Karl Söhle
Musikanten und Sonderlinge
Karl Söhle

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Die Tretetrommel.

Die Stadt Strulleborn, auf dem Atlas zum Leidwesen ihrer Bürger immer noch nicht zu finden, besitzt ein Kriegerdenkmal, eine Brauerei und eine Stärkefabrik. Die Strulleborner Bürger sind stolz auf ihren Bürgermeister und auf ihre Stadtgerechtsame, die ihre Vorfahren unter Seiner Großbritannischen Majestät Georg III. verbrieft und bestätigt erhielten. Sie bewahren sogar eine weltgeschichtliche Erinnerung, nämlich am »Reichsadler«, dem früheren »weißen Roß« zur hannoverschen Zeit, vor 66, verkündet eine erzene Tafel der Nachwelt mit Pathos und Feierlichkeit, daß in diesem Hause Anno 1837 der große König Ernst August auf der Durchreise mit Appetit und Zufriedenheit gevespert habe.

Aus Strulleborn ist bekanntlich auch ein weltberühmter Künstler hervorgegangen: William Boldini, der große Heldentenor, ursprünglich einfacher Bierzapf im »Reichsadler«, Wilhelm Bolte mit Vaternamen.

Eine besondere Schwäche haben die 115 Strulleborner. Du kannst sie nicht empfindlicher beleidigen, als ihnen ihre 1127 Seelen hämisch unter die Nase reiben. Leider geschieht's recht oft, denn die umwohnenden Bauern, besonders die von jenseit der Ise, sind respektlos und boshaft genug, sich hieraus einen förmlichen kleinen lustigen Sport zu machen.

Nirgendwo in der Welt stehen Stammtische und Damenkränzchen und die verschiedenartigsten Vereine so herrlich in Blüte, wie in Strulleborn, letztere ihrer drakonischen Statuten wegen, und mancherlei Sitten und Gebräuche der guten alten Zeit haben sich in dem abgelegenen Landstädtchen erhalten.

Man liebt vor allen Dingen strengste Ordnung in Pflege der Leiblichkeit. Zwei Stunden nach dem Morgenkaffee wird gefrühstückt, Schlag 12 essen sie in sämtlichen Bürgerhäusern Mittagbrot und zwischen Kaffee und Abendbrot, pünktlich nach der Vesperbetglocke, wird regulär gevespert. Von ihrem plörichen Zichorienkaffee abgesehen, wissen die Strulleborner anständig zu leben – alle Achtung. Sie halten außer auf einen guten Topf mittags mit besonderem Nachdruck auf ein reichliches und leckeres Vesperbrot, was ja, wie oben erzählt, seinen geschichtlichen Grund haben mag.

Kein zweiter Strulleborner, der auch nur 116 annähernd so energisch fürs Vespern eingenommen wäre, wie Stadtmusikus Zwillich!

Immer präzis mit dem ersten Betglockenschlage muß das Vesperbrot vor ihm zum Einhauen in Bereitschaft stehen, und so ist denn auch heute, wie immer, gewaltig aufgetragen. Eine großmächtige, appetitliche Schinkenkeule prangt auf dem Tische, eine halbe Speckseite, armdicke geräucherte Rotwürste, daneben ein unförmlicher Klumpen Preßsülze – alles vom eigenen Schwein – na ich wollte meinen: Zwillichs haben zu leben!

Allerdings, und wie sollten sie auch nicht!

An 30 Jahre hat Chrischan Zwillich zu sämtlichen Hochzeiten und Kindstaufen, Jahrmärkten, Fastelabend- und Erntebieren, Richtkösten, Sylvesterbällen, Sänger-, Turn- und Schützenfesten in Strulleborn und Umgegend, 10 Meilen weit im Kreise, die Musik besorgt, prompt und zuverlässig, und seine Leute haben ihm immer getreulich dabei geholfen.

Ohne Zwillich gab's in Strulleborn keine Freuden! Man hatte sich stets zufrieden und wohl gefühlt, nach beiden Seiten hin. Die Strulleborner rechneten ihren alten Kapellmeister Zwillich zu ihren unsterblichen Stadtberühmtheiten, neben William Boldini und Louis Siebenlist, ihrem genialen Kürschner und Stadtdichter, 120 ständigen Festredner und lebenslänglichen Vorstand des Gesang- und Turnvereins »Eichenlaub«, wie des dramatischen Vereins »Mehlpomene«. Und was Zwillich betraf – je nun, prächtig gediehen war er in diesem guten Verhältnis!

Das ist wahr: die Muse hatte an diesem ihrem besonderen Jünger geradezu wie eine liebe gute Erbtante gehandelt!

Meister Zwillich galt für einen vermögenden Mann. Er hatte es schlau verstanden, sich nach und nach ein hübsches, weißgetünchtes Erkerhaus, nebst 100 Morgen Ackerwirtschaft mit zwei Kühen und sechs Mastschweinen – drei zum Verhandeln und drei für die eigene Speisekammer – zusammenzufiedeln und saß so recht in seinem Fett, wie ein alter Pelikan. Ja und an den Stammtischen, wo man alle Verhältnisse in der Stadt genau kennt und kritisch überblickt, konnte man oft genug erzählen hören, daß Zwillich außerdem noch ein gut Stück bar Geld auf Zinsen beiseite gelegt habe.

Sieh ihn dir an, den Meister! Da sitzt er, rund und prall wie ein Wollsack, in seinem ledernen Großvaterstuhl. Er rippelt und rührt sich nicht. Die halbgeschlossenen Augen treten hervor wie Froschaugen, sind dick und glotzig – das viele anstrengende Klarinetteblasen habe 121 sie so aus dem Kopfe herausgetrieben, meinen die Leute.

Aber was hat denn das zu bedeuten: unberührt bleiben heute ja wieder mal alle die Herrlichkeiten auf dem Tische, sogar der dickbäuchige Buddel alten Refardtschen Korns? Keinen Blick hat er dafür, nur ein winzig Spitzgläschen Heideckerschnaps –? Was, Zwillich hätt's vorm Magen –? Mein Gott, das ist ja doch wohl nicht zu glauben.

