Karl Söhle
Musikanten und Sonderlinge
Karl Söhle

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Christeldierk.

Sonntagfriede der Heide!

Die Kirchtürme lugen weitaus ins ebene Land. Sie mustern stolz zufrieden ihr Pfarrgebiet. Über die viereckigen stumpfen Ziegeldächer recken die eisernen Wetterstangen sich frohgemut in den klaren Junihimmel hinein, und der Turmknöpfe stattliche runde Bäuchlein möchten schier platzen vor Behagen.

Auf den Höfen und im Felde ruht die Arbeit. In Andacht stumm versunken, lauscht die ganze weite, sonnüberstrahlte Landschaft.

Der Roggen steht in voller Blüte. Blaue Kornblumen und Skabiosen, sammetroter Rahl, die tausend lustigen, goldenen Knöpfchen der Kreuzblüter, flammende, rote Klatschrosen, in üppigster Blütenpracht, umsäumen die Felder. Süß betäubender, segenschwangerer Dunst steigt auf aus den wogenden Halmen und darüber hin haucht die morgenfrische Heide in leisen, kühligen Fächelwellen den würzigen Duft des Birkenlaubs, der Wachholder und harzigen Föhren. 54

Horch, sachte tritt auf: Orgelklang, der Bauern herzhaftes Singen – weit ins Feld dringt der Schall aus den Fensterritzen und angelehnten Thüren der Kirchen.

Da der große Zeiger der neuen Fichtenhagener Turmuhr bereits halb elf passiert hat und munter auf dreiviertel weiterrückt, so hat ohne Zweifel jede Gemeinde im Lande bereits ordnungsmäßig den langen Predigtchoral angestimmt, bis mit dem siebenten oder achten Verse das würdige Haupt ihres Seelenhirten in der Kanzel auftaucht und die Predigt ihren Anfang nimmt.

Heute, zweiten Sonntag Trinitatis, predigen die Pfarrer in den Kirchen der Landdrostei Lüneburg nach dem jeweiligen Turnus entweder über das Evangelium vom verschmähten Abendmahl (Luk. 14), oder über die schöne Epistel von der Bruderliebe (1. Joh. 3, 13–24), so will's die Kirchenordnung, und keiner versäumt, reichlich Nutzanwendungen und Lebensregeln für das Verhalten des wahren Christenmenschen zu Gott, zur hohen Obrigkeit und zu seinem Nächsten aus dem Text abzuleiten. Auch da im lieben Hannoverlande, wo sie aus dem Stadeschen, Osnabrückschen, Hildesheimschen, Hannoverschen, Göttingen-Grubenhagenschen Kirchengesangbuche singen – so weit der Bannkreis der gestrengen 55 Hannoverschen Landeskirche sich erstreckt, wird der zweite Trinitatissonntag ziemlich ebenso wie in Fichtenhagen begangen.

Aber mein Gott, welch unsauberer Geist ist denn heute in die Fichtenhagener Gemeinde gefahren? Die reine Judenschule, keine Spur von Andacht und Erbauung. Wer hätte das der alten ehrwürdigen Kirche wohl von außen abgesehen?

Allein weder Pastor, noch Kantor, noch eine sonst verantwortliche irdische Macht ist schuld daran! Vollbesetzt, wie immer, sind Schiff und Priechen. – Doch halt, nein, es scheint nur so, flüchtig betrachtet – klafft nicht auf Numero 8 der rechten Orgelprieche eine Platzlücke? Wahrhaftig! Alles kuckt dahin. Sogar aus dem Schiff unten reckhalsen sie herauf. Man schüttelt die Köpfe, kraut sich hinter den Ohren, deutet mit den Händen auf die offene Numero 8, und das Getuschel und Geflüster dauert unverschämter Maßen noch fort, während Pastor Barthels mit der Predigt bereits im vollen Gange ist. Wirklich, Fremde könnten sonst was von der Fichtenhagener Gemeinde denken!

Na aber, das ist denn doch zu arg, selbst Kantor Konring achtet nicht auf die Predigt! Ist das Beispielgeben, Herr Kantor? Was, einen gottlosen Fluch murmelt er gar zwischen 56 den Zähnen, in der eigenen Kirche – der wär' ein Christ und Kantor? »Hol's der . . ., das nenn' ich ganz direkt schlecht! So 'ne Niederträchtigkeit, so 'ne Falschheit! Mir so'n Streich zu spielen und heut noch dazu, pfui dich, Christeldierk!«

Jedoch nichts hilft dem Herrn Kantor aller Ärger. Nr. 8 ist und bleibt offen, Christeldierk läßt nichts von sich sehen und hören.

Das war noch nicht vorgekommen, seit er zum Großknecht in der Håeseler Mühle aufgerückt ist, und das sind volle 18 Jahre her. Christeldierk Sonntags in der Kirche nicht am gewohnten Platz – Christeldierk, das granitne Fundament des Fichtenhagener Gemeindegesanges, nach dem Pastor und Kantor die wichtigste Persönlichkeit in der Kirche!

Auf Christoph Diederich Korte war stets Verlaß gewesen, auf Leben und Tod, und dreist konnte Konring immerdar die schwierigsten »eigenen Melodieen« wagen. Wie die Herde dem Leithammel, so folgt die Gemeinde Christeldierks Basse fest und unverzagt durch alle Höhen und Tiefen der schwierigsten Intervalle, mag der Choral in Dur oder Moll, mag er Dorisch, Äolisch, Mirolydisch oder gar Hypomirolydisch gehen. Christeldierks gewaltiger Lungenbaß beherrscht sämtliche Melodieen des Enghausenschen 57 Choralbuches aus dem Grunde, und sogar allerhand selbständige Übergänge und Modulationen, oft von größter Kühnheit, weiß er manchmal einzuflechten. Ei du mein und heut gerade, wo er fehlt, wie immer am zweiten Sonntag Trinitatis, die bösartigste aller »eigenen Melodieen« zum Predigtchoral:

