, gib wenigstens ein Stückchen … Nur Schimpfworte gab er uns.«

»Ausgerechnet euch Lumpenpack soll man füttern«, dröhnt von den Arbeiterstellagen ein sonorer Baß. Der Urka hebt den Kopf.

»Wenn auch ungern, müßt ihr uns aber doch füttern, denkst du, daß ich schlechter als du kauen kann?«

»Ich bettele aber nicht.«

»Auch ich nicht. Ich nehme mir selbst.«

»Deshalb sitzt du auch hier.«

»Und wo sitzt du? Bei dir in der Wohnung?«

Der Arbeiter verstummt. Eine andere Stimme von der gleichen Stellage greift das Thema auf.

»Klauen dem Arbeitsmenschen das Letzte, und da soll man sie noch füttern. Viel zuwenig setzt man euch Lumpen fest.«

»Uns, in der Tat zu wenig«, pariert ruhig der Urkianführer, »dafür um so mehr euch. Du fährst wohl auf zehn Jahre, ich aber nur auf drei. In der Freiheit hast du dich für die Sowjetmacht wegen zwei Pfund Brot geschunden und im Lager wirst du dich für die gleichen zwei Pfund auch schinden müssen, und dann als Hund verrecken.«

»Na, das wollen wir noch sehen, wer schneller verreckt.«

»Du wirst zuerst verrecken«, sagte überzeugt der Urkianführer. »Bloß der Frühling braucht zu kommen, dann bin ich heidi, sucht nach mir … und was kannst du anfangen? Verrecken wirst du!«

Man schwieg auf der Arbeiterstellage, durch die Argumente des Urkianführers beeindruckt.

»Solchen sollte man direkt den Schädel einschlagen«, ließ sich der Techniker vernehmen.

Das Gesicht des Urkianführers verzog sich vor Wut und Verachtung.

»Ach du Elender … ausgerechnet du Satansbrut willst uns den Schädel einschlagen? Schreibe dir hinter die Ohren, du Hundesohn … Hier haben wir dich um ein Stück Brot gebeten, da warst du hochnäsig; im Lager wirst du vor mir auf dem Bauch kriechen – eins, zwei, drei, und du bist gewesen, wirst dich nicht hinter fremden Rücken verstecken können … der da«, nickte der Anführer mit dem Kopf zu mir, »der kann einem den Schädel einschlagen … und du, ach du Lausekerl.«

»Nein, solche … ja … solche, solche muß die Sowjetmacht direkt erschießen … einfach erschießen … überall stehlen und plündern sie.«

Diesmal war es unser Unglücksrabe Stepanoff, der irgendwo unter den Stellagen auftauchte. Ihn haben die Urkis gründlich noch im Sammelgefängnis bearbeitet und er ahnte noch mancherlei Betrübliches im gleichen Stil. Seine Hände zitterten, und er sprudelte förmlich hervor:

»Nein, ich verstehe es nicht. Was soll das heißen? Man fährt uns in ein und demselben Wagen. – Völlige Straflosigkeit, was sie wollen, das machen sie.«

Der Urka betrachtet ihn mit verächtlichem Staunen.

»Na, Sie, stilles Herrchen, bleiben Sie lieber auf Ihrem Platz und schreiben Sie Ihre reumütigen Geständnisse … es rührt Sie doch keiner an, liegen Sie bloß ruhig. Ihre Zwiebel haben Sie im Sammelgefängnis wiedergekriegt, seien Sie man unbesorgt, die bekommen wir wieder.«

Stepanoff faßte hastig nach seiner Westentasche, die Urkis brüllten.

»Der ist aus unserer Gesellschaft«, sagte ich. »Wegen der Uhr laß ihn zufrieden.«

»Egal. Wenn nicht wir, so klauen sie ihm die anderen. Wenn nicht hier, dann im Lager. Zu zimperlich ist Ihr Herrchen, seine Beichten schrieb er immerzu. Ich weiß es genau, die unsrigen saßen mit ihm zusammen.«

»Geht Sie gar nichts an, was ich geschrieben habe, ich werde mich über Sie schriftlich beschweren.«

Stepanoff wurde nervös, innerlich verängstigt und machte nichts als Dummheiten. Ich zwinkerte ihm ein paarmal zu, aber er merkte nichts …

»Hören Sie mal. Sie zappeliges Herrchen, was ich Ihnen sage … Ich habe Ihnen einstweilen noch nichts gestohlen, tue ich es aber, dann wird Ihnen Ihre schriftliche Beschwerde genau so helfen, wie dem Toten der Weihrauch.«

»Wartet mal ab, im Lager wird man euch schon kleinkriegen«, sagte der Techniker.