Doch, es ist so! Ärger ist daran schuld. Und der ist groß, sitzt tief, ist nicht von heut oder gestern, seit Monaten schon quirlt er ihm die Galle.

Zwillichs großartiger Appetit – wo ist er geblieben? Auch keinen rechten Schlaf hat er mehr. Sieh die eingefallenen Backen. Wie Butterwecken glänzten sie sonst. Horch, wie's in ihm kocht, ganz aus der Pust ist er. Wahrhaftig, einzig nur am unveränderlichen Violetblau seiner großen, fleischigen, grobgeschnitzten Ohren und am feuerflammigen Rot des ungeheuren Musikantenhalses, in wulstigen Speckringeln über den Rockkragen quellend, ist der wahre Zwillich noch zu erkennen.

Sage mir, Muse, wie ist das gekommen?

Hausärger ist's nicht, denn die Wirtschaft ist in bester Ordnung und die Schweine 122 gedeihen vorzüglich. Wetterärger kann's auch nicht sein, lacht doch die liebe Gottessonne nur so mit dem ganzen Gesicht ins Fenster herein, daß ihre Strahlen auf dem blanken Schallbecher des gewaltigen Bombardons an der Wand lustig tanzen und auf den Klappen der Klarinette im Fensterwinkel neckische Sternchen blitzen.

Gar behaglich ist's bei Zwillichs in der Wohnstube. Das niedergelassene Rouleau im Eckfenster zwischen den frischwaschenen schneeweißen Mullgardinen macht mit seinem hochaufragenden »Schloß am Meere« in Gelb und Grün gegen den prallen Sonnenschein eine feierliche, romantische Wirkung. Davor hat die Hausfrau ihren Korbsessel und Nähtisch stehen. Doch nicht wie sonst hörst du heute ihre scharfe Nadel durch die Luft sausen oder die Stricksticken eilig ihre Maschenbahn klickern, Frau Dorette hat vielmehr ihre Hände unthätig im Schoße liegen und richtet unverwandt sorgenvolle Forscheblicke auf ihren Eheherrn. Auch Minchen, des Hauses holde Erbtochter, läßt Stramin, Sticknadel und Modezeitung ruhen und fixiert von ihrem Nähtischchen aus ebenfalls den Vater.

Dumpf schallt das Üben der Gesellen und Lehrjungen rings durch Thür und Wände ins Zimmer herein. Im ganzen Hause herum haben 123 sie sich verteilt, um sich nach Möglichkeit nicht zu beeinträchtigen. Was aber draußen die Straße passiert, hält sich die Ohren zu und trachtet, möglichst schnell vorüber zu kommen. Man hat's heute hille mit dem Üben, denn die große Kreistierschau steht unmittelbar vor der Thür. In das melancholische Nött-nött–Nött-nött des Althorns vom Holzstalle her schrummt aus dem Futtergang die zweite Violine ihre unreinen Griffe. Die Flöte hat in der friedlichen Milchkammer ein Asyl gefunden. Auf ihre lieblichen, sanften Triller hackt wie ein unbarmherziger Raubvogel die Trompete ihr Treng-Schneddereng, aus der Luke von der Bodenkammer herunter. Und von unten aus dem Kellerloch dröhnt die übende Ventilposaune in langgezogenen, gräßlichen, dumpfen Klagetönen, wie die Angst eines lebendig Begrabenen.

Da, horch, was war das?

»Bumms!« kracht's plötzlich in Zwillichs Fenster herein, wie ein Kanonenschlag.

Zwillich zuckt zusammen, sein schiefes Flundermaul öffnet sich mechanisch und bleibt aufgeklappt stehen. Aber noch beherrscht er sich, stößt einen unartikulierten Laut durch die Kehle, schüttelt den Kopf und wuppt einen Heidecker hinunter.

Wiederum kracht's draußen, dreimal schnell hintereinander. 124

Aus dem von außen so freundlichen, weinumrankten Fachwerkhäuschen, Zwillichs gerade gegenüber, schallt der Spektakel.

Meister Zwillich muß beide Hände in die Hüften stemmen, die verhaltene Wut will ihm die Flanken sprengen. Schnell nur immer wieder einen Heidecker hinunter, um nur den Magen niederzuhalten.

Als nach einer Weile das Bummsen von neuem losgeht und schließlich gar einen richtigen Daktylus faßt und nicht wieder losläßt – da aber kommt's zur Explosion. Krachend saust Zwillichs Faust auf die Tischplatte, daß die Würste vom Teller fliegen und die dicken Saiten des Kontrabasses hinten in der Schrankecke dumpf aufstöhnen. Dann stürzt er ans offene Fenster, wirft klirrend beide Flügel zu und brüllt: »Ha, ick woll, ick verreck' hier up de Städ!«

Doch leider sind die Bummsschläge auch bei geschlossenem Fenster deutlich weiter zu hören – schrecklich deutlich. O mein Gott und nun klirrt's ja wohl auch noch dazu, stramm im Takt?

Zwillich ist vollständig gebrochen, Minchen hat Zuckungen, Madame Zwillich sucht nach den Hoffmannstropfen im Wandschranke.

»Man jümmer ruhig Blaut, Chrischan«, 125 läßt sie sich endlich nach einem leichenhaften, tiefen Schweigen vernehmen. »Da, nimm die Droppen. Das wollen wir doch erst mal da auf ankommen lassen. Och wat da, Snicksnack, noch sünd wi'n wussen!«

Ah, merkst du wohl – aber wer hätt's denn auch für möglich gehalten, daß Zwillich – der berühmte Zwillich in Strulleborn in seinen alten Tagen das noch erleben muß: Konkurrenzärger ist's also, was ihm so das Leben verbittert und ihm wie ein höllischer Wurm in den Eingeweiden wühlt!

Und wie beschämend: sein ehemaliger Lehrjunge, der kleine, krausköpfige Schorse Timm aus Kuckstorf bei Bodenteich ist sein Konkurrent.