»Durch Adams Fall ist ganz verderbt
Der Menschen Art und Wesen.«

Es hatte alles nichts helfen wollen. Gestrengen Blickes, scharf und bestimmt hatte der Kantor intoniert und mit beiden Armen den Takt geschlagen, dann war er krachend mit vollem Werke eingefallen und später hatte er die Melodie in sämtlichen vierfüßigen Registern, mit Gemshorn und Oktava 2' grell herausgestochen – hundejämmerlich war der Gesang trotz alledem geraten, ja zuweilen einem völligen Verröcheln nahe gewesen, wie wenn ihn eine alte, vernutzte Drehorgelwalze hervorbrächte, worauf die meisten Stifte locker oder gar schon ausgefallen sind. Viele hatten nicht mal Mut gehabt, überhaupt von vornherein mit einzustimmen, obschon des Kantors Verzweiflung alle ohne Ausnahme ernstlich betrübt hatte. O Schimpf und Schande, Fichtenhagener! – Pastor Barthels war sogar um zwei Strophen früher, als er auf den Nummertafeln ursprünglich 58 bestimmt hatte, auf der Kanzel erschienen, um dem Greuel ein Ende zu machen.

Was um alles ist denn aber mit dem Christeldierk? Schon vorigen Sonntag schien er keinen rechten Eifer zu haben, trotz seiner Leibmelodie: »Jerusalem, du hochgebaute Stadt.«

In der Orgelprieche links, am ersten Pfeiler, auf seinem Erbplatze, sitzt da nicht Vadder Besendahl, des Håeseler Müllers Häusling? Nun seh' mal einer: die Orakelmiene, die verschmitzten, grauen Schlitzäuglein – prick in die Luft steht die Spitzmausnase: ganz sicher, der ist eingeweiht! Und wie sollte er auch nicht! Vadder Besendahl weiß nicht nur sämtlichen 218 Krankheiten an Mensch und Vieh durch Besprechen, oder innerlich mit einem selbstgekochten, geheimnisvollen Kräutertrank von unbestimmt graugrüner Farbe doktormäßig beizukommen, er vermag sogar in die Ferne zu kurieren, wenn ihm nur immer ein gewisses Fläschchen mitgebracht und gegen das Licht gehalten vorgezeigt wird; zugleich ist er auch eine die Zukunft ergründende Autorität in Wetter- und Heiratsangelegenheiten.

Sachte rutscht der Kantor von der Orgelbank und winkt den Alten zu sich heran. Der grifflacht schlau in die schwielige Faust, plötzlich aber blickt er düster, bedeutend, zieht die Stirn 59 in Schrumpeln, räuspert sich mit verheißungsvoller Wichtigkeit und flüstert dem Kantor ins Ohr: »Ick heww't nu rut, ick weit Bescheid: hei hat ne FrigaratschonD. h.: Er geht auf Freiersfüßen., in Wollersehl, un hüt' is hei henn, tau beseihen!«

* * *

Die Sonne steht in Mittaghöhe, sie strahlt eine Welt von Glanz und Licht. Die ganze Natur weiß ihr heute besonderen Dank dafür, denn die volle Woche über hatte es geregnet und nun lacht wieder der erste schöne Tag, ein Sonntag ist's obendrein. Nur das melancholische Flüßchen der Gegend, die Ise, ärgert sich über die Sonne. Und sie hat ihren triftigen Grund. Bringen die gierigen durstigen Strahlen sie nicht jeden Sommer vollständig um ihr bißchen Reputation? Ja und kommen die bösen Hundstage, so verdunsten nicht selten gar auch noch die letzten trübseligen Tümpelrester. Aber hüte dich wohl, fremder Wanderer, die Ise naserümpfend Bach zu schimpfen und ihr Name und Atlasberechtigung abzusprechen. Lasse deine Geringschätzung wenigstens keinen Bewohner des Kreises Isenhagen merken.

Die Ise spielt die allerwichtigste Rolle in der Gegend. 60

Sie scheidet die Bewohner des Kreises Isenhagen in Leute diesseits und solche jenseits der Ise und thut's wie eine Furie des Hasses.

In Fichtenhagen, Isenhagen, Hankensbüttel, Weddersehl, Bottendorf, Räderloh, Schweimke, spricht man von den Åewerisschen seit unvordenklichen Zeiten mit der größten Verachtung, wie umgekehrt in Wollersehl, Gannerwinkel, Kuckstorf, Kakerbeck, Stöcken, Wittingen, Knesebeck von den Aberisschen, und wie die Trachten, Sitten, Bräuche unterscheidet sich auch das Platt der Gegenden von einander.

Was den völkerverknüpfenden Handel und Verkehr angeht, so vermeidet man nach Möglichkeit nähere Beziehungen, abgesehen vom neutralen Hankensbütteler Michelimarkte, und sich hier gegenseitig mit einer scheinträchtigen Stärke, einem drehkranken Hammel, oder einem quälfretschen Faselschwein zu beschummeln, gilt hüben wie drüben für die größte Genieleistung. Nur die Alt-Isenhagener hinken nach beiden Seiten, da ihnen die Ise mitten durchs Dorf fließt. Ihr Fastelabend- und Pfingstelbier im neuen Krug beim Appel-Dralle besuchen sowohl Åewer- als Aberissche. Fast regelmäßig kommt es dabei zu grimmigen Keilereien, und die großen, langwierigen Körperverletzungsprozesse auf dem Isenhagener Amtsgerichte nehmen kein Ende. 61

Über die Ise weg über kreuz zu heiraten, ist schnöder Vaterlandsverrat. Es soll, so weit die ältesten Leute – die Knäterolen – sich rückwärts besinnen können, nur drei Mal im letzten Jahrhundert vorgekommen sein. Von einem Falle hieß es, man hätte den von Fichtenhagen nach Wollersehl übergeheirateten Mann nach kaum drei Monaten eines Morgens vom Wollersehler Handweiser, nahe der Isebrücke, abgeschnitten, und auf beiden Seiten hatte sich jeder still sein Teil dabei gedacht.