»Deine Mutter hat anscheinend mit Narren geschlafen, daß du so überklug zur Welt gekommen bist. Im Lager, ach du Heukopf! Und was kennst du vom Lager? Bist du dagewesen? Ich fahre bereits zum fünften Male hin, und da willst du mir vom Lager erzählen?«

»Wie ist es eigentlich dort?« fragte ich.

»Im Lager? Erstens, sagen wir zum Beispiel, Sie oder dieses Herrchen werden ohne weiteres als Konterrevolutionäre angesehen. Die, die da oben sitzen«, der Urka nickte mit dem Kopf nach oben in der Richtung der Arbeiterstellagen, »die sind entweder Schädlinge oder Konterrevolutionäre. Und nun die Bauern, das sind lauter Kulaken. Das ist so zu verstehen, daß ihr alle Klassenfeinde seid, weshalb auch der Umgang mit ihnen ein entsprechender ist. Dagegen wir Urkis sind ein ›sozial verwandtes Element‹, so ist es. Weil wir, hol's dieser und jener, immer gegen Eigentum sind.«

»Auch gegen das sozialistische?« fragte ich.

»O nein. Staatseigentum rühren wir nicht an. Für Heller nimmst du und für Rubel mußt du büßen. Dazu noch Keile auf der Milizwache, wozu auch? Einige von uns haben mal versucht, dem Torgsinladen einen nächtlichen Besuch abzustatten. – Ja, jetzt fahren sie. Nichtige Sache. Was aber diese anbetrifft, wie dieses Herrchen da, so ist es erstens im Handumdrehen gemacht und zweitens, wo kann er hingehen? Beschwerden schreiben? Seien Sie mal nicht bange, mit der Miliz werde ich eher und besser einig als dieser euer Fatzke, ganz zu schweigen vom Lager. Dort wird man dir sagen: Zieh die Jacke aus, dann wirst du es tun, ohne viel zu erzählen, denn sonst machst du mit dem Messer Bekanntschaft.«

Offensichtlich prahlte der Urka, doch waren seine Worte ziemlich wahr. Stepanoffs Lust zum Weiterreden versiegte und er guckte mich ratlos an. Ja, Stepanoff wird es schlecht ergehen: keine Selbstbeherrschung, keine Gewandtheit, keine Fäuste … wird sicher umkommen.

 

»Die liquidierten Besprisorniki«

In dem sowjetistischen »Buche Mosis«, das im allgemeinen schwer zu lesen ist, gibt es Seiten, die selbst einem nahestehenden und sehr aufmerksamen Beobachter unzugänglich sind. Deshalb haben alle Versuche der »Erkenntnis« der Sowjetunion immer etwas von der Schönheit einer unverhofften Freude. Allerdings hat diese »Schönheit« auch eine Kehrseite, und das Unverhoffte verblüfft einen gewöhnlich durch seine Paradoxie. Ist es denn nicht paradox, daß es dem ukrainischen Bauern im Lager besser geht als in der Freiheit, und daß er aus dem Lager in seine Heimat getrocknetes Brot schickt? Und wie reimt sich dies mit der Tatsache, daß dieser Bauer im Lager zu Zehn- und Hunderttausenden ausstirbt? In den Wirren der Sowjetunion reimt es sich doch: in der Ukraine sterben die Bauern in größeren Mengen aus als im Lager, und ich habe selbst Bauern gesehen, die alle möglichen Tisch- und Küchenabfälle sammelten, um sie nach der Ukraine zu schicken. Bedeutete es, daß die Bauern im Lager nicht gehungert haben? Nein, das bedeutete es nicht. Aber durch eigenes Hungern haben sie ihre Familien vom Hungertod gerettet. Dieses Paradox ist noch mit einem anderen gekoppelt: mit einer ungewöhnlichen Festigung des Familienlebens. Und durch die Festigung der Familie entstand noch etwas Unverhofftes – die zwangsläufige Ehelosigkeit der Komsomolki. Weibliche Mitglieder der kommunistischen Jugend. Niemand will sie heiraten, weder Parteimitglieder noch Parteilose … So bleibt sie ihr ganzes Leben ewige Jungfer in irgendeinem Sowjetbüro.