Merkwürdig, daß auch immer gerade um die Vesperstunde Zwillichs Ärger frisch nachsetzt. So heute, so damals. Kaum in Strulleborn warm geworden, was that dieser Schorse Timm – die ganze Stadt war außer sich, als es bekannt wurde –? Frisch und munter dringt er bei Zwillichs ein, steht grötsch da und hält kurz und bündig um Minchen an. Bildet so ein hergelaufener Laffe sich ein, Meister Zwillich werde ihn als Schwiegersohn und Kompagnon gleich ohne weiteres mit offenen Armen aufnehmen – Zwillich, sein Todfeind, 's ist zum Lachen! Das glaub' ich, ha: Minchen Zwillich, 126 die beste Partie in der Stadt – nein, mein guter Herr Schorse Timm, so einfach liegt die Sache nicht! –

Zwillich kaut gerade am ersten Vesperbissen, als die Geschichte passiert. Dermaßen heftig kocht die Wut in ihm über, daß alles in die Luftröhre geht. Er kann überhaupt nur husten und kein Wort sprechen. Schrecklich rollen seine Augäpfel, das auf der Schädelplatte sorgfältig verteilte, schon ziemlich mottige Grauhaar borstet sich empor, während die gabelbewaffnete Rechte energisch auf die Thür weist. Jedoch der freche Patron bleibt patzig stehen, wiederholt in aller Ruhe und Bestimmtheit seinen Antrag und fügt noch die Bemerkung hinzu, daß Zwillich nachgerade das Alter habe, sich zur Ruhe zu setzen – der Jugend (nämlich ihm), gehöre die Zukunft.

Zwillich hustet, würgt, brüllt und stampft. Auf springt er schließlich und holt mächtigen Schwunges mit der Vespergabel auf Schorfe Timm aus, wie ein dolchgeübter Bravo. Das hilft. Der Angegriffene versucht zwar kühl zu lächeln, es geht ihm aber doch zugleich ein kalter Schauer den Rücken hinunter, daß er sich schleunig wendet und die Flucht ergreift.

Weiter: wodurch rächt sich der Mensch, gleich den nächsten Tag? In Brammers lütjes Gartenhaus, Zwillichs gerade gegenüber – es stand 127 zufällig leer – mietet er sich ein: direkt vor den Augen sollen ihn Zwillichs haben und sein Üben aus nächster Nähe täglich mit anhören.

Wie sich die Bürger Strulleborns zu der Sache stellten?

Ei, die waren zuerst schön aufgebracht, wie gereizte Wespen! Zum Bürgermeister liefen sie, daß er den Eindringling ausweise. Bürgermeister Wuppedahl aber konnte nichts machen wegen der vermaledeiten Gewerbefreiheit. Das Strulleborner Wochenblatt beschäftigte sich mit der Angelegenheit in ungemein scharf zugespitzten »Eingesandt«-Artikeln, anonyme Schmäh- und Drohbriefe wurden gegen Schorse Timm losgelassen, massenhaft. Zuletzt, als alles nichts helfen wollte, beschloß man, positiv vorzugehen und Zwillichen hohe Ehrungen zu erweisen, ihm zum Trost – seinem Konkurrenten zur Beschämung. Das Schützenkomitee trat zusammen und richtete eine Vertrauensadresse an Zwillich. Der »Reichsadler«-Wirt unterbreitete ihm einen lebenslänglichen Kontrakt und der Gesang- und Turnverein »Eichenlaub« ernannte ihn einstimmig zum Ehrenmitgliede. Außerdem einigten sich, mit Ausnahme der Witwe Bögeholten, sämtliche Wirte dahin, Zwillichs schamlosen Konkurrenten schlankweg zu boykottieren. Ihn nicht aufkommen zu lassen und kurzer Hand 128 aushungern zu wollen, war beschlossene Sache, und so wurde denn auch alsbald an allen Stammtischen Schorse Timms Untergang immer frisch von einem Tage auf den andern prophezeit.

Jedoch Schorse Timm ließ sich nicht einschüchtern und hielt Stand wie ein Felsen in der Brandung.

Ja, wenn er die Tretetrommel nicht hätte, die zaubermächtige Tretetrommel!

Und dann: kennt er die Strulleborner nicht längst zur Genüge, ihre Neugier, ihre Genußsucht – hatte er sie nicht schon damals bald durchschaut, aufgeweckt wie er war, als er noch bei Zwillichen lernte?

Runde zehn Jahre sind seitdem vergangen. In Strulleborn weiß – wenigstens unter den Bürgern von Gewicht und Ansehen – sich niemand mehr auf ihn zu besinnen. Nur die Wittwe Bögeholten, der er sich oft gefällig erwiesen, hat »Zwillichs lütjen nüdlichen swarten Kruskopp« nicht vergessen.

Als Schorse Timm das genannte merkwürdige Instrument in Salzwedel auf der Auktion des weiland Stadtmusikus Henning für 1 Thaler und 8 gute Groschen auf den bloßen Materialwert hin erstanden hatte, da war's ihm gewesen, wie er später oft erzählte, als raunte ihm ein guter Geist sonor und zuversichtlich die 129 Worte ins Ohr: »Schorse, damit gewinnst du die Schlacht, damit machst du Zwillichen tot!«

Und nun vollends noch seine eigene Erfindung und großartige Vervollkommnung der Tretetrommel, nämlich daß jetzt durch eine Art Spinnrad-Mechanismus nebenher am Gestell noch ein kleines Schwungrädchen mit Treibriemchen funktioniert, um einen Schellenbaum im Takt auf- und niedertanzen zu lassen – Trommel- und Beckenschläge, dazu Schellenbaumklirren, alles zugleich mit einem einzigen Pedaltritte: nein wahrhaftig, so viel Kunst auf einmal war noch nicht da!

Mühe hatte es freilich genug gekostet: erst das schwierige Erfinden und dann das Behandelnlernen, und Tag und Nacht hatte Schorse Timm im Schweiße seines Angesichts geübt. Aber nun zwingt sein Geist die Materie, und mag er auch mit den Händen erste Violine spielen oder Trompete oder Klarinette blasen und zugleich in unerschütterlicher Geistesgegenwart mit Feldherrnblicken dirigieren – die Füße unten haben ihren Willen für sich und wissen mit bombenfester Sicherheit die großen Pedale zu meistern. –

Wie's immer so zu kommen pflegt im Leben: auch in aufgeregte Gemüter träufelt die gute, stillgeschäftige Muhme Zeit allerwege ihr lindernd 130 Öl. Nach und nach beruhigten sich die Strulleborner.