Am heutigen zweiten Trinitatissonntage ist die Sommernot der Ise schon ungewöhnlich groß und ihr Pülslein dem Verlöschen nahe. Kaum daß an ihrem Glanzpunkte, bei der neuen steinernen Brücke der Alt-Isenhagener königlichen Chaussee wenigstens der künstlich vertiefte Rand des linken Ufers noch nach etwas aussieht. Langsam, mißmutig und träge puddelt das bläulich braunschwarze Isewasser von Tümpel zu Tümpel, quält sich durch Schilf, Schabock, Froschlöffel, Kalmus und Weidicht und rinnt dahinter, völlig entkräftet, in Sumpflöchern zusammen. Da ruht es lange aus, eine tote Pfütze, und die Krebse unten seufzen und gähnen vor Langeweile, daß verdrießlich-flinke Bläschen wie kleine Raketen vom Grunde aufsteigen, zum großen Schrecken der lustigen 62 Wasserschuster auf dem Wasserspiegel. Mein Gott, wie will das an seine Gifhorner Ausmündung in die Aller hingelangen! Jedoch trotz aller Not und Trübsal auf ihrer mühseligen Wanderung durch das Wiesen-, Moor- und Bruchland – man sollte es nicht für möglich halten: dennoch hat die Ise einen großen Gedanken gefaßt und hält hartnäckig daran fest. Und nachdem sie ihren ergiebigsten Bach, den Emmerbach, in sich aufgenommen und ein quellenreicher Quäft ihr Mut gemacht hat, läßt sie besagten großen Gedanken stracks zur That werden, indem sie sich zu einem stattlichen Teich – dem Håeseler Mühlenteich – erweitert.

Ganz in Schwarzahorn, Silberpappeln, schlanken Eschen und Erlen, von Epheu und wildem Hopfen umrankt, hinter Weidicht und Brombeergestrüpp versteckt, gar traulich, idyllisch weltfern, ist die Håeseler Mühle am Teichufer gelegen. Ein köstlich blätterfrischer Laubwald zieht unmittelbar vom Teiche ziemlich eine Wegstunde bis dicht vor Fichtenhagen sich hin. Nach Süden breiten sich weitgedehnte Heuwiesen aus, von Rieselbächen kreuz und quer durchzogen und riesige, alte Kopfweiden säumen die Pfade. Nach westlicher Richtung führt ein ausgefahrener Fahrweg zwischen mannshohen Weißdornhecken hin, an einem Bienenzaun 63 vorüber in wohlbestelltes fettes Gartenland, worauf die Früchte gar prächtig gedeihen, bis er zuletzt hinter den buschigen Knicks langgestreckter Kartoffel- und Buchweizenfelder im Dämmerblau der Heide sich verliert.

Auf dem hochgiebeligen Ziegeldache gurren und flattern zahlreiche Tauben. Förmliche regelrechte Straßenzeilen von Schwalbennestern, eines ans andere gebackt, ganz nach städtischem Bauplan, kleben unter den Dachbalken. Ein riesiger Flaschenzug zum Emporwinden der Säcke hängt aus einer beständig offenen, windschiefen Erkerbodenthüre bis dicht auf die doppelteilige Scheunenhausthür herab.

Gut Dreiviertel des holzverschalten Fachwerkhauses ist von der Mühleneinrichtung eingenommen. Durch die mehlverstaubten Fenster sieht man die gewundenen hölzernen Mahlgänge, die verschiedenen Zahnräder, Trichter, Beutel, Siebe, Kästen und Säcke.

Am freien Stau vor den beiden gewaltig schweren und ungeschlachten, vielfach geflickten, oberschaufeligen Wasserrädern hat man einen prächtigen Blick auf den Spiegel des Teiches. Ihn umsäumt ein Kranz dichten Rohres und Schilfes. Lustig wehen die schmalen, lichtgrünen Schwerterblätter und die braunen Doldenfähnlein im Winde. Daß der schlimme Schabock nicht zu 64 sehr aufkommt und wuchernd um sich greift, dafür trägt Christeldierk mit seiner Sense peinlich Sorge.

In das Klipperklapper der Mühle mischt sich vom Teichufer herüber das eilig fröhliche Gezwitscher des Sumpfsängervölkchens. Die Müllerenten leben auf dem Teiche schier wie im Paradiese – der schönste Entenflott (Teichlinse) wird nicht alle, und die leckeren Herrlichkeiten unten im Sumpfe! Sie schwimmen und tauchen denn auch mit so seelenvergnügtem Schnatterspektakel: »Quak-Quak-Quackquack-quackquackquack«, als wenn ihnen die ganze Welt gehörte. Ihre Gerechtsame und Privilegien haben jedoch ihre Grenzen, wie denn überhaupt die sozialen Verhältnisse im Teichgebiete in musterhafter Ordnung sind. Die Luft überm Teiche gehört den Schwalben. Die haben die oberirdische Jagd in Pacht, die Teichmückenjagd, wie die Enten die unterirdische: die Jagd auf die fetten Teichmolche, Piehlen, Pferdeegel und Wasserkäfer. Im Schilf und über den Quäft hinaus haben die Sprehen ihre Jagdgründe. Aber die verschiedenen Gutsherrschaften – der Schnepfen, Kiebitze, Regenpfeifer und Bläßhühner scharf abgegrenzte Nistreviere wollen respektiert sein. Und die Schilfsänger? Lieber Gott, das sind die bloß geduldeten, freien 65 Künstler, die bei der Teilung der Erde bekanntlich nichts abgekriegt haben. König des ganzen Håeseler Mühlenbezirkes ist der Alt-Isenhagener Storch. Ihm weicht nach Möglichkeit alles scheu aus, wie einem orientalischen Despoten, mit dem nicht zu spaßen ist. Da er jedoch, gleich dem König von Preußen, über verschiedene Provinzen regiert, die Allerhöchstseine Regierungssorgen vielfältig in Anspruch nehmen, weil überall im Lande die Frösche vorzüglich gedeihen, so kann er selbst, wie auch die Frau Gemahlin und die flüggen Prinzen, nur höchstens zweimal am Tage kommen und inspizieren, auf der Runde über die Malloh- und Leuwiesen, über den Haarsahl und quellenreichen Steinsink, das Oerreler und Emmer Moor.