Es gibt viel Unverhofftes. Einmal habe ich sogar ein musterhaftes Kolchos gesehen, dessen Vorsitzender ein Schankwirt war. Es gibt aber Dinge, worüber man überhaupt nichts erfährt. Was wissen wir zum Beispiel von solchen Erscheinungen der sozialen Hygiene in der Sowjetunion, wie es Prostitution, Alkoholismus und Selbstmorde sind. Was wußte ich, bevor ich nach dem Zwangsarbeitslager kam, über die Liquidation der Besprisorniki; ich, ein Mensch, der ganz Rußland bereist hatte? Ich habe gesehen, daß Moskau, Petersburg und die Haupteisenbahnlinien von den Besprisorniki gesäubert wurden, ebenso wie ich jetzt weiß, daß die Epoche der Kollektivisation und die Hungersnot der letzten Jahre diesem »Besprisornitum« einen neuen, heftigen Anstoß gaben. Aber erst hier, im Lager, habe ich erfahren, wohin das »Besprisornitum« geriet und wie es »liquidiert« wird, und zwar alle Jahrgänge – sowohl aus der Epoche des Kriegskommunismus, der Typhusepidemien und des Bürgerkrieges, als auch aus der Epoche der Liquidation des Kulakentums als Klasse, und der Epoche der Kollektivisation und endlich einfach der Hungersnot, die außerhalb aller »Epochen« steht und einen allgemeinen mehr oder minder dauernden Hintergrund des Sowjetlebens bildet …

So habe ich auch von dem großen Stamm der Urkis, die alle größeren und kleineren Schlupfwinkel »des ersten sozialistischen Reiches der Welt« bevölkern, wenig gewußt. Ein paarmal hat man mich bestohlen, doch nicht zu sehr. Man hat meine Bekannten bestohlen, manchmal ganz erheblich und zweimal sogar mit Mord- und Totschlag.

Das war ungefähr alles … Man sprach mitunter davon, daß die Millionenarmee von Besprisorniki herangewachsen und irgendwo auf den Etappen des »sozialistischen Aufbaues« operiert. Da aber die Sowjetpresse über die Mord- und Raubtaten nichts schreibt, so existiert für jeden eine »soziale Erscheinung« nur insofern, als er mit dieser unmittelbar in Berührung kommt. Außerhalb des persönlichen Horizontes sieht man weder Diebstähle noch Selbstmorde, noch Mordtaten, noch Alkoholismus, nicht mal Zwangsarbeitslager, solange in diese nicht ihre Anverwandten geraten sind … und schließlich hat man so viel und so lange geplündert und gemordet, daß man schon lange aufgehört hat, sich sowohl über den Geldbeutel als auch über das Leben aufzuregen …

Nun sitzt vor mir, meine Machorka rauchend und schmatzend, auf das glühende eiserne Öfchen spuckend, dieser Vertreter der von mir entdeckten Welt, der Welt der Berufsbanditen, die aus dem großen Kinder-Besprisornitum herangewachsen sind und noch wachsen werden. Er, dieser »Vertreter«, hat nur eine zerrissene Jacke an (das Hemd ist, wie er mir erklärte, noch im Gefängnis, versoffen), wobei diese Jacke offensichtlich noch vor kurzem ziemlich »schick« war. Vom Öfchen werden wir fast gebraten, in den Rücken durch die Spalten und Ritzen der Wagenwand bläst ein eisiger Januarwind, der Urka aber spuckt sowohl auf die Hitze als auch auf den Frost … Unwillkürlich kommt mir der Witz ins Gedächtnis von dem Besprisornik, den man aus Versehen in den Krematoriumofen gesteckt hat, man vergaß aber die Ofentür zu schließen; plötzlich ertönte aus der Höllenglut eine versoffene Stimme:

»Zumachen, du Rindvieh, es zieht!«

Noch etwa zehn Urkis, schon nicht mehr abgerissen zu nennen, sondern einfach halbnackt, flegeln sich auf dem durchlöcherten und durchgefrorenen Fußboden neben dem Ofen, werfen lässig Holzscheite hinein, rauchen meine Machorka und informieren mich über das Zwangsarbeitslager; ihre Schilderungen untermengen sie mit ganz und gar unflätigen Schimpfwörtern. Was sind dagegen die Feldwebel aus der guten alten Zeit! Säuglinge sind sie mit ihrer »Terminologie« im Vergleich zu einem Urka, mag sein Schnabel noch so grün sein … Ich muß ehrlich sagen, daß ich niemals ein Kapital mit derart irrsinnigem Profit anlegte, wie ich es mit den zehn Rubeln tat, die ich mit den Urkis in dieser Nacht verraucht hatte …

Die Bauern lagen ganz unter den Stellagen auf dem Fußboden des Wagens, in ihre Lumpen eingewickelt … die Arbeiterklasse schnarchte ganz oben … ich habe mich am Tage ordentlich ausgeschlafen. Die Urkis schlafen die zweite Nacht nicht und man sieht ihnen nicht an, daß sie danach Verlangen hätten … Vor mir wird ein »Lehrfilm« abgerollt – aus dem Lagerdasein, mit der ganzen Erbarmungslosigkeit des Lagerlebens, mit dem Verbrechervolapük administrativer Struktur, Erschießungen, »Normen«, »Unternormen«, Rationen, Spitzbüberei, Plünderungen, Bewachung, Gefängnissen und so weiter. Boris zieht indessen, die Machorkawolken abwehrend, die Parallelen zwischen den Solowetzki-Inseln, wo er drei Jahre sitzen mußte, und dem kommenden Lager, wo er wahrscheinlich recht kurze Zeit sitzen wird. Einstweilen erzählen mir die Urkis in ihrer für mich nur halbverständlichen Verbrechersprache unendliche Diebesgeschichten, durchsetzt von außergewöhnlich üblen Zoten …

»Es war einmal in Kiew, gerade am Silvesterabend, das war eine Geschichte«, beginnt irgendein etwa siebzehnjähriger Urka. »Schiebe ich mich da in ein Quartierchen – es war ein ganz einfaches Schloß. – Schaue mich um – ein Stübchen, im Stübchen ein Sofa, auf dem Sofa liegt ein Bündel mit einem Mantel darin, einem guten Burschuimantel. Na, es war am Tage, viel konnte man nicht mitnehmen. Ich nehme das Bündel, und mit Volldampf ab. Unterwegs merke ich, es bewegt sich etwas darin. Schaue hinein, und da liegt ein Kind darin. Schläft, der Hundesohn. Schaue mich um – niemand zu sehen. Geschwind ziehe ich den Mantel an und das Kind unter den Zaun, ins Gebüsch, unter den Schnee …«

»Wohin mit dem Kind?« fragt Boris …

Eine solch naive Frage ist dem Urka wahrscheinlich noch nie durch den Kopf gegangen.

»Weiß der Teufel«, sagte er gleichgültig: »Ich hab's doch nicht gemacht.« Der Urka hat dazu noch einige ganz ausgesucht niederträchtige Worte hinzugefügt, worauf die ganze Bande losplatzte.

Finki Kurzes feststehendes Messer., Fomki Kurzes Brecheisen., reingewichst, Därme raus, Saft, eine außergewöhnliche Grausamkeit und Erfindungsgabe in Rachemethoden, Brandstiftungen, Prostituierte, Saufgelage, Kokainismus, Morphinismus: da seht ihr dieses »liquidierte Besprisornitum«, diese Armee, die überall im Rücken der sozialistischen Front operiert – von den kalten Bergen Finnlands bis zu den warmen Lüften der Krim … Von allen menschlichen Gefühlen haben sie offensichtlich nur eins behalten – die Solidarität eines Wolfsrudels, das man schon im Kindesalter aus jedweder menschlichen Gesellschaft hinausgeworfen hat. Kaum irgendein Land oder eine andere Epoche kann sich rühmen, eine derartige Millionenarmee von Menschen geschaffen zu haben, die jeder sozialen Grundlage, jedes Sozialgefühls und jedweder Moral bar ist …

Bedeutend später, bereits im Lager, habe ich versucht, wenigstens annähernd die Größe dieser Armee, zumindest jenes Teiles, der sich in den Lagern befand, festzustellen. Im BBK.-Lager waren es 15 Prozent von der Gesamtzahl der Insassen. Nimmt man dieses prozentuale Verhältnis für die gesamte »Lagerbevölkerung« der Sowjetunion an, so wird man auf 750 000 bis 1½ Millionen kommen; allerdings ist diese Zahl, wie man in der Sowjetunion sagt, »lediglich orientierend« und wie viele von der Sorte operieren in der Freiheit?