Dieser Kuckstorfer Musikante mußte nicht nur ein abgefeimter Schlauberger, er mußte doch auch wohl ziemlich hintersetzt sein, denn er behielt wahrhaftig den Kopf oben!

Nicht lange und er hatte drei Lehrlinge am Pult sitzen und nahm außerdem sogar noch einen Gesellen an, daß er mit ihnen ein ganz anständiges Quintett stellen konnte.

So ganz in der Stille gewann er auch wirklich allmählich Anhang, und zwar unter den jüngeren »Profeschonisten«, die bei der Witwe Bögeholten verkehrten.

Da er ein Witzenmacher ersten Ranges war – die Kuckstorfer gelten alle dafür – so spielte Schorse Timm bald eine führende Rolle am Bögeholtenschen Stammtische und man wandte ihm auch was zu, z. B. eine Richtköst, ein Geburtstagsständchen, zwei mittlere Hochzeiten und eine große, fette Zwillingstaufe, auf der es ungemein lustig herging.

Schade nur, daß die hochmögenden, vornehmen Patrizier hart blieben, die vom »Reichsadler« und von den Stammtischen in der »Goldenen Gans«, bei Wiechmanns, bei Karl Schultze. Aber immerhin, als auch sie merkten, wenn sie an Brammers lütjem Hause 131 vorüberkamen, daß darinnen das entsetzliche Rasseln, Klirren und ohrenbetäubende Bummsen sich klärte und Ordnung und Kultur hineinkam – da wich ihr giftiger Spott nach und nach doch wenigstens einem nachdenklichen Kopfschütteln und dämschen, halbneugierigen Hinhorchen.

* * *

Zwillich hat auf heute Nachmittag Generalprobe anberaumt.

Der alte spaßige Musikant Dargel, die lebendige Strulleborner Stadtchronik, kommt etwas vor der Zeit. Nachdem er erst eine Weile im Thürrahmen gestanden und Witterung gewonnen hat, tritt er Zwillichen behutsam näher. »Dag auch, Zwillich!« – Gerade beginnt draußen eine neue Tour. – »Pst, er is da woll all wieder bei? – Du, Zwillich, 's is würklich allens an dem, was die Leute snacken. Die ganze Stadt is dich vor Neugier rawwelig da auf, allens snackt von die oll Tretetrummel, und die Bögeholten hat die Danzkonzeschon gekriegt. Und denk dich man bloß: Tierschau-Nachmittag will er dich auf die Bögeholten ihren Grashoff, unner freiem Himmel, konzertieren, mit die oll Tretetrummel – die ganze Stadt soll's hören, vor umsonst.«

»Kinkerlitschen!« fährt Zwillich auf. »I 132 dråehn und dråehn! Daß se man ümmer bloß wat neues aufbringen! Aberst noch bün ich am Platz! Ja, Dargel, und das sag' ich man: trau einer einen noch! Da kommen se in erst ganz lieseken an einen ranngeschwänzelt igitt und gehen einen um 'n Bart und 'n Glattsnacken und 'n Flattieren und 'n gefährlich Thun und halten einen Zuckerbrot hin, aberst gleich achter'n Rücken kratzen und beißen se zu. Ha pfui, wer hätt' das dacht von'n, dunnemals, as er noch mein Lehrjunge war, und dumm as'n Holzpahl, nich mal aufs Althurn konnt' er ornlich Takt hollen!«

»Ja siehst'e, da hast du's nu, Zwillich! Hab' ich's nich gesagt: wahr dich vor die Krusköpp! Die Krusköpp is nüms nich zu trauen, und 'n Kuckstorfer is er noch dazu! Ha, so'n negenklanken Wichtköttel, glöwt hei kann allens und 'n anner nix! Kommt so'n Lapps vons Celler Milletähr reduhr un will hier nu in unsen Ort mir nichts dir nichts anfangen, wo uns doch allens hört! Is dich so'ne Unverschamigkeit woll all dagewesen?«

»Hab' man keine Bange, Dargel, da wollen wir'm schon'n Sticken bei stecken!« antwortet Zwillich zugleich wütend zum Fenster hinausdrohend: »Ha du, du da, komm du man rann, Musche Schorse! Was, du meinst, du hast eine 133 und ich man keine und damit hätt'st du mich all dahl? Ha, da setz' dich man mit auf'n Blocksberg hin, zu die Heren! O du mein Gott, 'ne oll Tretetrummel noch mit bei, igitt so'n glupsch Zuschlagen, bumms zu, ümmer lieke zu – in ganz Hannoverland giebt's das nich und man bloß drüben im Preuß'schen hab' ich's mal erlebt, as ich se anno 61 in Gardelegen Schützengill feiern sah. Und paß mich man auf, Dargel, so 'ne preuß'sche Sitten lassen sich unse auch nich gefallen, ganz sicher nich, as ich die Strulleborner kennen dhu. Mögen se sein, wie se wollen – auf Kunst halten se, und Kunst muß Kunst bleiben, das ist gewiß! Sollst sehen, ausreißen werden se Tierschau vor die oll' Tretetrummel, all beim drütten Schlag rönnen se weg, mit zuen Ohren. Süh und dann kann er sich selber was auftrummeln, ganz solo, ganz vors Provatamüsier und 'n Rückmarsch antreten.«

»Ja, das dünkt mich auch so, ins letzte hast du recht in«, antwortet Musikant Dargel, der allmählich wieder Courage bekommen hat. »Nä, keine Bange nich: Kunst muß Kunst bleiben, und wenn wir ja auch Mußpreußen sein – das heißt: bloß polit'sch besehen – preuß'sche Sitten lassen wir nich rein in unser Land!«

Auf dem Flur wird's lebendig. Das Trampeln nähert sich. 134

Mit stumm respektvollem Gruß treten die Musikanten Westhusen, Bössel, Klepperbein und Stengel, Mulster aus Alt-Isenhagen und Elvers' Christoffer aus Hankensbüttel, Zwillichs Bundesgenossen, ins Zimmer, ihnen folgen die Gesellen und Lehrjungen. Jeder bringt sein Instrument unterm Arme mit. Poltern und Schurren, Stuhl- und Pultrücken. Dazwischen der Hausfrau scharfe Stimme. Den alten, zitterigen Mulster und Elvers' Christoffer schiebt die Gestrenge sofort an den Schultern wieder zur Thür hinaus, damit sie sich auf dem Eisen draußen die Füße besser abtreten. Sodann macht Frau Dorette sehr nachdrücklich auf den Spuckkasten in der Ofenecke aufmerksam und watschelt hinaus – Minchen ihr nach.