Du wirst ungeduldig und fragst, Leser, wann denn endlich die immer notwendig zu einer Mühle gehörige schöne Müllerin sich sehen lasse?

Schade, es ist leider keine vorhanden; statt dessen verunstaltet ein garstiger, dicker Fettfleck das Bild von der Håeseler Mühle und der ist die dicke Tante Lawise.

Von den Müllersleuten hat die Frau längst das Zeitliche gesegnet und der Håeseler Müller hockt, ein siecher Mann, Tag ein Tag aus im Lehnstuhl am Ofen, die Pelzmütze über den Ohren, die zitterigen Hände gottergeben in 66 einander gelegt und die gichtkranken Füße in dicken Filzpampuschen wagerecht vor sich hin auf eine Bank gestreckt. Sein unverheirateter dämlicher Sohn und Erbe nöhlt und pusselt im Hause herum und raucht hinterm Bienenzaun heimlich Cigarren. Beide repräsentieren eigentlich nur äußerlich die Dynastie – das Regiment hat des Müllers alte Schwester, die verwitwete Frau Landwirtschafts-Kreiskassen-Rendantin Dorette Louise Kuhlenkamp, geborene Håeseler, an sich gebracht und weiß es zu behaupten, mit Drachenenergie.

Auf Christeldierk des Großknechtes Schultern ruht die gesamte Arbeit des Staates. Der Arme hat sich weidlich im Schweiße seines Angesichts zu plagen, denn Tante Lawise sieht scharf nach dem Rechten. Nur noch ein Kleinknecht und ein Junge unterstützen ihn.

Achtzehn lange Jahre durch hat der gutmütige, treue Mensch still ingrimmig sich schinden lassen. Schon oft genug wollte er aufschmeißen und kündigen, aber jedesmal war ihm die Kurage verpufft, daß er kein Wort herausbringen konnte, wenn er in Sprechnähe vor Tante Lawise gestanden hatte. Ihr Basiliskenblick, der Anblick ihres vorstehenden linken Augzahnes und der drei feuerroten Warzen am Kinn lähmten ihm jedesmal die ohnehin schwere Zunge. Hernach aber im Pferdestall, hinter der großen 67 Haferkiste, wo er sich seines Lebens sicher fühlte, da ballte der Christeldierk in ohnmächtiger Wut beide Fäuste und schleuderte gräßliche Flüche und Verwünschungen gegen den »ollen isdranigen Satan«, gegen »dat olle ßakermentsche Schinneraas van Frugensminsch!«

Am Tage vor Himmelfahrt jedoch hatte Christeldierk sich heroisch aufgerafft. Da war denn endlich die Katastrophe eingetreten.

Wegen eines lumpigen Mißverständnisses schmeißt Tante Lawise, ohne weiter ein Wort zu sagen, ihm einen kupfernen Kessel, den sie gerade in der Hand trägt, mit großem Schwung an den Kopf. Von wahrer Berserkerwut gepackt, will der hünenstarke Großknecht, wie ein zornflammender heiliger Michael, den Drachen im ersten Augenblick zerschmettern, mit seiner Kornschaufel; jedoch glücklicherweise besinnt er sich und im Nu hat er statt dessen einen mächtigen Sack voll Mehl über ihn ausgeschüttet.

Von Stund ab aber steht sein Entschluß unerschütterlich fest:

Christeldierk will sich verändern.

Schon gleich auf dem Alt-Isenhagener Pfingstelbier tritt es klar ans Licht, daß er's unwiderruflich ernst damit meint.

Kaum ist Pfingsttag Nachmittag in Fichtenhagen die Kirche aus, so ist Christeldierk denn 68 wirklich der Erste in Appel-Drallen Scheune, auf deren frisch gebohlter Diele das Tanzen von statten gehen soll!

Die Mägde, noch im vollen Arbeiten und Herumhantieren, kommen staunend gelaufen und bilden einen Kreis um ihn. Auf ihr Fragen und Wunderwerken antwortet Christeldierk schmunzelnd immer nur das Eine: »Deerns, wat kann't helpen! Man jümmer fidel, einmal mudd man doch starwen! Ick mak mick hüt' ok mal 'n lustigen Dag!«

Als darauf der dicke Appel-Dralle selber angeschlürt kommt und ihm den bestellten Pastoren einschenkt, läßt sich Christeldierk damit auf eine Bank im Vorschauer nieder, stützt den Kopf in die schwielige, zerarbeitete Hand und blinzelt stumm und nachdenklich über den Grashof weg in die sanft wiegelnden Kronen der Birnen- und Äpfelbäume.

Es wird nach und nach lebendig beim Appel-Dralle.

Die Musikanten kommen, Stengel, Mohwinkel, Bössel, Klepperbein, der alte Dargel, Elvers' Christoffer aus Hankensbüttel, den großen Brummbaß auf dem Buckel.

Nun die Dorfschönen, gruppenweise, die nackten prallen Arme fest ineinander gehakt. Die Jungkerls einzeln hinter ihnen, blauäugig, 69 pausbäckig, das struppige Flachshaar sorgfältig aufgeschmalzt, viereckig, forsch und stämmig, voll jugendfrohen Übermuts. Sie bringen Feuer, Leben, Lust und Fröhlichkeit in die Scheune. Hellwieherndes Gejuchze, Aufkreischen, Stampfen, auf den Tisch schlagen, wildes Gelächter. Alles wundert sich baß, den Christeldierk zum erstenmale in seinem Leben auf der Pfingstelbier zu sehen.

Das Tanzen beginnt. Wie umgewandelt sind plötzlich die Jungkerls. Jeder winkt sich gemessen, ernsthaft seine Deern von der Wand heran.

    (F=dur. ¾. Schnell. Feurig.)