Ich weiß es nicht.

Und was wird mit dieser Armee das kommende, neue Rußland tun? Auch das weiß ich nicht …

 

Die »Reise« als solche

Außer den planmäßigen Grausamkeiten, die sozusagen in der »Zweckmäßigkeit des Klassenkampfes« begründet liegen, erstickt das Sowjetland unter jenem wilden Strom von Grausamkeiten, die vollkommen zwecklos sind und niemandem nützen. Nach dem »Reglement« sollten die »Reisenden« täglich je sechshundert Gramm Brot, soundsoviel Gramm Heringe, ein Stück Zucker und Kochwasser bekommen. Warmes Essen war gar nicht vorgesehen, und im Winter, bei den langwierigen, Wochen und Monate dauernden »Reisen«, in den schlecht geheizten und zu gut »gelüfteten« Viehwagen trugen diese Transportzüge ungeheure Verluste an Kranken und Verstorbenen; jene aber, denen es gelang, nicht zu erkranken oder zu sterben, wurden furchtbar geschwächt … Angenommen, daß die für das ganze Land allgemeinen »Lebensmittelschwierigkeiten« die Menge und die Qualität der Verpflegung rechtfertigten – abgesehen sozusagen von dem guten Willen der GPU: Warum hat man uns aber fast verdursten lassen? Man gab uns Brot und Heringe gleich für vier bis fünf Tage. Den Zucker haben wir nicht bekommen, aber Gott mit ihm … Daß man uns jedoch nach zwei Tagen Heringskost nicht einen Tropfen Wasser gegeben hat, das war schon eine große Schlechtigkeit. Und sehr dumm …

Am ersten Tag war es schlimm, aber immerhin nicht zu qualvoll. Am zweiten Tage begannen wir von dem Wagendach den Schnee herunterzuholen; durch das Gitter der Luke konnte man den Arm hindurchzwängen und auf dem Dach scharren … Dann begannen wir den Schnee aufzunehmen, der vom Wind durch die Wagenritzen auf dem Fußboden angeweht war; für achtundfünfzig Mann reichte es aber bei weitem nicht aus. Die Durstqualen werden gewöhnlich im Zusammenhang mit Hitze, Wüstensand oder Sonne und Südsee beschrieben. Ich glaube aber, daß die Verbindung von Kälte und Durst um ein Vielfaches schlimmer ist …

Am dritten Tag, beim Morgengrauen schrie jemand im Waggon auf:

»Wasserausgabe!«

Die Menschen drängten nach den Türen – der eine mit einem Becher, der andere mit einer Blechkanne … Gespannt hörte man auf das Zurückziehen der Schiebetüren an den benachbarten Wagen, man fing an, das näherkommende Geschimpfe, das Aufklatschen des vergossenen Wassers aufzufangen. Wie Musik erschien mir dieses Aufklatschen! … Endlich wurde auch unsere Tür zurückgezogen. Eine Patrouille brachte einen blechernen Behälter mit Wasser, etwa fünf Eimer fassend. Vom Wasser stieg leichter Dampf auf – einst war es Kochwasser –, diese Feinheiten interessierten uns jetzt aber nicht. Ohne die Bajonette der Wachmannschaft wären die Insassen unseres Wagens bereit, sich kopfüber in diesen Behälter zu stürzen …

»Weg von den Türen, hol euch dieser und jener«, brüllte jemand der Wachhabenden, »sonst kriegt das Wasser des Teufels Großmutter! …«

Aber die Wageninsassen waren bereits dem Wahnsinn nahe … Sehr bezeichnend, daß sogar jetzt bei dieser Wasserfrage sich ein eigenartiger »Klassenunterschied« einstellte … Die Arbeiter hatten eigenes Geschirr, folglich hatten sie noch einen geringen Wasservorrat, sie litten weniger Durst, und im allgemeinen verhielten sie sich irgendwie organisierter. Die Urkis schimpften besonders kräftig und wortreich, stürzten sich aber nicht auf den Behälter. Wir, die Intelligenz, verhielten uns wie eine Art »Oberkommando«, das unter Zurückstellung von eigenen Interessen etwas zu organisieren und irgendwie das Kommando zu übernehmen sucht.