Allmählich kommt Ordnung in das Chaos.

Nun haben sie in großer Umständlichkeit alle glücklich Platz genommen und die Lehrjungen legen die Noten auf.

Kein lautes Wort wird geredet. Gedrückt und kleinlaut sitzen die Musikanten da und plinken scheu von unten auf den strengen Meister an: »Na, merkt er's denn noch immer nicht?«

Allerdings hat Zwillich längst den leergebliebenen Tenorhornstuhl gesehen. Als er nun endlich fragend mit dem Fiedelbogen darauf weist, antwortet Musikant Klepperbein mit seiner 135 heiseren, versoffenen Stimme: »Jeja, ick segg, ick segg, düsse verflixte Niewind! De hat sick nu ok besnaken laten. De is nu all in drei Dagen de Drütte. Heitmann hat hei up sine Sied, den dicken Mohwinkel, un nu is Niewind ok noch upletzt åewergahn. Trumpett, Fläutje un Tenorhürn. Deuker hal, 't kummt scharp!«

Meister Zwillich rollt wütend seine Glotzaugen. Plötzlich jedoch besinnt er sich, bringt seinen Leib mit festem Ruck wieder in eine würdige Positur, greift nach der Geige und schnarrt: »Och Schett wat Tenorhürn – 't gaht ok ohne;« darauf kommandiert er: »Los, anfassen – Klar'nette, A!«

Mit großem Eifer wird gestimmt. Ein Höllenlärm macht die Wände wackeln und die Fenster klirren. Endlich hat jeder ein leidlich reines A oder glaubt's doch wenigstens zu haben.

Allmähliche Beruhigung. Die Bläser prüfen immer noch mal nach: federn die Ventile, wischen, lassen auslaufen, spucken, lecken die Lippen und bringen die Kessel ordentlich in Ansatz, und die Streicher reiben aus voller Faust die Bögen am »Kalphoni«, daß Pferdehaare darauf gehen und förmliche kleine weiße Wölkchen aufsteigen.

So, nun ist man so weit, nun kann's losgehen. 136

Die Instrumente im Griff will man gerade anfangen, als das Bummsen und Klirren draußen mit einem Male wieder beginnt. Lange war's still gewesen, plötzlich aber kracht und klirrt es nun wieder mit aller Gewalt.

Alles setzt erschrocken wieder ab. Westhusen und Stengel sind ganz bleich geworden und erheben sich.

»Nieder zu Platz, anfangen!« ranzt Zwillich seine verzagten Leute an. »Herrgotts Dunner hal, Kurasch, Kopp oben – man bloß, daß er sich heut noch 'n büschen mausig macht, morgen is's alle mit'n. Los nu – Laurapolka – 1, 2; 1, 2!«

O weh, wird das eine Katzenmusik! Nur die Gesellen und Lehrjungen nehmen sich zusammen und bringen wenigstens ihre Noten leidlich. Alle paar Takte muß Zwillich abklopfen und immer ist einer von den Alten schuld.

Gott ja, es ist auch leicht gesagt: schlimme Ahnungen und Sorgen, wenn einmal heraufbeschworen, lassen sich, wie böse Gespenster, nicht so leicht wieder verscheuchen; nach Brot geht nun mal die Kunst – hat denn nicht auch ein rechtschaffener Musikante Frau und Kinder daheim, die satt zu essen haben wollen?

Dann mal, daß sich der alte Westhusen verzählt und einen verkehrten Nött-nött-Wechsel 137 auf seinem Althorn tutet. Dann wieder hält Mulsters Trompete falsch lang oder sticht an falscher Stelle kurz heraus. Ach Jemine und Elvers' Christoffer am Kontrabaß hat überhaupt ganz und gar den Kopf verloren und sägt immer nur so blind hinein in die Saiten – ein Ochse halte das aus!

Aber was ist denn mit einem Male los draußen?

Das ist die Tretetrommel nicht mehr allein – horch, wie ist's möglich: der neue, großartige Galopp »Mit Bomben und Granaten«! Herrgott, so'n Schmiß, so'n Schwung! Sind denn ihrer zwanzig drüben im Gange, oder um Gotteswillen sollte – sie allein, – die Tretetrommel, – wirklich –? Hat man je solche Niederträchtigkeit erlebt: kein Zweifel, drüben ist auch Generalprobe! Bei offenem Fenster noch dazu, in durchsichtiger, schändlicher Absicht.

Das allerdings sprengt alle Bande der Ordnung bei Zwillichen.

Auch die Gesellen und Lehrjungen halten nun nicht mehr Stand und kommen aus dem Takt, allem Wettern, Fluchen und Stampfen Meister Zwillichs wie zum Hohn.

Es hilft nichts, Zwillich muß »Das Ganze halt!« kommandieren, und keine andere Rettung bleibt, als aufzupacken und auf der 138 Scheundiele nach dem Garten hinten hinaus die Generalprobe fortzusetzen.

Als Schorse Timm und die Seinen merken, daß der Gegner in die Flucht geschlagen ist, kommen sie ebenfalls aus dem Takt – vor purer Schadenfreude.

Mitten im Trioteile wird knacks abgebrochen. Man hält sich die Seiten und will sich ausschütten vor Lachen.

Zuletzt erhebt sich das ganze Bläserkorps wie ein Mann – erste und zweite Trompete, Althorn, Tenorhorn und Bombardon – und triumphiert auf Niewinds übermütigen Vorschlag mit einem dreifachen Tusch zum Fenster hinaus.

* * *

Der große Tag der Kreistierschau ist gekommen.