Widdwidewidd
De Figelin,
Lühfütelüh
De Fläutje fien,
Dudeldideldi
Klar'nett so seut,
Dahl den Kopp un hoch de Fäut!
Runkderunk
De Brummelbaß,
Gottsdeubel, de verstaht kein' Spaß,
Un Hürn un Trumpett Wuppnöttnött –
Wohr dick, Deern, de Bull' de stött!

Viechen un Dortchen un Lieschen un Lott
Man jümmer rundum, Deerns, Hüh un Hott,
Un Chrischan un Willem un Schors' un Fritz,
De Bein' ut'nanner, Jungs, Dunner un Blitz! 70

Derunkrunkrunk
De Brummelbaß,
De brummt un runkt ahn' Unnerlaß,
Schrummschrummwidewidd,
Fühtelüh, Dudeldit,
Figelin un Fläut',
Klar'nett so seut,
Trumpett un Hürn Nöttnöttwuppwupp –
Hei stött de Bulle, Deern, paß up!

Christeldierk springt auf und winkt den Wirt auf die Seite, nachdem er längere Zeit zerstreut zugesehen hat. Er ist in leidenschaftlicher Erregung, es siedet und kocht in ihm, seine Augen sind ganz flackerig, ganz blutunterlaufen. Verschiedene Male setzt er stotternd an – endlich gehorcht die widerspenstige Zunge: »A – Appel-Dralle, ick – ick will mick verännern, ick will frei'n, un dat furns up de Städ! Ick glöw, dat is dat beste för mick. Heww lang nauch täuwt. – Appel-Dralle, du mußt mick datau verhelpen. Segg, hast 'e keine stahn, de för mick paßt?«

»Och ja woll, Christeldierk, jawoll, 'ne ganze Koppel! In Wollersehl heww ick wecke, süh, Tacken ör beiden Deerns, de paßt för dick. Mak dick da man 'rann. Ick segg dick: 'n por ganz staatschöse Deerns! Glöw mick dat man. Ick verstah mick up so wat. Heww all mannig Por tausam friwarwt hier up min Pingstelbir.« 71

»Na nu, Appel-Dralle, Gott sall mick bewohrn, wat, ne Åewerissche? Nee, nee, da lat ick de Hand van aff!«

»Och, Snicksnack, Christeldierk, wo du dick hast! In unse Fichtenhagener Karkspeel is för dick nix upstunn. Du mußt doch eine hewwen, de 'n beten wat hinnersett't is! Süh, de Wollersehler Deerns hewwt alle Geld un Tacken, dat kann mick man einer glöwen, de sitt't dick in de Wulle, ja woll, ja woll, dat kann ick dick versichern! Süh, Gesche, wat de jüngste is, de is woll de nüdlichste van de twee, dat is gewiß, åewerst nimm doch man leiwerst Jette, de Öllste. Suh, de kriegt de Grüttmo̊ehle mit un de Kauh un dat prämierte Såegswien, wat ick ganz bestimmt weit. Un sei is ok hellschen griffig up de Arbeit – Knaken, segg ick dick, Knaken: 'n wohr'n Kürrassier. Un pst, hür', Musch Christeldierk: de Deern is ganz hellschen daup stürt, balle tau frei'n, sei is 'n beten wat vullbläudig. Gesche ward mit Geld afffunnen, süh un ick glöw, sei gaht ok all mit einen. – Na, paß up, Christeldierk, Tacken Deerns kamt hüt sicher noch hieher, tan danzen, sei wirrn ja noch jümmer dabi. Mak dick furns 'rann, segg ick! Man driest tau! Och wat, keine Bange! Veel Glück!« 72

* * *

Seit dem Alt-Isenhagener Pfingstelbier war der Christeldierk in seinem ganzen Wesen merkwürdig umgewandelt. Manchmal schien's, als ob er kopfrechnete, denn er zählte stundenlang an seinen Fingern herum. Dabei stöhnte und schwitzte er ob der großen Schwierigkeit. Mechanisch, wie geistesabwesend, verrichtete er seine Arbeit. Die Leute betrachteten ihn kopfschüttelnd von der Seite. Bald hieß es im Dorf und Umgegend: »Christeldierk denkt!«

Zum feierabendlichen Klöhnen bei Besendahls war er nur noch ein einziges Mal gekommen und dann weggeblieben, da man vom Pfingstelbier gesprochen und allerlei hämische Anspielungen gemacht hatte. Sonst hatte sich hier immer alles um ihn gedreht, denn Christeldierk ist ein vielseitiger Künstler. Er ist nämlich nicht nur ein großer Heldenbaß, sondern auch ein unerreichter Meister auf der Ziehharmonika.

Wenn die Sonne hinter der Heide versunken ist und Abendstern und Mond im Teiche sich spiegeln; wenn die Schwalben unterm Dache sich sachte in den Schlaf zwitschern, die letzten Lieder der Drosseln und Rotkelchen in den Erlen verhallen und die Sprehen im Schilf endlich zur Abstimmung schreiten und ihre große Volksversammlung schließen; wenn die ersten Fledermäuse in munterem Zickzack über dem Teiche 73 hin- und herflattern, die Frösche sich im Chor vereinen und ihre Kantate anstimmen und tief unten im Binsensumpf die Unken ihre Märchenglöcklein läuten – dann finden sich nach und nach von allen Richtungen her die Knechte und Mägde der Gegend vor der Besendahlschen Häuslingskate ein. Gar gemütlich, rund im Kreise läßt sich's da auf dem alten Rade und auf den Mahlsteinen sitzen und mit dem Christeldierk singen oder ihm zuhören. Die Mädchen vergessen nicht, ihr grobes Knüttzeug aus Schnuckenwolle mitzubringen und die Knechte ziehen Stahl, Stein und Zunderbüchse aus der Hosentasche, stopfen, pinkern an und schmauchen einen Kopf. Zuweilen zähmt man sich auch einen Buddel Refardtschen Kornes. Bis spät in die Nacht bleiben sie manchmal beisammen, und alles, was neues passiert ist, wird besprochen und von den verschiedensten Seiten kritisch beleuchtet, bis endlich Vadder Besendahl mahnt: »Kinners, 't is Slapenstied, gu'n Nacht jetzt alltauhop!«