Die Bauern aber, die kein Geschirr wie die Arbeiter hatten, nicht so zähe wie die Urkis waren und keine bewußte Intelligenz besaßen, verwandelten sich in eine endgültig toll gewordene Horde. Mit Ächzen, Geschrei und Gebrüll drängten sie sich zu dem schmalen Türspalt, verstopften ihn mit ihren Leibern so, daß man weder an die Tür herankommen noch den Wasserbehälter in den Wagen hineinheben konnte. Die hinteren zogen die vorderen zurück oder krabbelten auf ihren Rücken nach oben, so daß die Wagentür dicht von oben bis unten mit einem lebendigen Knäuel von brüllenden und ausschlagenden Menschenkörpern vollgestopft war.

Mit großem Muskel- und Stimmaufwand gelang es uns, der Intelligenz und der Wache, den Durchgang zu säubern und den Behälter auf den Fußboden hineinzuziehen. Kaum stand er, als irgendein bärtiger Bauer sich durch alle Hindernisse hindurchstürzte und seine behaarte Visage ins Wasser tauchte – nur gut, daß es kein Kochwasser mehr war.

Boris packte ihn an den Schultern und versuchte, ihn fortzuziehen; aber der Bauer krallte sich so fest an die Ränder des Behälters, daß alle Versuche drohten, den Kübel umzukippen und uns ganz ohne Wasser zu lassen.

Kaum sahen die Bauern, daß ihr bärtiger Genosse sich verschluckend das Wasser schleckte, stürzten sie sich sofort wieder auf den Kübel. Ein Arbeiter schlug mit seiner Teekanne auf den halb untergetauchten Kopf, zwei weitere Köpfe versuchten sich auch an den Behälter durchzuzwingen; aber der Bauer hörte und fühlte nichts: er schleckte, schleckte und schleckte … Ein Wachhabender, dem offensichtlich ähnliche Vorfälle nichts Neues waren, schrie Boris zu:

»Schieb mal den Behälter hierher!«

Boris und ich packten zu, und der Wasserbehälter glitt auf dem vereisten Fußboden des Wagens zur Tür. Dort packten ihn die Wachhabenden, während der bärtige Bauer schwer auf den Boden plumpste.

»Ach, ihr Hundesöhne«, brüllte der Wachkommandierende, »jetzt nehmen wir den Behälter ganz fort, und ihr könnt in die Hölle fahren! …«

»Aber hören Sie mal«, protestierte Boris, »erstens haben sich nicht alle an dem Tumult beteiligt, und zweitens sollte man das Wasser rechtzeitig austeilen …«

»Wir wissen auch ohne Sie, wann es Zeit ist … na, füllt euer Geschirr mit Wasser. Wir müssen den Behälter fortschaffen …«

Nun entstand ein neues Problem. Die Intelligenz hatte genügend Geschirr, auch die Arbeiter, doch die Bauern und Urkis besaßen nichts … Eine Gruppe von Arbeitern weigerte sich entschieden, ihr Geschirr mit den anderen zu teilen. Das Endergebnis einer langwierigen und mit wüstem Geschimpfe durchsetzten Diskussion war schließlich: jeder hat einen Becher Wasser zu bekommen; das noch bleibende Wasser sollte nicht nach dem Eigentumsprinzip der Geschirrinhaber, sondern als Gemeinschaftsgut betrachtet werden. Also, wer sein Geschirr der Gemeinschaft nicht überlaßt, der bekommt überhaupt kein Wasser … Auf diese Weise riskierten die Arbeiter, die sich geweigert hatten, ihr Geschirr auch den anderen zu überlassen, ohne Wasser zu bleiben. Sie versuchten zu protestieren, doch war auf unserer Seite sowohl das moralische Recht als auch die Stimmenmehrheit und endlich das gewichtige Argument, ohne das alle übrigen nichts taugten – unsere Fäuste. Die Privateigentumsinstinkte waren besiegt …


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