Sie haben sich angestrengt, die guten Strulleborner Pfahlbürger. Alles was recht ist: Ehrgeiz haben sie!

Eine große Menge Vieh ist angetrieben worden. Sogar von Alt-Isenhagen und von jenseits der Ise, wo man erst jede Beteiligung hohnlachend ablehnte, haben verschiedene große Maierbauern sich zuletzt doch noch breit schlagen lassen. 139

Das ist ein Leben in der Stadt! Dies Gewimmel – Mensch und Vieh bunt durcheinander!

Auch viele neue landwirtschaftliche Maschinen und Gerätschaften sind ausgestellt, von Tafelmacher in Ülzen. Aber die Bauern bleiben in gemessenem Abstand davor stehen und krauen sich mißtrauisch hinter den Ohren: »Nu kiek einer, wat sei dor nu all wedder allens utklamüsert hewwt – ok jeden Dreck widd sei vandag mit Maschins maken!«

Der Rathausplatz bildet den glänzenden Mittelpunkt der Tierschau. Deswegen hat sich auch hier in holder Anmut der Strulleborner Damenflor entfaltet, in den Fenstern der über und über bekränzten Häuser.

Mächtige schwarz-weiß-rote Fahnenlaken flattern über den ganzen Platz weg, oh und seh' nur einer das prachtvolle große Kreisvereins-Hauptbanner und die verschiedenen einfacheren Zweigvereins-Banner!

An den blumenumwundenen Fahnenmasten prangen Verse, ernste und ergötzliche, zur Verherrlichung der Landwirtschaft, gedichtet vom Kürschner Louis Siebenlist:

»Der Landmann, der den Mist veracht',
Erlebt's, daß ihm der Hof verkracht.«

»Fürchte Gott und bete,
Fleißig Quecken jäte.« 140

Auch die einmal vorrätigen patriotischen Kern- und Kraftsprüche, wenn ja auch eigentlich für Sedan-, Sänger- und Schützenfeste bestimmt, sind praktischermaßen mit verwendet worden, und außerdem zieren noch viele schöne bunte Plakate und Reklameschilder die Fahnenmasten, das Angenehme mit dem Nützlichen verbindend.

»Hochprima künstliche Düngemittel, Mergel, Knochenmehl, Kalisalze, immer vorrätig bei Siegfried Katzenstein am Markt.«

Dicht vorm Rathause, im Halbkreis ums Kriegerdenkmal, der Preisrichter-Tribüne prick gegenüber stehen die stattlichen, preissicheren Mastochsen und Milchkühe.

Fromm, gleichmütig und genauer beobachtet doch zugleich auch wie von Begeisterung innerlich durchleuchtet, ob der Wichtigkeit des Tages, blicken die großen runden Guckaugen unter den breiten horngekrönten Denkerstirnen hervor in das Menschengewimmel, auf den regierenden Bürgermeister, auf die Beisitzer, wie auf die ernste Feierlichkeit des gesamten Preisrichter-Kollegiums, und nur ganz selten mal verraten harmlos neugierige Seitenblicke reale Nebeninteressen.

Die Zuchtbullen, doch in der Regel höchst pessimistische und gewaltthätige 141 Übermenschennaturen, sind heute die Gutmütigkeit selber, und lassen die Pracht ihrer Glieder gemütlich in nächster Nähe betrachten.

Ja selbst die Schweine auf dem Platze vor der Superintendentur verhalten sich ruhig und manierlich. Ganz selten mal, daß ein altes Sau- oder Borgschwein, das die Bequemlichkeit liebt, verdrießlich aufquiekt und dann auch meist mit gutem Grund – wenn ihm nämlich ein Bäuerlein mit der Faust allzu energisch und an unrechter Stelle nach seinem Fette geforscht hat.

Fürwahr, glänzende Ergebnisse sind erzielt worden! Alle einheimischen Ackerbürger haben 1., 2., 3., 4., 5. Preise abbekommen. Man hatte ja massenhaft welche zu verteilen. Allerdings Buchbinder Melbern und Luten Bütkampen, dem Flickschuster – beide ihres unbegreiflich vielen Bücherlesens wegen als Freigeister und halbe Sozialdemokraten in Verdacht – wurden sie vom Bürgermeister nachträglich in aller Form Rechtens wieder aberkannt.

Na, nun ist's bald so weit, daß die Festivitäten ihren Anfang nehmen können. Der Vortrag des gebildeten Herrn Hofbesitzers Hermann Fähse aus Kakerbeck – er hat zwei Semester in Ebstorf auf der Ackerbauschule studiert – neigt sich seinem Ende zu. Das Thema lautete: »Ratschonelle Sandbodenaufbesserung«. Dies 142 der gewichtige Schlußsatz: »Und diesertwegen kann ich ümmer wieder man sagen, as mein Fründ Herr Ökonomierat Schultze-Lupitz auch sagte: weg mit die ollen dämlichen Lupinen, bei die nix nich rauskommt, as was 'n büschen drögen Schapmist auch thut – die Serradella is die Mistpflanze der Zukunft!«

Kaum hat der Redner seinen Abtritt genommen und seine ungeheuren Fäuste aus den lästigen Schwarzbaumwollenen glücklich wieder heraus und im Freien, so hat auch schon der Gesang- und Turnverein »Eichenlaub« in wahrer Affenbehendigkeit die wackeligen Tribünenbretter erklommen, sich militärisch stramm in Stimmordnung gesetzt, fix in einem Duck mit seinen sämtlichen Häuptern verbeugt und den feierlichen Chor angestimmt: »Das ist der Tag des Herrn.« Darauf singen sie noch: »Die Ehre Gottes in der Natur« und viele andere, sinnig gewählte Lieder.

Stolz, andachtsvoll, kennermäßig lauschen die Strulleborner, und die Bauern muscheln die Hände um die Ohren, spucken aus und machen nach Möglichkeit einfältige Gesichter, zum Zeichen, daß ihr Geist sich sammelt und dem Profanen abwendet.