* * *

Zwei Wochen waren so vergangen. Christeldierk war ganz abgefallen, ganz grau im Gesicht, im Kopfe ganz tiefsinnig geworden vom vielen Denken. Endlich, nach schwerer Mühe, kam Vadder Besendahl ihm hinter die Schliche. 74

Der Alte ist eine von jenen Forschernaturen, die das härteste Holz bohren und allem auf den Grund kommen müssen. Heute Morgen war es ihm geglückt, den Christeldierk zu stellen, als dieser im Pferdestalle auf der Haferkiste saß und sich vor seiner Spiegelscherbe gerade rasierte – ein Ausweichen war unmöglich. Allein mehr, als das nackte Geständnis, daß er eine Frigeratschon habe, war ihm nicht abzufoltern gewesen, nicht ein Spirchen mehr. Der schlaue Vadder Besendahl aber wußte sich zu helfen. Flugs war er nach Hause gelaufen, hatte seine sieben Buben auf die Beine gebracht und die Mühle umstellt. Hinter jedem Busch stand ein kleiner pausbäckiger Besendahl Wachtposten und lugte nach dem Christeldierk aus. Nicht lange und der Alte hatte Meldung erhalten. Wie ein Fuchs in der Furche war er dem eilig fortgehenden Christeldierk nachgeschlichen. – Entsetzlich, hinterm Quäft über die Ise weg, in die Richtung nach Wollersehl ist er gegangen! Seine neue Jägerjoppe mit Hirschhornknöpfen hat er an. Einen neuen grünen Schlips hat er um. Im Knopfloch stecken drei feuerrote Nelken.

* * *

Was in der Fichtenhagener Kirche im schlimmen Sinne Ausnahme, bildet in der 75 Wollersehler die Regel. Wie immer ist der Wollersehler Gottesdienst auch heute zum Erbarmen schlecht besucht. Fast nur Frauen mit verhärmten Saure-Milch-Gesichtern repräsentieren die Wollersehler Gottesfurcht.

Die Weiber stehen mit dem Pfarrer gegen die Männer im Bunde, und so achten sie allemal mit besonderer Schärfe und Schadenfreude auf die Predigt, wenn Pastor Streckebeil bei jeder Gelegenheit die alten liederlichen Böcke der Gemeinde extra moralisch bei den Ohren nimmt.

Alle großen Maierbauern fehlen. Die schlafen Sonntags ihren Wochenrausch aus. Nur ein paar weißhaarige Krüppel, glatzköpfige, halb taube und blinde, müde und lebenssatte Altenteiler, Abbauer und kleine Brinksitzer, Häuslinge und Knechte siehlen sich hinten im Schiff und auf den Priechen herum. Selbst im Kirchenvorsteherstuhl unter der Kanzel hockt nur allein, einsam und beschaulich, der Mann vom Klingelbeuteldienst. Der Klingelbeuteldienst verursacht in Wollersehl keine große Anstrengung, denn da fast alles schamlos nickt, geht die Beutelstange mit ihrem sanft bittenden Glöckchen immer fix ihren Weg. Daß, wie's in Fichtenhagen gar nicht selten passiert, mal eine Sechswöchnerin an ihrem ersten Kirchgange, oder ein Bauer am Erntedankfeste einen harten Thaler in die schmierigen 76 Pfennige hineinplumpsen ließe, wofür der Pfarrer am nächsten Sonntage besonders danken würde, kommt in Wollersehl nicht vor.

Was von Mannsleuten vorhanden ist, schläft den Schlaf des Gerechten, das Gesicht vom Gesangbuch gedeckt, obgleich Pastor Streckebeil mit der Faust aufs Kanzelpult schlägt, seinen Kopf herumwirft, daß ihm die weißen Bäffchen wild am Halse flattern und mit wuchtigen Worten seinen lieben Wollersehlern heute wieder mal gehörig die Gewissen ausklopft. Doch jeder Hieb gleitet leider ab. Die scharfen Predigten ihres Seelenhirten sind die Wollersehler längst gewohnt. Sie sind mit der Zeit dickfellig geworden.

Ja, die Wollersehler! Ihr schöner Weizenboden und ihr dreimahtiges Isen-Wiesenland sind weitberühmt, aber noch mehr weiß man im ganzen Amte von ihrer Händelsucht, von ihrem Saufen und Spielen zu erzählen. Es ist doch eine unverbesserlich grötsche Art! Ja, ja – »Ort bliwwt bi Ort,« wie sie in Fichtenhagen sagen.

* * *

Im Schiff der Wollersehler Kirche, in der hintersten Bankreihe, vorm Betglockenstrang steht der Christeldierk stramm und steil wie eine 77 Tanne. Etwas von ihm abgerückt sitzen Braut und Schwiegervater, Jürgen Tacke, der Wollersehler privilegirte Nachtwächter und Grützmüller, und Jette, seine ältste Tochter. Beide lassen, wie zwei Spinnen im gleichen Netz, ihr gemeinsames Opfer nicht aus den Augen. »As 'n Pahl steiht hei dor, un 'ne Viehsasch liek as 'n ollen fühnschen Bullenbieter, 'n kaptalen Brüjam, stah mik bi!«

Des ehrlichen Christeldierk kummervolles Gesicht stimmt leider keineswegs zu seiner stolzen Hochzeiterschaft, seiner schmucken Jägerjoppe, seinem Schlips und den drei rotflammenden Nelken im Knopfloch.

Seine hochzeitliche Stimmung ist leider seit einer guten Weile unaufhaltsam im Verfliegen, wie entkorktes Selterwasser.

Nun holt er gar mit tiefem Aufstöhnen sein rotgeblümtes, baumwollenes Taschentuch hervor und trocknet sich den Schweiß ab.

Pastor Streckebeil ist gerade bei den engeren Nutzanwendungen. Alle tausend, heut steckt er's ihnen aber gehörig! Schlank vorn Kopf sagt er den Wollersehlern, daß sie um keinen Deut besser wären, als die niederträchtigen Leute im Evangelium, die mit allerhand lügenhaften Ausflüchten sich um das große Abendmahl gedrückt hatten. Von denen der eine fünf Joch Ochsen, 78 ein anderer einen Acker gekauft, ein dritter ein Weib genommen haben wollte u. s. w. Ebenso machten es die Wollersehler jeden Sonntag, wenn der Hausvater – nämlich der liebe Gott– sie durch die Glocke zur Kirche einlade.

»Aber wahrlich, ich sage euch, gehet in euch, nehmet euch in acht, Wollersehler! Die Schale des göttlichen Flammenzornes sie ist schwibbevoll, zum Überlaufen über Wollersehl und seine Feldmark hin, und eure Reue kommt dann zu spät. Auch die Leute von Sodom und Gomorrha sie wollten sich nicht lassen warnen, bis des grundgütigen Gottes Gnade und Langmut endlich erschöpfet war und der Feuer- und Schwefelregen vom Himmel auf sie niederprasselte.«

Christeldierk malt sich das Sodomer Unglück in den grellsten Mordgeschichtsfarben aus, wie er auf dem Hankensbütteler Michelimarkte einmal ein grausiges Bild von einer Brandstiftung gesehen hat. Der dazu gehörige Lirumdreher zeigte die gräßlichen Einzelheiten mit dem Rohrstocke und sang mit Frau und Tochter ein ergreifendes moralisches Lied. »So ein Ende mit Schrecken«, meint Pastor Streckebeil, »wird Wollersehl auch dermaleinst nehmen?«

Christeldierk verliert alle Fassung vor Angst. Blutrot wird's ihm vor den Augen. Er sieht ganz Wollersehl lichterloh in Flammen stehen, 79 auch die ganze Feldmark weit herum. Nur dem Handweiser vorm Dorfe nach der Ise zu thun die Gluten nichts. Er bleibt völlig unversehrt. Scheu weichen die Flammen davor zurück. Wie ein hohes, gespenstisches Fragezeichen ragt er auf. Entsetzlich – zwei Erhängte baumeln daran im Winde, an jedem Arme einer. Der eine davon – ach Gott, ist er's nicht selber? »In diesen Sündenpfuhl wolltest du einheiraten, über die Ise weg, aus dem Fichtenhagener Kirchspiel heraus?«

Dem Christeldierk klappern die Zähne zusammen. Er setzt sich schaudernd.

Jette rückt ihm näher. Sie legt die Hand auf seine schlotternden Kniee.

Lange starrt der Christeldierk die Jette an, mit blödem Ausdruck. Jedoch nach und nach faßt er Blick und fängt an, sie genauer zu betrachten.

Nun mustert er sie kritisch von oben bis unten und seine Züge hellen sich ein wenig auf.

»Sechsunddreißig ist sie alt – ein gesetztes Alter hat seine Vorzüge. Krumme Beine und Plattfüße hat sie – dafür sind die Arme prall und fest und griffig auf die Arbeit. Die wulstigen Lippen hat sie vom Alten – aber dagegen die Pracht der dicken blonden Flechten höher den Kopf hinauf. Der Junge, den sie herumlaufen 80 hat – pah, er ist bereits konfirmiert und hütet beim Vorsteher Peesel in Kakerbeck die Schafe. Bargeld hat sie in den Strumpf gespart – ein ansehnliches Gewicht, lauter eingewechselte, blitzblanke Markstücke. Einen schönen Posten Leinenzeug hat sie in der Lade. Die Grützmühle und gute Kundschaft, die Kuh, die prämierte Sau, das erbliche Nachtwächter-Anrecht, und sicherlich macht es der Alte auch nicht mehr lange bei seinem Leberwurm. Wie adrett die Jette doch auch heute wieder aussieht in ihrem blau und gelb karierten Beiderwandkleid. Das trug sie auch auf der Pfingstelbier. So verständige und praktische Ansichten! Und sie hatte ihn zuerst geküßt und gefragt, ob er's ernst meine. Herrgott, ist's denn nicht auch höchste Zeit, daß er endlich zugreift und freit?«

Jettchen Tacke rückt dem Christeldierk näher auf den Leib. Sie lächelt ihn holdselig an und flüstert: »Schatz!«

Vater Tacke spuckt aus und verzieht sein quappiges Happemaul zu einem sauersüßen Schmunzeln. Plötzlich blitzt ihm ein Einfall durch den Schädel. Er überdenkt ihn und spuckt noch ein paar Mal aus, bringt darauf nach langem Suchen im Futter der kaputten Westentasche seine Priemchendose zum Vorschein, 81 drechselt eine Gönnermiene, knackst auf und hält die blecherne Dose dem Christeldierk hin: »Da, Swiegersåehn, stopp'n Enn' mang de Kusen. Van'n besten dänschen, nich tau scharp, Koopmann Schönke in Wittingen sinen Extrafinen, in blag Poppir, de Rulle twee Mariengroschen.«

* * *

Pastor Streckebeil ist mit seiner Predigt zu Ende.

Die Schläfer ermuntern sich, greifen nach den Gesangbüchern und blättern mit großem Geräusch den Ausgangsvers auf.

Schulmeister Molkebier putzt seine Brille, schielt mit dem linken Auge durch die Gläser, haucht an und putzt von neuem – endlich schiebt er sie sich auf die Nase; darauf zieht er die Register und setzt sich mit großer Umständlichkeit auf der Orgelbank fest, wie wenn ein alter Marabu zu Neste steigt.