Schade nur, daß ein paar junge Stärken absolut keinen Sinn für Musik haben und in 143 ihrer Ungeduld sich kaum beschwichtigen lassen wollen, und geradezu flegelhaft benimmt sich der preisgekrönte, prachtvoll bekränzte Wollersehler Gemeindebulle: mit seinem fortwährenden infamen Lümmeln bringt er die Sänger verschiedene Male beinahe aus dem Takt.

Der Verein »Eichenlaub« hat sich verbeugt, militärisch Kehrt gemacht und ist glorreich abgetreten.

Alle Mann hoch, Dirns, Jungkerls, die Tanzbeine locker, gleich geht's los! Fix in den »Reichsadler«! Zwillich wartet längst mit seinen Leuten. Hört, sie stimmen schon. Pah, die Witwe Bögeholten – 's ist leicht gesagt, auch tanzen lassen wollen, man muß doch erst wissen wie und wo, im »Reichsadler« weiß man, was man hat!

Zwillich ist schön in Aufregung. »Nu gilt't, dat Jü mick uppaßt! Tellen, tellen! Bössel, ick slah dick den Brägen in, wenn du dick bi din Solo wedder vertüderst! Christoffer, bitt' dick um Gotteswillen, striek nahsten in'n Feenreigen-Rheinlänner nich so unvernünftig forsch in de Sieten!«

Zwillich legt los, mit seinem Allerlustigsten, dem Kosakenrutscher.

Es kommt schon prachtvoll Zug hinein. Die Leute strömen nur so in den »Reichsadler«. 144

Da, horch, was geht draußen vor? Ist Aufruhr in der Stadt ausgebrochen?

Trompetengeschmetter und ungeheures Trommelbummsen schallt über die ganze Stadt hin, von Bögeholtens Grashof her. Wie Kanonenschläge, wie Donnerrollen, Stürzen, Krachen und Klirren, Geschrei und Todesröcheln klingt's.

Aha, es ist das alte, berühmte Schlachtengemälde »Die Kanonade von Sebastopol«. Lieber Gott, dagegen ist Zwillichs »Todesritt von Mars la Tour«, den er jeden Sedan spielt, zahm wie der »Kirchhorster Landsturm«.

Die ganze Stadt ist wie vom Taumel ergriffen.

In gestrecktem Galopp stürzt alles, was Beine hat, zur Witwe Bögeholten.

Über die Zäune kommen sie geklettert. Pflichtvergessene Bauernknechte, bereits auf dem Heimwege begriffen, kehren eiligst wieder um und zerren ihre Ochsen und Kühe am Strick hinter sich nach.

Nur eine Handvoll Stammgäste weist die Versuchung zurück und bleibt im »Reichsadler«, um den Wirt und Zwillich zu trösten.

Schorse Timms großes Freikonzert ist im vollen Gange.

Donnerwetter, wie das flutscht!

Da, seht ihn selber – das glänzend geölte Kraushaar, das aufgewichste, zierliche 145 Schnurrbärtchen. Und diese Geschicklichkeit! Mit aller Macht tritt er in die Pedale. Mein Gott, und dabei noch erste Trompete blasen zu können! Und seine Leute schwitzen und strengen sich an. Dem neuen Gesellen am Bombardon werden die Backen noch platzen.

Ja, fürwahr, heute gilt's!

Gleich Nummer 2 ist der brillante neue Galopp »Mit Bomben und Granaten«; Nummer 3: »Was die jungen Mädchen träumen«, langsamer Schmachtewalzer; Nummer 4: Potpourri aus »Ferdinand Cortez« oder »Die Eroberung von Mexiko«; Nummer 5: »Strulleborn wird Weltstadt«, Geschwindmarsch, von Schorse Timm selbst expreß für heute komponiert; und der fidele Kehraus-Hoppser »Mein ist die Welt« bildet die Schlußnummer. Und alles spielen sie auswendig; alles schlank unter der Mütze weg.

Schorse Timm hat einen glänzenden Sieg errungen.

Wie ein Weltwunder haben sie die Tretetrommel angestaunt und sich den komplizierten und schwerverständlichen Tretemechanismus hernach so und so viele Male erklären lassen. Darauf haben sie zu tanzen angefangen. Saal, Gaststube, »Entree« – das ganze Haus der Witwe Bögeholten ist sackvoll gewesen von Strullebornern und Außendörflern, es konnte kein Apfel zur Erde kommen. 146

Schorse Timm schwimmt in Wonne und Seligkeit.

Außer ihm noch jemand.

Na und sie hat auch alle Ursache, sich zu freuen, die Witwe Bögeholten! Erstlich vor allen Dingen als Geschäftsfrau. Aber ist sie denn nicht auch Weib nebenbei, eine wohlkonservierte Wittib noch dazu, hübsch und drall, mit frischen roten Backen, einem lachenden Grübchen im Kinn und ach, einem sehr, sehr empfänglichen Herzchen?

Das kann mir einer glauben: die Strulleborner Damen haben scharfe Augen! Und sie wußten sie zu gebrauchen an dem merkwürdigen Abend. Mancherlei war so nebenher zu beobachten, das zu denken gab und Wasser auf die Klatschmühle lieferte.

An den Stammtischen wurden sie den ganzen Sommer über nicht müde, immer wieder nachzurechnen und einzeln auszuzählen, was Tierschau-Abend bei der Witwe Bögeholten alles ausgetrunken, verzehrt – zumal von den Damen verschnökert und was in dem Saus und Braus alles an Gläsern und Sachen zerschlagen worden wäre und daß man das Übrige, was sich gleich nachher ereignen sollte, vorausgesehen habe.

Der »Reichsadler« hatte schon vor Zwölfe zugemacht. So gut wie nichts war da los 147 gewesen, nur zwei Achtel waren aufgelegt und nicht mal ganz ausgetrunken worden. Ja, der Abend nahm im »Reichsadler« sogar einen höchst tragischen Abschluß, und das kam so: Der Adlerwirt muß seinem Ärger endlich Luft machen und schnauzt Zwillichen an, weshalb er nicht mit der Zeit fortgeschritten sei – man sehe nun, was eine Tretetrommel zu bedeuten habe, und deswegen habe er sich sofort auch eine anzuschaffen, sonst sei es aus zwischen ihnen.

Zwillich antwortet ruhig und besonnen: »Halts Maul, davon verstehst Du nix! Was, ich soll Dich zu Gefallen meine Kunst prohstetuwieren? Nein, sag ich, kunträhr: ich kohnsewier die Kunst in Strulleborn – der Jenne aberst mit seine olle Tretetrummel, der haut se in'n Dudden!«

Darauf der Wirt: »Also Du willst nich, Zwillich – gut, bong, is mich auch agal – wir sein geschiedene Leute!«

Zwillich bleibt ruhig, grifflacht höhnisch und beruft sich auf seinen lebenslänglichen Kontrakt.

Aber der Wirt läßt ihn nicht ausreden und brüllt, krebsrot im Gesicht vor Wut: »Is mich Wurst, der is for die Katz, as nu die Umstänne liegen – ich leug'n ab!«

Das aber schlägt ein und entflammt Zwillichs Jähzorn. An die Brust packt er den Adlerwirt. 148 Dieser verliert bei seinen unsicheren Podagrabeinen nebst der Zentnerfracht des Fettwanstes das Gleichgewicht, stürzt hintenüber und kommt mit dem Allerwertesten in Christoffer Elvers' Kontrabaß zu sitzen.

Auf sein Wehegeschrei und das fürchterliche Krachen kommen Bierzapf, Aufwärter und Hausknechte herbeigerannt und schlagen ohne weiteres zu, immer blind hinein in die schreckensbleichen Musikanten.

Zwillich und der Adlerwirt wälzen sich am Boden und sind förmlich in einander verbissen, wie zwei Bullenbeißer.

Hageldicht sausen die Hiebe. Gepolter und Geschrei.

Elvers' Christoffer brüllt ununterbrochen, als wenn er am Spieße stäke: »Slagt mick man dod, slagt mick man dod, bi minen Baß da will ick starwen – bi minen Baß da will ick starwen!«

Nachtwächter Forcke wird geholt.

Er kommt, wutentbrannt, Horn und Spieß in der Faust, kann aber mit dem bloßen Respekt vorm Gesetz nichts ausrichten.

Erst als nach längerem Suchen Wachtmeister Borstemann und Polizeidiener Stünckel glücklich gefunden und zur Stelle sind – sie saßen bei der Witwe Bögeholten im »Entree« gemütlich hinterm Schoppen – da gelingt es denn 149 endlich, die Streitenden von einander zu bringen. Zwillich, den ruchlosen Anstifter, will Polizeidiener Stünckel, der sich natürlich bei jeder Gelegenheit wichtig machen muß, im ersten Zorn sogar mitnehmen und im Spritzenhause die Nacht über einschließen.

Grauenhaft sieht's hinterm Musikanten-Träsen aus.

Christoffer Elvers' Kontrabaß kann nur noch als Brennholz in Betracht kommen, kein Tischler der Welt leimt die Splitter wieder zusammen. Manchen Sturm hat er erlebt, manche Markt-, Sylvesterball-, Pfingstelbier- und Fastelabend-Keilerei, mit ehrenvollen Narben war er über und über bedeckt – und nun dies ruhmlose Ende! Ferner Mulsters blitzblanke neue Trompete ist vollständig breitgeschlagen, an Dargels Althorn ist das ganze mittlere Gewinde zusammengedrückt und ein Ventil hängt heraus, und an Stengels Klarinette ist der Schnabel zertrümmert und außerdem fehlen ihr 4 Klappen.

Den anderen Tag sind Zwillichs Bundesgenossen in geschlossener Phalanx zu Schorse Timm übergegangen und außerdem haben sie Zwillichen noch beim Amtsgerichtsrat Krahnold in Isenhagen auf Schadenersatz verklagt. 150

* * *

Drei Tage sind vergangen und der Küster läutet gerade wieder die Vesperbetglocke.

Bei Zwillichs ist heute überhaupt nicht aufgetragen. Und doch sitzt die ganze Familie am Vespertische.

Aber was denn: Mutter und Tochter in ihren besten Kränzchen-Kleidern, in Hut und Umschlagetuch – einen frischen, duftigen Rosenstrauß hat Minchen zierlich am Busen stecken?

Plötzlich erhebt sich Madame Zwillich, pocht mit dem Knöchel dreimal auf die Tischplatte und kommandiert: »Furns mach dich p'rat, Zwillich, Minchen und ich sünd so weit. 'n Enn' muß gemacht werden, so kann's nich weiter gehen. Und Minchen liebt 'n ja doch auch, wenn sie sich recht daauf besinnt. Frag' sie selbst: sie will 'n nu. Was willst du: er is jung, hübsch, 'n gemachter Mann und mit unse Herrlichkeit is 's alle. Besieh's dich doch bei Licht: 'n bessern Swiegersohn und Kumpanjohn findest du in die ganze Welt nich, as die Sache nu steht. – Ach was, du mit deine ollen Kunstansichten! Da sie nu durchaus 'ne oll Tretetrummel mit bei haben wollen, das dumme Volk, – denn zu, in Gottes Namen! Also fix raus aus die ollen Kledaschen, auch ne annere Böckse – die neue Pfeffer und salzene – ziehst du mich an! Furns zu 'n hin, sprechen will ich schon!« 151

Gerade will man aufbrechen – da wird das frisch gedruckte »Strulleborner Wochenblatt« gebracht.

Heftig greift Zwillich danach: »Holt stopp, täuwt noch einen Mumang – ob meine Schweine-Annonce heut' woll endlich mit in is?«

Ein Blick hinein und das Blatt entfällt Zwillichs Händen.

Er will sprechen, jedoch sperrweit offen stehen bleibt ihm der Mund, als wäre die Maulklemme plötzlich hineingefahren.

»Um Gotteswillen, Mann, was is dich denn?«


Endlich federt Zwillichs Kinnlade wieder: »A–alles aus, vor ümmer vorbei! – Da, da, l–lies selbst, Dorette, rechts oben Familiennachrichten! – Nu is's das Beste: einrücken lassen, verpachten, verkaufen und furns weg, man bloß weg aus dies verfluchte Nest, weit weg, in die Großstadt, nach Ülzen, zu leben haben wir ja! – Donner noch mal zu: er nimmt die Witwe Bögeholten!« 152

 


 


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