Nun erst betrachtet Christeldierk die Wollersehler Orgel genauer und sieht sich in der Kirche um. »So 'ne elende Katzenkiste von Orgel. Nicht mal ein ordentliches Chor haben sie in Wollersehl. In eine Nische, vorn auf der Prieche, schräg überm Altar, ist der Orgelkasten eingeklemmt. Und die alten 82 wurmstichigen, wackeligen Bänke. Schmuddelig, staubig und unordentlich ist's überall. Spinnweben kleben sogar an der Kanzel. Abgefallener Mörtel liegt herum. Getüncht ist sicherlich nicht seit dem siebenjährigen Kriege. In der verschossenen Altardecke, rings um das silbergestickte Lamm mit der Fahne, sind ja wohl gar die Motten? Ein Fremder kann die fuchsigen Nummertafeln kaum mehr entziffern. Wirklich, Schäbigkeit überall! Nichts wenden sie an, und es sind doch die reichsten Bauern im Amte – alles verjubeln sie. Mein Gott, die Fichtenhagener Kirche dagegen! Die großartigen, neugestrichenen Bänke dort, die gewölbte, himmelblaue Decke mit goldenen Sternen, und mitten darin, von lichten Strahlen umflossen, die schneeweiße Taube des heiligen Geistes. Der freundliche, gute Pastor Barthels. Seine schönen Predigten immer. O mein Gott, hier, unter diesen Wollersehler Gottesverächtern solltest du hinfort wohnen – so Sonntags zur Kirche gehen?«

Der Wollersehler Schulmeister, Kantor, Küster und Organist, August Hermann Molkebier hat sein Choralvorspiel begonnen.

O je, bei solchem Katzengewinsel soll ein Fichtenhagener Andacht haben? Nicht zum Aushalten! 83

Christeldierk muß an die berühmte Fichtenhagener Orgel und an Kantor Konring denken. »Kantor Konring – Molkebier, was bist du dagegen! Ja und wer kommt denn gleich direkt nach Pastor und Kantor in der Fichtenhagener Kirche, he? Was um Gotteswillen will man da ohne seinen Baß anfangen? Wie will die Gemeinde, sich selber überlassen, mit Kantor Konrings schwierigen »eigenen Melodieen« zustande kommen, Karfreitag mit »Der am Kreuz ist meine Liebe« und Pfingsten mit »Nun bitten wir den heiligen Geist um den rechten Glauben allermeist«?

Christeldierk preßt beide Hände ins fieberheiße Gesicht. »Du wolltest dem Kantor untreu werden, deiner Frigeratschon wegen sollte der Fichtenhagener Gemeindegesang zu Grunde gehen? Über die Ise weg, nach Wollersehl wolltest du einheiraten?«

Den Christeldierk übermannt tiefe Traurigkeit. Kalter Schweiß tritt ihm vor die Stirn, als er sich scheu von hinten herum ausmalt, wie heute Morgen in Fichtenhagen der Gottesdienst wohl gewesen sein mag. Manchen zweiten Trinitatis-Sonntag hat er da auf seinem ganz blank gesessenen Erbplatz Numero 8 erlebt, manchen schönen Sonntag. Wie anders, als eben Pastor Streckebeil, Pastor Barthels die 84 Geschichte vom verschmähten Abendmahl doch auszulegen weiß! Großen Trost hatte es ihm immer bereitet, wenn er gesagt hatte, wie der ergrimmte Hausvater zuletzt die Krüppel, Lahmen und Blinden von den Zäunen der Landstraße weg zu seinem Abendmahl geladen hätte, und es wäre überhaupt ausgemacht: die Armen kämen zehnmal leichter ins Himmelreich als die Reichen, die dahingehen unter den Sorgen und Lüsten dieser Welt. Die Wollersehler müssen sicherlich beim lieben Herrgott schlimm in der Kreide stehen – Pastor Streckebeils schreckliche Andeutungen! Ganz sicher: wer hier einheiratet, fährt mit ihnen in Kompagnie zur Hölle!«

Da beginnt der Choral. Nun gar noch Molkebiers Vorsingen! Keinen einzigen Zahn hat er mehr im Munde. Die Meisten halten es beim Ausgangsvers überhaupt nicht mehr für der Mühe wert, mit einzustimmen. Die Alten rappeln sich hustend und stöhnend in die Höhe und die Jungen fangen in ihrem Übermut gar an zu drängeln, als könnten sie nicht schnell genug hinaus und ins Wirtshaus kommen.

»O Wollersehler, nicht mal die kinderleichte Melodie: ›Schmücke dich, o liebe Seele, eile mit dem Glaubensöle deinen Jesum zu empfangen‹, geht euch zu Herzen, nicht mal damit kommt ihr zustande?« 85

Christeldierk hält nicht länger mehr an sich. Grappsch reißt er dem alten Tacke das Gesangbuch aus der Hand und legt los, mit aller Kraft, wie ein wütender Stier. Dick ist ihm die Zornader geschwollen und seine Augen treten weit heraus aus ihren Höhlen. Gewaltig knattert und dröhnt sein Baß. Alles ist vor Schreck zusammengefahren. Kein Mensch singt mehr mit. Christeldierk singt vollständig solo.

Da mit einem Male hält er von jähem Entsetzen ergriffen inne, daß man nur noch die Orgel allein hört. »Herrgott im hohen Himmel, singen sie zweiten Sonntag Trinitatis in Fichtenhagen nicht: ›Durch Adams Fall ist ganz verderbt‹?«

Dem Christeldierk fallen beide Arme schlapp am Leibe herunter. Er sinkt, wie innerlich zerschmolzen, in sich zusammen. Thränen stürzen ihm über die Backen.

Plötzlich schnellt er in die Höhe, wirft abgewendeten Gesichts der laut wehklagenden, händeringenden Jette erst seine drei roten Nelken und dann auch noch den neuen hoffärtigen Schlips in den Schoß und stürmt fort aus der Kirche. Wie besessen rast er querfeldein auf den Handweiser zu und dann weiter, was er nur laufen kann, in die Richtung nach Fichtenhagen. 86

* * *

Am dritten Sonntag Trinitatis ist in Fichtenhagen ein tief zerknirschter Sünder zur Beichte und zum heiligen Abendmahl gegangen. Im Gottesdienste vorher wurde die schwierige »eigene Melodie«: »Durch Adams Fall ist ganz verderbt« noch einmal gesungen, und diesmal großartig, wie noch nie! 87

 


 


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